Die Wahrheit ist der Feind

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Rezensionen zu "Die Wahrheit ist der Feind"

  1. Informationskrieg und Abschottung

    Kurzmeinung: Hervorragend recherchiert, viele Einzelbeispiele!

    Golineh Atai war während des Euromaidan in Kiew/Ukraine vor Ort. Von 2012 bis 2018 war sie als Korrespondentin in Moskau. Sie weiß wovon sie spricht, wenn sie zum Beispiel sagt, dass Russland alles daran setzt, ausländische Journalisten - natürlich im russischen Inland, aber auch im Westen selbst- zu diskreditieren, was zumindest im rechten Flügel der USA und im rechten und linken Segment Deutschlands hervorragend funktionierte und noch immer funktioniert.

    Dass es funktioniert liegt auch daran, dass die westlichen Medien nicht mit derselben Münze zurückzahlen: Im Westen gilt Meinungsfreiheit, auch wenn diese vielleicht nicht vollumfassend ist, es gibt auch im Westen vereinzelt eine Beeinflussung durch Vorgesetzte und politisch motivierte Besetzungen von Aufsichtsräten etc. pp., so muss doch niemand um Job und Leben fürchten, der sagt und schreibt, was er denkt. Von dieser Freiheit profitieren die russischen Sender (z.B Russia Today oder Sputnik), nämlich von der Freiheit, dass sie alles sagen und behaupten dürfen, was ihnen in den Sinn kommt, während gleichzeitig die Veröffentlichungsfreiheit ausländischer Medien im eigenen Land strikt reglementiet und mitunter völlig unterbunden wurde.

    Der Westen ist sich zu fein dafür, Russland im Gegenzug mit Trollen, Bots und Falschmeldungen zu überziehen. Im Informationskrieg hat Russland momentan die Nase vorn dank der Skrupellosigkeit seiner Führung und seiner Elite.

    In ihrem Sachbuch „Die Wahrheit ist der Feind“ deckt Atai auf, wie sehr die Demokratisierung in den Nachbarländern die russische Politelite beunruhigte, so sehr, dass unter Putins Herrschaft bereits fünf Kriege geführt wurden! Die Tschetschenienkriege waren grausam, blutig, furchtbar – und doch von der Weltöffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen. Darauf hoffte Russland auch beim Angriffskrieg auf die Ukraine.

    Verächtlich lässt sich der Kreml über die „Farbrevolutionen“ im Nahen und Mittleren Osten aus und unterstützt selbst sämtliche tyrannische Autokraten. Das russische Staatsfernsehen samt den meisten Printredaktionen sind mit einem Direktdraht mit dem Kreml verbunden, woher Direktiven zur Programmgestaltung kommen. Journalismus ist ein Kampffeld geworden, eine objektive Berichterstattung ist nur noch unter Lebensgefahr möglich.

    Drohbriefe und Morddrohungen seien die Regel im Alltag russlandkritischer Berichterstatter. Nicht wenige davon starben auf unerklärliche Weise. Und nein, natürlich nicht: der Kreml hat nichts damit zu tun. Das ist alles Zufall. Auch die Ermordungen von vom Kreml Verräter geschimpften Geflüchteter – Einzeltaten, Zufall. Der Kreml hat auch damit nichts zu tun, dass einige den Mund zu voll nehmender Oligarchen oder unfreundlicher Politiker, vergiftet werden, aus dem Fenster fallen, etc. pp. Shit happens! Putin wäscht seine Hände in Unschuld.

    Bände spricht die großangelegte Geschichtsverfälschung und die Umdeutung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Memorial, eine Organisation, die zum Ziel hatte, an die Opfer Stalins zu erinnern sowie andere NGOs in Russland wurden dazu gezwungen, sich als „ausländische Spione“ registrieren zu lassen! Und wer glaubt einer Organisation, die „zugibt“, dass sie ein Agent des Auslands sei. So herrscht im Volk allmählich nicht mehr das große Entsetzen über Stalins Vernichtungsorgie vor, sondern Stalin wird als Erneuerer Russlands und als Held neu aufgebaut. Opfer waren eben nötig, heißt es und nicht mehr wie vorher„die Paranoia Stalins konnte jeden treffen“ und der einzelne war der Willkür der Staatspolizei ausgeliefert. Ob die Menschen diese Umdeutungen in großem Stil kaufen, weiß man nicht, aber „Putins Welt“ setzt bei den Kindern an, es gibt neue Schulbücher, wie in der ehemaligen DDR, – und die Gehirnwäsche wirkt. „Russen sind die Guten und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Verräter“, ist die Doktrin. Patriotimus und Militarismus gehen Hand in Hand. Wer anderer Meinung ist, muss das Land verlassen. Wenn er kann.

