Daniel Kehlmann über Leo Perutz
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Macht neugierig, die Romane von Leo Perutz zu lesen
„Handlung ist das, was in einer Geschichte passiert – nicht Sprache, nicht Form, nicht Gestaltung, sondern das, was tatsächlich vor sich geht. Handlung ist also das in der Literatur, was selbst nicht Literatur ist.“ (Zitat Pos. 83)
Thema und Inhalt
Dieses Buch ist das sechste Buch aus der Serie „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Daniel Kehlmann schreibt über den österreichischen Schriftsteller Leo Perutz, der ihn begeistert und geprägt hat. Im Vorwort, verfasst von Volker Weidermann, erfahren wir, dass Daniel Kehlmann in seinem Roman „Ruhm“ einer seiner Figuren bewusst den Namen Leo gegeben hat und diesen Roman in der Form des Werkes „Nachts unter der steinernen Brücke“ von Leo Perutz verfasst hat.Umsetzung
Leo Perutz wollte nicht durch die Biografie seines Lebens bekannt sein, sondern durch sein literarisches Werk. Dieser Einstellung folgt Daniel Kehlmann in diesem Buch. In neun Kapiteln bringt er uns Leo Perutz über vier seiner Romane wie „Der schwedische Reiter“ und vor allem „Nachts unter der steinernen Brücke“ näher, ein Roman, den Daniel Kehlmann als metaphysisches Puzzle bezeichnet. Daniel Kehlmann schildert, wie Leo Perutz an den einzelnen Romanen gearbeitet hat, definiert dessen Herangehensweise an die Stoffe, Handlung, Erzählformen und sprachliche Umsetzung. Punktuelle Besprechungen und Erläuterungen der Inhalte werden durch kurze Auszüge präzisiert und ergänzt. Eine Aufstellung der Lebensdaten von Leo Perutz, das Quellenverzeichnis und die Angaben zu den Fußnoten im Text finden sich am Ende dieses Buches.Fazit
Ein Schriftsteller schreibt über einen Schriftsteller. Dies bedeutet nicht nur viel interessantes, neues Wissen, das dazu anregt, die Romane von Leo Perutz zu lesen, sondern auch sprachliches Lesevergnügen.
Dichten gegen das Vergessen
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Gegen das Vergessen
Denise Buser, ihres Zeichens Autorin und Juristin, widmet sich in ihrem Buch zwölf Dichterinnen über eine Zeitspanne von Jahrtausenden hinweg.
Sie beginnt mit Sappho, die um 630 v. Chr. auf der Insel Lesbos lebte. Sie gilt als eine der wichtigsten Lyrikerinnen im klassischen Altertum und wird von der Autorin quasi als Urmutter der Dichtkunst bezeichnet.
Wir erfahren kurze Ausschnitte aus dem Leben und Wirken verschiedener Frauen, die sich über die Jahrhunderte hinweg der Dichtkunst, in verschiedenen Teilen der Welt, verschrieben hatten. Die meisten Namen haben mir leider nichts gesagt, aber ich kenne mich in diesem Bereich auch ehrlich geschrieben, nicht so gut aus. Vorgestellte werden u.a. Vittoria Colonna (1490/92 – 1547), Anna Louisa Karsch (1722 – 1791) Akiko Yosano (1878 – 1942) oder Lenore Kandel (1932 – 2009).
Dadurch dass Denise Buser aus der Perspektive der jeweiligen Dichterin heraus erzählt, kommt man der Hauptperson sehr nahe und „fällt“ auch ein bisschen in die damalige Zeit zurück. In der Zeit „verschluckt“ war ich aber vor allem dann, wenn es Frau Buser gelang noch eine Fotografie der entsprechenden Lyrikerin, aufzutreiben.
Man erfährt viel Wissenswertes über die Zeit, in der die Damen gelebt haben und unter welch widrigen Umständen sie dennoch ihrer Leidenschaft nachgingen. Sie bewiesen so viel Mut.
Mir war gar nicht bewusst, dass es so viele Frauen also eigentlich schon immer, Texte veröffentlicht haben. Nur weil man nie etwas davon hört, heißt es zum Glück nicht, dass es keine Lyrikerinnen gegeben hat.
Umso wichtiger sind solche Bücher, die über das Leben und die Werke der Schriftstellerinnen berichten und auf sie aufmerksam machen.Fazit:
Ein spannendes Werk, das uns Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden näher bringt. Auf das sie nie vergessen werden!
Mit kaltem Kalkül: Ein Rechtsmedizin-Thriller
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spannend
Hier hat Michael Tsokos wieder einen spannenden Pageturner durch und durch heraus gebracht. Ich mag seinen Schreibstil sehr gern und auch die sehr kurzen Kapitel lassen den Leser schnell mal noch ein Kapitel mehr lesen, als er eigentlich wollte. Das Cover ist für einen Tsokos Rechtsmedizin- Thriller typisch und man erkennt auf jeden Fall, dass es sich um ein Buch aus einer Reihe handelt, da der Vorgänger ein ähnliches Cover hat. Mir gefallen sie auf jeden Fall recht gut, auch weil sie gut zur Story passen. Was mir auch gut gefällt ist, dass man die Bücher auch unabhängig voneinander lesen kann.
Man weiß genau in welcher Zeit die Geschichte spielt, da vor jedem Kapitel genaue Datum- und Zeitangaben stehen. Zuerst dachte ich, dass etwas zu viele Fälle in diesem Buch beschrieben werden und man dadurch vielleicht durcheinander kommt, aber es hatte alles seine Berechtigung und wurde auch zum Ende mit aufgelöst. Vielleicht sieht das auch nicht jeder Leser so und das ist nur was von mir.
Ich finde die Art und Weise, wie Herr Tsokos die rechtsmedizinischen Details im Bauch einwebt und auch alles laiengerecht beschreibt. Er weiß eben genau worüber er schreibt.
Alles in allem kann ich diesen Thriller nur empfehlen.
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Wissen, Verstand & Intuition
Mit Wissen und Verstand
Mit kaltem Kalkül – ein Rechtsmedizinthriller (Buch2/2),
wurde am 2. September 2024 vom Knaur Verlag veröffentlicht.Das Coverbild lehnt sich mit seiner Gestaltung an den ersten Band an.
Der stahlblaue Hintergrund könnte ein Obduktionstisch sein, ein Abdecktuch mit einer offenen Klemme, ein kleiner Blutrinnsal … weniger ist hier definitiv ein mehr!
Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rechtsmedizin & das gekonnt.Zum Inhalt:
Sabine Yao ist die Rechtsmedizinerin, um die sich diese Reihe dreht.
Sie führt die Ermittlungen der Spezialeinheit „Extremdelikte“. In dieser Ermittlung handelt es sich um mehrere Tote, die merkwürdig ausstaffiert und zur Schau gestellt wurden.
Zeitgleich versucht der jordanische Ex-Geheimdienstler Khalaf den kleinen 8-jährigen Yasser zu finden. Das Kind ist spurlos verschwunden.
In der bekannten Neuköllner High-Deck-Siedlung wird die Polizei verachtet & gerade deshalb ist es Khalaf, der durch seine Wurzeln und Auftreten, das Vertrauen der Bewohner hat.
Als die Leiche eines Kindes gefunden wird, ahnt Sabine Yao, dass die Zusammenhänge nur gelöst werden, wenn es gelingt, hinter die offensichtlichen Vorgänge auf das Verborgene zu blicken.
Die Ermittlerin Monica Monti vom LKA ist dafür bekannt, ihrer Intuition zu folgen. Eine spannende Ermittlung mit ungeahnten Herausforderungen nimmt seinen Lauf.Der zweite Band der Reihe hat schon vor seinem Erscheinen meine Neugier entfacht. Ich hatte hohe Erwartungen.
Mein persönlicher Eindruck vom E-Book:
Wie schon im Vorgängerbuch wir dem Leser allerlei fachspezifische Information an die Hand gegeben. Für mich war das gut so. Aber ich bin auch vom Fach. Mir hat es aufgezeigt, dass der Autor weiß, wovon er spricht. Das macht Eindruck.
Allerdings kann es sein, dass der ein oder andere Leser von soviel Informationen abgeschreckt wird.
