Solito
„Solito“ ist nicht ganz leicht zu bewerten, denn der Roman hat einfach zahlreiche Schwächen, gleichzeitig aber auch sehr viele Aspekte, die für ihn sprechen und ihn zu einem Lesetipp machen. Erzählt wird in dem Roman die Geschichte des Jungen Javier, der sich im Alter von zehn Jahren allein, aber in einer organisierten Gruppe von Fremden, auf den Weg von El Salvador nach USA zu seinen Eltern macht. Thematisch ist der Roman somit von großer Relevanz, denn er gewährt unmittelbare Einblicke in die Schrecken, Tragödien und Bedrohungen, aber auch die großen Hoffnungen, die eine solch verzweifelte Flucht, die in Javiers Fall Wochen dauerte, ausmachen. Der Roman korrespondiert zwar mit der Fluchtgeschichte des Autors, allerdings ist nicht unbedingt auszumachen, ob es sich hier nun um ein Memoir, eine autofiktionale Verarbeitung oder einen Roman handelt – das spielt letztlich auch nur eine untergeordnete Rolle. Ein „Bericht“ hätte dem Text eventuell mehr Glaubwürdigkeit und Authentizität verliehen, aber auch so ist „Solito“ definitiv ein Buch, das nachhallt und eine Langzeitwirkung entfaltet.
Allein durch den linearen Aufbau der Geschichte, die die Flucht von ihrer Planung über jeden einzelnen Schritt, also die Reise nach Guatemala, die Umwege durch Mexiko und den Treck durch das Grenzgebiet begleitet, entsteht ein großer Spannungsbogen, dem man als Leser – es fühlt sich fast ungebührlich angesichts des Themas an, dies so auszudrücken – mit großem Unterhaltungswert folgt. Die Flucht geht immer weiter und so entwickelt auch der Lesefluss zwar nicht gerade einen Sog, aber schon einen gewissen Zug: man selbst möchte auch weiter, möchte wissen, was als Nächstes geschieht, wie die nächste Etappe bewältigt wird.
Dass ein mitreißender Sog ausbleibt, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der Text viel zu detailverliebt ist und sich in Redundanzen ergeht. Immer wieder dreht sich der Javiers Erzählung im Kreis, erwähnt im Abstand von wenigen Seiten immer wieder bereits Berichtetes. Die eigentliche Flucht besteht seitenweise aus endlosem Warten, Duschen, Seriengucken und Rumsitzen und dies wird in ausufernder Genauigkeit geschildert. Natürlich liegt hier die Funktion darin, dem Leser zu verdeutlichen, dass eine Flucht langwierig ist, dass sie viele Unsicherheiten und Unwägbarkeiten beinhaltet, aber dies hätte man auch auf eine literarisch ansprechendere und straffere Weise vermitteln können.
Und nein, dies kann ich leider nicht nur der limitierenden Erzählperspektive Javiers zuschreiben. Javier ist ein Kind, aber dem Autor ist es sprachlich nicht besonders gut gelungen, sich in ihn hineinzuversetzen. Stilistisch leidet „Solito“ gar unter seinem kindlichen Erzähler, die Syntax ist zum überwiegenden Teil sehr simpel und ermüdet dadurch ebenso wie die ewigen Wiederholungen. Die Tatsache, dass der Autor für Lokalkolorit auf zahlreiche spanische Ausdrücke und Redewendungen zurückgreift, tut ein Übriges dazu. Habe ich auf den ersten Seiten hochmotiviert im Anhang nachgeschlagen, habe ich ab S. 100 die spanischen Einschübe nur noch überlesen. Mitten im Lesefluss immer nach der Übersetzung zu blättern, stört die Lektüre noch empfindlicher, als nicht zu wissen, was ein Wort bedeutet.
Neben diesem ausgemachten Minuspunkt ist auch die Umsetzung der Unzuverlässigkeit ein Problem. Natürlich ist ein Kind in seiner Wahrnehmung nicht mit einem erwachsenen Erzähler gleichzusetzen, aber Javier wird als Erzähler doch auch sehr oft infantilisiert und die kindliche Sicht künstlich übertrieben, dann wiederum blitzen vereinzelt fast poetische Sätze und Beobachtungen auf, die einfach nicht zu Javiers sonstiger Wahrnehmung passen. Da der Autor selbst Fluchterfahrung hat, hätte sich vielleicht insgesamt eine retrospektive Darstellung mit einer bereichernden Distanz zwischen Erlebtem und Erzähltem angeboten, so wie es am Ende des Textes auch gemacht wird. Der Leser hätte von einer solchen Erzählperspektive sehr profitiert.
In der Figurenzeichnung bleibt der Roman recht oberflächlich. Eine tiefere Auseinandersetzung findet auch in den langwierigen Warteperioden des Romans nicht statt. Man erfährt wenig bis nichts über die Menschen, die Javier begleiten. Der Text ist vorwiegend deskriptiv – ein weiteres Manko, das besonders auch hinsichtlich der Frage besteht, wieso Javiers Eltern ihren zehnjährigen Sohn überhaupt allein auf eine solche gefährliche Unternehmung ungewissen Ausgangs schicken. Die Motivation bleibt unklar, „Solito“ löst dieses wichtige Anliegen des Lesers nicht auf und das Ende selbst erfolgt recht abrupt.
Was bleibt, ist die Tatsache, dass mich der Roman trotz seiner Schwächen immer wieder in Spannung versetzt hat, dass er mich immer weitergetrieben, schockiert und überrascht hat – denn er verzichtet vollkommen auf klischeehafte Wendungen, die man in Geschichten dieser Art vermuten würde - und dass er mir Menschlichkeit und Egoismus im Angesicht einer außergewöhnlichen Situation nachvollziehbar und eindrücklich aufgezeigt hat. Für mich ist „Solito“ daher trotz allem eine Leseempfehlung, denn er beeindruckt und begleitet einen auch lange nach der Lektüre noch.
Solito erzählt die wahre Geschichte des Autors Javier Zamora, der als neunjähriger Junge sich von El Salvador aus aufmacht, um mithilfe von Schleppern zu seinen Eltern in die USA zu gelangen. Der kleine Javier wächst dem Leser schnell ans Herz und man baut schnell eine Bindung auf. Seine kindliche Sicht auf die Welt macht diese Geschichte so besonders.
Mit diesem kindlichen Blick tauchen wir tief ein in das Leben in El Salvador, immer mit dem Blick voller Sehnsucht in die Ferne zu den Eltern gerichtet, immer abwartend, ob man sie endlich bald wiedersehen kann. Allein das berührt bereits unendlich. Als es dann tatsächlich in Begleitung einer kleinen Gruppe fremder Menschen losgeht, die sich alle auf den gefährlichen Weg in die Vereinigten Staaten machen, trifft der Leser gemeinsam mit Javier auf ein buntes Potpourri an Charakteren, die alle der Geschichte Tiefe und Herz verleihen.
Man erfährt, welche Herausforderungen der entbehrliche Weg der Flucht für die Gruppe bereithält, wie sich manche versuchen vorzubereiten, wie einige die Nerven verlieren und wie haarscharf die tödlichen Gefahren lauern. Das sensibilisiert für die Erfahrungen von Migranten, die ihr altes Leben hinter sich lassen. Auch hier macht die Sicht dieses Kindes das Erlebte umso eindrücklicher, an mancher Stelle möchte man schier verzweifeln.
Dass die Flucht traumatisch war, liest man an mancher Stelle heraus. Der Autor konnte sich seinen Erfahrungen zunächst nur in Gedichten nähern, später schrieb er diesen Roman mit Hilfe seiner Therapeutin. Dass er seine Erfahrungen in all seinen Facetten und mit all seinen inneren Eindrücken zu Papier bringen konnte, ist ein Gewinn für jeden Leser. Eindrücklich und bewegend, wird Solitos Geschichte jedem ans Herz gehen.
Javier ist neun Jahre alt, als die ersehnte Nachricht kommt: er darf sich nun endlich auf die Reise zu seinen Eltern in "La USA" begeben. Eigentlich hat der smarte Junge in El Salvador alles, was er braucht - ein Dach über dem Kopf, Menschen, die sich fürsorglich um in kümmern, Haustiere und Erfolg in der Schule - und doch sehnt er sich sehr nach den beinahe unbekannten Eltern und dem verheißungsvollen Land im Norden. In der Hoffnung in zwei Wochen bei ihnen zu sein, startet er mit einem Schlepper und einer kleinen Truppe Erwachsener die Flucht ins Ungewisse. Die Erfahrungen die er machen muss, sind geprägt von kaum ertragbarer Langeweile, der Angst eines Aufgriffs, dem Auswendiglernen einer Schein-Identität und dem unsäglichen Wunsch nach Nähe, der Großteils unerfüllt bleibt. Die Strapazen der Flucht sind tiefgehend, das Kind muss zusehen, wie viele andere Menschen scheitern, doch Javier bleibt stark, auch dank einiger Erwachsener, die sich seiner annehmen - seine temporäre, neue Familie. Zwei Grenzübertritte nach "Gringolandia" missglücken, doch die Familie gibt nicht auf...
Javier Zamora erzählt in "Solito" seine eigene Fluchtgeschichte aus dem Jahr 1999 nach. Die Erzählperspektive ist jene des Neunjährigen, die Sprache bleibt dementsprechend einfach. Gekennzeichnet ist sie durch Wiederholungen, Langatmigkeit und detaillierten Beschreibungen, was das Erzählte noch eindrücklicher nacherlebbar macht. Er erzählt das Erlebte chronologisch und durchläuft die Tage vor der Abreise sowie die gesamte Flucht. Ärgerlich sind die stets eingestreuten Ausdrücke auf Spanisch, die man zwar im angehängten Glossar nachlesen kann, das stellt sich allerdings als mühsames Unterfangen heraus: die Übersetzungen sind nach Kapitel geordnet, nicht alphabetisch und außerdem sind sie nicht vollständig. Das Nachschlagen stört den Lesefluss teils beträchtlich, Fußnoten könnten diesem Problem entgegenwirken. Hilfreich wäre ebenfalls eine Landkarte, in der die gewaltige Fluchtroute nachvollziehbar wäre.
Besonders in der ersten Hälfte des Buches störte mich das langsame Tempo der Erzählung Zunehmens - es zog sich durch Detailreichtum und die ständigen Wiederholungen. Doch vermutlich war das, was der Autor bezwecken wollte, war der erste Teil der Flucht doch geprägt von langweiligem Warten. Zwischendurch jedoch waren immer wieder kleine Highlights, beispielsweise die Beschreibung über die Fluchtpassage mit einem Boot. Zamora beschreibt das Erlebte so eindringlich, dass ich das Gefühl hatte, es selbst mit zu erleben - besonders die Gerüche schienen sich lebhaft zu formieren, auch das Durchdrehen eines Mannes am Boot und die Hilflosigkeit ob der Grausamkeit der Situation, die Javier stark zusetzt, beeindrucken mich nachhaltig.
In der zweiten Hälfte des Buches änderte sich der Ton, alles wird beschleunigt, teilweise sogar rasant, was natürlich auch mit dem Fortgang der Geschichte zu erklären ist. Der Gang durch die Wüste ist hochgefährlich und nicht alle schaffen es lebendig durch die Ödnis. Die mehrfachen Wüstenquerungen setzen Javier besonders zu und dementsprechend mitgerissen wurde ich durch das Erzählte. Als die Flucht geschafft ist und der Abschied von seiner temporären Familie bevorsteht, die ihn nun über Monate begleitet, gestärkt hat und von der er doch ein wenig von der ersehnten Nähe bekam, hat es der Autor endgültig geschafft mich zum Weinen zu bringen. Und auch das letzte Kapitel, das uns einen kleinen Einblick gibt, was aus Javier Zamora geworden ist und weshalb er dieses Buch geschrieben hat, ist zutiefst berührend und lässt hoffen, dass seine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist.
