Das Tor Europas: Die Geschichte der Ukraine

Bisweilen frage ich mich, wem auf der Rangliste der größten A...löcher in der deutschen Geschichte der zweite Platz zukommt und schwanke zwischen Alfred Hugenberg und Franz von Papen. Über letzteren hat nun Reiner Möckelmann eine Biographie vorgelegt, die den bezeichnenden Untertitel "Hitlers ewiger Vasall" trägt. Darin beschreibt er den Lebensweg des Kurzzeitkanzlers, Vizekanzlers unter Hitler und Botschafter in der Türkei. Schon als Kanzler trug der antidemokratische und bis ins Mark kaisertreue Papen mit seinem "Preußenschlag", der Absetzung der geschäftsführenden Landesregierung Preußens, maßgeblich zur Zerstörung der Weimarer Republik bei. Nachdem sein kurzlebiges "Kabinett der Barone" sich nicht halten konnte, betrieb der Intrigant seine Wiederernennung als Kanzler, indem er auf das Pferd Hitler setzte. Doch der lehnte als Führer der stärksten Fraktion im antidemokratischen Lager verständlicherweise eine Rolle in zweiter Reihe ab, sodass sich nun Papen mit der Vizekanzlerschaft zufrieden gab, dies in der Hoffnung, Hitler mithilfe seiner konservativen Kabinettskollegen einzurahmen. Das dieser Plan nicht klappte, ist hinlänglich bekannt, zudem zeigte sich in der praktischen Politik nichts von Mäßigung seitens Papens, im Gegenteil, er wirkte an zahlreichen Gesetzen zur Etablierung der faschistischen Regierung aktiv mit, hatte auch nichts gegen antijüdische Maßnahmen. Mit seinem Beitrag zur Reichskonkordat trug er zudem dazu bei, Hitler international hoffähig zu machen. Seine als Akt des Widerstandes geltende Marburger Rede stammt tatsächlich aus der Feder seines Beraters Edgar Jung. Als dieser kurze Zeit später in der "Nacht der langen Messer" nach dem sogennanten Röhmputsch ermordet wurde, folgte keine deutliche Reaktion Papens. Im Gegenteil, weiterhin stellte er seine Dienste Hitler zur Verfügung, zuletzt als Botschafter in der Türkei, wo er den Kriegseintritt dieses Staates auf seiten der Alliierten lange, aber letztendlich nicht erfolgreich verhindern konnte.
Nach dem Krieg stilisierte sich Papen dann in seiner apologetischen Autobiographie "Der Wahrheit eine Gasse" - der Titel ist der reine Hohn - als emsiger Arbeiter für das Wohl Deutschlands und eigentlicher Widerständler dar, der mit seinem Wirken Schlimmeres verhindert habe (was, bitteschön, hätte den noch schlimmer kommen können?). Tatsächlich kannte Papen einige der Widerständler, doch diese trauten ihm - vermutlich zu recht - nicht und vermieden enge Kontakte mit ihm, geschweige denn, dass sie ihn in irgendwelche Pläne eingeweiht hätten. Versuch, nach dem Krieg in die CDU einzureten, wurden vom damaligen Vorsitzenden Adenauer, ansonsten nicht sehr zurückhaltend im Umgang mit ehemaligen Nazifunktionären, aus gutem Grund abgelehnt. So blieb Papen bis zu seinem Ende im Jahr 1969 der ewige Vasall Hitlers, der nicht in der Lage war, sich seiner Vergangenheit in ehrlicher Weise zu stellen und sich stattdessen die Wirklichkeit zurechtbog.
Sicherlich ist Möckelmanns Studie mit 39,95 € (31,96 € für wbg Mitglieder) nicht ganz billig, aber sie ist es wert, gelesen zu werden.
Klappentext von der Verlagsseite:
Eine kraftvolle, herzzerreißende und unvergessliche Geschichte
Wien, 1936. Die drei Freunde Leo, Elsa und Max verbringen einen perfekten Tag im Prater. Vom Riesenrad aus betrachtet scheint die ganze Welt ihnen zu gehören. Doch bald darauf versinkt diese Welt um sie herum in Dunkelheit und der Krieg reißt sie grausam auseinander. In dieser Zeit der Angst und Verfolgung ist nicht sicher, wer von ihnen überleben wird.
Inspiriert durch die Geschichte ihres Großvaters, erzählt Bestsellerautorin Liz Kessler in ihrem bisher persönlichsten Buch, wie Freundschaft, Familie und Liebe auch im Angesicht von Flucht und Tod den Glauben an das Gute im Menschen aufrechterhalten.
Autoreninfo von der Verlagsseite:
Liz Kessler hat als Lehrerin und Journalistin gearbeitet und wollte Schriftstellerin werden, seit sie im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte. Zehn Jahre lang lebte sie auf einem Hausboot. Inzwischen wohnt sie in einem wunderschönen kleinen Haus in Manchester und gibt Schreibkurse für Autoren. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen “Emily” wurden zu internationalen Bestsellern.
Sprecherinfo von der Verlagsseite:
Julian Greis, Jahrgang 1983, wirkte in zahlreichen Theater-, TV- und Hörbuchproduktionen mit, u. a. in der erfolgreichen Hörspielvertonung von Wolfgang Herrndorfs Roman “Tschick”.
Fritzi Haberlandt wird als eine der wichtigsten Charakterdarstellerinnen Deutschlands gefeiert. Für ihre zahlreichen Film- und Theaterrollen gewann sie u.a. den Deutschen Filmpreis und wurde mehrfach zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt.
Walter Kreye studierte an der Schauspielschule Bochum und spielte am Hamburger Thalia Theater, das Schauspielhaus sowie an der Schaubühne Berlin und an den Staatstheatern von Hannover und Stuttgart.
Seit Ende der 1980er Jahre ist Walter Kreye vor allem durch zahlreiche Rollen in Fernsehkrimis berühmt geworden, u. a. übernahm er 2007 die Titelrolle der erfolgreichen ZDF-Serie “Der Alte”. Zudem ist er die Stimme der Simenon-Hörbücher.
Friedhelm Ptok ist Schauspieler und Synchronsprecher. Seiner klassischen, sonoren Erzählerstimme folgt man gern in jedes Abenteuer.
Erster Satz:
Mein Vater war acht Jahre alt, als er 1939 mit seinen Eltern Frank und Annie Kessler die von den Nazis besetzte Tschechoslowakei verlässt..
Meinung:
Bücher oder auch Hörbücher, die das Thema “Holocaust” und “Zweiter Weltkrieg” behandeln, sprechen mich einfach an. So musste ich auch unbedingt “Als die Welt uns gehörte” von Liz Kessler, in diesem Fall, hören.
Allein der Inhalt, der aus der Sicht der drei Kinder Leo, Elsa und Max geschildert wird, ist heftig für ein Jugendbuch und es lässt einen auch nach Tagen des Hörens nicht mehr los. Ein jedes Jahr des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs wird jeweils aus der Sicht eines Kindes erzählt und jedes Mal stockte mir wieder der Atem beim Hören. Denn Greis, Ptok, Kreye und Haberlandt sprechen die Geschichte von Liz Kessler grandios. Ich musste es öfters unterbrechen, da ich mich wieder sammeln musste, und das ein oder andere Mal liefen mir die Tränen über die Wangen.
Leo und Elsa sind jüdische Kinder und wohnen in Wien. Max Vater ist strenger Nationalsozialist und so hat es Max nicht leicht, wenn er mit seinen Freunden Leo und Elsa den Nachmittag verbringen möchte. Der unterschwellige Hass gegen alles andere fängt langsam an, man spürt wie es anfängt, mit den Reden von Max Vater, das Abwenden von Menschen nach Österreichs Anschluss ans Dritte Reich und wie immer mehr Max indoktriniert wird durch die Hitler Jugend. Man spürt auch immer wieder, wie er sich innerlich dagegen wehrt und man ist einfach fassungslos.
Fassungslos ist man auch, wenn man Elsas Weg von der Flucht bis ins KZ verfolgt. Es erschreckt und Kessler hat mit der Grundlage durch ihren Jugendroman “Als die Welt uns gehört” den Sprechern einen starken Text vorgelegt, der zum einen fesselnd von Eva Riekert übersetzt wurde, als auch von den vier Sprechern grandios vertont wurde.
Jedes einzelne, sehr kurze Kapitel berührt einen. Der erste so glückliche Moment mit dem Riesenrad zu Beginn bis zum packenden Ende mit Leo in London. Das Hörbuch lässt einen nicht los und es wirkt immer noch nach.
Fazit
“Als die Welt uns gehörte” von Liz Kessler ist ein packender, fordernder Jugendroman, der unbedingt entweder gelesen oder gehört werden muss. Er fesselt von der ersten bis zur letzten Minute und lässt einen nachdenklich und traurig zurück, mit dem dringenden Wunsch: Nie wieder!
Klappentext von der Verlagsseite:
Mit Chuzpe gegen den Hass
Ohne Kippa geht Levi Ufferfilge nicht aus dem Haus. Tagtäglich bestreitet er mit dem kleinen Stück Stoff auf dem Kopf seinen Alltag. Doch das Sichtbarsein als Jude bleibt nicht ohne Folgen: Antisemitische Anfeindungen, Beleidigungen und kuriose Begegnungen aller Art. Eine erhellende wie schockierende Erzählung über das Jüdischsein in Deutschland heute.