Ich würde vorschlagen, diese Informationen beim nächsten Buch entweder ausgelagert am Buchende beizulegen oder diesen Input auf wesentliches zu kürzen.
Der Erzählstil:
liest sich flüssig und erhöht dadurch die Lesemotivation.
Die Kapiteleinteilung macht eine Orientierung leicht und ist wirklich gut gelungen.
Protagonisten:
leider ist der Schwerpunkt hier etwas verschoben. Weg von der Rechtsmedizinerin Yoa hin zu Khalaf.
Die beschriebenen persönlichen Lebensumstände der Protagonisten haben zu einer Vertiefung des Verständnisses für die jeweiligen Charaktere beigetragen.
Finale:
es ist sehr gut gelungen, die verschiedenen Ermittlungsstränge zu einem logischen Ende zu verknüpfen.
Insgesamt lässt mich der Thriller zufrieden zurück & ich freue mich auf einen neuen Band dieser Reihe.
Zusammenfassung:
Der Thriller gefällt mir sehr gut. Die Fälle waren außerordentlich, die Hintergrundinformationen sehr gut und es gab Augenblicke, in denen echter Nervenkitzel spürbar wurde.
Fazit:
Ein gelungener Rechtsmedizinthriller mit viel Fachinformationen.
Mein Kritikpunkt ist aber gerade der Punkt Fachinformationen.
Ich denke, dass diese einerseits die Kompetenz des Schriftstellers hervorhebt, aber andererseits aber auch entschleunigend auf das Lesetempo wirken könnte.
Die Storyline und Protagonisten konnten mich jedoch mitreißen und ich habe insgesamt eine spannende Unterhaltung genossen.Ich vergebe sehr gute 4*Lesesterne verbunden mit einer Leseempfehlung für Thrillerfans, die auch gern mal hinter die Kulissen sehen.
Ein umfangreicher Blick in die Geschehen einer Rechtsmedizinabteilung ist hier garantiert.ISDN: 978-3426528723
Formate: E-Book, Taschenbuch & Hörbuch
Seitenzahl:368
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Parallelwelten
Auch hier bekommt der Leser wieder einen tollen Thriller mit vielen forensischen Elementen. Als Leser sollte man bedenken, dass die Bücher von Herrn Tsokos etwas spezieller sind. Schließlich weiß er, wovon er schreibt. Forensische Themen spielen in diesem Buch eine große Rolle, aber ich persönlich finde das jetzt nicht zu dominant. Das gefällt mir. Dieser Autor bietet mir eine grenzgeniale Überlappung von "True Crime" und „Thriller“, garniert mit Autopsieberichten.
Alle Protagonisten sind gut ausgearbeitet und Herr Tsokos hat bei Frau Yao genau die richtige Mischung zwischen sympathisch und zielstrebig gefunden. Kleine Einblicke in das Privatleben der Ermittler runden die Charakterbeschreibungen ab.
Die Kapitel sind kurz und der Schreibstil wie immer spannend und gut lesbar. Als Leser weiß man immer, wessen Perspektive gerade beschrieben wird und wo und wann das Kapitel gerade spielt. Ich fand die Idee gut, mit Khalaf einen ganz anderen "Parallelermittler" zu schaffen, der dem Leser die andere Seite des Lebens zeigt. Das Thema "Parallelwelten" passt auch sehr gut zu Khalaf, da es mittlerweile in einigen Stadtteilen nicht mehr zu übersehen ist, dass Menschen ohne Sprachkenntnisse oder legale Papiere in diesem Land leben.
Das Buch ist spannend, aber Herr Tsokos ist auch immer sehr realistisch, so dass viel recherchiert wird und das Buch seine Spannung eher aus den geschilderten Umständen als aus wilder Action bezieht.
Etwas irritiert hat mich, dass Yassers Vater Malik Khatib heißt. Das wiederum ist der Bruder von Anton Pirlo. ( Serie von Ingo Bott ). Kann aber auch Zufall sein :).Etwas gefehlt hat mir die Charakterisierung und das Motiv des Täters. Dieser blieb dadurch sehr blass und ehrlich gesagt sehr unspektakulär.
Fazit: Perfekte Lektüre für Leser, die True Crime Thriller mit forensischem Schwerpunkt mögen.
Ich liebe diese Serie.
Rausch und Klarheit
Inhaltsangabe zu "Rausch und Klarheit"
Mia liebt den Rausch. Drama, Drinks und Exzess sind fester Bestandteil ihrer Identität. So schlimm wie bei ihrer Oma und ihrem Vater, die der Alkohol umgebracht hat, ist es bei ihr aber noch lange nicht, denkt sie. Doch als die Nächte ihren Glanz verlieren, die Kater schlimmer werden, und sich eine diffuse Hoffnungslosigkeit in ihr ausbreitet, ahnt Mia, dass sie ihr Leben ändern muss. Mit sprachlicher Wucht seziert Mia Gatow, wie sich die Sucht in ihre Familie und dann in ihr eigenes Leben schlich. Sie erzählt von den romantischen Mythen, die wir einander erzählen, um den Drink nicht loslassen zu müssen – und von der ungeahnten Schönheit, die sich eröffnet, wenn wir es doch tun.Lesern von "Rausch und Klarheit" gefiel auch
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Kluge, nüchterne und schonungslose Selbstanalyse
An dem Tag, als Mia aufgehört hat, ist sie voller Euphorie. Wie sie die Welt jetzt wahrnimmt, das Sonnenlicht, die Vogelstimmen, den Wind in ihrem Haar, sich selbst.
Zuvor hatte sie einen Bogen um Selbsthilfegruppen für Ex-Trinkerinnen gemacht, weil einem stets eine aus der Seele spricht, was bedeutet, dass man da richtig ist, hingehört, dass man mit dem Trinken aufhören muss.
Mia war eine funktionale Alkoholikerin. Sie trank nicht jeden Tag, doch wenn, dann mehr als sie sich vorgenommen hatte. Sie hatte nicht gleich als Jugendliche damit angefangen, obwohl es viele Berührungspunkte gab, denn sie ist damit aufgewachsen. In ihrer Familie war der Missbrauch von Alkohol normal, nicht der Rede wert. Sie fing damit an, weil es sie zu etwas Besonderem machte, schneller, wilder, verrückter, tiefsinniger, weniger langweilig und spießig.
Die Sucht hatte Mia schon vor ihren Alkoholexzessen besessen. Zuerst flutete der Dopaminkick sie in leidenschaftlichen Beziehungen. Sie war nicht wählerisch bei ihren Partnern, bis sie sich auf Männer einschoss, die doppelt so alt waren, wie sie, die gierig war zu gefallen und leicht zu kontrollieren und am Ende emotional ausblutete.
Als sie aufhörte, war das nur der erste Schritt, denn danach trat alles in klare Sicht, was zuvor nebulös geblieben war:
Meine brennende Wut, meine ungeheilten Kindheitswunden, mein irrationales Verhältnis zu Geld, mein verrücktes Beziehungsverhalten, meine Selbstsabotage, mein Selbstmitleid, meine Ausreden, meine falsche Toleranz … S. 12
Den Tiefpunkt, irgendein wirklich schlimmes Ereignis gab es bei ihr nicht. Ja sicher Blackouts:
Man hat ganze Stunden partieller Amnesie erlebt, in denen man wie ein Zombie herumgelaufen ist, sich unterhalten und am Leben teilgenommen hat, ohne selbst dabei gewesen zu sein. S. 17
Fazit: Ich bin ergriffen. Noch nie habe ich eine so glasklare, ehrliche Selbstanalyse einer ehemaligen suchtkranken Frau gelesen. Mia Gatow geht mit klugem, nüchternem, präzisem Erzählstil auf die Suche nach den Mechanismen der Sucht, die vielfältiger nicht sein könnten. Sie zeigt mir ihre Familie, den alkoholkranken Vater, die alkoholkranke Großmutter. Sie erzählt davon, wie die traumatisierte Nachkriegsgeneration in die kapitalistische Falle tappte, die der gestressten Frau Entspannung durch „Frauengold“ und „Klosterfrau Melissengeist“ versprach. Die Autorin verschont weder die emotional unreifen „Sugar Daddies“ noch sich selbst und ihren Hang zu Dramen oder den Hunger nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Die Autorin hat aus dem Vollen geschöpft und eine Lebenserfahrung gesammelt, die man einer deutlich älteren Frau zutrauen würde. Sie hat sich ihrer eigenen Wahrheit gestellt und emanzipiert. Mia Gatow „spricht mir aus der Seele“ Ihre Geschichte ist meine eigene und ganz sicher die vieler anderer Frauen. Es hat mich getroffen, einen anderen Menschen aussprechen zu sehen, was ich selbst erlebt habe und ich empfinde die gleiche Achtung vor ihr und ihrer Selbsthilfe, wie vor mir. Was für ein wichtiges und auch feministisches Buch, ein Tabubruch.