Mein Fazit: "Solito" ist ein absolut lesenswertes Buch über die reale Fluchterfahrung eines Kindes, die lange nachhallt. Speziell im zweiten Teil schafft es der Autor, Spannung und tiefes Mitempfinden zu erzeugen, sodass die Geschichte im Kopf lebendig wird. Einen Stern Abzug bekommt es jedoch durch das m.E. unpraktische Glossar und dem zu überbordenden Detailreichtum im ersten Teil des Buches.
Frühjahr 1999: Javier Zamora ist erst neun Jahre alt, als er seine Kleinstadt in El Salvador verlassen und seinen Eltern in die USA folgen soll. Bis dahin war er behütet bei seinen Großeltern und seiner Tante aufgewachsen. Nun aber hält ihn seine Familie bereit dafür, die riskante illegale Migrantenroute in die Vereinigten Staaten zu nehmen. Mit einem Schleuser, aber ohne die Begleitung von ihm vertrauten Personen soll der Junge tausende Kilometer quer durch Mittelamerika und über die US-amerikanische Grenze bewältigen. Doch das gestaltet sich schwieriger als gedacht…
„Solito“ ist ein Memoir von Javier Zamora.
Das autobiografische Buch besteht aus neun Kapiteln, die anhand der Tage in weitere Abschnitte untergliedert sind. Das erzählte Geschehen umfasst die Zeit vom 16. März 1999 bis zum 11. Juni 1999, wobei es eine Art Nachtrag vom 5. April 2021 gibt.
Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Javier, streng chronologisch und mit kindlicher Erzählstimme. Letzteres hat die Folge, dass die mitunter sehr detaillierten Schilderungen zwar anschaulich und atmosphärisch, jedoch Syntax und Vokabular recht einfach gehalten sind. Nur an einigen wenigen Stellen fallen starke Bilder und sprachlich beeindruckende Beschreibungen auf. Auch das angehängte Glossar kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ungerechtfertigte Häufung spanischer Begriffe und Wendungen leider das Verständnis des Textes und das Lesevergnügen trübt.
Besonders gelungen ist die Figurenzeichnung, was den Protagonisten Javier und seine Familienmitglieder angeht. Andere Personen bleiben größtenteils etwas eindimensional und zum Teil schablonenhaft, was ich allerdings der kindlichen Perspektive zuschreibe und nicht als Manko empfunden habe.
Aus inhaltlicher Sicht halte ich das Memoir für ein wichtiges Zeitdokument, um die Herausforderungen und Probleme von Flüchtlingen und Migranten zu illustrieren. Das Buch macht nachdenklich, rüttelt auf und bietet viel Diskussionsstoff. Es stellt daher einen bedeutsamen gesellschaftlichen Beitrag zur Thematik dar und steht exemplarisch für die Geschichte vieler anderer illegaler Auswanderer.
Auf den fast 500 Seiten gibt es die eine oder andere Länge. Überwiegend hat mich das Geschilderte aber gut unterhalten und emotional bewegt. Obwohl von Anfang an klar ist, dass letztlich die Bemühungen für Javier erfolgreich waren, ist der Text immer wieder spannend und fesselnd.
Trotz des recht großen Umfangs habe ich an mehreren Stellen den Kontext vermisst. Zu viele Fragen bleiben am Ende offen. Unter anderem geht für mich nicht eindeutig genug hervor, weshalb zunächst seine Eltern und schließlich Javier diese Tortur auf sich nehmen mussten. So fehlt mir auch nach der Lektüre jegliches Verständnis dafür, ein noch so junges Kind alleine auf diese gefährliche Route zu schicken.
Das reduzierte Cover sticht angenehm aus der Masse hervor. Es passt hervorragend zum Inhalt. Der prägnante Titel ist ebenfalls eine gute Wahl.
Mein Fazit:
Zwar hat mich „Solito“ in sprachlicher Hinsicht enttäuscht und weist inhaltliche Lücken auf. Das Memoir von Javier Zamora ist dennoch absolut lesenswert und eine besondere Lektüre.
Was sind 6-7 Wochen? Eine kurze, überschaubare Zeit dachte ich vor diesem Roman, doch das, was der 9 jährige Javier Zamora, der Autor dieses beeindruckenden Buches, seinen Lesern erzählt, zeigt, dass diese Zeit einen Menschen sehr stark verändern und prägen kann.
Die Flucht aus El Salvador, um zu den Eltern zu gelangen, die schon seit einiger Zeit dort sind, gestaltet sich als sehr strapaziös und belastend für den Jungen.
Der Autor erzählt wie er diese Zeit erlebt hat, in kleinen Schritten, man hat das Gefühl diese Reise gemeinsam anzutreten. Javier reist ein kleines Stück gemeinsam mit seinem Großvater, doch er weiß, dass dieser nicht mitgehen wird. Er begleitet ihn nur bis Guatemala, und versucht ihm vor der schweren Etappe noch nützliche Dinge beizubringen.
Die Trennung von seiner Oma und seiner Tante fällt ihm sehr schwer, wuchs er dort doch sehr behütet auf, und wurde geliebt. Doch die Sehnsucht nach den Eltern ist dennoch groß und auch sie fiebern dem Tag entgegen ihren Sohn wieder bei sich zu haben, trotz des gefährlichen Weges gehen beide Seiten dieses enorme Risiko ein.
Als sein Großvater ihn dann verlässt, hat er Vorsorge getroffen, dass ein junger Mann den er kennt, der ebenfalls über die Grenze fliehen will, sich Javier annimmt. Doch es kommt ganz anders, es kristallisiert sich bald heraus, dass er bei der jungen Mutter Patricia und deren Tochter Carla und dessen Bekannten Chino besser aufgehoben ist. Sie helfen ihm, obwohl sie kein Geld vom Opa bekommen haben aus reiner Nächstenliebe. Diese Menschen sollen zu einem wichtigen Stützpfeiler des Kindes werden…..
Die Flucht selbst ist sehr anschaulich beschrieben. Die Not, die Entbehrungen, die Strapazen und die Angst schimmern durch, auch wenn Javier in seinem kindlichen Denken einiges nicht klar definiert. Oft mutet es wie ein Abenteuer an, wie sollte ein Kind auch anders damit umgehen.
Das Buch hat mich sehr mitgenommen, man kann sich gar nicht vorstellen was für Gefahren sich so viele Menschen aussetzen. Auch heute gibt es noch viele Menschen, die ein ähnliches Risiko eingehen wie Javier und seine Reisegefährten, und nicht jedem ist es vergönnt dies auch zu überleben. Ein wichtiges Buch, eines Autors, von dem ich gerne ein weiteres Stück aus seinem Leben in Buchform lesen würde.
Javier Zamora, ein heute in den USA lebender Lyriker, erzählt in seinem ersten Roman die Migrationsgeschichte eines 9jährigen Jungen. Es ist seine eigene Geschichte.
1999 macht er sich auf eine wochenlange Reise quer durch Mittelamerika, von San Salvador über Guatemala und Mexiko bis in die USA, dorthin, wo seine Eltern leben. Der Vater floh vor dem Bürgerkrieg im Land, da war sein Sohn etwas mehr als ein Jahr alt. Die Mutter folgte ihrem Mann vier Jahre später. Der Junge wächst bei seinen Großeltern und seinen Tanten auf. Es ist eine arme, aber behütete Kindheit und Javier hat sich zu einem klugen, etwas schüchternen Jungen entwickelt.
Ein Versuch, ihren Sohn mit falschen Papieren in einen Flieger zu setzen, schlug fehl und als Illegale hatten die Eltern keine Möglichkeit, ihn auf legale Weise zu sich zu holen. Nun ist endlich genug Geld gespart, um einen Schleuser, einen sog. „Koyoten“, zu bezahlen. Der Großvater begleitet seinen Enkel noch auf der ersten Etappe und übergibt ihn dann Don Dago, der schon die Mutter erfolgreich außer Land geschleust hatte.
Es beginnt eine abenteuerliche und lebensgefährliche Odysee für die siebenköpfige Gruppe um Javier. In Bussen und Lastwagen, auf einem Boot und zu Fuß, Tausende von Kilometer unterwegs. Dazwischen immer in Verstecken und Verschlägen, tagelang wartend auf neue Anweisungen oder Transportmöglichkeiten. Dazu kommt die ständige Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Zweimal scheitert ihr Fluchtversuch, erst beim dritten Mal schaffen sie es über die Grenze.
Das alles beschreibt Javier Zamora detail- und bilderreich auf beinahe 500 Seiten. Auch wenn ich anfangs gehadert habe mit der kleinteiligen Schilderung dieser Flucht, so vermittelt der Autor damit doch sehr authentisch, wie eine solche ganz konkret abläuft und wie es sich anfühlt. Lange Phasen des Wartens und der Langeweile werden unterbrochen durch Phasen der Anspannung und der Gefahr. Das wirkt nicht nur sehr realistisch, sondern macht die Lektüre auch so bedrückend.
Die Hitze, der Durst, die körperliche Anstrengung und Erschöpfung , das alles wird erlebbar gemacht. Bei der lebensgefährlichen Bootsfahrt z.B. spürt der Leser das bedrohliche Schaukeln der Wellen, riecht den permanenten Gestank von Benzin und Kotze, hört das unablässige Lärmen des Motors und fühlt die brennende Sonne und die Kälte der Nacht. Und er hält den Atem an bei jeder Polizeikontrolle, oder wenn Scheinwerfer die Wüste erhellen oder Hubschrauber über den Flüchtenden kreisen. So wird dem Leser ganz eindringlich und nachfühlbar vor Augen geführt, was Menschen auf sich nehmen für ein Leben mit einer Zukunftsperspektive. Denn dort, woher sie kommen, haben sie keine. Deshalb bezahlen sie viel Geld und riskieren ihr Leben.
Javier Zamora hat sich bei seinem Buch für die Kinderperspektive entschieden. Er schreibt konsequent aus der Sicht seines 9jährigen Ichs, nicht aus der Rückschau und mit dem Wissen des Erwachsenen. So wird einem immer wieder bewusst, dass es ein Kind ist, dem dies alles widerfährt.
Die kindliche Perspektive mag den Leser manchmal nerven, wenn Javier alles aufführt, was er sieht und was er fühlt, Wichtiges und Unwichtiges. Oder sie kann den Leser unbefriedigt zurücklassen, weil wichtige Informationen fehlen ( Warum musste der Vater das Land verlassen?) oder weil viele der begleitenden Figuren blass bleiben. Aber ein Kind beobachtet alles um sich herum, durchschaut aber nur Weniges.
Eine sprachliche Besonderheit sind die zahlreichen spanischen Brocken, mit denen der Text durchsetzt ist. Im Anhang findet sich dazu ein Glossar, das leider nicht alphabetisch geordnet ist und vieles garnicht aufführt. Das Nachschlagen hemmte auf Dauer so meinen Lesefluss, dass ich mich dagegen entschied. Damit fühlte ich mich in einer ähnlichen Situation wie viele Migranten, die auch nicht jedes Wort verstehen.
Javier war das, was bei uns im Amtsdeutsch als „ unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ gilt. Und man denkt unwillkürlich, dass Kinder solche Erfahrungen nicht machen sollten. Oft fühlt er sich einsam, sehnt sich nach Zuwendung. „ … solo, solito, solito de verdad“ ( allein, ganz allein, mutterseelenallein).