    Es sind so viele Details, belegte Beispiele für Russlands gezielte Desinformation in „Die Wahrheit ist der Feind“ enthalten, zum Beispiel zum „Fall Lisa“, der unter den in Deutschland ansässigen Russen Kreise zog und an den der eine oder andere sich vielleicht erinnert, das kann man gar nicht widergeben. Das muss man selber lesen oder hören. Ja, es ist mühsam und anstrengend, aber in den heutigen Zeiten sollte man sich informieren.

    Fazit: Tatsache ist, dass das wundervolle und ein wenig geheimnisvolle Land Russland mehr und mehr ein faschistischer Staat geworden ist. Wie lange es diese Strukuren aufrechterhalten wird, weiß kein Mensch.

    Kategorie: Politisches Buch
    Verlag: Argon Verlag, 2022

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  1. Russlands Lügengebäude und Propaganda – akribisch beleuchtet

    Russland und seine Propagandamaschinerie – akribische Recherchen einer Russlandkennerin – verwirrend detailliert

    Das Buch ist 2019 erschienen, aber es hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ich hatte es schon mal angefangen und abgebrochen, aber beim zweiten Mal durchgehalten.

    Golineh Atai, deutsche ARD-Korrespondentin, überall in Russland und der Ukraine herumgekommen, schildert in allen Einzelheiten, was sie weiß, was sie in vielen Gesprächen erfahren und in Recherchen und Interviews herausgefunden hat.

    Warum wissen wir so wenig über Osteuropa? Warum herrscht 'in Deutschland und im Westen so eine tiefe Ahnungslosigkeit gegenüber den Gesellschaften und Kulturen Osteuropas' (eBook 359)? Warum solche 'Wissens- und Verständnislücken' (eBook 358)? Schuldgefühle wegen der Nazi-Zeit mögen eine Rolle spielen, aber vor allem die falsche Vorstellung, dass wir Verpflichtungen NUR gegenüber der Russländischen Föderation haben. Aber das stimmt ganz und gar nicht. Auch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben die Nazis gewütet, ganz besonders schlimm in der Ukraine.

    'Geschichte ist komplex, Identitäten nie klinisch rein, doch Mythen sind einfach.' (117)

    Inzwischen dürften viele gemerkt haben, dass Putin und seine Entourage lügen, dass sich die Balken biegen. Man hört es in Reden, man sieht es im Staatsfernsehen, wo auch Beschimpfungen der übelsten Art an der Tagesordnung sind. Aber Frau Atai hat im Detail berichtet, welche Beeinflussung und Gehirnwäsche, welche Unterdrückung von Menschen mit abweichender Meinung und welche Indoktrination der Jugend stattfindet. Da steckt Absicht und System dahinter. Es geht aber um mehr als nur um alternative Wahrheiten: um die Missachtung von Verträgen und Menschenrechten u.v.a., was das Verdrehen und Verfälschen der Wahrheit angeht.

    Ich kann gar nicht alles erwähnen, was an Themen in diesem Buch behandelt wird und ich finde es alles unglaublich erschreckend. Es ist ein großes Verdienst von Golineh Atai, das alles zusammengetragen zu haben. Dennoch bleibe ich bei den 4 statt 5 Sternen, denn es ist anstrengend zu lesen, weil allzu viele Namen und Einzelvorkommnisse erwähnt werden. Das unterstreicht natürlich die journalistische Wahrheit der Behauptungen, aber es macht es schwierig, in den Einzelheiten den roten Faden nicht zu verlieren.