Die Nacht unterm Schnee: Roman
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Was für ein Buch! Überwältigend!
!ein Lesehighlight 2022!
Klappentext:
„Winter 1945: Verwundet liegt die sechzehnjährige Elisabeth, ein Landarbeiterkind, in einem Bunker unter der Erde und wird von einem russischen Deserteur gepflegt. Durch das Ofenloch hört sie Schritte im Schnee, und fiebernd stellt sie sich vor, dass dort oben nicht nur alle, die sie kennt und mag, ihre Eltern und Brüder, die Oma aus Danzig, sondern auch ihr künftiger Mann und die ungeborenen Kinder nach ihr suchen und sich über die Trümmer entfernen, ohne zu ahnen, dass sie darunter liegt. Und plötzlich denkt die Vergewaltigte, dass es gut so ist, dass sie nie mehr hinaufwill zu ihnen, zu allem, und für immer in dieser Nacht, diesem Frieden unter dem Schnee bleiben möchte. Aber sie muss ihr Leben zu Ende leben.“
Ich muss wirklich schreien. Warum? Weil mir diese Trilogie bislang nicht bekannt war und ich muss mich fast ein wenig dafür schämen. Autor Ralf Rothmann schließt mit diesem Buch seine Trilogie ab. Die wohl drängenste Frage: Kann man das Buch auch ohne die Vorgänger lesen? Antwort: kann man aber dennoch macht es Sinn die Vorgänger zu kennen bzw. eben dann die Verbindung besser herstellen zu können.
Die Geschichte hier handelt von Elizabeth. In jungen Jahren hat sie der Zweite Weltkrieg gezeichnet. Nicht nur die Verletzung hat sie geprägt, auch ihre Seele hat ganz tiefe Wunden davon getragen die sie ein Leben lang begleiten werden. Diese eine Nacht unter dem Schnee hat ihre Seele zermürbt und es lag einzig an ihr entweder den Schritt mach vorn anzutreten oder gar den letzten Schritt schnell und einfach zu gehen. Kann man Elizabeth verstehen? Rothmann macht es uns Leser mit seiner Wortwahl und seinem Ausdruck sehr leicht und wir leiden schreckliche Qualen selbst als Leser mit. Man möchte ihr so gerne helfen und ist durch die Buchseiten von ihr getrennt. Rothmanns Geschichte bewegt den Leser wahrlich ganz tief und der Schnee ist nicht nur Schutzschirm für Elizabeth sondern gleichzeitig das was sie am Leben erhält. Rothmann nimmt uns zart an die Hand um Elizabeths Entwicklung zu erlesen. Wir erfahren unheimlich viele Dinge von ihr und werden auch an die Art und Weise herangeführt warum sie so handelt wie sie handelt. Ihr Tun und Handeln ist keineswegs normal für uns aber sie sieht es als normal an. Was ich damit meine? Lesen Sie es selbst! In Elizabeth hat sich die Härte und auch in gewisser Weise der Zorn breit gemacht. Die Kälte des Schnees scheint in ihren Adern zu hängen und es ist erschreckend und erstaunlich gleicher Maßen was aus ihr wird. Dennoch kann man sie verstehen. „…einer lebenslang hart arbeitenden Frau und Mutter, die von einem Rummel zum anderen tanzt, um nicht mehr zur Besinnung zu kommen, und vor der man sich doch verneigen muss: weil sich in ihrer Verzweiflung der Wille zur Liebe ausdrückt.“ besser kann man es einfach nicht ausdrücken! Ich bin wirklich überwältigt von diesem Werk und werde definitiv die beiden Vorgänger noch lesen! Dieses Buch hier war ein wahres Lesehighlight 2022 und genau deshalb gibt es 5 von 5 Sterne von mir!
Irgendetwas dazwischen (Edition Belletristik)
read moreDas Glück ist grau
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Ein toller Esel
Der Journalist Christopher McDougall erwirbt mit seiner Frau eine Farm im am Rande eines Amisch County. Es dauert nicht lange und die Beiden beherbergen einige Tiere. Bald kommt ein kleiner Esel hinzu. Er wurde aus einer schlechten Haltung gerettet und Christopher konnte Sherman einfach nicht seinem Schicksal überlassen. Zunächst kümmert er sich um die gesundheitlichen Probleme des Esels. Doch wie soll er die Seele des Tieres wieder aufrichten? Sherman scheint allen Mut und das Vertrauen verloren zu haben. Als Christopher von den Esel Rennen erfährt, hat er eine Idee. Er, selbst ein Läufer, versucht, Sherman zu trainieren und erfährt erstmal, was man dabei alles falsch machen kann.
Wenn man weder etwas vom Laufen versteht noch etwas über die Haltung von Eseln weiß, bietet dieses Buch einige Überraschungen. Der Autor selbst wird von seinem Wunsch zu helfen angetrieben. Er will Shermans Leben wieder lebenswert machen und er stellt fest, dass Sherman sehr wohl merkt, wer ihm Gutes tut. Das heißt nicht, dass immer alles glatt geht, aber die beiden grooven sich ein. Das große Ziel, von dem Sherman nichts weiß, ist ein Esel-Rennen. Auf dem Weg dahin gibt es einige Hindernisse zu überwinden. Manchmal schient das Ziel in unerreichbare Ferne zu rücken.
Halb dokumentarisch ist dieses Buch, beinahe romanhaft geschrieben. Man kann Shermans Geschichte im Internet finden und sich freuen, mit welcher Energie er durch die Gegend trabt. Man merkt, dass der Autor Läufer ist und sich für viele Arten des Laufens begeistert. Er begeistert sich auch für Menschen. So hat er liebenswerte Worte und Geschichten über viele Menschen aus seiner Umgebung. Manchmal wird schweift er dabei etwas ab, so dass es für Leser, denen die Expertise an gewissen Themen fehlt, etwas langatmig werden kann. Auch ist zu finden, dass der Autor inzwischen auf Hawaii lebt. Bleibt also zu hoffen, dass Sherman entweder mitkommen konnte oder er ein anderes liebevolles zuhause gefunden hat. Shermans Rettung und wie er wieder aufgepäppelt wird ergibt eine berührende Erzählung, die eine ansprechende Erweiterung des Lesekanons darstellt.
3,5 Sterne
Vernichten: Roman
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Bis ins Feinste konstruiert und geplant
Nach all den fürchterlich akademischen Rezensionen, die ich in den letzten Jahren über Houellebecq überflogen hatte, erwarte ich bei »Vernichten«, einem mit reichlich 600 Seiten recht dicken Buch eigentlich das Schlimmste: akademische Kärrnerarbeit, sich durchpflügen im Schweiße des Leser-Angesichts, Migräne und hoffen auf raschen überfliegen des Wälzers.
Weit gefehlt: Der Mann schreibt so leichtfüßig und witzig, dass ich geradezu spielerisch über ellenlange Schachtelsätze hinweg lese, oder auch nur einmal ins Stolpern zu kommen.
Die Story? Ein echter Thriller. Verdammt, warum hat mir das keiner gesagt! Immer wieder nur das Gerede, ob Houellebecq nun politisch korrekt oder neo-konservativ sein. Was mir hier wie Butter (bescheuerte Metapher) durch die Seiten fließt, ist Unterhaltung von Feinsten. Und dann noch diese schrägen Geschichten, die wir alle irgendwie kennen: Streit um ethisch korrekte Ernährung, irgendwie abgeschmierte Computer, Langweile beim Sex in einer ausgelebten Beziehung etc. Der Mann holt uns da ab, wo wir leben. Und entführt uns dann in eine skurrile Fantasiewelt, die so utopisch zu sein scheint wie die Vorstellung, Putin würde die Ukraine angreifen, noch im Januar 2022.