Zu seinem Glück nimmt sich eine Frau und ein junger Mann seiner an. Die bilden zusammen mit der etwas älteren Tochter der Frau eine Art Ersatzfamilie für ihn. Sie kümmern sich, teilen das Essen und den Schlafplatz mit ihm, tragen ihn durch die Wüste, als er nicht mehr kann.
Und am Ende, als er in den USA angekommen ist, freut sich Javier zwar auf seine Eltern, doch der Abschied von seiner Zweitfamilie fällt ihm schwer. Er wird sie nicht nur vermissen, nein, sie fehlen ihm auch als Zeugen für das Erlebte, denn niemand sonst in seiner neuen Umgebung wird verstehen oder nachempfinden können, was diese Zeit ihm bedeutet.
Der Autor hat sie nie mehr getroffen, aber er widmet ihnen sein Buch : „ Für Patricia, Carla, Chino & alle Immigranten, die ich auf dem Weg in die USA kennenlernte und nie wiedersah. Ohne euch wäre ich nicht hier“
Javier Zamora hat seine traumatische Flucht jahrelang in sich verschlossen, bis er sie mit therapeutischer Hilfe verarbeitet hat. Das Ergebnis liegt uns nun als Buch vor.
Nach der Lektüre betrachtet man das sog. „ Flüchtlingsproblem“ nochmals mit anderen Augen. Es wäre zu wünschen, dass möglichst viele dieses „ Memoir“ lesen . Es ist keine einfache Lektüre, aber eine, die lange nachhallt.
Interessiert wäre ich an einer Fortsetzung, denn das hier ist eine reine Fluchtgeschichte, die das Danach ausspart.
Unverständlich bleibt, warum der Verlag dem Buch keine Karte mit dem Fluchtweg vorangestellt hat.
... sind für jeden gleich fordernd, und doch sehr unterschiedlich. Gedanken und Wünsche ändern sich mit dem Alter, aber auch Bildung und Lebensstandard entscheiden über Wege, die man zu gehen bereit ist. Wenn diese Wege Ländergrenzen überschreiten, ist das Konfliktpotential groß.
Der autobiografische Javier ist gerade einmal 9 Jahre alt und führt ein behütetes Leben bei seinen Großeltern in El Salvador, als seine Eltern, die vor Jahren schon in die USA geflohen sind, Ende der 1990er beschließen, dass ihr Sohn zu ihnen kommen soll. Javier weiß, dass seine Eltern für eine bessere Zukunft die Heimat verlassen haben, Bürgerkrieg und Zerstörungen sind in seinen jungen Jahren allenfalls Geschichten. Die Sehnsucht nach seiner Mutter ist groß, das Spielzeug, dass ihm seine Eltern aus den USA schickten und die Soaps im TV versprechen ein paradisisches Leben mit Auto und Swimming Pool neben dem Bungalow im gelobten Land.
Der gleiche Schleuser, der damals seine Mutter in nur 14 Tagen so problemlos über die Grenzen brachte, wird auch für Javier engagiert. Sein Großvater bringt ihn noch bis nach Guatemala, wo er seinen Enkel mit letzten Ratschlägen in die Hände Fremder gibt und dann beginnt die Odyssee für unseren Solito, dem Alleinreisenden.
Die Menschheitsgeschichte ist geprägt von Wanderungen. Kriege, Seuchen, Klima, die Gründe sind genauso zahlreich, wie die Konflikte, die daraus entstehen. Die us-amerikanische Grenze zu Mexiko ist eine berühmt-berüchtigte. Die USA setzen alles daran, illegale Einwanderung zu unterbinden. Ein ungleiches Wettrüsten zwischen Grenzschutz und Schleuser kennzeichnet die Nachrichten und Meldungen.
Unbedarft dieser ganzen judikativen Verletzungen, die das Kind begeht, der Exekutiven, die ihm in Form von "den Bösen" über den Weg läuft, muss Javier seine ganz eigenen Grenzen überschreiten. Darf er die Erwachsenen damit stören, dass er seine Schuhe gebunden haben will? Wo kann er sich, seine Angst vor WCs verheimlichend, erleichtern? Er muss seine Fluchtrute auswendig lernen, Verhaltensregeln verinnerlichen, Mut zeigen, Unsicherheiten verbergen, fremde Wörter wie alte Bekannte benutzen und bei jedem Fehler sich schuldig fühlen. Auf den gefährlichen Routen durch Wüsten, unter und über Zäune und schmerzhaften Kakteenfeldern, wächst ihm seine zugeteilte Flüchtlingsfamile ans Herz.
Die kindliche Sicht in dieser Geschichte wird konsequent eingehalten. Das mag dem Leser auf den ersten Blick infantil erscheinen. Zudem spicken zahlreiche spanische Wörter und ganze Sätze den Text, die alsbald die Konzentration auf die Probe stellen. Ein Hin- und Herblättern zum anschließenden Glossar ermüdet, Fußnoten und eine geografische Karte im Vorsatz hätten dem Buch gute Dienste geleistet. Diese Bequemlichkeiten aber hätten dem Geiste von Javiers körperlichen und geistigen Anstrengungen auf seiner Flucht widersprochen. Der erwachsene Schriftsteller und Aktivist hat hier seine innersten Geheimnisse preisgegeben, seine Albträume verarbeitet.
Im Nachgang wird mir bewusst, wieviel ich über die andere Seite unserer priveligierten Sicht auf Mauern und Zäune und seine Welt der Schleuser, Fluchtorganistionen und Helfern lernen durfte. Aber vor allem der Gedanke, was es mit den Jüngsten der Emigranten macht, welche Eindrücke sie von der Welt bekommen, in der sie, jeder Einzelne, ein wertvolle Resource für unsere Zukunft werden sollen, lässt mich nicht los. Das schreit geradezu nach einer anderen Legislative. Die drei Pfeiler der Gewaltenteilung sind menschengemachte Vereinbarungen, lassen wir sich nicht zum Recht des Stärkeren verkommen.
Fazit: Lesen und wirken lassen!
"Dieses Buch ist […] für alle, die die Grenze überquert haben, die es versucht haben, die es jetzt im Augenblick tun und weiter versuchen werden." (Schlusssatz S. 472)
Als kleinstes Land Zentralamerikas stellt El Salvador trotzdem die zahlenmäßig zweitgrößte Gruppe nach Mexiko bei der jährlichen illegalen Einwanderung in die USA. Auch die Eltern des 1990 in El Salvador geborenen Autors Javier Zamora flohen vor dem Bürgerkrieg und dessen Folgen: der Vater vor dem zweiten, die Mutter vor dem fünften Geburtstag ihres Sohnes. Javier wuchs arm, aber liebevoll behütet von den Großeltern und einer Tante als Klassenbester einer Nonnenschule auf. Ohne Chance auf eine legale Familienzusammenführung sparten die Eltern für einen Schleuser, der Javier schließlich im Alter von neun Jahren 1999 innerhalb von zwei Wochen zu ihnen nach Kalifornien bringen sollte. Die „Reise“, die am 6. April 1999 begann, dauerte jedoch bis zum 11. Juni 1999 und führte über etwa 3500 Meilen (ca. 5650 Kilometer) durch Guatemala und Mexiko nach „La USA“. Sieben Wochen lang wusste die Familie nichts über Javiers Verbleib, bis der erlösende Anruf kam und die Eltern ihn abholten:
"Mein Name dröhnt durch den Raum. Zwei Schatten erscheinen. Endlich." (S. 459)
Danach wurde über die traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Erst eine notwendig gewordene Therapie holte die Erinnerungen zurück, die sich im Debütroman "Solito" des Lyrikers niederschlagen, einer wahren Geschichte, einem Memoir über die Odyssee eines unbegleiteten Flüchtlings.
Abschied und Aufbruch
Am Beginn steht der Abschiedsschmerz, abgemildert durch Vorfreude auf die Eltern und die Verlockungen von „Gringolandia":
"Das Land der Filme, das Land von Popcorn, von Pizza in Schulcafeterien, von Schneeballschlachten, von Swimmingpools, von Toys „R“ Us und McDonald’s." (S. 252)
Familie auf Zeit
Bis Guatemala begleitet ihn der Großvater, dem er in diesen Tagen so nah wie nie zuvor kommt, dann ist Javier allein in seiner kleinen Flüchtlingsgruppe. Schon die Reise zur Grenze zwischen Mexiko und den USA mit Bussen, Lastwagen, Bicitaxis und einem kaum seetauglichen Boot ist lebensgefährlich, immer wieder gibt es Verzögerungen, Planänderungen und Razzien. Wie in einer Perlenkette werden die Flüchtlinge in Gruppen wechselnder Größe von einem „Kojoten“ (Schleuser) zum nächsten und von Versteck zu Versteck weitergereicht. Das alles ist jedoch ein Kinderspiel im Vergleich zum Höllentrip durch die Sonora-Wüste, den Javier dreimal erleidet. Seine Rettung ist die Fürsorge und Menschlichkeit seiner Mitflüchtlinge, des 19-jährigen Chino und Patricia mit ihrer zwölfjährigen Tochter Carla:
"Unsere Schatten sind ganz klein, aber sie berühren einander. Wir sind ein einziger großer Schatten. Unsere eigene Familie." (S. 451)
Perspektive und Stilmittel
"Solito" ist ein ebenso anrührender wie aufwühlender Roman, der durch die strikte Perspektive des tapferen Neunjährigen komplett auf politische Erklärungen verzichtet und stattdessen von Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen erzählt. Was allerdings zur Verarbeitung seiner Erlebnisse für den Autor wichtig, für mich als Leserin jedoch zumindest in der ersten Hälfte ermüdend war, ist die Detailgenauigkeit, die ein Originalzeitgefühl vermittelt. Diese repetitiven Längen sind ebenso Stilmittel wie die permanenten spanischen Einschübe, deren Nachschlagen in einem kapitelweise geordneten Anhang den Lesefluss ohne Mehrgewinn bremst. Schmerzlich vermisst habe ich außerdem eine Landkarte.
Trotz dieser Kritikpunkte empfehle ich den eindrücklichen Roman als horizonterweiternden Beitrag zur anhaltenden Flüchtlingsdebatte weltweit. Sollte es eine Fortsetzung aus Erwachsenenperspektive ähnlich dem kurzen Nachklapp aus dem April 2021 geben, ich wäre garantiert dabei.
Ein neunjähriger Junge – der Autor – macht sich auf die Reise von El Salvador nach Tuscon, Arizona. Er überquert dabei illegal drei Landesgrenzen und legt per Bus, Schiff, Truck und zu Fuß gut 4500 km zurück – ganz allein: Solito.
Die ersten 100 Seiten sind Javiers Leben in La Herrera gewidmet. Javier verlässt ein ärmliches, aber liebevolles und sicheres Umfeld, um zu Eltern zu gelangen, deren Verhalten ihm gegenüber nicht immer gewaltfrei war. Er hat die Reise überlebt, was keineswegs selbstverständlich war. Sie dauerte nicht die erwarteten zwei, sondern ganze 9 Wochen.
Das Buch vermittelt wirkungsvoll die unglaublichen Strapazen und Gefahren, die Migranten auf sich nehmen. Primitive Unterkünfte, Gewaltmärsche, schlechtes Essen, ständige Angst. Viel Langeweile durch tatenlose Wartezeiten wechseln sich ab mit gefährlicher Action: Javier ist gezwungen, innerhalb sehr kurzer Zeit und viel zu früh erwachsen zu werden. Zum Glück findet er bald Mitreisende, die sich um ihn kümmern: Patricia, die mit ihrer Tochter Carla unterwegs ist, und Chino, ein junger Mann von gerade mal 19 Jahren, den Javier an seinen Bruder erinnert. Ohne diese beiden hätte er die Reise nicht überlebt.