Levi Ufferfilges »Käppchen«, wie seine Großmutter liebevoll zu sagen pflegt, ist sein ständiger Begleiter. Die Kippa ist nicht nur sein liebstes Kleidungsstück, sondern sie erinnert ihn auch an die Zugehörigkeit zum Volk Israel, seiner Religion, seiner Kultur und daran, dass stets etwas über ihn wacht. Damit gehört er zu den wenigen Deutschen, die sichtbar als Juden zu erkennen sind. Dass es immer noch gefährlich sein kann, seinen Glauben so offen zu zeigen, hat auch er zu spüren bekommen. Ob im Zug, beim Einkaufen oder auf der Straße, oft muss er als Dauer-Interviewpartner, als Zuhörer und Tröster herhalten und ist Projektions- und Angriffsfläche für allerhand Klischees über Juden.
Manchmal ist es schwer, das auszuhalten. Doch Levi Ufferfilge lässt sich die Freiheit nicht nehmen, seine jüdische Identität offen zu zeigen. Damit ist er auch seinen Schülerinnen und Schülern ein Vorbild. Er lebt vor, wie man Religion, ihre Rituale und Traditionen, mit einem modernen Leben zusammenbringen kann und trägt damit dazu bei, das großartige jüdische Erbe wiederzuentdecken.
Autoreninfo von der Verlagsseite:
Levi Israel Ufferfilge, geboren 1988 im nordwestfälischen Minden, hat Jüdische Studien und Jiddistik studiert. Nach seiner Promotion ist er heute als Schulleiter der Jewish International School – Masorti Grundschule in Berlin tätig. Über seine Erfahrungen als sichtbarer Jude schreibt er auf Twitter unter dem Hashtag #juedischinschland und auf Facebook, wo seine Anekdoten eine große Leserschaft haben.
Erster Satz:
Schauen Sie sich den Buchdeckel noch einmal genau an.
Meinung:
Levi Israel Ufferfilge hat mir sehr deutlich gemacht, was Jüdischsein in Deutschland bedeutet. Es gibt immer mehr antisemitische und rassistische Vorfällt in Deutschland und jede neue Tat ist eine Tat zu viel. Es ist erschreckend, dass wir nichts aus der Vergangenheit gelernt haben und uns so verhalten.
Ufferfilge schildert diese Vorfälle sehr genau. Durch seinen humorvollen Schreibstil, der keineswegs die Vorkommnisse ins Lächerliche zieht, ist es sehr anschaulich und unterhaltsam. Gelinde gesagt, ich musste mich Fremdschämen. Wieso ist es so unbegreiflich und so schwer vorstellbar, dass man Juden, die Kippa tragen sieht? Wieso muss man das kommentieren? Warum muss man sie anfeinden? Es geht mir nicht in den Kopf hinein und bei wirklich jeder Szene im Buch habe ich den Kopf geschüttelt. Nicht weil ich es nicht glauben konnte, sondern weil ich es einfach unmöglich fand.
Levi Israel Ufferfilge erzählt auch viel aus dem jüdischen Leben und nicht nur über Anfeindungen. So ist dieses Buch nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Deutschland, sondern auch mit dem jüdischen Leben hier. Um Letzteres zu verdeutlichen, erzählt er immer wieder von seiner Familie und macht so vieles verständlicher.
Beim Lesen der zweihundertundacht Seiten habe ich viel gelernt und nicht nur vom jüdischen Leben, sondern auch jüdische Worte, die wir hier selbstverständlich nutzen.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und ich schwankte bei jeder Seite zwischen Fassungslosigkeit und Traurigkeit. Ein Buch, das jeder gelesen haben soll.
Fazit
Ein Buch, das einen auch nach dem Lesen nicht loslässt und zum Nachdenken anregt.
Andrew Roberts hat mit "Feuersturm" eine weitere Darstellung des Zweiten Weltkriegs vorgelegt, die ich wahrscheinlich niemals gekauft hätte, aber bei meiner letzten Bestellung bei der Landesbildungszentrale war noch Luft, also habe ich mir dieses Buch mitliefern lassen. Und aufgrund einer Flaute auf dem Büchermarkt (zugeggebnermaßen subjektiv empfunden) habe ich das "Werk" nun gelesen, das Urteil ist etwas zwiespältig. Insgesamt gesehen bietet die Darstellung eine brauchbare Übersicht über den Kriegsverlauf an den verschiedenen Fronten in Europa, Asien und Afrika, aber auch nicht mehr. Und das liefern zahlreiche andere Darstellungen zum Zweiten Weltkrieg auch, nur sind die, zumindest die mir bekannten, wissenschaftlich solider. An einigen Stellen betreibt Roberts einen wahren Heldenkult, was die Taten einzelner Soldaten betrifft, eine Art zu schreiben, über die die Wissenschaft eigentlich hinaus sein sollte. Zudem weist er ständig auf die Verstrickung insbesondere der deutschen Generäle in die Verbrechen des Nationalsozialismus hin, kann sich dann aber einer deutlichen Bewunderung ihrer taktischen Leistungen nicht entziehen. Und dass Hiltler böse war, muss man auch nicht bei jeder Gelegenheit erneut betonen, wem das nicht klar ist, der muss ein Neonazi sein. Störend sind auch zahlreich eingebundene Anekdötchen, die für die historische Erkenntnis unheimlich wichtig sind, so etwa die Tatsache, dass Hitlers Freude über Siege im Westen getrübt wurde durch einen Diener, der ihm persönliche Gegenstände gestohlen habe. Ja, wenn das die Geschichtsschreibung nicht revolutioniert, was dann? Im Abschlusskapitel stellt sich Andrews dann die Frage, warum die Achsenmächte den Krieg verloren haben. Die verblüffende Antwort: weil Hitler Nazi war. Für diese Erkenntnis musste ich nun 786 Seiten darstellenden Text lesen und gelegentlich im Anhang suchen, weil der Autor die Unsitte hat, immer Historiker zu zitieren, aber diese nicht mit Namen zu nennen (Ein Historiker führt aus....), meiner Meinung nach eine Respektlosigkeit gegenüber den Kollegen der Fachzunft. Man fragt sich, warum der renommierte Beck-Verlag so eine banales Werk ins Programm aufgenommen hat und warum es dann auch noch über die Landesbildungszentralen weitergegeben wird. Wer sich ernsthaft mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen möchte, sollte auf die Bände der Darstellung "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg", die vom Militärgeschichtlichem Forschungsamt Freiburg herausgegeben wurde, zurückgreifen, die zumindest teilweise auch als Taschenbuch relativ preisgünstig erhältlich ist und die ein Lehrstück für fundierte, wissenschaftliche Geschichtsschreibung zum Thema Zweiter Weltkrieg darstellten Hätte ich tatsächlich fast 40 € für die bisher nur gebunden erhältliche Ausgabe von "Feuersturm" ausgegeben, hätte ich mich geärgert, die 2 € Selbstkostenanteil bei der Bildungszentrale sind demgegenüber angemessen und zu verschmerzen.
Helga Schubert wurde 1940 in Berlin geboren. Ihr Vater fiel im Krieg, als sie ein Jahr alt war. Die Mutter flieht 1945 mit dem fünfjährigen Kind vor der Roten Armee von Hinterpommern nach Greifswald zu den Eltern ihres verstorbenen Mannes. Helga Schubert wächst in der DDR auf, geht zur Schule, studiert, wird klinische Psychologin. Schon immer hat sie geschrieben, Prosatexte, Hörspiele, Theater- und Fernsehstücke. Als Künstlerin hatte sie die Möglichkeit, in den Westen zu reisen, wurde aber dort im Allgemeinen nicht als Schriftstellerin wahrgenommen. 1980 erhielt sie eine Einladung zum den Tagen der deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt, bei denen der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen wird.
Sie durfte nicht ausreisen, ob sie „dem Reich-Ranicki vortanzen wolle“, wurde sie gefragt.
2020, mit dem Werk „Vom Aufstehen“ erhielt Helga Schubert 80-jährig den Ingeborg Bachmann Preis.
„Mein Sehnsuchtsort ist eine Erinnerung…“
So beginnt Helga Schubert ihr Leben in Geschichten zu erzählen. Es sind 29 Texte unterschiedlicher Länge, nicht chronologisch sortiert. Erinnerungen, Gedankensplitter, biographische Anker. Jedes Wort ist überlegt. Nie pathetisch, nicht anklagend, manchmal sehr fein humorvoll. In der Audioversion bekommt die Erzählung durch Ruth Reinecke eine besondere Stimme. Als ob sie mir gegenüber säße:
Vom Leben in der DDR als Bürgerin generell, als Schriftstellerin besonders, von der Wende, vom Leben danach. Von politischem Engagement. Von der Kraft geschöpft aus dem Glauben als evangelische Christin. Vom Kind sein ohne Vater. Vom Alter(n). Und immer wieder ihre Mutter.
Zwei Regimes haben Helga Schuberts Leben geprägt. Das politische Regime, mit aller Widersinnigkeit der Diktatur. Das mütterliche Regime, mit dem späten Erkennen von der Freiwilligkeit der Liebe.
„Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut.“
Nicht jede der 29 Geschichten hat mich gleichermaßen angesprochen. Aber die persönlichen, sehr privaten Momente dieser ganz speziellen Mutter Tochter Beziehung haben mich sehr berührt.
Klappentext:
„Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. In kurzen Episoden erzählt Helga Schubert ein deutsches Jahrhundertleben – ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Als Kind lebt sie zwischen Heimaten, steht als Erwachsene mehr als zehn Jahre unter Beobachtung der Stasi und ist bei ihrer ersten freien Wahl fast fünfzig Jahre alt. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter, einem Leben voller Widerstände und sich selbst.“
Helga Schuberts Schreibstil ist etwas besonderes und geht ab der ersten Seiten seinen ganz eigenen Weg mit dem Leser. In den kurzen Texten, erleben wir eine Art Biografie und Erzählung und Schubert nimmt uns in ihre ganz persönliche Familiengeschichte mit. Jede Geschichte ist anders genau wie das Leben und hier wird nichts beschönigt. Schubert erlebt alles, was das Leben zu bieten hat. Schubert erzählt aber nicht nur aus dem was vergangen ist, sondern auch aus ihren Gedanken. Jede Geschichte hat ihren eigenen Stil und sie passt ihn den Darstellern an. Wir erleben alle Emotionslagen die es gibt und Schubert schafft es ausnahmslos fesselnd, begeisternd aber auch auf gewisser Weise auf Distanz zu bleiben. Sie zieht uns Leser nicht mit hinein, wir dürfen die Geschichten erfahren, brauchen aber nicht mit ihr mitleiden o.ä.. Es gehört unheimlich viel dazu, so einen Stil zu schaffen und die Leserschaft damit zu begeistern. Für mich war dies eine wirklich wunderbare Leseerfahrung und dieses Buch wird definitiv in die Sparte: „immer wieder lesbar“ einsortiert - 5 von 5 Sterne!
Aus sportlicher Sicht bin ich eher der Mittelstrecken-Leser. Ab und zu wage ich mich auch an die Langstrecke. Aber Kurzstrecke ist nicht so meins. Denn habe ich gerade meine Lesegeschwindigkeit erreicht, ist der Leselauf bereits vorbei.
Anders ausgedrückt: Ich lese höchst selten Kurzgeschichten und Erzählungen. Wenn allerdings die Autorin einer Erzählung das Prädikat Bachmann Preisträgerin trägt, begebe ich mich auch mal auf eine Kurzstrecke, so geschehen bei Helga Schuberts Lebensgeschichten "Vom Aufstehen". Mit der titelgebenden Geschichte gewann Frau Schubert in 2020 den Ingeborg Bachmann Preis.
Die Geschichten in diesem Buch beinhalten Erinnerungen und Episoden aus Helga Schuberts Leben, genauso wie Gedanken über das Leben und Alter(n) an sich. Frau Schubert ist mittlerweile Anfang 80 und blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Geboren und aufgewachsen in der DDR, hat sie sich in späteren Jahren bereits hier einen Namen als Schriftstellerin gemacht. Als erfolgreiche DDR-Schriftstellerin hatte sie das Privileg, berufliche Reisen in fremde Länder zu unternehmen. Sie erlebte die Wende und die Maueröffnung, engagierte sich politisch und schrieb auch später noch das eine oder andere Buch. Ihre Heimat hat sie nie verlassen. Sie lebt nach wie vor in den neuen Bundesländern (sofern man heute noch von "neu" sprechen kann). Mittlerweile ist es ruhiger um Frau Schubert geworden. Doch sie hat immer noch viel zu erzählen, wie sie mit dem Buch "Vom Aufstehen" unter Beweis stellt.
Sie erzählt darin von ihrem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, sie erzählt von ihrem Leben als DDR-Schriftstellerin und Bürgerin der DDR, sie erzählt von ihrem Leben als Bürgerin der BRD und sie erzählt vom Alter(n).
"In allen Zügen sitze ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und sehe in die entschwindende undeutlicher werdende Landschaft, sie trennt sich von mir und bleibt doch da, bei jeder Fahrt erkenne ich sie erst, wenn sie schon vorüber ist. In der Fahrtrichtung sitzend, bin ich der Zukunft ohnmächtig ausgeliefert, kann ich nicht entweichen, müsste die Augen schließen oder wegsehen, mich unterhalten, lesen, die Sonne mit all ihren Schatten stürzt durch die Scheibe, in mich hinein, ist in mir gefangen.
Ich sehe in die Vergangenhiet, wende mein Gesicht in die Schatten und spüre die Wärme der Sonne in meinem Rücken."
Ich kann nicht behaupten, dass mich jedes Kapitel abgeholt hat. In Summe waren es diejenigen Kapitel, die das Alter(n) betreffen, die mir sehr viel gegeben haben. Frau Schubert legt im Alter eine Haltung an den Tag, die ich mir für mich ebenfalls erhoffe: Gleichmut und Freude gegenüber dem, was noch kommt, ohne die bange Frage zu stellen, wieviel Zeit noch bleibt. Unduldsamkeit gegenüber Menschen und Dingen, die einem nicht gut tun. Niederlagen, Verluste und Tiefschläge als Teil seines Lebens zu akzeptieren, und die dazu beigetragen haben, dass man zu dem Menschen geworden ist, der man ist.
Die Eindrücke, die ich aus diesen besonderen Episoden über das Alter(n)mitgenommen habe, überdecken die Ratlosigkeit oder Ungerührtheit, die andere Geschichten dieses Buches bei mir erwirkt haben. Dies sind Geschichten über das Leben und Ereignisse in der DDR. Oder aber auch Geschichten, deren tieferer Sinn sich mir entzog und meine Interpretationsfähigkeit an ihre Grenze brachten.
Schriftstellerisch betrachtet beherrscht Frau Schubert die Schreibkunst ganz hervorragend. Diejenigen Geschichten, die mir gefallen haben, strahlen eine große Ruhe und Poesie aus. Die Autorin ist unglaublich wortgewandt und tiefgründig. Aber diese Tiefgründigkeit findet sich erst, wenn man Frau Schuberts Geschichten die volle Aufmerksamkeit schenkt, sich also weder äußerlich noch innerlich von irgendetwas ablenken lässt. Bei Frau Schubert scheint jedes Wort wohl überlegt zu sein. Sie schreibt nicht, um dem Leser zu gefallen, sondern um mit sich selbst im Einklang zu sein. Auch ein Vorzug des Alter(n)s: Das zu machen, was man will und nicht das, was andere von einem erwarten.
Viele werden dieses Buch vermutlich anders wahrnehmen als ich. Aber das macht gute Literatur aus: wenn bei jedem Leser eine eigene Wirkung erzielt wird, wird das Gelesene für den Leser sehr persönlich. Und das kriegen nur die wenigsten Autoren hin.
"Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht auch hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz.
Mein unveräußerlicher."
Wie bewerte ich nun einen Erzählband, dessen Geschichten mir mal mehr und mal weniger gefallen haben? Nach dem Mehrheitsprinzip? Je mehr positiv wahrgenommene Geschichten, umso besser fällt das Gesamturteil aus? Nein, ich bewerte dieses Buch anhand der Nachhaltigkeit dieses Buches, die bei mir durch einzelne Kapitel hervorgerufen werden. Es reichen einige wenige Geschichten aus, die bei mir den nötigen bleibenden Eindruck hinterlassen, um dieses Buch als besonderes Lesevergnügen weiter zu empfehlen.
© Renie
Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt Helga Schuberts Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. In kurzen Episoden erzählt Helga Schubert ein deutsches Jahrhundertleben – ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit zugleich. Als Kind lebt sie zwischen Heimaten, steht als Erwachsene mehr als zehn Jahre unter Beobachtung der Stasi und ist bei ihrer ersten freien Wahl fast fünfzig Jahre alt. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter, einem Leben voller Widerstände und sich selbst.
Kurzgeschichten! Das ist ja immer so ein Ding, eine Kunst für sich. Und noch dazu das Buch einer Preisträgerin – im Vergangen Jahr gewann Helga Schubert mit 80 Jahren den Klagenfurter Ingeborg Bachmann Preis. Erfahrungsgemäß tue ich mich mit den Werken von Preisträgern oft schwer, schreiben die doch meist wenig erbaulich für die gemeine Leserschaft, sondern zeichnen sich vielmehr durch Besonderheiten im Aufbau, dem Schreibstil, des Themas aus, womit ich persönlich meistens wenig anfangen kann.
Nicht so aber hier. Die 29 Erzählungen, die zumeist mit wenigen Seiten auskommen, sind stilistisch eher einfach geschrieben, mit kurzen Sätzen und allgemeinverständlichem Vokabular – und doch merkt man jedem einzelnen Wort an, wie gefeilt und geschliffen es eingefügt wurde. Manche Erzählungen wirken fast eher wie Prosagedichte, und tatsächlich erscheint manches sehr poetisch. Die Geschichten überraschen mit Kippmomenten und Widersprüchlichkeiten und sind oft pointiert auf den letzten Satz zugeschrieben.