Inzwischen wissen wir es besser. Einzig gewiss ist, dass nichts mehr gewiss ist. Positiver Nebeneffekt: Die Langweile der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts gehört der Vergangenheit an. Und so schaue ich sie mir halt an bzw. lese sie in mich rein, die Vernichten-Fantasiewelt des kettenrauchenden Franzosen.
Mit seinen früheren Büchern soll er ja bereits visionär in die Zukunft geschaut haben. Ist er ein Seher? Nun ja, nicht übertreiben, wie John Brunner, der mit »Schafe blicken auf« in den 70er-Jahren eine faszinierende Endzeitdystopie verfasste, in der Öko-Terroristen ein letztes verzweifeltes Gefecht gegen die naturzerstörende Zivilisation führen, und George Orwell, der nach dem Zweiten Weltkrieg in »1984« eine Vision des Totalitarismus schrieb, ebenfalls zeitlos aktuell. Sie konnten auch in die Zukunft schauen, von Science-Fiction-Autoren Jules Verne oder Hans Dominik mal ganz abgesehen.
Habe ich schon gesagt, dass »Vernichten« leichtfüßig daherkommt? Leichtfüßig, nicht so eine ätzende Betroffenheits-Empörungs-Shitstorm-Prosa, kein Kulturpessimismus oder dergleichen. Leichtfüßig!
Gewöhnlich stürzen sich Literaturkritiker auf die erotischen Stellen, die ihnen der französische Erfolgsautor gleich Fleischhappen vor die Füße wirft. Zugegeben: Seine Muschi- und Fick-Passagen auf den Seiten 68 ff. reichen fast an das Niveau eines deutschstämmigen Amerikaners heran, der vor einem Jahrhundert nach Paris ging, die Damenwelt und die Sternen gleichermaßen liebte. Wie Henry Miller in »Wendekreis des Steinbocks« schwenkt Michel Houellebecq elegant von Genitalen und zur Götterwelt, wobei seine Kenntnisse, was linkshändisches Tantra-Yoga betrifft, speziell bei den Tibetern, von tiefer Sachkenntnis zeugt.
Überzeugt hat mich jedoch eine ganz andere Szene, nur vier Seiten weiter, wenn zu Beratern der Arbeitsverwaltung bemerkt, dass sie zu bemerkenswerten Vorspiegelungen von Optimismus in der Lage seien, geschult in Clown-Workshops, dass sich die psychologische Betreuung von Arbeitslosen in den letzten Jahren stark verbessert haben - die Arbeitslosenquote jedoch nicht gesunken. Letzte Woche las ich diese Zeilen einem hiesigen Arbeitsamtsberater vor, in seinem Dienstbüro: Nicht nur, dass er es bestätigte, der Mitarbeiter outete sich zudem als begeisterter Leser des Franzosen.
Die Hauptfigur des Romans ist in der Oberschicht angesiedelt. Ich erinnere mich an eine Dampferfahrt durch die Kanäle von Straßburg, wo uns der Stadtführer auf eine jener französischen Eliteuniversitäten hinwies, in denen ausschließlich Staatsbeamte »herangezüchtet« werden. Meine Begleiterin zum Europaparlament las in »Rückkehr nach Reims« einer Autobiografie des französischen Soziologen Didier Eribon. Wie die administrative und politische Elite Frankreichs mit den Jahren immer mehr von den Sorgen und Nöten der verarmenden Mittel- und Unterschicht abhob, die Sozialisten den Kontakt zur Arbeiterklasse zugunsten der Rechtsextremen verloren, beschreibt Didier Eribon eindringlich.
Michel Houellebecq ist bei aller intellektuelle Brillanz nicht abgehoben. In seinen Roman fügt er Protagonisten ein, die extremen sozialen Spannungen des modernen Frankreich transportieren. Der Autor weiß sehr wohl um die Sorgen der ganz einfachen Leute und ihre miserablen Jobchancen, die in Nordfrankreich genauso wenig von den Eliten der Gesellschaft ernst genommen werden wie in Ostdeutschland, hier und dort zu Staatsverdrossenheit führen.
Ich habe noch während des Lesens auf die Kritiken geschielt und bin solchermaßen vorgewarnt. Der Autor wird es nicht beim Thriller belassen, sondern abrupt das Genre wechseln, Handlungsfäden aufgeben, Figuren verlassen. Quasi in einem Pentagramm soll er fünf moderne Gesellschaftsgruppen vorstellen, alle gleichsam sinnentleert durch eine Industrialisierung, die den Arbeiter weitgehend überflüssig macht, die Gesellschaft in schlecht bezahlte Handlanger und eine sorglose Elite spaltet - ein Grundthema, das sich in seinem literarischen Œuvre spiegelt.
Im Westeuropa der 60-er Jahre fing die Malaise mit der Krise von Kohle und Stahl, als die Importe aus Asien billiger wurden, schließlich die Werften geschlossen wurden, Elektroindustrie, Textil- und Schuhindustrie bankrott gingen, nach dem Fall der Mauer im Zeitraffer gleiches in Osteuropa. Was blieb, waren Billiglöhne plus jene neue Oberschicht, die von Silicon Valley aus mit technologischem Know-how mal eben übers Wochenende in den Weltraum fliegen kann, während unten auf Erden der Amazonas-Urwald gerodet wird, um den Rohstoffhunger der Massen zu stillen, Lieferung per Mouseklick als Premium-Delivery für jene, die es sich leisten können.
In »Elementarteilchen«, dessen Verfilmung die wesentliche philosophische Themen ausspart aber in ihrer x-beliebigen Seichtheit den Zeitgeist des beginnenden 21. Jahrhunderts in der westlichen widerspiegelt, stellt er u.a. die neu-religiöse Bewegung des »Raelismus« vor. Wozu noch Geschlechtsverkehr, wenn sich mithilfe der Biotechnologie Menschen künstlich reproduzieren lassen? In meinen Augen ein Luxusproblem, das damals meine Freunde in der wohlhabenden Schweiz genauso ernst diskutierten wie das Recht auf Freitod. Zwar waren sie allesamt kerngesund, als wir im Motorboot von Romanshorn aus bei den sündhaft teuren Nachtklubs am Bodensee anlegten. Aber sie sorgten sich: Warum noch schwanger werden, wenn Klonen möglich ist. Warum nicht mit Gift vorsorgen, falls man irgendwann, vielleicht, unheilbar krank sein würde?
Der Franzose ist etwa in meinem Alter. Ich kann nachvollziehen, wenn er in einem FAZ-Interview bemerkt, dass die Gesellschaft mit den Jahren und Jahrzehnten immer unfähiger wurde, zu differenzieren und unterschiedliche Meinungen zu ertragen. Damals in Hamburg auf dem Gymnasium diskutierten wir unter Anleitung des Sozialkundelehrers noch ganz frei über Unterschiede zwischen dem demokratischen Sozialismus der DDR und der sozialdemokratischen BRD, verglichen Pros und Kontras, wie beispielsweise die sehr viel liberalere Abtreibung-Gesetzeslage bei unseren Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs. Heutzutage, im Zeitalter von linksliberaler Political Correctness und neu-rechten Fake News gänzlich undenkbar.
Einige existenzielle Umbrüche haben wird erlebt, der Franzose und ich: Der Fall des Eisernen Vorhangs, die digitale Revolution, den Siegeszug des Internets, einstürzende Zwillingstürme 9/11 live on TV. Doch im Grunde ist alles viel gleichförmiger geworden seit damals, als uns jungen Burschen Flower-Power umgab, als Jimi Hendrix und Janis Joplin »live fast, die young« zelebrierten. Außer Shitstorm bei Facebook, wenn man/frau nicht gendergerecht postet, ist eigentlich alles langweilig geworden.
Der Schreibens überdrüssig sei er geworden, der französische Skandalautor mit dem unaussprechlichen Namen. Alles sei gesagt, alles sei geschrieben. Rückzug ins Private, in den Schoß der Familie, soll sein neuestes Werk »Vernichten« propagieren, schreiben die Kritiker zu Beginn des Jahres 2022, das so langweilig begann wie fast alle Jahrzehnte zuvor.