Aufschlussreich die Schilderung der Schleuserkette – die Reisenden werden wie Staffelstäbe weitergereicht, es müssen Transportmittel, Orte zum Übernachten, Verpflegung und Körperhygiene organisiert werden – war mir so nicht bekannt. Die illegale Migration ist ein großes Geschäft, von dem viele Menschen leben.
Gelungen fand ich den kindlichen Erzählton, den konsequent durchgehalten wird. Durch Javiers naive Augen sehen wir die lateinamerikanische Macho-Gesellschaft, die der Junge nicht in Frage stellt. Alle Frauen schminken sich, Männer pöbeln, trinken, sind gewalttätig. Die USA werden über die Maßen idealisiert. „Gringolandia. Das Land der Filme, das Land von Popcorn, von Pizza in Schulcafeterien, von Schneeballschlachten, von Swimming Pools, von Toys `R´ Us und McDonalds.“ In Interviews spricht Zamora über die riesige Enttäuschung, die er angesichts der realen USA empfunden hat. Er spricht über psychosomatische Störungen, Gedächtnislücken, Depressionen. Sein Trauma wurde Jahrzehnte lang nicht behandelt – bis er sich 2020 in psychotherapeutische Behandlung begab, bei der sich erwies, dass er sich seiner Erinnerung stellen muss. Das tat er - dieses Buch ist also quasi als Nebenprodukt seiner Traumatherapie entstanden. So liest es sich auch.
Es gibt wenig bewusste Gestaltung, die Erzählung ist strikt linear und stilistisch eher einfach; überraschend, denn Zamoras schriftstellerische Karriere begann als Lyriker. Was nervt, sind die vielen spanischen Vokabeln, die eingestreut werden und durchaus nicht immer übersetzt werden können. Es wäre zudem hilfreich gewesen, wenn das Glossar am Ende des Buches alphabetisch geordnet gewesen wäre. Insgesamt war mir der Erzählstil viel zu kleinteilig, ich muss nicht jedes Detail von Morgen- und Abendtoilette erfahren. Und obwohl alle Handlungen minutiös geschildert werden, bleiben seine Reisegefährten als Figuren blass und ohne Tiefe. Daher habe ich mich bei aller objektiven Dramatik immer mal wieder gelangweilt und streckenweise halbe Seiten übersprungen.
Ich habe beim Lesen oft mit dem Buch gehadert, aber eins muss man Zamora lassen: Sein Stoff bleibt hängen – er hat den Klang der Wahrheit. „Solito“ hat meinen Blick auf die Migration verändert. Man sollte es den politischen Entscheidern in den USA und anderswo zu lesen geben.
Ich will nicht verhehlen, dass es zum Buch viele begeisterte Stimmen gibt. Ich kann mich dem leider aus verschiedenen Gründen nicht anschließen. Dabei handelt es sich eigentlich um eine hochdramatische, aktuelle Geschichte. Es geht um das, was der Autor Javier Zamora als Neunjähriger selber erlebt hat, eine Flucht mit einer von Schleusern geführten Gruppe von San Salvador über Guatemala und Mexiko in die USA, wo seine ebenfalls geflohenen Eltern auf ihn warten.
Sehr ausführlich schildert der Autor zunächst das Leben des Jungen bei seinen Großeltern, ein ärmliches, aber behütetes Leben. Doch als er neun ist, bezahlen seine Eltern eine Schleuserorganisation und der kleine Junge wird ohne familiäre Begleitung alleine (solo, solito) auf eine gefährliche Reise geschickt.
Von Anfang an haben mich einige Dinge gestört: zum einen die ständigen Wiederholungen unwichtiger Alltagshandlungen, die allzu kindlich sein wollende Sprache mit kurzen Sätzen, gleichen Satzanfängen, Ein-Wort-Sätzen. Darüber kann man hinwegsehen, aber was mich bis zum Schluss im Lesefluss erheblich gestört hat, sind die vielen spanischen Ausdrücke und Sätze. Hinten gibt es ein Glossar, das aber nicht alphabetisch, sondern nach Kapiteln angeordnet ist. Kommt ein Wort später erneut vor und man versteht es nicht, wird man es kaum wiederfinden. Auffällig ist auch die ständige Verwendung des Wörtchens 'también' (=auch), das man ebenso wie etliches andere besser übersetzt hätte.
Anfangs klingt die Reise mit Fahrzeugen relativ unkompliziert, aber je näher man dem gelobten Gringolandia kommt, dem Traumland La USA, von dem alle falsche Vorstellungen haben, geprägt durchs TV, desto schwieriger, gefährlicher und entbehrungsreicher wird die Lage. Es braucht drei Versuche, zu Fuß, um die u.a. mit Zäunen gesicherte Grenze zu überwinden und besonders die Durchquerung der Sonora-Wüste, von Hunger und Durst begleitet, ist traumatisch. Hier macht sich endlich einmal das lyrische Talent des Autors in bildhaften Sätzen bemerkbar. Davon hätte ich mir vorher mehr gewünscht.
Inzwischen ist der kleine Javier nicht mehr ganz alleine, sondern es hat sich ein familienähnliches Grüppchen herausgebildet, wo sich zwei Erwachsene in liebevoll anrührender Fürsorglichkeit des elternlosen Jungen annehmen.
Klingt es anfangs so, als ob einiges von Javier spielerisch bewältigt würde, wird am Ende klar, dass es traumatische Erfahrungen für ihn waren, so dass er sich als Erwachsener in therapeutische Behandlung begibt. Daraus ist dieses Buch entstanden, also eine Aufarbeitung des Erlebten. Nicht unerheblich ist dabei wohl auch die Trennung von seiner 'zweiten Familie', denen er seinen letzten Satz widmet: "Und Chino, Patricia und Carla, wo immer ihr seid, ich verdanke euch mein Leben, ich trage euch in mir, siempre."
Fazit
Ein wichtiges Thema, hochaktuell, besonders dramatisch, weil es um ein Kind geht, aber leider haperte es für mich an der Umsetzung, wobei die allzu vielen spanischen Wörter und Sätze, die den Lesefluss störten, mein Hauptkritikpunkt sind, so dass ich mich emotional nicht so auf diese Geschichte einlassen konnte, wie es eigentlich angemessen gewesen wäre.
Außer einem geordneten Glossar hätte ich mir bei so einem hochwertigen Hardcover mit Lesebändchen auch noch eine Karte gewünscht, um den Fluchtweg besser verfolgen zu können.
Wer sich möglicherweise nicht am zu vielen Spanisch stört (auch Slang und landestypische Ausprägungen), dem könnte das Buch wegen der dramatische Reise und der Mitmenschlichkeit einiger Personen dennoch gut gefallen.
Der 9jährige Javier Zamora lebt in einer kleinen Stadt in El Salvador mit seiner Tante und seiner Kusine bei den Großeltern. Der Vater ist acht Jahre zuvor vor den Todesschwadronen geflohen, die Mutter ist ihm vier Jahre später nach Kalifornien gefolgt. Jetzt hat der Großvater den Schleuser Don Dago beauftragt und bezahlt, das Kind über die Grenze zu bringen. Die Aktion soll zwei Wochen dauern. Die Gruppe ist mit Booten und Lastwagen unterwegs. Sie werden von der Grenzkontrolle La Migra zwischen Mexiko und Kalifornien geschnappt, bedroht, eingesperrt und schließlich über die Grenze zurückgebracht. Es gibt noch zwei weitere Versuche. Die Gefahren und Härten sind unvorstellbar. Hunger und Durst, nächtliche Märsche durch die Wüste, Verletzungen durch Kakteen, und immer wieder werden sie fast von den Wachposten an der Grenze erwischt. Javier war von Anfang an Teil einer kleinen Gruppe, die zunächst aus sechs, später nur noch aus vier Personen besteht. Seine engsten Bezugspersonen werden Patricia mit ihrer zwölfjährigen Tochter Clara, sowie ein junger Mann namens Chino, der zum Schluss die Kinder abwechselnd auf dem Rücken trägt, wenn sie nicht mehr laufen können. Bei Kontrollen geben sie sich als Familie aus, und genauso wirken sie auf den Leser bis hin zum emotionalen Abschied am Ende der etwa siebenwöchigen Flucht.
Die autofiktionale Geschichte ist sehr berührend und zeigt, wie wichtig Empathiefähigkeit ist ebenso wie die Bereitschaft, anderen in Notsituationen selbstlos zu helfen. Der Autor schafft durch unzählige spanische Ausdrücke eine authentische Atmosphäre. Obwohl es ein Glossar gibt, führen diese zu Störungen im Erzählfluss. Ohnehin ist die Darstellung teilweise zu detailliert und nicht frei von Wiederholungen. Dennoch ist dies ein wichtiges Buch auch angesichts der Flüchtlingsdebatte in Europa. Auch gar nicht so weit von uns entfernt nehmen Menschen die gefährliche Flucht in Booten über das Mittelmeer auf sich, um von Afrika aus in das gelobte Land zu gelangen, kommen zu Hunderten ums Leben und werden – wenn sie es denn geschafft haben – nicht mit offenen Armen empfangen. Nach der Lektüre dieses Buches frage ich mich als Leserin, wie weit meine eigene Empathiefähigkeit geht. Ein sehr empfehlenswertes Buch.
Mein Lese-Eindruck:
El Salvador 1999: Korruption, eine nicht funktionierende Justiz, wirtschaftliche Probleme. Armut, Alkoholismus und vor allem Gewalt, wohin man sieht, im staatlichen und im familiären Bereich: mit den Augen eines Kindes beschreibt Zamora in Episoden, oft nur in Nebensätzen die Welt, in der er groß geworden ist. Seine Eltern sind illegal in die USA eingewandert, und so bleibt ihnen auch nur der illegale Weg, ihren Sohn nachzuholen. Der 9jährige Javier begibt sich auf den Weg, der sich als lebensgefährliche Route entpuppt, und nach über 20 Jahren ist er nun in der Lage, die traumatische Geschichte seiner wochenlangen Flucht zu erzählen.
Javiers Geschichte ist beeindruckend. Er erlebt ein Höchstmaß an Einsamkeit, Angst und Hilflosigkeit, und er erkennt selber, dass er nun seine Kindheit hinter sich lässt. Er erlebt aber auch die selbstlose Zuwendung von Menschen, die vor allem bei der tödlichen Durchquerung der Sonora-Wüste sein Überleben ermöglichen.
Auch die Weise, wie Zamora seine Geschichte erzählt, ist beeindruckend. Er bleibt streng bei der Perspektive des Kindes. Dadurch entstehen Leerstellen, die er der Phantasie des Lesers überlässt und der dadurch z. B. zur grausigen Überzeugung kommt, dass außer Javier und seinen drei Begleitern niemand aus dem Treck die Durchquerung der lebensfeindlichen Sonora-Wüste überlebt hat. Durch eine meist parataktische, eher einfache Sprache ahmt er den Sprechduktus des Kindes nach und verleiht dem Erzählten eine beklemmende Authentizität – und die wird wiederum gesteigert durch kindliche Erinnerungen an Tiere, an das Aussehen der Pflanzen, an Gerüche und Geschmäcke. Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität Zamora sich erinnert, auch an das Aussehen, die Gesten und die Sprache anderer Menschen.