Helga Schubert, die, wie sie in einem Interview verriet, nur nachts schreibt, wenn alles dunkel ist und niemand etwas von ihr will, durchdenkt die Themen ihrer Erzählungen lange, manchmal jahrelang, bevor sie sie zu Papier bringt. Das Schreiben bedeutet für sie nicht das Aufarbeiten von schwierigen Situationen, sondern ist quasi die Essenz dessen, der Endpunkt – alles ist im Kopf verarbeitet, bevor das erste Wort zu Papier gebracht wird.
„Ich schreibe nicht, um was loszuwerden, sondern um ein Kunstwerk zu schaffen…“ (Quelle: Interview)
Das erklärt vermutlich auch die Fähigkeit, selbst zu bedrückenden Lebensthemen eine Distanz zu wahren, die in den Erzählungen deutlich wird. Zumeist fließen hier in die Geschichten auch autobiografische Anteile ein, was das Buch zu einem sehr persönlichen macht. Gleichzeitig gibt es in den sehr genauen, detailgeschliffenen Schilderungen von Situationen und Gefühlen aber auch eine große Allgemeingültigkeit, so dass man sich beim Lesen angesprochen und berührt fühlt. Mir erging es jedenfalls so.
Die Erzählungen sind nicht chronologisch angeordnet, sondern schwanken zwischen Kindheitserinnerungen und dem Erwachsenenleben hin und her, teilweise zu DDR-Zeiten (die Mauer fiel, als Helga Schubert 49 Jahre alt war), aber auch danach bis hin zur Gegenwart. Auch das Alter wird nicht ausgespart. Es gibt wiederkehrende Themen: der gefallene Vater, den die Autorin so gar nicht kennenlernen konnte, die friedvolle Zeit bei der Großmutter väterlicherseits als Kind, die strenge und offenbar auch harte Mutter („Wenn du doch damals nach der Flucht gestorben wärst.“ S. 150), die Drangsalierungen in der DDR, das Gefühl von Bedrohung und der Mut, der diesem Gefühl entgegengesetzt wurde, trotz allem, die Auflösung der Grenzen und das Danach, das Leben mit einem pflegebedürftigem Partner im Hier und Jetzt u.a.m.
Ich möchte jetzt nicht so tun, als hätten mich alle Erzählungen gleichermaßen angesprochen. Mit einer Geschichte konnte ich tatsächlich z.T. gar nichts anfangen, da erschloss sich mir der Zusammenhang nicht. Gelegentlich werden Themen und Zusammenhänge nur angedeutet, und wenn man sich mit der Deutsch-Deutschen Geschichte nicht auskennt, wird man wohl die Internetsuche bemühen müssen, um die Bedeutung der Erzählung nachvollziehen zu können.
Was mich an den Erzählungen aber fasziniert hat, ist der leise, oft zart-melancholische Ton, das Fehlen von jeglichem Pathos, die Gefühle, die trotz des distanzierten Schreibstils deutlich zwischen den Zeilen mitschwingen. Dabei klagt Helga Schubert niemals offen an, ihre Verwunderung, Verbitterung, Traurigkeit klingen an, geraten aber eben nie „pathetisch“. Ich mochte, wie mich manche Passagen unerwartet berühren konnten, schlucken oder plötzlich auflachen ließen, denn ja, auch ein zynisch-trockener Humor scheint der Autorin nicht fremd zu sein. Deutlich wird in den Erzählungen aber auch die Stärke der Autorin, ihre Reife, die dem Leben, dem Alter und ihrer Ausbildung als Psychologin geschuldet sein dürften, der unbedingte Wille, der Mut, der Trotz, das Dennoch in vielen Situationen, aber auch ein Annehmenkönnen und Friedenschließen mit Dingen, die nicht zu ändern sind.
Ein längeres Zitat aus der Geschichte „Alt sein“ kann das vielleicht verdeutlichen:
„Ich komme beim Älterwerden auch langsam aus der Zukunft an, ich nehme Abschied von den Aussichtstürmen, die ich nie besteigen, den warmen Meeren, in denen ich nie baden werde (…) Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz. Mein unveräußerlicher. Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“ (S. 170)
Ich hoffe, dass ich das eines Tages auch so sehen kann…
Für mich ist dieses Buch aus 29 Erzählungen tatsächlich ein besonderes. Leise im Ton, nicht anklagend, aber doch deutlich benennend, lässt Helga Schubert den Leser / die Leserin ein wenig in ihr Leben blicken, in das was für sie bedeutsam ist, in ihre Erinnerungen Gedanken und Empfindungen, in kleine Dinge ihres Alltags, aber auch in Verletzungen und nicht zu vergessen auch in ihren Humor. Definitiv ist das ein Buch, was bei mir bleiben darf - es hat mich auf ganz eigentümliche Weise immer wieder berührt.
© Parden
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Hier geht es zum Interview mit der Autorin!
https://www.swr.de/swr2/literatur/vom-aufstehen-helga-schubert-ueber-leben-und-schreiben-swr2-lesenswert-gespraech-2021-03-23-100.html
Bedachtsam, einprägsam, wundersam: “Vom Aufwachen” liest sich wie aus einem Guss, obwohl die einzelnen Episoden in zahlreiche Zeitebenen und Themenbereiche zersplittern. Dabei werden die Risse, Macken und Schweißnähte dieses Lebens keineswegs versteckt oder beschönigt – gerade das hat die fragile Schönheit von japanischem Kintsugi.
Nicht alle Geschichten sind gleich ausdrucksstark oder gleich dicht; manche wirken beinahe wie Auszüge aus einem Tagebuch, das nicht für fremde Augen bestimmt ist und das man daher auch nur oberflächlich erfassen kann. Aber das Gesamtbild ist leuchtend und wirkungsvoll, ein wunderbarer Einblick in dieses Leben und diese Epoche(n) der Geschichte.
“Alles gut.”
Diese Worte fallen im Buch immer wieder, oft gerade dann, wenn eben nicht alles gut ist. Halbwaise, Kriegskind, Flüchtlingskind, später Schriftstellerin in der DDR, Tochter einer toxischen Mutter, Ehefrau eines pflegebedürftigen Mannes und mehr – Helga Schubert hat viel zu erzählen und erfüllt dabei ihre eigenen Anforderungen an gute Geschichten.
“Die guten Geschichte sind wie das Leben tragikkomisch, plötzlich reißt mich die Geschichte aus dem Mitleid in die Ironie, aus der Ironie in die Verachtung, aus der Verachtung ins Verständnis. Und alles in dem Moment, in dem ich mich auf eine Sicht eingelassen hatte.”
(ZITAT)
Im Zentrum stehen meines Erachtens vor allem der Untergang der DDR und der Untergang einer von vorneherein zum Scheitern verurteilten Mutter-Tochter-Beziehung. Nebenher gewährt das Buch auch noch scheinbar wahllose Einblicke in Helga Schuberts Leben – kleine Einsprengsel, die sich aber dennoch immer ins große Ganze einfügen und dadurch als durchaus relevant erweisen.
Da ich immer schon im Westen Deutschlands lebte, war die DDR für mich als Kind und Jugendliche ganz weit weg. An den Mauerfall kann ich mich zwar gut erinnern (da war ich 13 und fühlte mich mittendrin), an die Euphorie, die Ernüchterung, die Vorurteile – aber eben immer nur aus der Ferne. Später habe ich Bücher gelesen, Dokumentationen gesehen, Museen besucht.
Aber “Vom Aufstehen” gibt mir das Gefühl, jetzt erst zumindest leise erahnen zu können, wie sich das Leben in der DDR anfühlte – insbesondere für eine intelligente kreative Frau, deren Tätigkeit als Schriftstellerin sich notwendiger Weise beißen musste mit Zäsur und Propaganda.
“Wenn du doch damals nach der Flucht gestorben wärst.”
Das sagt die Mutter einmal ganz ruhig. Sie ist ihrer Tochter gegenüber meist eiskalt und verbittert; sie schlägt, straft und ätzt. Und doch hat Helga auch eine Erinnerung daran, wie sie als kleines Mädchen lebensbedrohlich erkrankt war und die Mutter mit der Waffe an ihrem Bett saß: “Wenn du jetzt stirbst, erschieße ich mich.” An diesem Widerspruch reibt sich Helga ihr ganzes Leben lang.
Meist werden die Episoden aus der Ich-Perspektive erzählt. Nur manchmal tritt die Autorin einen Schritt zurück und spricht in Episoden, die besonders das Verhältnis zur Mutter thematisieren, von sich selber in der dritten Person als “ihre Tochter”. Will sie uns damit zeigen, wie wenig Halt dieses Familiengefüge ihr gab, wie wenig verwurzelt sie darin war? Sie nimmt ihre Identität ganz heraus aus diesem Konstrukt, in dem sie sich selber den Namen verweigert und sich nur auf ihre Rolle als Tochter reduziert.
Diese Beziehung schmerzt beim Lesen. Die Tochter trägt sie mit sich wie ein ewig blutendes Stigma. Selber schon eine alte Frau, sucht sie nach dem Tod der Mutter schließlich geistlichen Rat, weil sie das vierte Gebot nicht befolgen könne. Doch die Pastorin sagt ihr, sie habe sich da ganz umsonst bekümmert – das Gebot verlange lediglich Achtung, Liebe sei freiwillig und immer ein Geschenk.