Doch halt! Es ist Frühling geworden und in der gar nicht so fernen Ukraine sind es einzig Tretminen und Blindgänger, die in den Gärten sprießen. Zu Ostern kommen keine Hasen und bringen Eier, sondern Raketen fallen vom Himmel und wer sich nicht rechtzeitig wegducken kann, wird von Scharfschützen niedergemetzelt. Wir sind alle dabei, online via Livestream, den Hunderte über dem Kampfgeschehen kreisender Satelliten auf unsere Smartphones schicken. Es geht ums Überleben. Und wenn der hässliche Zwerg in seinem Bunker dort drüben auf den Roten Knopf drückt, fallen regnen auch bei uns im ach so so langweiligen Westeuropa die Atombomben vom Himmel.
Michel Houellebecq, wenn du bei deinem letzten Roman noch gedacht hast, es gäbe nichts mehr zu erzählen, die Dekadenz der Gesellschaft würde durch ewigen Fortschritt der Maschinen beschleunigt, dann warst du ausnahmsweise mal kein guter Seher. Ich denke, klammheimlich hast du deinen Schriftsteller-Laptop schon längst wieder hochgefahren und arbeitest an deinem nächsten Roman. »Vernichten«, der Titel deines letzten, passt momentan wie die Faust aufs Auge.
Doch was kommt danach? »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen«. Dieses Lutherzitat sollte dem kettenrauchenden Atheisten ins Poesiealbum geschrieben werden. Obwohl - stets war der Franzose seiner Zeit voraus. Nicht unwahrscheinlich, dass sein nächster Roman im Schrebergartenmilieu spielt, mit lachenden Kinder und Ostkuchen zum Kaffee. Das Leben geht in Zyklen. Auf die Nacht folgt der Tag und auf eine sinnentleerte Konsumperiode vielleicht eine Zeit der Entbehrung, die Sinn stiftet?
Am Tag der Frankreich-Wahl und des des andauernden Bombardements auf die Ukraine während des russischen Osterfests sprach lange in einem Café hier am Postplatz mit einem polnischen Geschäftsmann, der Jared Diamonds »Arm und Reich« las und dem ich das Nachfolgewerk »Kollaps« empfahl, zugleich auf das Faustische des Krieges verwies und Goethes Mephistopheles zitierte: »Ich bin die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« Ob der Vernichtungswille Putins, der eine nie dagewesene Einheit Europas erzeugte, letztendlich zum Wiederentstehen des Jagiellonenreichs führen wird wie zu Shakespeares Zeiten, als im »Hamlet« ein Abgesandter des damals mächtigsten Staates von Europa auftrat, der Personalunion von Polen, Lettland und der Ukraine umfasste, vom Schwarzen Meer bis zu Ostsee?
Spielt die Erzählung wirklich in der Zukunft, im Jahr 2027? Zwar geht es um die Präsidentschaftswahl in fünf Jahren, jedoch ist es ein Gegenwartsroman, den ich hier lese, und ich befinde mich in einer Gegenwart, die eine Zeitenwende darstellt, merke wie ich hin- und herspringe bei der Bewertung. Was mich am Lesen hält ist die stoische Ruhe der Hauptfigur, die moralische Unaufdringlichkeit des Autors und seine ungeheure Belesenheit, die niemals eitel daherkommt. Eigentlich ist es ein langes Selbstgespräch, das der Regierungsbeamte Paul hier vollzieht. Ständig reflektiert und hinterfragt er, was er wahrnimmt, sogar das, was er sagt. Und es wirkt nicht gekünstelt. Das kann nur große Literatur.
Es ärgert mich, wenn ich Rezensionen lese, in denen Kritiker bemängeln, sie seinen durch Houellebecqs neuesten Roman nicht ausreichend »unterhalten«, er amüsiere sie nicht wie in früheren Werken. Genauso unsinnig Kritiken, wonach Handlungsstränge verloren gehen oder Figuren im Nichts verschwinden. Hier waren Rezensenten am Werk, die es gewohnt sind, Seiten zu überblättern, um schnell durchzukommen. Nichts habe sie verstanden!
In »Vernichten« geht es viel ums Sterben, um Pauls Vater, der nach einem Schlaganfall ins Koma fällt, daraus erwacht, jedoch nur noch »Gemüse« ist – ein Schicksal, das die Hauptfigur auch ereilen wird. Eine Metapher für die westeuropäische Zivilisation, um deren Niedergang Houellebecq sich auch in früheren Werken Sorgen macht. Er ist ein Aufklärer, und das, was zynisch herüberkommt, ist im Grunde als Warnung gemeint.
Bemerkenswert, wie elegant Innenwelt und Außenwelt in der Erzählung verknüpft werden. Der Autor beschreibt seine Figuren nicht mit Haarfarbe oder Altersangabe, sondern wesentlich eleganter, so auf Seite 151:
»Sie hatte ›Vater‹ gesagt, nicht ›Papa‹, dachte Paul, vielleicht hatte sie an Weihnachten wirklich Familienprobleme gehabt, sie begann ihm fast sympathisch zu werden, diese dämliche Spießbürgerin.«
Faszinierender Umgang mit personalen Erzählperspektiven. Es Ruhe, dieses Buch zu lesen. Man muss sich Zeit nehmen – und wird belohnt mit jener stoischen Ruhe, die der Autor beim Schreiben an den Tag legt und seinem tragischen Helden dazu verhilft, so gut wie jedes Glück und Unglück gelassen zu ertragen. Kaiser Hadrian, dessen Regentschaft zu den friedlichsten und stabilsten des Römischen Reiches gehörte, soll ein Anhänger der Stoa gewesen sein, jener vom Griechen Zenon begründeten Philosophie der Ruhe und Gelassenheit, die dem chinesischen Zen-Buddhismus nicht unähnlich ist.Noch einmal zurück zu Henry Miller: Wie nahtlos Houellebecq in seinen Erzählstrom Alltagserlebnisse, Traumsequenzen, Erotisches und Spirituelles verknüpft, erinnert stark an jenen Autor, der einhundert Jahre zuvor von New York nach Paris kam, sich als Autor nur seinem inneren Erleben verpflichtet fühlte, der nach vielen Mühen einen französischen Verleger fand, mit Prozesses wegen angeblicher Pornografie überhäuft wurde, dessen Werke bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Index standen.
Ob der kettenrauchende Franzose Michel seine Bücher gelesen hat? Auf jeden Fall ist er ein würdiger Nachfolger des zu Unrecht als Schmuddelautor diffamierten Henry. Es sind dieser kluge, freigeistige Duktus, dieses Verabscheuen spießbürgerlicher Konvention, der forschende Blick auf die Wahrheit hinten den Masken und die Verehrung des Weiblichen, fast zur Gottheit erhoben, auf jeden Fall im krassen Gegensatz zum Christen-Herrgott, diese einst von Nietzsche und Warburg beschriebenen Dichotomie von apollinischer und dionysischer Kulturgeschichte des Abendlandes, die Houellebecq und Miller gemein ist.
Fast in der Mitte des Buches angelangt möchte ich den Literaturkritikern insofern Recht geben, als dass der Roman zu lang ist – ein Phänomen, das sich auch bei anderen fest etablierten Autoren wie Stephen King zeigt, die sich dem entdeckenden Schreiben hingeben, anstatt zu plotten, zu strukturieren und immer wieder zu überarbeiten, überflüssige Adjektive, Sätze, ja ganze Absätze, Passagen und Figuren in immer neuen Überarbeitungen zu eliminieren, wie es Ernest Hemingway meisterlich verstand. Doch dies nehme ich beim weiteren Lesen zurück.
Wenn in Rezensionen davon die Rede ist, dass Houellebecq lose Fäden zurücklässt und Protagonisten ins Nichts laufen lässt, dann stimmt dies nicht. Es fehlte jenen, die dies behaupten, nur jene stoische Ruhe, derer es beim Lesen guter Bücher bedarf. Der Autor widersetzt sich lediglich dem Dogma modernen Verlagslektoren, wonach Bücher heutzutage »lesertauglich« zu sein haben, es Action und Thrill bedarf. »Ein Buch ist wie ein Freund« heißt es. Spätestens im letzten Drittel der 620 Seiten ist es mir zum freundlichen Begleiter geworden, fühle ich mich wohl in der vom Autor geschaffenen Welt und blicke voll Sorge auf die schwindende Seitenzahl. Viel gäbe es noch zu erzählen über »Vernichten«.