Hier zeigt Zamora seine Sprachkunst: jedes Wort und jeder Satz sitzt, alles ist durchdacht, und auch anrührende Stellen werden in einer kunstvollen sprachlichen Verhaltenheit erzählt, ohne in Sentimentalität und Larmoyanz abzurutschen.
Zur Authentizität gehört auch die ständige Verwendung spanischer Begriffe. Das Nachschlagen im Glossar bremste den Lesefluss sehr, aber der Kunstgriff hat seine Funktion. Das erzählende Kind vergewissert sich damit seiner Herkunft und seiner Heimatsprache. Und der erzählende Autor geht einen Schritt weiter: er versetzt seinen Leser damit in die Rolle eines Migranten und lässt ihn die sprachlichen Barrieren selber erleben, denen ein Migrant ausgesetzt ist. Damit werden die Einsprengsel über die Frage der Authentizität hinaus zu einem Symbol für die Heimatlosigkeit dieser Menschen bzw. für den Verlust ihrer alten Welt.
Insgesamt ein ungemein beeindruckendes Lese-Erlebnis, das den Blick weitet!
Warum fliehen Menschen aus El Salvador, einem kleinen Land am Pazifik, ein tropisches Paradies, warm , fruchtbar und bunt. Warum nehmen Menschen diese lebensgefährliche Flucht auf sich, um in den USA schlecht bezahlte Hausangestellte und Hilfsarbeiter zu werden. Die Antwort liegt in der Politik der USA, nicht zuletzt in dem Massaker von El Mozote von 1981. Seit dieser Zeit gehört El Salvador zu den gefährlichsten Ländern der Welt.
Javiers Eltern sind aus dem Land geflohen und wollen ihren Sohn, der bisher bei Großvater und Verwandten wohnte zu sich holen.
Ein kleiner Junge von neun Jahren, solito - mutterseelenallein macht sich mit vielen anderen auf den Weg, ihr Leben vertrauen sie Schleppern an, die sich Kojoten nennen. Eine schreckliche Reise beginnt, zuerst über den Pazifik, nach Guatemala und Mexiko, und dort durch die lebensfeindliche Sonora-Wüste, die sie von ihrem Ziel, der Grenze trennt, immer in panischer Angst vor Entdeckung.
Das Buch ist der Bericht eines kleinen Jungen, der unterwegs versucht ein Mann zu sein, ein machismo, Selbstbeherrschung läßt ihn durchhalten und die liebevolle Zuwendung von drei völlig fremden Menschen.
Erst viele Jahre später kann er über das, was er erlebt hat reden und das Schreiben dieses Buches hat ihm bei der Verarbeitung, begleitet von einer Therapie, geholfen.
Das Buch hat seine Schwächen, doch beschreibt es eine Realität, die ein neunjähriges Kind durchmachen musste, um mit seinen Eltern leben zu können.
Amir Gudarzi, 1986 in Teheran geboren, ging 2009 ins Exil nach Wien, wo er seitdem als Dramatiker und Autor arbeitet. „Das Ende ist nah“ ist sein erster Roman, in dem er die Geschichte eines iranischen Studenten erzählt, der aus seiner Heimat nach Österreich flieht und hofft, vom Asylantendasein in ein normales Leben zurückfinden zu können.
Die Geschichte wird über zwei Zeitebenen erzählt:
1. 1986 bis 2009 Schauplatz ist der Iran
2. ab 2009 Schauplatz ist Österreich
Gudarzis Protagonist A., geboren 1986, verbringt seine Kindheit bis zum Alter von 23 Jahren in Teheran. Es ist die Zeit der Islamischen Republik im Iran, der Alltag wird von dem Dauerkonflikt zwischen religiösen Konservativen und liberalen Reformern dominiert. Angst und Gewalt sind ständige Begleiter in der Kindheit und Jugend von A.. Die iranische Gesellschaft ist von Hass und Fanatismus geprägt. Hier wird nach dem Gesetz des Stärkeren gelebt, das sich bis in die Familien eingeschlichen hat. Nach seiner Schulzeit studiert A. Theaterwissenschaften und beteiligt sich als Student an den Demonstrationen gegen das Regime. Durch diese Aktivitäten gerät er in das Visier der Behörden, so dass er, der bereits Erfahrungen mit Folter und Gefängnis machen musste, um sein Leben fürchtet. Daher verlässt er 2009 den Iran. Seine Flucht führt ihn nach Österreich.
Das Jahr 2009 und folgende sind gleichbedeutend mit der Gegenwart und stellen die zweite Zeitebene in diesem Roman dar. Gudarzi verknüpft dabei beide Zeitebenen miteinander, indem er gerade zu Beginn seines Romans kapitelweise zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt.
Während in der Vergangenheit sein Protagonist den Namen A. trägt, haben wir es in der Gegenwart mit einem Ich-Erzähler zu tun, wobei Gudarzi mit diesem einfachen stilistischen Mittel einen deutlichen Bruch zwischen dem Leben im Iran und dem Leben als Asylbewerber in Österreich dokumentiert.
Trotz dieser Abgrenzung gibt es eine große Gemeinsamkeit zwischen den beiden Erzählebenen. Denn das Leben des Asylbewerbers wird auch weiterhin von Angst dominiert: die Angst vor der Gewaltbereitschaft anderer Flüchtlinge, die Angst vor Behörden, die Angst vor Abschiebung. Der Ich-Erzähler, der sich selbst im Iran als selbstbewussten Intellektuellen betrachtet hat, wird in Österreich tagtäglich Erniedrigungen ausgesetzt, wird ausgebeutet und ausgegrenzt. Er ist einsam und verzweifelt. Diese nicht enden wollende seelische Dauerbelastung macht ihn krank.
Endlich wird sein Asylantrag bewilligt, Ob damit sein Leben eine positive Wendung nehmen wird, bleibt jedoch offen.
„Das Ende ist nah“ ist ein gewaltiges Buch, gewaltig durch seine Sprachkraft, aber auch gewaltig durch die Brutalität und Aggressivität, welche diese Geschichte eines Flüchtlings und Asylsuchenden dominieren, so dass zermürbende Angst und Verzweiflung ein gefühlsmäßiger Dauerzustand in dessen Leben sind. Man muss als Leser schon hartgesotten sein, um von diesen Empfindungen unberührt zu bleiben.
Gudarzi erzählt diese Geschichte auf eine sehr kraftvolle und schnörkellose Art. Lediglich, wenn er erzählerisch Ausflüge in die iranische Literatur unternimmt, indem er Auszüge aus orientalischen Werken wiedergibt, wird der Leser mit einer sehr blumigen und überbordenden Sprache konfrontiert, die einen krassen Gegenpol zu Gudarzis eigenem Sprachstil bildet.
Fazit:
„Das Ende ist nah" ist ein eindrucksvoller Roman, der einen Flüchtling und Asylsuchenden aus der Anonymität unzähliger Leidensgenossen holt und ihn, stellvertretend für Menschen mit einem ähnlichen Schicksal, sein Seelenleben offenlegen lässt. Ein Funken Empathie reicht aus, dass man sich als Leser von diesen sehr intensiven Erfahrungen des Protagonisten vereinnahmen lässt und sich in der Pflicht sieht, die Flüchtlingsthematik im Alltag differenzierter zu betrachten. Ein wichtiger Roman in unserer heutigen Zeit.
Leseempfehlung!
© Renie
Bei solchen Romanen bin ich hinsichtlich der Bewertung immer hin und her gerissen. Die biografischen Daten von Amir Gudarzi lassen vermuten, dass vieles von dem, was hier im Roman geschildert wird, seinem eigenen Erfahrungen entspricht, dass wir es hier also mit einer Autofiktion zu tun haben. Die schwierigen Lebensumstände verlangen einen unbedingten Respekt, den ich ihnen auch gerne zolle, aber ein Roman ist eben kein Tatsachenbericht, sondern löst auch etwas bei den Lesenden aus. Das Leseerlebnis war für mich einerseits sehr eindringlich, andererseits aber auch anstrengend und teilweise sogar nervig, vor allem zum Ende hin.
Die Erzählung gliedert sich in ein Davor und ein Danach - vor und nach der Flucht aus dem Iran. Sowohl die Schilderungen der Bedingungen im Iran zu Zeiten der Protestbewegung nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2009 (und auch in den Jahren davor) als auch des Daseins als Asyl-Bewerber in Österreich sind bedrückend. Dabei werden die Brutalitäten im Iran recht distanziert geschildert, was die Emotionen nahezu außen vor lässt, durch die Häufigkeit der Erwähnung erscheint die Schilderung jedoch trotzdem sehr eindringlich. Man bekommt definitiv eine Vorstellung davon, was es heißt, unter solchen Umständen im Iran heranzuwachsen und zu leben. Gerade die hier geschilderten Erlebnisse als Kind und als Heranwachsender - die Steinigung einer Frau, das Köpfen eines Mannes, das Erhängen eines weiteren Mannes an einem Kran... Was macht das beispielsweise mit einem sensiblen Kind?
Wie schwierig und bedrückend das Dasein als Asyl-Bewerber ist, wird hier ebenfalls sehr eindringlich geschildert. Das Ausgeliefertsein den Behörden gegenüber, die generalisierte Misstrauenshaltung Asyl-Bewerbern gegenüber, unzuverlässige Dolmetscher, die gegenseitigen Drangsalierungen im Asylantenheim, die Einsamkeit, die existentielle Unsicherheit, das Nichtstun, die Langeweile, der Geldmangel, der Hunger - und dazu fehlende Zukunftspläne. Stellenweise kam es mir bei der Schilderung der Zustände so vor, als würde ich etwas aus Absurdistan lesen und kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Mit der Zeit wurde es mir dann doch insgesamt zu viel des Negativen, auch wenn ich davon nur lesen und es nicht selbst erleben musste. Gab es gar keine Lichtblicke?
Nun ja, es gibt Sarah. Die deutsche junge Frau mit einem großen Engagement, das zeitweise fast schon an Besessenheit grenzt, und die A. zur Seite steht. Sie lernt Farsi und übersetzt seine Texte, da A., der im Iran die Theaterschule besucht hat, szenisches Schreiben studierte und auch fürs iranische Fernsehen Drehbücher schrieb, nicht weiß, wie es sonst mit seinem Schreiben weitergehen soll. Sarah ist für A. da, hört ihm zu, nimmt ihn als Person wahr. Aber sie verliebt sich auch in ihn - und nicht nur das. Als A. sich ihr gegenüber nicht öffnen kann und auch ihre Liebe nicht will, nimmt sie dies zum Anlass und beginnt sein Verhalten zu analysieren. Klassich nach freudschem Muster, verzerrt jedoch durch ihre eigene psychische Labilität - Sarah projeziert ihre eigenen Ängste und Probleme auf A., ihre Analysen drehen sich im Kreis, wirken immer verzweifelter. Nicht nur A. wurde dies im Verlauf zu viel. Ich fand es stellenweise unerträglich und konnte bis zum Schluss nicht erkennen, wofür es diese Figur in dieser Charakterzeichnung überhaupt gab. Statt die Erzählung voranzubringen, geriet A. zueweilen durch die Konzentration auf Sarah gänzlich aus dem Fokus. Ich rätsel immer noch.