So ganz leise schwingt da ein Aufatmen in den Worten mit, ein Abschluss, vielleicht sogar ein Stück weit Vergebung. Überhaupt kann die Autorin das gut, ganz lebensklug mit leisen Tönen auch Versöhnliches transportieren.
Generell ist die Sprache eher schlicht. Sie ist glasklar und prägnant, bar jeden Kitsches oder unnötiger Verschnörkelung. Kein Pathos, keine emotionale Anklage – und doch hat der Text keine Kälte, keine Sterilität. Die Themen kommen und gehen, und doch schwingt jedes davon lange nach, so dass sie sich zu einem großen Themenkomplex vermischen.
Helga Schubert schreibt über ihr Leben
In mehreren kurzen Episoden beschreibt sie in schöner Sprache, was sie bewegt hat in den 80 Jahren ihres Leben.
Wir erfahren von der politischen Situation in der DDR, von der Wende, aber auch vom schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, die nur mit ihrer Tochter und einem dreirädrigen Kinderwagen floh.
Der Leser darf ebenso teilhaben am Wohlgefühl, das sich einstellt, wenn die noch junge Helga Schubert im Garten der Oma in der Hängematte schaukelt und Apfelkuchen ist, den sie ja bei ihrer Mutter nicht bekommt.
Das interessante beim lesen war für mich, dass die Autorin alles eher nüchtern erzählt, ich hörte kaum Anklagen heraus.
Vieles konnte ich sehr gut nachempfinden, doch es gab auch einige Geschichten, mit denen ich nicht warm wurde, die mich mit einem Fragezeichen zurück gelassen haben.
Liegt es daran, dass ich jünger bin und im Westen aufgewachsen bin? Kann ich deshalb einiges nicht verstehen? Oder fehlt mir die Fähigkeit um ein paar Ecken zu denken? Ich weiß es nicht, habe aber in der Leserunde von Whatchareadin festgestellt, wo wir gemeinsam den Roman gelesen haben, dass es nicht nur mir so ergangen ist.
Muss man als Leser jede Geschichte ins kleinste analysieren und für sich etwas mitnehmen? Im Großen und Ganzen würde ich diese Frage definitiv mit ja beantworten. Doch hier erzählt jemand über sein Leben. Wie kann ich mich da beschweren, dass mir da einiges verschlossen bleibt? Es fließt in so einem Fall ja viel persönliches Gedankengut und Empfinden mit ein.
Ein großer Zwiespalt, der mir die Bewertung sehr schwer macht. Auf der einen Seite steht die tolle, ruhige Erzählform, dann die Verwirrung, wenn nach dem lesen einer Geschichte keine Erkenntnis erfolgte.
Warum die Autorin die Geschichten bunt durcheinander gewürfelt aufgereiht hat, erschließt sich mir auch nicht. Sie wechselt zwischen Kindheit und Alter, teilweise wirken die Geschichten wie eine kurze Momentaufnahme, ein kleiner Eindruck eines Ereignisses, die Beschreibung einer Landschaft und ihre Eindrücke dazu. Lediglich die Tasache, dass sie die Episode, deren Titel auch der Titel des Romans wurde, ans Ende gesetzt hat, war für mich ein nachvollziehbares handeln.
Nach dem lesen habe ich mir ein Interview der Autorin durchgelesen. Vieles wird von der Autorin dort plausibel begründet. Schade, dass ich dieses Gefühl nicht während der Lektüre hatte.
Ich bewerte mit meiner Sterne Vergabe hauptsächlich den Mut der Autorin, soviel aus ihrem Leben preisgegeben zu haben, ebenso wie den angenehmen Schreibstil. Hätte ich die Verwirrung , die mich nach einigen Geschichten ergriff miteinbezogen, wäre das Ergebnis einiges schlechter ausgefallen, doch dabei hätte ich mich nicht gut gefühlt.
Die Schriftstellerin Helga Schubert wurde im vergangenen Jahr mit dem Ingeborg - Bachmann - Preis ausgezeichnet. Sie war die älteste Teilnehmerin bisher in Klagenfurt. Allerdings wurde sie schon einmal hierhin eingeladen, 1980. Doch Helga Schubert, in der DDR lebend, durfte nicht einreisen, u.a. weil Marcel Reich- Ranicki, „ der Kommunistenfresser“, in der Jury saß.
„ Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung.“ Im Leben der Autorin lassen sich achtzig Jahre deutsch-deutsche Geschichte ablesen.
Helga Schubert wurde 1940 in Berlin geboren. Ihr Vater fiel an der Ostfront, als Helga ein Jahr alt war. „ Er ist ein Trauma meines Lebens: Dieser zerrissene, mir doch unbekannte Mann...“
Die Mutter flüchtet 1945 aus Hinterpommern mit der nunmehr fünfjährigen Helga vor den anrückenden Russen nach Greifswald zu den Schwiegereltern. Aufgewachsen in Ost- Berlin studierte Frau Schubert an der Humboldt- Universität Psychologie und war danach als klinische Psychologin tätig. Heute lebt sie zurückgezogen in einem kleinen Ort in Mecklenburg - Vorpommern und kümmert sich um die Pflege ihres schwerkranken Mannes. Zeitlebens hat Helga Schubert geschrieben, kurze Prosatexte, Kinderbücher, aber auch Theaterstücke, Hörspiele und Fernsehspiele. Im Westen war sie wenig bekannt. Doch das hat sich seit dem Bachmann- Preis geändert. Mit dem Text „ Vom Aufstehen“ überzeugte sie die Jury und „ Vom Aufstehen“ heißt nun auch der Erzählungsband. Neben dem Siegertitel enthält das Buch weitere 28 Geschichten unterschiedlicher Länge, meist aus der Ich- Perspektive erzählt.
„ Ein Leben in Geschichten“ - so der Untertitel - das ergibt keine vollständige Biographie. Trotzdem kommt man der Autorin, ihrem Leben und ihren Gedanken, hier sehr nahe.
Es gibt zwei immer wiederkehrende Themen, zum einen die Erfahrungen mit dem Leben in einer Diktatur, zum anderen die Beschäftigung mit der eigenen Familie und hier vor allem die schwierige Beziehung zur Mutter.
Helga Schubert schreibt über das Eingesperrtsein im „ Zwergenstaat“, von der Sehnsucht nach „der normalen zivilisierten Welt“ da draußen, vom Bespitzeln der eigenen Person und von den Privilegien eines Schriftstellers in der DDR. „ Sie ließen mich beobachten, fanden mich feindlich-negativ, und sie ließen mich trotzdem in den Westen reisen. Ein unglaubliches Privileg. Ein Privileg, das verdächtig machte,...“
Trotzdem bleibt Helga Schubert im ungeliebten Staat, ihrem Mann, ihrem Sohn zuliebe. Sie passt sich nicht an, wird aber auch keine Dissidentin.
Dem Mauerfall begrüßt sie freudig. „ Der Kaiser war nackt - mein Lieblingsmärchen wurde wahr nach achtundzwanzig Jahren, zwei Monaten und siebenundzwanzig Tagen.“
Was hat sich verändert nach der Wende? Vieles. Zum Beispiel gibt es endlich Spargel und Erdbeeren für alle, die hier leben. Nicht wie früher, als alles für Devisen in den Westen ging.
Und nun, wo die ganze Welt offen steht für Helga Schubert, braucht sie die Ferne nicht mehr. „ Seit ich ohne behördliche Erlaubnis in die weite Welt reisen darf, ist mein zerstörerisches Fernweh geheilt.“
Es sind Alltagsbeobachtungen, die sie beschreibt, oftmals kleine Details, die aber auf das große Ganze verweisen.
Das zentrale Thema jedoch war und ist für Helga Schubert das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter. Helga erfuhr als Kind wenig Liebe, keine Zärtlichkeit, stattdessen Vorwürfe, Ablehnung, verbale Verletzungen und Schläge. Die Autorin leidet ihr Leben lang darunter. Vor allem macht sie sich Vorwürfe, weil sie ihrer Mutter keine Liebe entgegenbringen kann. Für sie, als evangelische Christin, ist das vierte Gebot wesentlich. Erst das Gespräch mit einer jungen Pastorin entlastet sie. Denn: „ Von Liebe ist im Gebot nicht die Rede. Gott verlangt von uns nicht, dass wir unsere Eltern lieben. Wir brauchen sie nur zu ehren“.
Es sind harte Sätze, die die über hundertjährige Mutter am Sterbebett zu ihrer Tochter sagt.
„ Ich habe drei Heldentaten vollbracht, die dich betrafen. Erstens: Ich habe dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte. Und für mich kamst du eigentlich auch unerwünscht. Wir haben deinetwegen im fünften Monat geheiratet. Zweitens: Ich habe dich bei der Flucht aus Hinterpommern bis zur Erschöpfung in einem dreirädrigen Kinderwagen im Treck bis Greifswald geschoben, und drittens : Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten.“ Doch zu diesem Zeitpunkt ist Helga Schubert zum Vergeben bereit. „Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut.“
Denn das Buch ist keine Abrechnung mit der Mutter. Helga Schubert versucht zu ergründen, warum ihre Mutter zu der werde, die sie war: Ein prügelnder Vater, jung verwitwet, alleinstehend mit Kind, die Flucht als lebenslanges Trauma. Es war ein hartes, kein glückliches Leben, das die Mutter gehabt hat.