Nicht in allem möchte ich vorgreifen. Nur dies noch: Bis ins Feinste ist es konstruiert und geplant, beispielsweise wenn Bruno zu Beginn des Romans in sein Kinderzimmer kommt, zum ersten Mal seit vielen Jahren, und die Poster an den Wänden betrachtet, die seit seiner Teenie-Zeit dort hängen, so ist auch dies eine Klammer, die zum Ende geschlossen wird, mit tiefem Ernst und Tragik – jedoch mit jener Heiterkeit, die dem Autor zu Eigen ist und das Lesen zum Genuss macht.
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Zahme Dystopie eines Unverbesserlichen
„Vernichten“ setzt ein mit einer Reihe rätselhafter, anscheinend unzusammenhängender Terroranschläge, die die Sphäre von Paul Raison erschüttern. Paul ist der Vertraute und Assistent des amtierenden Finanzministers, einer Art grauen Eminenz in der Regierung. Dieser Erzählstrang ist der wichtigste des Romans und handelt vom Wahlkampf um die Präsidentschaft im Jahr 2027.
Ein weiterer Strang handelt von Pauls Vater, einem ehemaligen hochrangigen Geheimdienstler, der nach einem Schlaganfall ins Koma fällt, und prangert die miserablen Zustände in Krankenhäusern und in der Altenpflege an.
Im dritten Strang geht es um die Wiederbelebung von Pauls Ehe mit Prudence, die seit 10 Jahren quasi kontaktlos in derselben Wohnung leben. Zunächst habe ich mich von der sensiblen Schilderung dieser langjährigen Ehe bestechen lassen. Immerhin ist „Vernichten“ mein erster von drei Houellebecqs, bei dem ich NICHT alle 10 Seiten das Bedürfnis hatte, das Buch an die Wand zu schmeißen. Die üblichen hasserfüllten Sexismen und Wichsexzesse bleiben uns in diesem Roman erspart, H. ist offenbar altersmilde geworden. Meine Verblüffung hielt jedoch nicht lange vor. H. geht nicht so weit, das Unglück seiner armseligen Männer auf die patriarchalen Strukturen zurückzuführen, die sie um den Preis ihres Glückes aufrecht erhalten wollen. Es ist ihre Unfähigkeit, intime Beziehungen auf Augenhöhe zu führen, die in die Einsamkeit führt. H. hält dies für naturgegeben, notwendig, ja heroisch. In Houellebecqs Welt sind Männer die Inhaber der Macht und Frauen tun das, was sie „von Natur aus“ am besten können, nämlich lieben, mitfühlen, unterstützen, kommunizieren – und kochen.
Ein vierter Strang dreht sich um Pauls künstlerischen, schwachen, lebensuntüchtigen (weil „unmännlichen“) Bruder Aurélien. Dieser wird durch seine Frau gedemütigt, indem sie nicht von ihm schwanger werden will, sondern den Samen eines Schwarzen aus einer Samenbank vorzieht. Der ultimative Alptraum des weißen Hetero, Houellebecq, wie er leibt und lebt, patriarchalischer Rechtspopulismus pur.
Damit können letztlich auch die vielen klugen, oft brillanten Überlegungen zu gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen nicht versöhnen, mit denen er den Niedergang Europas beschwört. Buchtitel und Einstieg versprachen eine saftige Dystopie – leider versandet dieser Strang in vagen Satanismustheorien ohne jede Auflösung. Am Ende bleibt uns nicht mal die aufopferungsvolle Ehefrau erspart, die buchstäblich mit Todesverachtung ihren sterbenden, nach Verwesung stinkenden Ehemann besteigt – wahre (weibliche) Liebe eben.
Dazu kommt das behäbige, antiquiert wirkende langsame Erzähltempo. Insgesamt hätten 100 Seiten weniger (mindestens!) dem Buch gut getan. Das Dankeswort am Ende überrascht mit der Ankündigung, dass „Vernichten“ Houellebecqs letzter Roman gewesen sein wird.
Dazu zitiere ich Christine Lehnen von DW.com, besser kann man es nicht sagen: „In unzähligen Romanen hat er sein Anliegen erfüllt: die Einsamkeit der männlichen Existenz im Patriarchat in der Literatur zu verewigen. Das ist ihm gelungen. Man möchte nur noch eines rufen: Bravo! – und Adieu.“
Leider keine Leseempfehlung.
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Vom Leben und vom Sterben.
Kurzmeinung: Ich kann nicht anders, ich muss alle Sterne vergeben!
Grob gesagt geht es ums Sterben. Und um den Tod. Die beiden unleidlichen Begriffe, die, wie wir ja wissen, aufs Engste verknüpft sind. Grundaussage des Buches: der Tod vernichtet das Leben. Lapidar. Und doch, wie Michel Houellebecq das macht, wie er sein Sujet handhabt, das ist schon grandios, Er schleicht sich von hinten an dich ran.
Was ich an Michel Houellebecqs Romanen bisher (lediglich gelesen: Unterwerfung, abgebrochen: Serotonin) mag, das ist vor allem der jeweilige politische Kontext. In „Vernichten“ wie in „Unterwerfung“ schaut der Autor auf Frankreich. Zwar siedelt er das Romangeschehen beide Male um ein Weniges in der Zukunft an, doch hat er ein scharfes Auge auf die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse im Land. Seine Analysen sind messerscharf.
Im vorliegenden Roman nimmt Houellebecq vor allem den Wahlkampf ins Visier, zeigt die Verflechtungen, Berechnungen und die Manipulationen auf, die die Wahlkampfagenturen aushecken. Politiker werden geschult, jedes Wort, das sie im Interview sagen, wurde gebrieft; der Kandidat wird mit seinem Privatleben unter die Lupe genommen; nichts bleibt vor dem Skalpell verschont: passt, passt nicht, muss verändert werden, verstärkt, darf nie ans Licht kommen, etc. etc. Letztlich geht es immer darum, wie verkaufen wir die Öffentlichkeit für dumm? Laut Houellebecq. Zwischen den Zeilen. Doch da steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit darin. Der Wirtschaftsminister, der den Kandidaten massiv unterstützt, und der eine gute Stimme hat, lernt zuhause Arien zu singen, und rezitiert Gedichte. So kommt sein Timbre noch besser an. Er bekommt auch eine intelligente junge Geliebte, damit er nach einer gescheiterten Ehe bessere Laune ausstrahlt. Das ist Bruno Juge, der Minister, der arbeitsbesessen sozusagen im Ministerium wohnt und dem Paul, dem Protagonisten, als persönlicher Assistent unterstellt ist. Eine gut bezahlte Vertrauensstellung.
Mit Paul kommt die private Komponente ins Buch. Die Familie. Schwelende Konflikte, scheiternde Ehen, ungelöste Fragen, Suizid, Krankheit, Tod. Sex scheint das einzige Verteidigungsmittel zu sein, das einem Mann gegen das Herannahen des Todes zur Verfügung steht. Vergessen wir nicht, es ist ein Houellebecq, den wir lesen! Frauen haben eine dienende Rolle. Sie sind allzeit bereit, ständig am Mann interessiert und erfreuen ihn sexuell. Das machen sie freiwillig und gern und umsonst! Wie Raxanne eben, die Wahlkampfassistentin von Bruno!
Eine einzige Ausnahme ist Solène Signal, die Chefin der Werbeagentur, Präsidentenmacherin, sie ist natürlich unsympathisch und kommandiert alle rum und hat (wahrscheinlich) ein Verhältnis mit ihrem Assistenten, der insofern kein richtiger Mann ist.
„Einem wirklichen Schriftsteller kann es gelingen, uns an den Tod zu erinnern. An unseren ganz persönlichen Tod. Jeder weiß, dass das Leben irgendwann endet. Aber selten machen wir uns klar, dass wir selbst es sind, die sterben werden. Während die Welt ungerührt weiterexistiert. Literatur öffnet uns manchmal für Momente die Augen für diese Wahrheit, vor der wir sie sonst zumeist schließen“. Das sagt Marcel Reich-Ranicki in Fokus Online vom 9.9.2015, geschrieben von Uwe Wittstock:
Hat Houellebecq dies geschafft? Ist ihm diese Auseinandersetzung mit uns selbst gelungen? Die Schilderung einer schlimmen Krankheit, einer sehr seltenen Krankheit sogar, ist dann doch zu selten; so dass man sich zwar entsetzt, aber man identifiziert sich nicht. Man ist nicht angefasst, wie man heute so schön sagt.