A. selbst ist jemand, der eher für sich zu sein scheint und der niemanden wirklich an sich heranlässt. Das war wohl bereits im Iran so - vereinzelte lose Kontakte, die man aber auch jederzeit wieder lösen kann, das genügt ihm offenbar. Andererseits kümmert er sich situativ durchaus um diejenigen, die um Hilfe bitten und bringt dafür auch persönliche Opfer. Die psychische Belastung, die die Entwurzelung und der Status als zunächst nicht bestätigter und später als abgelehnter Asylant im Widerspruchsverfahren mit sich bringen, wird anhand der Figur von A. ebenfalls sehr drastisch geschildert. Diese schwierige psychische Situation erscheint plausibel und schon beim Lesen unerträglich.
Gerade die psychischen Folgen des Flüchtlingsdaseins hat wohl kaum ein Außenstehender auf dem Schirm. Aber das "Verrückte" war A. auch irgendwie immer schon zueigen, für ihn gibt es da einen Zusammenhang mit dem Künstlertum. "Schon immer habe ich mich von den Menschen zurückgezogen und wollte als Verrückter, als Außenseiter gelten. Ich identifizierte mich mit van Gogh und Antonin Artaud. Ich sah in Depression und Verrücktheit eine Quelle fürs Schreiben." (S. 348) Deshalb gilt wie immer: wie Lebensumstände erlebt und verarbeitet werden, hängt eng mit der eigenen Persönlichkeit zusammen, Stichwort Resilienz... Damit negiere ich natürlich nicht all die möglichen Folgen der schrecklichen, traumatischen Erlebnisse. Das Ende des Romans setzt den "Verrücktheiten" dann jedoch noch die Krone auf, ein Akt dichterischer Freiheit, der, nun ja, noch einmal für maximale Verstörung sorgt. Muss nicht gefallen - hat es auch nicht. Aber es schmälert auch nicht die Aussage des Romans als solche.
Gewalterfahrungen, Willkür, Traumata, Folter, Unterdrückung, Flucht, Einsamkeit, Unerwünschtheit, Ungewissheit, Angst und Misstrauen - eine erschreckende Summe von Unerträglichem. Der Erzählstil wahrte jedoch konsequent eine Distanz, die ich nicht zu überbrücken vermochte. Verstörend und bedrückend - durchaus, unbequem dazu. Aber die Menschen, allen voran A. mit all seinen Erfahrungen, blieben mir irgendwie bis zum Schluss fremd.
Leider.
© Parden
"Das Ende ist nah" ist der Debutroman von Amir Gudarzi. Der Autor wurde in Teheran geboren, wo er die Theaterschule besuchte und szenisches Schreiben studierte. Seit 2009 lebt der Autor im Exil in Wien. Er erhielt unterschiedliche Literaturpreise, darunter den Kleist-Förderpreis für junge DramatikerInnen sowie den Christian-Dietrich-Grabbe Preis.
Im Mittelpunkt des Romans "Das Ende ist nah" steht A., der deutliche Paralellen zur Biographie Gudarzis aufweist: Auch er besucht die Theaterschule, auch er studiert szenisches Schreiben. Er liebt seine Heimat, doch muss er bereits im Kindheits- und Jugendalter einige gewaltvolle Erfahrungen machen. Dies setzt sich fort; Gewalt und Folter scheinen ihn überall zu umgeben. Er selbst macht auch Bekanntschaft mit der Willkür, die im Iran an der Tagesordnung zu sein scheint. Doch A. lässt sich nicht ködern, ist nicht bestechlich. Als sich die Situation für ihn zuspitzt, sieht er jedoch keine andere Wahl, als die Heimat schweren Herzens zu verlassen. Angestrebtes Ziel ist eigentlich Kanada, aber die Schleuser lassen ihn im Stich, so dass er in Wien Zuflucht sucht.
Der Roman, dies zeigt sich hier, spielt auf zwei Ebenen, zwischen denen Gudarzi gekonnt changiert: der Vergangenheitsebene, in der wir viel über die politischen und kulturellen Verhältnisse im Iran lernen. Hier gewinnen wir Klarheit bzgl. A.'s Fluchtgründen. Die andere Ebene ist die der Gegenwart, wo A. sich an den langsam mahlenden Mühlen der österreichischen Bürokratie abarbeitet in seinem Gesuch um Asyl und Zuflucht. Hier wird eindrücklich vor Augen geführt, dass Geflüchtete nicht nur in der Heimat, die sie verlassen haben, und auf der Flucht Tramatisierungen erleben. In nahezu jedem Bereich des Lebens setzt sich dies bei der Ankunft fort: beginnend vom Auffanglager, wo die Geflüchteten untereinander Konflikte austragen und nur notdürftig versorgt sind über konkrete Erfahrungen im Asylprozess, wo Willkürerfahrungen sich in der Anhörung fortsetzen durch Inkompetenz und / mangelnde Empathie von Sprachmittlern bis hin sogar zu im Grunde unterstützenden Einheimischen, die jedoch auf ihr Verständnis von Hilfe beharren und Geflüchtete somit ihrer Eigenständigkeit und Individualität berauben. Letzteres wird an der Figur Sarahs sehr deutlich, in die A. sich verliebt, letztlich aber eine sehr ambivalente Haltung einnimmt.
Man mag die endlose Kette an Negativerfahrungen von A. als einseitig kritisieren; möglicherweise konzentrieren sich hier unterschiedliche Erlebnisse in einer Figur. Insgesamt aber scheint mir die Geflüchtetenthematik sehr authentisch dargestellt, was sicher auch daran liegt, dass von einem hohen autobiografischem Anteil der Geschichte auszugehen ist. Die Geschichte geht unrer die Haut, fesselt und ist gleichzeitig sehr lehrreich. Der Roman wäre gut geeignet als Pflichtlektüre beispielsweise in Migrationsstudiengängen. Noch nie zuvor habe ich einen Roman gelesen, der die Geflüchtetenthematik derart facetten- und kenntnisreich ausleuchtet inklusive auch der Aspekte, von denen Viele so gerne die Augen verschließen: der Angst vor Fremden und Reserviertheit ihnen gegenüber und insbesondere auch der Kehrseite der "ach so gut gemeinten" Unterstützung, die auch zur Last werden kann.
Letzteres wird im Roman an der Figur Sarahs sehr deutlich aufgezeigt. Sie unterstützt ihn zwar, nurtzt ihn aber quasi auch als eine Art Studienobjekt und fühlt sich quasi magisch zu ihm hingezogen. Ihre Hilfsangebote haben mehr Zwangscharakter als dass sie eine wählbare Option wären für A. Im Roman ist die Figur Sarahs meiner Meinung nach überzeichnet. Insbesondere das Ende ist sehr "überdreht" und löst offensichtlich beim Leser starke (Abwehr)-reaktionen aus. Und doch ist ihre Figur für den Roman zentral: Sie verweist auf die fehlende Wahrnehmung von Geflüchteten als eigenständige Subjekte mit Wahlmöglichkeiten, deutet kritisch auf falsch verstandene Hilfe und Unterstützung hin. Vor allem aber wird es möglich der Kontingenz von Geflüchteten-Biografien Raum zu geben: Es könnte so wie geschildert sein, und doch ganz anders. Geflüchtete müssen ja leider zum Teil auch Strategen sein, um eine Chance auf Asyl zu haben. Entsprechend darf Wahrheit keinen Absolutheitsanspruch haben, muss dehnbar bleiben. Für Geflüchtete wird dies zu einer Überlebensnotwendigkeit.
Der Roman hat mich in jeder Hinsicht begeistert: vom Plot, der Sprache und auch der allgemeinen Konstruktionsweise her. Hier werden nämlich verschiedene Etagen unterschieden, wobei man fragen könnte, ob die nächst höhere tatsächlich auch eine Steigerung bzw. Verbesserung mit sich bringt oder nicht vielleicht eher in psychischer Hinsicht das Gegenteil. Auch hier finden wir wieder den Aspekt der Ambivalenz als zentralen Moment im Leben eines Geflüchteten.
Ein grandioses Debut, unbedingt lesen!
Amir Gudarzi schildert uns in seinem Roman „Das Ende ist nah“ das Schicksal eines iranischen Flüchtlings, der vor der alltäglichen staatlichen Gewalt in seinem Heimatland flieht und in Österreich um Asyl nachsucht. Gudarzi nennt diesen Flüchtling A., eine gewollt durchschaubare Verschlüsselung des eigenen Namens? Eine Frage, die sich der Leser über die gesamte Lektüre des Romans stellt. Wie autobiografisch ist der Roman? Wie nah ist das Erleben von A. dem Erleben von Amir?
Auf jeden Fall ist es eine Geschichte der Erniedrigung, die im Heimatland ganz sicher massiver ist als im Fluchtland Österreich. Aber auch dort muss der Flüchtling A. immer wieder um die eigene Würde, um Respekt und Anerkennung kämpfen.
Im Roman wechseln permanent die Zeitebenen. Aus dem Geschehen im Wohnheim in einem österreichischen Dorf werden wir als Leser häufig sehr unvermittelt herausgerissen und in die Gewaltwelt des iranischen Unrechtstaates hineingestoßen. A. ist in der Flüchtlingswelt im Aufnahmeland Österreich weiterhin vor allem umgeben von Landsleuten oder Menschen aus dem Iran benachbarten Ländern. Feindschaften, Rivalitäten oder auch Hasstiraden und Gewalt als Normalfall werden so auch in die österreichische Provinz hineingetragen. Es hat mich vor allem beeindruckt, wie Gudarzi deutlich machen kann, wie die Sozialisierung in einer von Gewalt geprägten Umwelt es sehr schwer macht, sich auf eine Gesellschaft einzustellen, die soziales Verhalten von ihren Bewohnern erwartet. Die Langzeitfolgen staatlicher, gesellschaftlicher und familiärer Gewalt kommen hier in massiver Form zum Ausdruck.
Da fallen echte Verbindungen zu der Aufnahmegesellschaft enorm schwer (und das nicht etwa nur wegen mangelhafter Sprachkenntnisse). Und so ist auch die einzige Beziehung, die A. in der geschilderten Zeit knüpfen kann (zu Sarah), enorm zwiespältig, unausgegoren und befremdlich.
„Ich war erstaunt, dass sie für alles einen komplizierten Grund findet und ganz einfache Gründe übersieht.“
Doch was ist ein einfacher, was ist ein komplizierter Grund? Das zu beurteilen, trifft die Gedankengrundlagen, wie sie in der Sozialisation gelegt wurden. Und hier treffen dann eben Welten aufeinander.
Der simple Wunsch A.s: „Warum bin ich kein Europäer? Warum kann ich nicht auch das Leben gennießen?“ traf mich bei der Lektüre tief ins Mark. Und erinnerte mich mal wieder, welche zufällige Glücksbasis Grundlage meines Lebens ist.
So hat mich also der Roman tief berührt und mich in eine Welt hineingeführt, die mitten unter uns stattfindet, über die so viel und so heftig berichtet wird, in die wir aber doch so ungeheuer wenig wirkliche Einblicke gewinnen können: die Welt der Flüchtlinge, die hier häufig als Strom bezeichnet werden und der damit jegliche Individualität genommen wird. Gudarzi gestaltet mit seinem A. (ob er das nun selber ist oder nicht) ein für mich glaubwürdiges Flüchtlingsschicksal, gefangen zwischen Gewalterfahrungen und gegenseitigem Unverständnis im Aufnahmeland, das mich sehr berühren konnte.
Verstörend an dem Roman ist dessen Ende, an dem Gudarzi selbst ein großes Fragezeichen setzt ob des Realitätsgehalts der erzählten Geschichte. Für mich ist es auch kein Wunder, dass nach dieser geografischen und psychischen Odyssee schon mal die Maßstäbe und Erkenntnisse über die Realität ins Wanken geraten können! Ich kann mit diesen Fragezeichen und den daraus erwachsenen Zweifeln deshalb leben und für mich bleibt der überzeugende Eindruck der literarischen Gestaltung dieses Schicksals absolut bestehen und führt zu einer 5 Sterne-Bewertung.