Es finden sich aber noch andere Geschichten im Buch, Erinnertes, Betrachtungen und Überlegungen. Eine bestimmte Chronologie ist nicht erkennbar, wobei der prämierte Text „ Vom Aufstehen“ gewissermaßen die Quintessenz darstellt. Doch jede Geschichte steht für sich selbst.
In der ersten „ Mein idealer Ort“ träumt sich die Autorin zurück in die Sommerferien, die sie jedes Jahr bei der geliebten Großmutter verbracht hat. Bilder vom Liegen in der Hängematte unter Apfelbäumen, vom Duft des warmen Streuselkuchens werden heraufbeschworen. Erinnerungen, die ihr bis heute Halt geben. „ So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“
Die 80jährige Autorin macht sich Gedanken über das „ Alt sein“. Kein Gejammer über körperlichen und geistigen Verfall, nein. Helga Schubert sieht auch hier das Positive. „ Das ist das Gute, Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts.“
Und man wünscht sich, dass man selbst irgendwann das gleiche Resümee ziehen kann: „ Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir....Das ist nämlich mein Schatz.
Mein unveräußerlicher.“
Helga Schubert ist gläubige Christin, davon zeugen Liedtexte und Gebete, aber ebenso ihre Überlegungen zum Osterfest. „ Heute weiß ich: In dieser einen Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe:
Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert,
dass man verraten werden kann.
Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg.
An diese Hoffnung will ich erinnert werden.
Einmal im Jahr.“
Es ist ungewöhnlich in der ( deutschen ) Gegenwartsliteratur, dass sich ein Autor zu seiner Religion bekennt. Die Kraft ihres Glaubens ist aber auch spürbar in Helga Schuberts Verständnis von Vergebung und Verzeihen.
Sie erinnert an Leitsätze in ihrem Leben, die sie über Jahre begleitet haben , wie ein Zitat von Marie von Ebner- Eschenbach: „ Nicht, was wir erleben, sondern wie wir erleben, was wir erleben, macht unser Leben aus.“
Die ganze Poetik ihres Schreibens umreißt Helga Schubert so : „ Die Geschichte hat etwas herausgehoben aus dem Lebensfluss, das ich nun betrachten kann, mit Freundlichkeit oder Trauer, mit Bewunderung oder Abscheu.“ Nichts erscheint ihr unwichtig, wenn man es nur genau und von allen Seiten betrachtet. Geschichten müssen keinen Anfang haben und kein Ende, denn in der Wirklichkeit gibt es auch keine solche Trennung. Wichtig ist ihr dagegen „ der letzte Satz. Vielleicht sogar eine Pointe.“ „ Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel.“
Natürlich gibt es auch schwächere Erzählungen in dem Band ( wie es in jedem Buch starke und schwache Passagen gibt ). Dafür sind die anderen großartig. Helga Schubert ist eine kluge Beobachterin, die in einer klaren und unpathetischen Sprache schreibt, dabei voller Poesie und Rhythmus. Alles ist durchdacht, jeder Satz wohl überlegt. Aus ihr spricht Lebenserfahrung und Reife. „ Vom Aufstehen“ ist kein Buch zur schnellen Lektüre. Es erfordert einen aufmerksamen Leser, der dafür reich belohnt wird.
Die Autorin Helga Schubert erzählt in einzelnen kurzen Epsioden von ihrem Leben.
Mich hat die Beschreibung sehr neugierig gemacht und ich wollte wissen, was die Autorin in all ihren Lebensjahren alles erlebt und aufgeschrieben hat.
Der Einstieg in das Buch gelang mir leider nicht so gut, denn den Schreibstil empfand ich ziemlich anstrengend. Er wirkte oft sehr beobachtend, aus der Ferne betrachtet. Dadurch konnte ich keinen Zugang zu den Geschichten finden, keine wirklichen Emotionen aufbauen.
Die einzelnen Episoden, insgesamt 29 Stück, waren unterschiedlich lang, mal sehr kurz, mal länger. Im Prinzip waren es meines Erachtens alles Kurzgeschichten, von denen ich grundsätzlich kein Liebhaber bin, da mir meist der Tiefgang fehlt. Hier kam noch erschwerend hinzu, dass die Erzählungen nicht chronologisch sortiert waren, sondern bunt durcheinandergewürfelt. Ich hatte das Gefühl, als wenn die Autorin einfach das aufgeschrieben hat, was ihr gerade einfiel, ohne die zeitlichen Aspekte zu betrachten. Vielleicht war es aber auch absichtlich so gewählt, dann habe ich den Hintergrund allerdings nicht gesehen. Einige Episoden gefielen mir, weil sie nachdenklich machten und einen tieferen Sinn hatten. Andere verblassten sofort nach dem Lesen. Was auf jeden Fall absolut spürbar war, war das schwierige Verhältnis zu der Mutter, die sich teilweise schrecklich und abstoßend verhalten hat.
Obwohl im Laufe der vielen Jahre, die hier betrachtet wurden, auch einige geschichtlich interessante Dinge dabei waren, fehlten mir die bewegenden und ergreifenden Momente. Ich möchte berührt werden und ein Buch soll unterschiedliche Emotionen bei mir hervorrufen, die mich packen. Das war hier leider nur vereinzelt der Fall.
Mich hat dieses Buch leider nicht überzeugt, so dass ich 3 von 5 Sternen vergebe.
"Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus." (Marie von Ebner-Eschenbach)
Die erst kürzlich mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet Autorin beschreibt in 29 Geschichten aus der Sicht ihres Lebens. Dieser Preis hätte ihr schon 1980 zugestanden, doch die DDR Regierung wollte, dass sie ihn ablehnt. Ihre Geschichten erzählt die Autorin hier in der Ich-Form, in knappen kurzen Sätzen und mitunter wiederholen sich einzelne der Begebenheiten. Die Geschichten sind nicht chronologisch angeordnet, sondern ich habe eher den Eindruck, als wenn sie das niedergeschrieben hat, was ihr gerade in den Sinn kam. So schildert sie von der Nachkriegszeit und dem viel zu frühen Tod ihres Vaters, den sie selbst nie kennenlernen durfte, da er im Krieg gefallen ist. Und auch wenn sie ihn nicht kannte, bleibt sein Verlust doch immer ein Trauma für sie. Weil sie nie erfahren wird, ob wenigstens er sie geliebt hätte. Den ihre kaltherzige und lieblose Mutter vertraut lieber der eigenen Mutter ihr Kind an, als sich selbst um sie zu kümmern. Dort jedoch erlebt Helga meist ihre schönsten Zeiten. Besonders, wenn sie in den Ferien zwischen zwei Apfelbäumen in der Hängematte liegt und den Duft von Großmutters frischem Streuselkuchen ihr in die Nase steigt. Zumindest bei ihr fühlt sie Liebe und Geborgenheit, die ihr die eigene Mutter nie geben konnte. Die Mutter dagegen vermittelt ihr bei jeder Gelegenheit, das sie Helga eigentlich erst abtreiben, auf der Flucht zurücklassen und vor den Russen fast vergiften wollte. Was müssen solche Aussagen bei einem Kind für Spuren hinterlassen? Es muss für sie doch jedes Mal wie ein Stich gewesen sein, mitzuerleben, dass die eigene Mutter sie nie haben wollte. Lag diese Ablehnung daran, weil Helga ihrer Schwiegermutter und ihrem Vater so ähnlich war? Selbst mit dem vierten Gebot hadert sie, weil sie ihre Mutter ebenfalls keine Liebe zeigen konnte. Doch eine Theologin kann sie diesbezüglich etwas beruhigen. Und erst als die Mutter stirbt, beginnt sie ihre Leben mit diesem Buch aufzuarbeiten. Bei vielen Geschichten schreibt sie über den Alltag und das Regime der ehemaligen DDR, unter dem sie ebenfalls zu leiden hatte. Sie berichtet von ihrem ehemaligen Nachbarn, der sich erhängt hat, genauso wie über ihren Ehemann, dem Sohn der Enkelin, dem Altwerden und der Pflege, so wie den Vorlieben für gute Gerüche. Da schreibt sie z. B. über ihre Erinnerung an den Duft nach Nelkenseife, das Lavendelsäckchen neben dem Kissen und der Duft ihrer Bettwäsche, der in einem diese Gerüche widerspiegelt. Sie lässt den Leser in ihren Geschichten die Erinnerungen nicht nur fühlen, sehen, schmecken, sondern ebenso riechen. Leider kam ich nicht immer mit ihrem Schreibstil klar, der doch mitunter sehr anspruchsvoll war. Oft musste ich Sätze mehrmals lesen und sogar herausfinden, über wen sie gerade in der Geschichte erzählt. Doch die Emotionen, Tragik, mitunter Humor und insbesondere die Traurigkeit, die sich darin widerspiegelt, die spüre ich auf alle Fälle in ihnen. Und trotzdem sie mit so wenig Mutterliebe gesegnet wurde, habe ich das Gefühl bei ihren Geschichten, das sie mit ihrem Leben glücklich und zufrieden ist. Was sie sicherlich ihrer Großmutter, ihrem Mann, der Familie, dem starken Willen und ihrem Glauben zu verdanken hat. "Vom Aufstehen", einem autobiografischen, sehr persönlichen und intimen Einblick in ihr Leben und über Verletzung und Heilung, dem ich 4 von 5 Sterne gebe.