Je mehr sich der Autor vom Sog des Privaten einsaugen lässt und uns, die Leser, einzusaugen versucht, desto mehr entfernt er sich von seinem spannenden Ausgangskonzept. Cybermobbing und Cyberterrorismus. Es gerieten dubiose Sektierer in den Fokus der Ermittlungen. Und der Autor stellte mittels seiner Figuren manche Überlegungen an, die der Komik nicht entbehrten. Wiccaisten treten auf. Katholische Aktivisten. Leider bleibt aber dieser Strang lose in der Luft hängen. Gerade noch den Ausgang der Wahl bekommen die Leser am Rande noch so mitgeteilt. Und dass Bruno darauf spekuliert, selber Kandidat zu werden, war von Anfang an keine Überraschung. Der Erkrankte hat das Interesse an Politik verloren. Verständlich. Der Leser aber nicht.
Im Privaten geht es weiter um Krankheit: Apoplexie. Wie geht die Familie damit um? Wie die Öffentlichkeit? Wie das Gesundheitssystem. Hier ist man ständig am Nicken. Liegt doch so vieles gesellschaftlich im Argen. Krankheit und Alter per se scheint ein Angriff auf die Jungen und Gesunden zu sein. Und ein Krankenhaus oder eine Pflegeeinrichtung sind Welten für sich. Abgeschlossene Welten. Es gibt nur Drinnen oder Draußen.
Um sich dagegen Vereinnahmung auf Seiten des Gesundheitswesens (eigentlich Krankheitsverwaltung) einerseits und gegen die Abschiebung in die Unsichtbarkeit und damit in die Nichtexistenz zu behaupten, gibt es nur die Werkzeuge Vermögen und Hingabe. Nur die Wohlhabenden können sich die beste Behandlung sichern, dh. eine menschenwürdige, und nur die Menschen, die jemanden haben, der sie mit Hingabe betreut, haben noch ein lebenswertes Dasein. Und wer pflegt voller Hingabe und Leidenschaft und Opferbereitschaft? Frauen. Und wer wird im Gesundheitssystem ausgenutzt: ausländische Pflegekräfte. Weiblich.
Houellebecqs Roman ist vielfältig und komplex. Und obwohl er mich zuletzt im Regen stehen lässt, wie seinerzeit Steinfests „Das grüne Rollo“, ist er auch genial.
In den Traumbildern, die Houellebecq alle Naselang entlang des gesamten Romans präsentiert, treffen sich jeweils zwei Ebenen, eine Surreale und eine des Horrors. Mit Fug und Recht kann man sie als Verarbeitungsprozeß interpretieren, eine Reaktion des Unterbewusstseins auf die Todesbedrohung.
Am meisten liebe ich die Beschreibungen der Landschaft, die der Sterbende noch einmal intensiv erlebt. Wunderbarst die Hommage an die Natur. Ich kann den Wald atmen. Der gesamte Wald wird von einem Wind gebeugt, stark und doch sanft. Die letzte Phase des Sterbeprozesses wird dadurch symbolisiert, ein Bild der Ruhe: die vollkommene Akzeptanz.
FAZIT: Trotz einiger Abstriche und trotz des vermittelten Frauenbildes, bei dem man nie weiß, wie es gemeint ist, als bloßes Abbild des Realen (Frau trägt ja tatsächlich die Last der Pflege und des sozialen Leben und sie ist Sexdienstleisterin) oder als Wunschbild, es möge so bleiben, ist „Vernichten“ selbstverständlich große Literatur.
Kategorie: Anspruchsvoll. Belletristik
Verlag: DuMont Buchverlag, 2022
Als ungekürztes Hörbuch gehört und hervorragend gesprochen von: Christian Berkel.
In den Wald
read moreRezensionen zu "In den Wald"
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Vorhang auf für Martino
Als die Lehrerin Silvia aus der Tageszeitung vom Tod ihrer elfjährigen Schülerin Giovanna erfährt, gibt es für sie nur eine Entscheidung: Sie kann jetzt nicht in die Schule gehen, sondern sucht Unterschlupf im Wald. Dort, wo sie selbst schon als kleines Mädchen mit ihrem Cousin Anselmo gespielt hat, jeden Baumstumpf kannte, jedes Tier. Sie fühlt sich schuldig, hatte sie doch noch kurz zuvor einen Anruf bei der Mutter Giovannas getätigt. Wie lebt es sich mit diesen Schuldgefühlen? Und wie verschwindet man als Erwachsener eigentlich am besten, wenn man gar nicht gefunden werden möchte? Darüber und über so viel mehr schreibt Maddalena Vaglio Tanet in ihrem Debütroman "In den Wald", der in Italien für den Premio Strega nominiert war und in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki bei Suhrkamp erschienen ist.
Sofort ins Auge sticht die stilvolle Covergestaltung mit dem herbstlichen Wald und der überproportional großen Schrift, die an den italienischen Giallo erinnert und die Leserschaft damit unmittelbar in den Herbst 1970 katapultiert, den Zeitpunkt der Romanhandlung. Wer nun allerdings auf Thriller- oder gar Horrorelemente hofft, wird enttäuscht, denn Maddalena Vaglio Tanet setzt vielmehr auf eine sich still und langsam entwickelnde Handlung. Auch wenn Silvia durchaus ihre Gespenster sieht.
Dabei ist es nicht nur der Wald als Handlungsort, der dem Roman eine märchenhafte Komponente verleiht. Wenn Silvia und Anselmo als Kinder allein durch ihn streifen, um Pilze zu sammeln, meint man im Hintergrund die Hexe in ihrem großen Lebkuchenhaus zu wittern. Und natürlich gibt es auch einen Helden: Vorhang auf für den elfjährigen Martino, dessen magische Fähigkeiten sich allerdings darauf beschränken, auf seine innere Stimme zu hören und sich mit Herz und Verstand den zahlreichen Gefahren des Waldes - und des Lebens - zu stellen.
Denn so viel sei verraten: Letztlich ist es Martino, der die Lehrerin im Wald findet. Ein kleiner Asthmatiker aus Turin, der wegen seiner Krankheit und der besseren Luft seinen Weg in diese ländliche Umgebung des Piemont gefunden hat und sich nun dem Dilemma ausgesetzt sieht: Was macht man mit einem Menschen, der gar nicht gefunden werden möchte? Noch dazu eine Lehrerin...
Wie Maddalena Vaglio Tanet dieses Dilemma in Szene setzt, wie sie sich hineinfühlt in Martino, Silvia und die zahlreichen anderen Nebenfiguren, ist ganz große und herzerweichende Kunst. Ganz besonders erstaunlich ist dabei ihr Gefühl für die Kinderfiguren, deren Zweifel und Ängste sie in jedem Moment greifbar macht. So ganz nebenbei gelingt ihr mit Martino dabei eine der wohl liebenswertesten Jungenfiguren der jüngeren zeitgenössischen Literatur. Hier spürt man, dass Vaglio Tanet in Italien bereits Kinderbücher veröffentlicht hat. So vorsichtig wie zärtlich nähern sich die beiden Hauptfiguren einander an: sie, die alleinstehende Lehrerin, die für die Schule lebt und er, der Junge, der die große Stadt und seine Freunde vermisst. Zwei einsame Außenseiter:innen, deren Leben durch die Begegnung im Wald eine dramatische Wendung nimmt.
Auch sprachlich hervorragend ist zudem die Schilderung des Waldes, der wie eine eigene Figur Raum einnimmt. Dieser Wald, zugleich Schutz und Gefahr, wird nicht nur durch seine Bewohner, die Tiere und Pflanzen, charakterisiert, sondern repräsentiert in seiner Undurchdringlichkeit auch so etwas wie die inneren Kämpfe Silvias, ihre Zweifel, Schuldgefühle, aber auch ihre Verantwortung gegenüber Martino.