A. flüchtet aus seiner Heimat, dem Iran, nach den Aufständen in Theran 2009 nach Österreich. Er ist 26 Jahre alt und hat in Teheran die Theaterschule besucht, ist also gut ausgebildet und spricht etwas englisch. In Östtereich durchläuft er in Wien und Umgebung ein zermürbendes Asylverfahren. A. als der Protagonist dieses Romans steht autofiktional für den Autor Amir Gudarzi.
Die Geschichte wechselt zwischen zwei Zeitebenen: Zwischen der Kindheit, Jugend und dem Leben des jungen Erwachsenen im Iran bis 2009 und dem anschließenden Leben als zunächst illegaler Flüchtling in Österreich. A. scheint aus den höllischen Zuständen in seiner Heimat in die höllischen Zustände unter anderen, feindseligen Flüchtlingen und mißtrauischen Einheimischen geraten zu sein.
Die Lebensumstände im Iran, insbesondere die Verfolgung Andersdenkender und sexuelle Unterdrückung, wird in schockierenden, geradezu unerträglichen Szenen geschildert. Dabei bedient sich der Autor kurzer Sätze, die Beschreibung des Grauens ist sachlich, beinahe nüchtern. Diese szenischen Schilderungen wechseln sich im Verlauf des Romans ab mit einer poetischen, blumenreichen, verschnörkelten Sprache. A. dichtet, es werden lyrische Texte eingestreut, die die Emotionen des Protagonisten spiegeln. Auch Szenen aus der orientalischen Mythologie finden sich.
Der Roman liest sich gut. Dennoch hat er mir nicht gefallen. Bei dieser Wertung ist mir bewußt, dass die Geschichte auch nicht gefallen will, dies ist also kein "gefälliger" Roman. Ich habe ihn mit Entsetzen ob der geschilderten Zustände im Iran und mit Interesse für den Fortgang des Schicksals von A. gelesen. Der Einblick in die für mich bisher fremde Kultur des Geflüchteten habe ich als durchaus wertvoll empfunden. Sowohl bei der Schilderung des Alltags in Österreich mit seinen bürokratischen Hemmnissen als auch bei den vielfältigen Problemen mit anderen Flüchtlingen und Einheimischen beschönigt der Autor nichts.
Dennoch läßt mich die Lektüre ratlos zurück. Der Plot ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar. Am Ende wird mir zuviel tiefenpsychologisiert. Der Autor stellt sich und seine Geschichte in Frage. Ist alles erfunden ? Was ist wahr, was ist Lüge ? Von Anfang an spürt der Leser, dass mit A. etwas "nicht stimmt". Mehr und mehr erscheint er psychisch angeschlagen, was angesichts seiner traumatisierenden Erfahrungen auch nicht verwunderlich ist.
A. träumt viel, verwahrlost physisch und psychisch. Die Geschichte ist im Ganzen betrachtet widersprüchlich und m. E. nicht gut komponiert. Die Frage, ob und wie er wirklich in Österreich angekommen ist und welches Ende nah ist, bleibt m. E. unbeantwortet im Vagen.
Ich kann hier nur spekulieren und das gefällt mir nicht. Ich vergebe drei Sterne.
Kurzmeinung: Ohne das surrealistische Ende wäre es ein guter Roman gewesen.
Der Protagonist A. weist alle möglichen Ähnlichkeiten mit Amir Gudarzi auf, da seine Vita ihm dermassen ähnelt, dass sich der Gedanke an Autofiktion sogleich aufdrängt. Der als A. bezeichnete Protagonist kommt als junger Mann aus dem Iran nach Wien, wo er einen Asylantrag stellt.
Der Hintergrund von A. wird nicht ganz klar, einerseits lebt er mit seiner Familie in einem Problemviertel Teherans, andererseits hat er Zugang zu höherer Bildung, liest u.a. Dostojewski und besucht eine renommierte Theaterschule. Er fängt schon mit sechzehn Jahren an, für das staatliche Fernsehen zu schreiben. Er beherrscht englisch als Fremdsprache, wenngleich nicht fließend, aber doch so, dass er sich später im Ausland verständigen kann. Wo hat er das bloß gelernt?
Die Zustände im Iran, die ihn dazu veranlasst haben, das Land zu verlassen, werden nicht vollständig aufgeklärt, es steht aber fest, dass er als Intellektueller diversen Repressalien unterlag, dass er festgenommen und gefoltert wurde und mit dem Regime im Iran Probleme hat.
In Österreich angekommen, durchläuft A. alle möglichen Stufen der österreichischen Bürokratie, erlebt Schikanen, die den Schikanen, die er in Teheran erlitt, nicht unähnlich sind, erlebt Ablehnung, Einsamkeit, Isolation und Verachtung. In seinen Einlassungen, die er einerseits gegenüber den Behörden macht, andererseits aber auch gegenüber der Leserschaft, gibt es immer wieder Leerstellen, so dass sich schon früh der Verdacht einstellt, dass A. ein unzuverlässiger Erzähler sein könnte.
Der Kommentar:
Der Roman ist dem Aufbau eines Wohnhauses nachempfunden, vom Erdgeschoss bis zum Vierten Stock arbeitet sich der Autor/Erzähler hinauf, es ist sozusagen ein Theaterstück in 5 Akten!
Als Erzählfigur wählt Gudarzi die Figur des A. als Icherzähler und Briefe von einer ominösen Frauensperson namens Sarah, mit der A. Kontakt hat. Da A. sich stark zum Film hingezogen fühlt und sich als Dramatiker und Künstler empfindet (und es wohl auch ist), schreibt er Gedichte und Drehbücher, die teilweise im Buch zu „genießen“ sind. Man merkt hier schon die auch ausdrücklich genannte Nähe zum Filmemacher Pier Paolo Pasolini, von dem es in Wikipedia heißt: „Seine Figuren changieren zwischen Profanität und Transzendentalität, bewusst inszeniert Pasolini diesen Zwiespalt“. Entsprechend mystisch und geheimnisvoll sind die abgedruckten Drehbücher (zum Glück nur kurze Passagen).
Die ersten vier Fünftel des Romans widmen sich sowohl der Traumabewältigung wie auch ganz allgemein dem schwierigen Ankommen in einer fremden Kultur und Sprache. Glaubhaft und authentisch wird der Figur des A. Heimweh, Isolation, Beziehungsunfähigkeit, Lügen, Betrügen und Alkoholexzesse zugeschrieben, die Entwurzelungsdepression wird klar herausgearbeitet. Nirgendwo findet die Figur des A. eine Möglichkeit anzudocken: die Asylanten untereinander sind sich nicht grün, sie beklauen einander, sie bekämpfen sich, sie hegen ihre mitgebrachten Ressentiments bezüglich Religion, Rasse und Stand; die Asylanten leiden an Langeweile und Spachlosigkeit. Das alles ist nachvollziehbar und macht betroffen. Der Roman wäre klassische Gesellschaftskritik - wenn nicht das Ende alles verderben würde.
Im letzten Fünftel bzw. im letzten Stockwerk des Romans eifert der Autor jedoch Pasolinis Vorbild nach, überlässt sich künsterischem Ehrgeiz und führt den Roman in ein implodierendes Ende von Wahn und Surrealismus. Ergo: der Roman ist hin.
Fazit. Vier Fünftel des Romans lassen sich bestens lesen und nachfühlen, das implodierende Ende kann man „Kunst“ nennen, wenn man will, ich will nicht oder aber auch Unwillen, einen Roman vernünftig zu beenden. Wäre ja auch zu einfach! Ich bin nachhaltig verärgert.
Kategorie: Migrationsroman
Verlag: Dtv. 2023
In Amir Gudarzis Debütroman „Das Ende ist nah“ entwirft er die Geschichte des jungen Mannes A., welcher nach den Protesten 2009 in seinem Heimatland Iran eigentlich nach Kanada flüchten will, aber in Österreich hängen bleibt. Wir begleiten ihn nun nicht nur auf seinem Weg durch den unbarmherzigen Dschungel der Bürokratie und des gesellschaftlichen Lebens in Österreich hin zum anerkannten Asyl, sondern auch durch Rückblicke in seine Vergangenheit und zu den Geschehnissen, die ihn letztlich zur Flucht gezwungen haben.
A. ist Student des Faches „Szenisches Schreiben“ in Teheran als die Proteste gegen das Mullah-geführte Regime immer dringlicher und auch gefährlicher für die Teilnehmenden wird. Im sozialen Brennpunkt im Süden Teherans aufgewachsen, geht A. den Weg der Bildung, der ihn mitten ins Herz der Proteste führt und damit auch zu polizeilichem Arrest und Folter. Als ihm später eine Gefängnisstrafe droht, verlässt er das Land und landet in Österreich. Dort wird zwar zum Glück keine Folter mehr angewandt, trotzdem scheint der Aufenthalt im Transit zwischen anerkanntem Asyl und einer unvorhersehbaren Ausweisung zurück nach Iran psychisch immer belastender für A. zu werden. Häufig mit Ignoranz und Hass konfrontiert und nur selten mit Mitmenschlichkeit und Wärme verschlechtert sich A.s Zustand rapide. Die wankelmütige Beziehung zur deutschen, in Wien lebenden Sarah scheint A. eine Zeit lang Halt zu bieten, ihn jedoch auch zunehmend zu belasten.
Amir Gudarzi, dessen Erlebnisse aus seinem eigenen Leben sicherlich in diesem Roman mit eingeflossen sind, wobei das Ausmaß nicht abzuschätzen ist, brilliert in seinem im Deutschen verfassten Debütroman mit einer überraschenden Romankonstruktion und einer fesselnden Sprache zwischen poetischen Formulierungen und berichtartigen Beschreibungen von grauenvollen Erlebnissen sowohl im Iran als auch in Österreich. Wie klar und ungeschönt sich Gudarzi mit seinem Heimatland aber auch der österreichischen Gesellschaft und ihre Reaktion auf den Geflüchteten A. auseinandersetzt, ohne ausschließlich einseitig zu erzählen, hat mich vollends überzeugt. Ist der Roman noch zu Beginn von schwer verdaulicher, physischer Gewalt geprägt, nimmt mit dem Wechsel nach Österreich immer stärker die psychische Gewalt zu, die auf A. trifft. Grandios ist letztlich gemacht, wie Gudarzi unter anderem durch die Einteilung des Buches in die Abschnitte von „Mezzanin“ (für alle, die es nicht wussten – ich gehöre dazu – ist dies ein in Österreich gebräuchlicher Begriff für ein Halbgeschoss) bis „Vierte Etage“ den bürokratischen Aufstieg A.s bis zur Anerkennung des Asylantrags darstellt und gleichzeitig in einer Gegenbewegung sich der psychische Zustand der Figur aufgrund der massiven Belastungen, unter denen er zu leiden hat, zunehmend verschlechtert. Die Figur Sarah, welcher immer ausgedehntere Kapitel für ihre Sichtweisen zur Verfügung gestellt werden, spielt dabei eine wichtige Rolle. Sind teilweise ihre Passagen durchaus anstrengend in der Lektüre, hat das alles doch einen Sinn, den wir allerdings erst zum Schluss erfahren. Somit lohnt sich bei diesem Roman eine Zweitlektüre ganz besonders.