Helga Schubert wurde 1940 geboren und verbrachte ihr Leben bis zur Wiedervereinigung 1990 in der DDR. Als studierte Psychologin war sie im Hauptberuf als Psychotherapeutin tätig, widmete sich aber auch immer wieder dem Schreiben. Neben Prosatexten waren das u.a. Kinderbücher, Theaterstücke und Hörspiele. Mit „Vom Aufstehen“ legt sie ihr erstes Buch mit 29 Geschichten vor, die einen Bogen über ein ganzes Leben spannen und sehr viel autobiografischen Hintergrund besitzen. Mit der letzen 19-seitigen und titelgebenden Geschichte gewann die Autorin den Ingeborg-Bachmann-Preis 2020.
Die Erzählungen sind thematisch sehr vielseitig. Mal nimmt die Autorin nur einen Gedankensplitter auf, mal reflektiert sie bedeutungsschwere Ereignisse aus ihrem Leben oder verarbeitet erlittene Verletzungen. Dabei gibt es keine Chronologie und keine logische Einbettung, kein Vor- und kein Nachwort. Jede Geschichte steht für sich und doch stehen sie auch im Zusammenhang und bewegen sich auf jene letzte Erzählung „Vom Aufstehen“ zu, die einige Themen wieder aufnimmt und komplettiert. Der Untertitel des Buches „Ein Leben in Geschichten“ hat also unbedingt seine Rechtfertigung. „Die Geschichte hat etwas herausgehoben aus dem Lebensfluss, das ich nun betrachten kann, mit Freundlichkeit oder Trauer, mit Bewunderung oder Abscheu. (…) Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel“ (S. 128f)
Wir lesen über einen Sehnsuchtsort der Kindheit bei der geliebten Oma in Greifswald, wir erfahren wenig vom bereits 1941 gefallen Vater, dafür aber viel von der Mutter, die mit der kleinen Helga vor den Russen flüchten musste und wenig Unterstützung erfuhr. Die schwierigen Familienverhältnisse, insbesondere zwischen Mutter und Tochter, sind ein wiederkehrendes Kernthema. Es geht dabei aber nicht nur um Verletzungen und mangelnde Mutterliebe, sondern auch um das herausfordernde Verstehen und Vergeben am Ende des Lebens. Dieser Tenor haftet fast allen Erzählungen an. Man spürt die jahrelange Erfahrung Helga Schuberts in der Psychotherapie. Sie weiß, wie man Familiengeschichte interpretieren muss, sie weiß um die Verwicklungen, die eine Generation an die nächste weitergibt, sie kann sie aufdröseln und ihr den Stachel nehmen. Manchmal geht sie dafür in die Distanz, schreibt in der dritten Person, bekommt dadurch vielleicht einen klareren Blick von außen: „Eine Wahlverwandtschaft“ verlangt dem Leser einiges ab.
Das Leben in der DDR ist ein weiteres, breit angelegtes Thema. Als Autorin wurde Helga Schubert über Jahrzehnte überwacht, genoss aber auch Privilegien, wie zum Beispiel das Reisen. „Sie ließen mich beobachten, fanden mich feindlich-negativ, und sie ließen mich trotzdem in den Westen reisen: Ein unglaubliches Privileg. Ein Privileg, das verdächtig machte, sowohl gegenüber den Mitbürgern, die nicht reisen durften, als auch den Menschen außerhalb der DDR-Grenze.“ (S. 27)
Anhand scheinbar kleiner Ereignisse macht Schubert deutlich, was es heißt, in einer Diktatur zu leben: So war es keinesfalls selbstverständlich, in die Ostsee raus zu schwimmen, denn die Küste wurde strengstens überwacht. Spargel aus eigenem Anbau durfte man nicht selbst essen, denn er wurde ins Ausland verkauft. Die Reisefreiheit wird der Autorin nie selbstverständlich sein, zu sehr hat sie sich in all den Jahren in der DDR danach gesehnt. Helga Schubert hat die Balance zwischen Unauffälligkeit nach außen und festen Standpunkten nach innen während der Diktatur gefunden. Sie lernte, sich mit dem System zu arrangieren. Jetzt genießt sie die Geborgenheit ihres kleinen Heimatdorfes, in dem sie lebt: Wenn man erst einmal reisen darf, nimmt die Sehnsucht danach ab.
Einen verlässlichen Beistand findet sie auch in ihrem protestantischen Glauben, christliche Lieder und Texte sind ihre ständigen Begleiter. Auch das Schreiben darf man getrost als Therapie verstehen.
Das Buch ist keine leichte Lektüre. Die Texte brauchen volle Konzentration. Man muss sich auf jeden Text neu einlassen, ihn neu verorten. Wenn man einer anderen Generation als die Autorin angehört und dazu noch aus dem Westen kommt, kann man nicht jede Anspielung, nicht jede Pointe auf Anhieb verstehen. Es fehlen die Anknüpfungspunkte. Zudem gibt es wie in jedem Erzählband auch schwächere Geschichten. Doch die sind in der Minderheit. Unter dem Strich bleiben die starken Texte in der Erinnerung haften. Aus vielen geschilderten Begebenheiten kann man etwas Allgemeingültiges herauslesen, etwas, das bleibt und zum Nachdenken anregt. Es macht Spaß, der Autorin in ihren Lebensgeschichten zu folgen, zumal der Schreibstil ein Genuss ist.
Obwohl so vieles autobiografisches Erleben ist, bleibt das Buch frei von Pathos und Sentimentalität. Helga Schubert erzählt lebensklug, kritisch, verständnisvoll und stets reflektiert. Sie verwendet eine wundervolle literarische Sprache, teilweise poetisch, aber auch mit Humor gewürzt und insbesondere, wenn es um die Paradoxien der DDR-Diktatur geht, streut sie gern ironischen Sarkasmus ein. Sie schreibt Sätze zum Niederknien.
„Vom Aufstehen“ ist ein Buch zum Innehalten, zum Genießen und Eintauchen. Es eignet sich definitiv nicht zum schnellen Konsumieren. Wer mit der richtigen Erwartungshaltung an das Buch herangeht, wird mit Sicherheit nicht enttäuscht sein. Es ist etwas Besonderes, es ist ein eindrückliches Stück Deutsch-Deutscher Literatur.
Dieser Erzählungsband von Helga Schubert, die 2020 mit dem Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, enthält 29 sehr persönliche Erzählungen, die ihr Leben und ihre Sichtweise aufs Leben fokussieren und fast ein ganzes Jahrhundert beleuchten.
Er ist trotz aller privaten Details nicht als Autobiografie zu verstehen, weil neben den wahren Episoden ganz entscheidende Bereiche, z. B. ihre eigene Nachkommenschaft, ausgeklammert sind.
Die 80-jährige Helga Schubert, die sich als „Kriegskind“, „Flüchtlingskind“ und „Kind der deutschen Teilung“ bezeichnet, jahrelang von der Stasi observiert wurde und fast 50 Jahre alt war, als sie erstmals frei wählen durfte, präsentiert uns ruhig, unaufgeregt und gelassen ausgewählte Erinnerungen aus ihrem außergewöhnlichen und bewegten Leben.
„Vom Aufstehen“ ist ein Sammelsurium aus persönlichen Erinnerungen und Gedanken, die keiner Chronologie bedürfen und politische sowie persönliche Themen ansprechen, die für Frau Schuberts bisherigen Lebensweg und ihre Entwicklung eine Bedeutung hatten.
Sie ist eine Frau, die es ihrer kalterherzigen lieblosen und barschen Mutter, die uralt wurde nicht recht machen konnte, deren Vater 1941, ca. zwei Jahre nach ihrer Geburt, im zweiten Weltkrieg vor Moskau fiel, die Halt und Geborgenheit bei ihrer Großmutter und im Glauben fand und die sich im hohen Alter um ihren todkranken Mann im Nebenzimmer kümmerte.
Sie musste sich damit arrangieren, dass ihre Mutter ihr tiefgründige emotionale Verletzungen zufügte und fand Entlastung in der Aussage einer Theologin, dass man seine Eltern nicht lieben müsse.
Die 1940 geborene Helga Schubert äußert Kritik am DDR-Regime und erinnert sich daran, dass im DDR-Alltag nichts selbstverständlich war, jeder kontrolliert und alles reglementiert wurde.
Der Band versammelt überwiegend sehr kurze, nur selten mehrseitige Texte, die in ruhigem, überwiegend melancholischem Ton und in angenehmer Sprache von Geschehnissen und Begebenheiten aus dem Leben der Schriftstellerin erzählen.
Sprachwitz und Ironie fehlen dabei nicht und kritische Sätze wie „...und dass ich zur Belohnung für mein Wohlverhalten Lesereisen im Westen unternehmen durfte, ein ungeheures Privileg.“ (S. 88), strotzen vor Sarkasmus.
Zynismus und trockener Humor scheinen Frau Schubert nicht fremd zu sein.
Die Texte mit persönlichem Inhalt sind meist leicht lesbar und gut verständlich, wenngleich manches verschlüsselt erscheint
Daneben gibt es viele Texte die sich auf historische und politische Begebenheiten beziehen.