"In den Wald" glänzt zudem durch enorme doppelschichtige Erzählkunst. So sind es die Geschichten, die sich die Figuren gegenseitig erzählen, die im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig sind. Aus ihnen zieht Martino seine Kraft, sie sind es auch, die den Lebensmut Silvias nicht versiegen lassen. Insgesamt schafft Vaglio Tanet ein so buntes und liebenswertes Potpourri aus Figuren und Geschichten, dass es "In den Wald" mühelos auf die Liste meiner Lieblingsbücher des Jahres geschafft hat.
Möchte man etwas kritisieren, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass der Roman das Todesopfer Giovanna, das charakterlich an die "Malnata" von Beatrice Salvioni erinnert, etwas zu früh aus den Augen verliert. Doch letztlich ist es natürlich Martino, der auch hier die passende Antwort parat hat. Schließlich sind es die Lebenden, die wichtig sind und um die man sich kümmern muss. Wie ein echter Held aus dem Märchen.
"In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet ist in seiner Gesamtheit ein hinreißender und warmherziger Roman, der unter den jetzt zahlreich erscheinenden Übersetzungen aus dem Italienischen hoffentlich auch auf der Frankfurter Buchmesse für Furore sorgen wird. Verdient hätte er es allemal.
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Atmosphärisch, emotional und nachdenklich machend
Das Buch "In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet heißt im italienischen Original "Tornare dal bosco", also "Aus dem Wald zurückkehren".
Genau darum geht es in diesem atmosphärischen Buch: über das metaphorische und tatsächliche Verschwinden in den Wald, nachdem etwas Schreckliches passiert ist. Und die Möglichkeit, irgendwann wieder zurück zu kehren in die Gesellschaft - oder nicht.
Das Buch spielt in ländlichen Gebieten im Piemont, im Nordwesten Italiens, und in den 1970er Jahren. Hier lebt und arbeitet die engagierte Lehrerin Silvia, sie ist zwar durch Verwandte sozial gut eingebunden im Ort, aber selbst unverheiratet, ohne Partner und kinderlos. Umso mehr steckt sie all ihre Energie in ihren Beruf und die Förderung und liebevolle Begleitung ihrer Schülerinnen und Schüler ist ihr ein Herzensanliegen.
Besonders am Herz liegt ihr die elfjährige Giovanna, die es noch nie leicht hatte im Leben, aus einer eher armen, kinderreichen Familie stammt, wenig gefördert wird, piemontesischen Dialekt spricht und sich mit Standarditalienisch sehr schwer tut und generell jedes Schuljahr darum kämpfen muss, dieses zu bestehen. Silvia fördert und unterstützt ihre Schülerin schon seit vielen Jahren zusätzlich zum Unterricht. Frühzeitig in der Pubertät angekommen, beginnt Giovanna gegen alles und jeden zu rebellieren, nimmt die Schule nicht mehr ernst... und dann geschieht das Unglück.
Zutiefst bestürzt über diese Nachricht, gibt sich die Lehrerin Silvia eine Mitschuld daran und verschwindet, von Emotionen überwältigt, in den Wald. Die Menschen aus dem Ort stellen Suchtrupps zusammen, um ihre geschätzte Lehrerin wieder zu finden, doch Silvia will nicht gefunden werden und bleibt unauffindbar. Je länger dieser Zustand andauert, umso unwahrscheinlicher scheint eine Rückkehr zu sein...
Das Buch ist sehr leicht und angenehm zu lesen. Es ist in kurze Kapitel unterteilt und die Autorin schreibt auf eine Art und Weise, die einen sofort packt und den Lesenden das Gefühl gibt, tatsächlich im Piemont der 70er Jahre dabei zu sein. Nebenbei lernt man noch so einiges über diese Region und diese Zeit, zum Beispiel über die immer noch spürbaren Nachwirkungen des 2. Weltkrieges, über soziale Unterschiede und solche zwischen Stadt und Land und vieles mehr.
Neben Silvia werden auch einige weitere Personen vorgestellt und es wird auch aus deren Perspektive erzählt, etwa der etwa 11-jährige Martino, der wegen seines Asthmas gemeinsam mit seiner Mutter aus Turin in diese ländliche Gegend mit besserer Luft ziehen musste und die Großstadt und seine Freunde sehr vermisst.
Ich mag auch die Metaphern sehr, mit denen dieses Buch spielt. Es lässt sich einerseits auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens lesen. Andererseits ist das "in den Wald gehen" und "sich aus der Gesellschaft rausnehmen" aber auch eine sehr treffende Metapher für das Trauma und die grenzenlose Überforderung, die Menschen nach einem plötzlichen Todesfall völlig überwältigen können, umso mehr, wenn es ein Kind ist, das gestorben ist.
Thematisiert wird auch die Rolle der Lehrerin und was von einer solchen erwartet wird - und der Bruch, der damit einhergeht, diesen auf einmal nicht mehr zu entsprechen, nicht mehr für die Schülerinnen und Schüler da zu sein, sondern ohne Erklärung spurlos in den Wald zu verschwinden.
Sehr interessant sind auch die verschiedenen sozialen Rollen in den 70er Jahren, die dargestellt werden: es gibt verheiratete Frauen, die mehr oder weniger glücklich und mehr oder weniger treu sind... eine ältere Frau, die auf die baldige Legalisierung der Scheidung hofft, um sich endlich offiziell von ihrem Mann trennen zu können... und eben die Lehrerin Silvia, die ein unabhängiges Leben ohne Mann an ihrer Seite und ohne Kinder führt, und sich nur ihrem Beruf verschrieben hat.
Das Buch regt also auf vielen Ebenen zum Nachdenken und Mitfühlen an. Besonders spannend ist, dass es, wie man im Nachwort erfährt, auf einer wahren Geschichte aus der Familie der Autorin beruht. Ich kann es allen, die sich für gute Literatur interessieren, wärmstens empfehlen.
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Fantasy mit Substanz
Im Buch geht es um Effy. Sie studiert als einzige Frau des Instituts Architektur, was aber nicht ihr Wunsch war. Es ist ihr als Frau jedoch untersagt, Literatur zu studieren, was Effy hart trifft, da sie gerne ebenso schreiben würde, wie ihr liebster Autor Emrys Myrrdin. Als es eine Ausschreibung gibt, das Haus des berühmten Dichters zu renovieren, ergreift Effy ihre Chance und wird tatsächlich auserwählt. Am Haus im abgelegensten Winkel des Landes muss Effy feststellen, dass sie nicht nur ein marodes Haus und ein Literaturstudent aus einem mit ihnen verfeindeten Land erwartet, sondern auch erschreckende Visionen des Elfenkönigs. Und schon bald fällt es Effy immer schwerer, zwischen Wirklichkeit und Traum zu unterscheiden.
Das Buch hat eine ausgezeichnete Stimmung. Es ist düster, mysteriös, stürmisch und die desorientierende Situation Effys kann man auch ganz herrlich nachvollziehen, weil man sich selbst ganz haltlos fühlt.
Ich mochte den Weltenbau des Buches gerne und hatte das Gefühl, mich sehr gut auf das Land und seine Begebenheiten einlassen zu können. Die verschiedene Mythologie um die große Flut, verschiedenste Wesen und Dichter, die Träumer sind und dem Land mit ihrer Magie helfen sollen, hat mir sehr, sehr gut gefallen. Auch die politischen Zusammenhänge zwischen der Flut und Kolonialismus wurden gut nebenher rübergebracht auf eine Art und Weise, die mir gefallen hat. Die daraus einhergehenden ökonomischen Unterschiede wurden auf sehr natürliche Weise mit in die Geschichte eingebunden, was sich gehaltvoll angefühlt hat.
Im Buch geht es um die widrigen Gegebenheiten, mit denen sich hauptsächlich Frauen in dieser Welt auseinandersetzen müssen. Dabei liegt ein großer Fokus darauf, wie sie sich gegen diese durchsetzen. Ich fand, dass sich das Buch in diesem Punkt überaus befreiend angefühlt hat.
Was ich persönlich auch hervorheben möchte, ist, dass der Love Interest ein reflektierter Mann ist, der meiner Meinung nach zum feministischen Fokus passt, da er kommunikativ und sensibel ist.
Das Buch hat eine gute Basis bezüglich des Weltenbaues und einen klaren feministischen Fokus. Mir hat die Stimmung und Mythologie des Buches sehr gefallen und ich kann ihm eine klare Empfehlung aussprechen.