Mir hat der Roman wirklich ausgesprochen gut gefallen. Sowohl der Erzählstil als auch die Konstruktion des Romans haben mich von Beginn an ganz fest gepackt und bis zuletzt nicht mehr losgelassen. Ich konnte mit jedem Szenenwechsel sofort in die Atmosphäre der Szenerie, ob nun Rückblick in die Vergangenheit oder Geschehen in der Gegenwart des Romans, eintauchen und habe alles bildlich vor mir gesehen. Gudarzi spielt auch mit den Zeitformen und den Erzählperspektiven, begründet dieses Spiel aber ganz klar mit Hinweisen Text:
„Ich schreibe auch jetzt im Präsens, weil ich versuche, alles zu rekonstruieren, alles aufs Neue zu erleben. Ich könnte auch in der Vergangenheitsform schreiben, aber ich schaffe es nicht, weil ich offensichtlich etwas verloren oder vergessen habe und es dort wiederfinden muss. Beim Schreiben springe ich immer zwischen den Zeiten hin und her – die Sprache als Zeitmaschine.“
Ich habe durch den Roman von Amir Gudarzi wirklich sehr viel Neues sowohl über die Zustände im Iran als auch bezogen auf die Zeit nach dem Ankommen in einem Land, welches noch nicht das Asylgesuch einer geflüchteten Person anerkannt hat, entdecken können, weshalb er von mir definitiv die volle Punktzahl bekommt. Diesen Autor werde ich auf jeden Fall im Blick behalten, denn er ist eindeutig für unkonventionelle Überraschungen gut.
5/5 Sterne
Der Autor, Constantin Schreiber, beschäftigt sich in seinem zweiten Buch mit der Unterrichtssituation in islamischen Ländern. Beschrieben und mit Einzelfällen unterlegt wurden Schulbücher aus Afghanistan, Iran, Ägypten, Palästina und der Türkei.
Nun kann man keiner Nation vorwerfen, dass es seine Kinder in der „Staatsideologie“ unterweist. Kapitalistische Staaten tun dies nämlich auch und nicht zu knapp, wenn auch glücklicherweise ANDERS und die Schüler im Westen haben außerhalb der Schule Zugang zu Dutzenden von Medien. Was muslimische Schüler im Nahen Osten in der Regel nicht haben.
Die zitierten Expertinnen, die die islamischen Schulbücher mituntersuchten, kamen mir mitunter eine Spur überheblich vor.
DENNOCH bleibt es besorgniserregend, dass Kinder und Jugendliche mit Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Hass auf alles Westliche indoktriniert werden. Vor allem, da sie in den meisten der genannten Länder keine Chance haben, an objektivere Informationen zu gelangen und sowieso vor den Medien und investigativem Journalismus als westliche Beeinflussung gewarnt wird.
Derart gehirngewaschene Menschen kommen in Scharen nach Europa und dieser Strom wird nicht abreißen, weil die Lebensbedingungen im arabischen Raum in seinen Brennpunkten immer unerträglicher werden und die Muslime sich vor allem in Palästina ungebremst vermehren. (Krieg der Gebärmütter).
Mit Fakten kommt das Aufnahmeland gegen die in der Kindheit/Jugend emotional vermittelte nationale und demokratiefeindliche Denke gar nicht mehr an. Die Politik Deutschlands muss sich allmählich, ob sie will oder nicht, mit diesem Sachverhalt auseinandersetzen und entsprechend reagieren. Einige vernünftige Vorschläge werden vom Autor diesbezüglich unterbreitet.
Vor allem sollte Europa seine Finanzhilfe zur Bildungsvermittlung im arabischen Raum einstellen. Es ist nicht hinnehmbar, dass mit europäischem Geld, antieuropäische und antidemokratische, sowie frauenfeindliche und antisemitische Inhalte in großem Maßstab in allen diesen Ländern vermittelt werden.
ZUR KRITIK:
Fast zwei Drittel des Buches besteht aus wörtlichen Auszügen dieser Schulbücher. Einerseits ist dies gut, der Autor lässt den Leser selbst entscheiden, was er von dem Unterrichtsmaterial hält. Andererseits ist die Lektüre dieser Schulbücher auch langweilig und eintönig.
Am interessantesten ist es doch, was der Autor, der mit arabischem Hintergrund bestens vertraut ist, selber zu sagen hat. Seine Einschätzungen und Beobachtungen waren mir wertvoll. Ich hätte gerne mehr davon gehabt und erfahren. Zum Beispiel schildert er die negative Veränderung, die Kairo erlebte.
EINIGE ZITATE:
„Exotische, chaotische Großstädte können durchaus eine gewisse Faszination entwickeln, auch ich finde Shanghai, Neu-Delhi oder Bangkok aufregend. Und so ging es mir auch mit Kairo, als ich in den Neunzigerjahren das erste Mal dort war. Aber seitdem hat sich etwas verändert, ist Kairo irgendwie gekippt.“
ÄGYPTEN:
„2,8 Prozent bedeuten einen Zuwachs der Bevölkerung um etwa 2,5 Millionen pro Jahr – eine demografische Zeitbombe für ein Land, dessen Territorium zu mehr als 90 Prozent aus Wüste besteht und dem jetzt schon der Versorgungskollaps droht.“
ÄGYPTEN:
„Im größten Land der arabischen Welt hat sich mit der Zeit eine Alimentierungsmentalität entwickelt, die verhindert, dass Bürger und Politik Verantwortung übernehmen. Stattdessen werden Feindbilder gepflegt, plumper Nationalismus. Für Missstände sind andere verantwortlich – meistens gerade jene, die mit Finanzspritzen dafür sorgen, dass das Land nicht innerhalb kürzester Zeit zusammenbricht.“
PALÄSTINA
„Deutschland gehört mit neun Millionen Euro im Jahr zu einem der größten Beitragszahler.“
„Das Feindbild Israel eint die Palästinenser.“
„Israel [ist] in keinem der Bücher mit seinen heutigen Grenzen abgebildet.“
„Diese Bücher sind keine Basis für Frieden, sie schüren Hass und Dämonisieren den jüdischen Staat.“
Man spricht vom „Krieg der Gebärmütter“.
TÜRKEI
Fake-News.
„Athens Ziel sei die Gründung eines Großgriechenlands, das unter anderem Istanbul und große Teile Anatoliens umfasse.“
ALLGEMEIN
„Wenn man die Durchdringung der muslimischen Welt mit Antisemitismus abstreitet, das sehr häufig antiquierte Frauenbild, die tiefe Religiosität, die häufig Toleranz vermissen lässt, dann hat das etwas mit REALITÄTSVERWEIGERUNG zu tun. Denn auch, wenn es unbestreitbar tolerante, säkulare und moderne Muslime im Nahen Osten gibt, so ist der gesellschaftliche Mainstream, genauso unbestreitbar, ein anderer.“
Klingt das alles verurteilend und hart? Der Autor wünscht sich, Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit, übertriebenen Nationalismus und Furcht vor europäischem Denken aufzuzeigen, um ein Umdenken einzuleiten, es geht ihm gerade nicht darum, „mit dem Finger auf jemanden zu zeigen.“
Es ist aber natürlich schwierig, eine Diskussion mit einer Mentalität zu beginnen, die die bloße Erwähnung von Kritik schon übelnimmt.
FAZIT: BESORGNISERREGEND!
Europa, Deutschland und insbesondere die Grünen werden nicht mehr länger darum herumkommen, sich damit zu beschäftigen, dass (in ihrer Mehrzahl) muslimische Migranten uns eine Menge Probleme der besonderen Art bescheren. In einer Schule in Neu-Kölln musste eine Podiumsdiskussion abgebrochen werden, weil muslimische Schüler die Veranstaltung durch das Brüllen von Koranversen unmöglich machten.
Nun kommt es darauf an, eben keine Realitätsverweigerung zu betreiben, wie bisher, sondern adäquate Antworten zu finden.
Besser wärs.
Kategorie: Sachbuch
Verlag: Econ, 2019
Von San Salvador nach La Gringolandia
Kurzmeinung: Sich erinnern, um zu heilen!
Der Autor verarbeitet in dem Roman „Solito“ seine eigene Fluchterfahrung im Alter von etwa 9 Jahren. Er schreibt in einem Interview, er hätte Therapie gebraucht um im Nachhinein diese Erfahrungen zu verarbeiten und musste Zeit mit seinem inneren Kind verbringen, nämlich dem Jungen, der er damals gewesen ist.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
So wie der Autor nun Zeit mit dem zehnjährigen übergewichtigen Jungen Javier verbringt mit seinen ganzen negativen und positiven Erfahrungen auf der Reise (na ja, Reise), macht es auch der Leser. Er muss sich ganz auf die kindliche Erlebniswelt und Perspektive einlassen. Es ist eine einfache Schreibweise mit vielen Wiederholungen, die der Roman liefert, mit einem ruhigen Anfangsteil, der zeigt, in welchem Familiengefüge der Junge in El Salvador aufwächst: man ist arm, aber man hält zusammen, man hat nicht viel, aber man ist als Kind frei und ohne Angst. Liebevoll gehen Großeltern und Tante mit ihm um, aber seit er fünf Jahre alt ist, weiß Javier, dass er nach La Gringolandia emigrieren wird, einem Land, in dem Milch und Honig fließen werden und jeder einen Swimmingpool hat und ein großes Anwesen und viele Spielsachen – mit einem Wort, wo das Paradies ist. Er weiß es und er weiß es auch wieder nicht, denn niemand kann sich wirklich vorstellen, was es bedeutet, mit einer Guppe vollkommen Fremder und mit Schleusern unterwegs zu sein. Und ganz auf sie angewiesen zu sein.
Den ersten Teil der Reise darf Javier mit seinem Großvater zusammen machen. Immerhin. Dabei kommen die beiden sich nahe und diese Erinnerungen behält man fürs Leben. Aber dann kommt die Trennung. Aufbruch ist Abbruch, Kluft, Trennung und Schmerz, Heimatverlust. Von nun an ist Javier auf sich allein gestellt. Die 9wöchige Odysee über zwei Landesgrenzen hinweg, unter teils hygienisch unwürdigen Verhältnissen, viel Langeweile und Unwägbarkeiten, verlangt dem Jungen alles an Anpassungsvermögen und Überlebenswillen ab, was er hat. Fremde Menschen, Unterordnung, Impulskontrolle, physische und psychische Strapazen. Und wenn nicht doch noch etwas Menschlichkeit in manchem aus der Flüchtlingsgruppe gewesen wäre, hätte er es nicht geschafft.
Der Spannungsbogen in dem Roman hängt freilich manchmal durch, die Erzählweise ist äußerst detailverliebt, die Figurenzeichnungen oft unscharf, dennoch bekommt man einen lebhaften Eindruck davon, was Menschen alles mitmachen müssen, um ein menschenwürdiges Leben zu gewinnen und zu ihren Angehörigen zu kommen. Viele bleiben auf der Strecke, mit anderen Worten, der Tod schaut immer um die Ecke auf einer solchen Reise. '
Für die Authentizität verwendet der Autor unzählige unübersetzte spanische Slangausdrücke, - woran sich viele Rezensenten stören - im Ebook ist die Aufschlüsselung hervorragend gelungen, Kompliment an den Verlag: Ein Klick und man hat die Übersetzung.
Fazit: Eindrückliche und authentische Verarbeitung einer Fluchterfahrung, die trotz literarischer Schwächen nicht kalt lässt. Die naive kindliche Perspektive muss man freilich mögen. Damit steht und fällt der Roman.
Kategorie: Roman. Migration.
Verlag: KiWi, 2024