Da ist es hilfreich, wenn man sich mit der deutsch-deutschen Geschichte befasst hat, weil sonst manche Anspielungen verloren gehen oder Andeutungen ins Leere laufen. So z.B. die Erschießung des RAF-Terroristen Wolfgang Grams in Bad Kleinen.
Dass mir manche Erzählungen besser als andere gefielen liegt in der Natur der Dinge und unterm Strich zählt ja das Gesamtpaket.
Geschichten, in denen Lebenserinnerungen stecken und Anekdoten aus ihrer privaten Biografie berührten mich mehr und gefielen mir persönlich besser als Geschichten mit politischen Inhalten. Sie strahlten für mich eine große Ruhe und Poesie aus.
Das ist aber natürlich reine Geschmackssache.
Mit einigen wenigen konnte ich nichts anfangen. Ich verstand deren tiefere Bedeutung oder hintergründige Symbolik nicht.
Manche Geschichten waren, wie gesagt, sehr komplex und manche Sätze waren sehr lang, was das lesen mühsam machte und viel Aufmerksamkeit erforderte, so dass ich nicht selten noch mal von vorn zum Lesen anfangen musste.
Die herausragende letzte und titelgebende Geschichte ist ein Höhepunkt. Sie rundet die Sammlung von Erinnerungen ab, stellt eine Art Essenz der vorhergehenden Texte dar und bildet damit einen wunderbaren Abschluss ihres Werkes.
Mit dieser Geschichte hat die Autorin den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.
„Vom Aufstehen“ ist ein sprachlich und inhaltlich höchst interessantes und tief beeindruckendes Buch mit allerlei tiefgründigen und weisen Gedanken und Überlegungen, die man festhalten möchte.
Die Autorin spricht zahlreiche interessante Themen an.
Zum Beispiel die Bedeutung von Wahlmöglichkeiten, auch wenn man sie nicht ergreift. Aber wenn man sie hat, dann fühlt man sich frei.
Zum Beispiel die Bedeutsamkeit, auch das vermeintlich selbstverständliche immer wieder zu beachten und zu schätzen.
Denn vieles ist und war für Viele niemals selbstverständlich.
Ihre Gedanken beziehen sich meist konkret auf die DDR, können aber unschwer verallgemeinert werden und das macht das Buch besonders wertvoll.
Eine Passage, die mich ganz besonders beeindruckt hat, möchte ich gern zitieren.
Genauso möchte ich das auch einmal empfinden und sehen, wenn ich „ganz alt bin“:
„Ich komme beim Älterwerden auch langsam aus der Zukunft an, ich nehme Abschied von den Aussichtstürmen, die ich nie besteigen, den warmen Meeren, in denen ich nie baden werde…
Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten.
Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz. Mein unveräußerlicher. Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“ (S. 170)
„Vom Aufstehen“ ist kein durch und durch unterhaltsames oder besonders vergnügliches Buch, in dem man schwelgen kann und durch das man fliegt.
Die Lektüre ist phasenweise mühsam und manches konnte mich emotional nicht wirklich berühren oder gar fesseln.
Die literarische Qualität und das hohe erzählerische Niveau kann man dem Werk aber keinesfalls absprechen.
Frau Schubert ist eine sprachgewandte und tiefgründige Autorin. Jedes Wort scheint wohl überlegt zu sein.
Kurzmeinung: Dieses Buch erschließt sich nicht von Anfang an ...
Was prägt uns? In den Texten, mal sehr kurz, mal etwas länger, von Helga Schubert sind die wesentlichen Prägungen auf das Leben der Autorin gut erkennbar. Es ist ein sehr persönliches Buch.
Ein Kriegskind nennt sie sich, 1940 geboren. Die Mutter zuerst aus Berlin evakuiert, dann aus Hinterpommern geflüchtet. Das Kind, also die Autorin, schwerkrank irgendwo angekommen. Von freundlichen Menschen zu einem Arzt geschafft, sonst wäre sie, Helga, gestorben.
Im Osten gelebt. Widerwillig. Widerständig. Scheinangepaßt. Im Westen schließlich mit dummen Fragen „Fühlen Sie sich als DDR-Schriftstellerin?“ gelöchert, dem äußeren Frieden einen inneren Frieden abgepressst, aber immer noch unter den Nachklängen der Diktatur gelitten. Diktatur macht etwas mit dir. Ob du willst oder nicht.
Die Texte im Buch sind spröde. Nicht leicht erschließbar und kommen dir dann doch nahe. Das äußerst schmerzhafte Verhältnis zur Mutter, die uralt wurde, das eigene Alter, die Autorin ist jetzt 81 Jahre alt wiegt etwas, ein pflegebedürftiger Mann.
Helga Schuberts Sprache ist sprunghaft, lyrisch, assoziativ, thematisch läßt sie sich von ihren Gedanken tragen. Kommt immer wieder auf das Wesentlichste zurück.
Was ist das Wesentliche? Das müssen wir uns alle fragen. Das Gute im Bösen erkennen? Das Kleine schätzen lernen? Sich selber kennen. Einen Glauben haben. Etwas mit Worten festhalten. Etwas zu bewältigen versuchen. Was ich in diesem Buch in jedem Text finde, ist Schmerz. Schmerz, der nicht für sich stehen bleiben kann. Mit dem man etwas machen muss.
Helga Schuberts Texte in „Vom Aufstehen“ sind anspruchsvoll. Man muss tief eintauchen und langsam lesen. Man versteht nicht alles, aber was man versteht, ist, dass eine Diktatur noch jahrzehntelang nach ihrem Untergang Spuren hinterläßt. Und dass Schmerz unvermeidlich ist. Jeden Morgen Aufstehen könnte mitunter das einzige Mittel sein, ihn zu bewältigen.
Fazit: Anspruchsvoll.
Kategorie: Kurze Texte/Kurzgeschichten
Verlag dtv, 2021
Aktuell, informativ, fundiert, klar verständlich
„Die Ukraine, erst vor kurzem ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt, hat eine lange, dramatische und faszinierende Geschichte, die oft von den großen Narrativen der Imperien, die das Land jahrhundertelang beherrschten, überlagert wird.“ (Zitat Pos. 65)
Thema und Inhalt
Der Autor Serhii Plokhy, Historiker und Professor für ukrainische Geschichte, legt hier ein Werk über die mehr als zweitausend Jahre alte, wechselvolle Geschichte der Ukraine vor, von den Kimmerern, den Skythen, über die der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet, über die Rus-Wikinger, Mongolen, Kosaken, Österreich-Ungarn, die russischen Zaren, Russland, die UDSSR bis zur Eigenstaatlichkeit 1994, aktualisiert mit den Ereignissen ab 2014 und einem Epilog über das aktuelle Jahr 2022. Der Text wird ergänzt durch zehn Landkarten, welche 770 vor Christus beginnen, Zeittafeln, welche die Ereignisse im Zusammenhang mit der Ukraine in die wichtigen historischen Daten des Weltgeschehens einordnen. Es folgen das Who’s Who der ukrainischen Geschichte, eine Namenstafel, ebenfalls chronologisch und nicht alphabetisch, ein Literaturverzeichnis und Sachregister.
Umsetzung
Bereits Herodot gliedert das Land in Küste, Steppe, Wald und diese Unterteilung zieht sich durch die Jahrtausende der ukrainischen Geschichte, dieses Landes, das über Jahrhunderte um die Eigenständigkeit kämpfte und das doch immer wieder neu aufgeteilt und unterschiedlichen Ländern zugeordnet wurde. Der Autor betrachtet die unterschiedlichen Regionen nicht in getrennten Abschnitten, sondern immer gemeinsam, mit Blick auf das Ganze. So erfahren wir nicht nur über die unterschiedlichen Völker, die gleichzeitig in der Ukraine gelebt haben, die Herrscher, kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch über das Leben der Menschen, die wirtschaftliche Entwicklung, Gesellschaftsformen, Sprachen, Bildung, Politik und Religion.
Es sind grundsätzliche Fragen, die in diesem Buch gestellt und beantwortet werden, Fragen wie: was hat die Ukraine-Krise ausgelöst, wodurch unterscheiden sich die Ukrainer von den Russen, wer hat Anspruch auf die Krim und die Ostukraine und die sich aus der Geschichte ergebenden Argumente. Auch die Veränderungen, die mit dem Euromaidan 2014, dem russischen Angriff auf die Krim und den Donbas einhergingen, werden geschildert, damit verbunden die Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft, in denen der heutige Widerstand begründet ist.
Die Sprache ist informativ, sachlich und trotz der komplexen Themen erklärt der Autor die Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar.
Fazit
Dieses interessante, umfassende Werk über die Geschichte der Ukraine trägt zum besseren Verständnis der Entwicklungen in der Ukraine bei. Denn es ist die Geschichte eines großen Landes mit vielen unterschiedlichen Regionen, aus denen sich unterschiedliche kulturelle Räume ergeben, die jedoch eine gemeinsame Sprache, Geschichte und der Wille eint, die im Referendum vom 1. Dezember 1991 mit überwältigender Mehrheit bejahte Unabhängigkeit zu verteidigen. „In der Praxis gibt es keine einfach auszumachende kulturelle Grenze, die die Krim von den benachbarten Regionen der Südukraine oder den Donbas von den anderen östlichen Regionen scheiden würde.“ (Zitat Pos. 16238)
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