    Ein Wort noch zum Schluss: Golineh Atai fragt, was der Einzelne tun kann, eine für mich immer wichtige Frage. Sie schreibt:
    erstens: unsere Werte wie z.B. Demokratie pflegen (allerdings sehr unkonkret) und
    zweitens: uns mehr mit dem geistigen Milieu beschäftigen, das Russlands Politik prägt. Das tue ich hiermit und werde es weiterhin tun. Ich ergänze: wir sollten uns alle mehr mit der Ukraine und überhaupt mit Osteuropa beschäftigen.

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Der Mann im roten Rock

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Rezensionen zu "Der Mann im roten Rock"

  1. Ein literarisches Puzzle

    Julian Barnes war mir bisher eher als Romanautor bekannt. Dass er jedoch auch andere "Gattungen" erfolgreich "bedienen" kann, beweist er mit seinem famosen Portrait über den französischen Arzt Samuel Pozzi (1846-1918) mit dem Titel "Der Mann im roten Rock", welches in hochwertiger Qualität vom Kiepenheuer&Witsch-Verlag herausgebracht wurde. Ein definitives Schmuckstück in jeder Sammlung!

    Barnes schreibt allerdings keine schnöde 08/15 Biografie über einen Arzt, der mir (zugegeben) bis zum jetzigen Zeitpunkt völlig unbekannt war. Stattdessen entwirft er zusätzlich zu den biografischen Einsprengseln Kaleidoskop artig ein Portrait der sog. „Belle Èpoque“, verbindet nützliches Wissen über Kunst, Literatur, Politik etc. mit anekdotischen Absätzen, über die man bei der Lektüre schmunzeln oder den Kopf schütteln kann und schafft es trotzdem, die geneigte Leserschaft „bei der Stange“ zu halten, indem er immer wieder den „Running Gag“-Satz „Wir wissen es nicht.“ einstreut. Am Ende trägt er alles „Nichtwissen“ mit einem Augenzwinkern noch einmal zusammen.

    Ein zusätzlicher Pluspunkt dieses einzigartigen Portraits sind die vielen Abbildungen, die das Buch und die Lektüre „lebendig“ gestalten. Man lernt dadurch viele Zeitgenossen von Dr. Pozzi und seinen beiden Begleitern, dem Grafen Montesquiou und dem Prinzen Edmonde Polignac kennen, trifft auf (literarische) Bekannte wie Oscar Wilde, Marcel Proust, die Brüder Goncourt und Gustave Flaubert (um nur ein paar zu nennen) und wird „Zeuge“ von fortschrittlichen Entwicklungen im Gesundheitswesen, für die sich Samuel Pozzi vehement eingesetzt hat.

    Auch werden die teilweise gravierenden Unterschiede zwischen Frankreich und England (etwa im Prozesswesen) eingestreut. Den Abschluss des Buches bildet ein leidenschaftliches Plädoyer Julian Barnes´ für Europa; wer mag es ihm verübeln, wo sein Heimatland doch gerade erst aus der EU ausgetreten ist…

    Obwohl die Lektüre an der ein oder anderen Stelle alles andere als leicht ist, sei dieses Buch all jenen empfohlen, die gerne „puzzeln“ und ein wenig Geduld aufbringen.

    Volle Leseempfehlung und entsprechend 5*.

    ©kingofmusic

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  1. Sittenbild der Belle Epoque

    Julian Barnes, einer der Großen der englischen Autoren, hat mich mit seinem neuen Buch überrascht.

    „Der Mann im roten Rock“ ist Dr. Samuel Pozzi ( 1846-1918 ), einem Pariser Arzt, der nicht nur Modearzt der eleganten Welt, sondern auch als Gynäkologie wegweisend war. Pozzi wurde von John Singer Sargent gemalt, in eben diesem titelgebenden roten Rock. Auf dem Cover sehen wir nur einen Ausschnitt, aber das Gemälde zeigt einen eleganten Mann in den besten Jahren, gekleidet in einen luxuriösen Hausmantel, dessen kostbaren Stoff Singer Sargent in ineinanderfließenden Rottönen malt. Darunter blitzen Rüschen an Kragen und Manschetten. Der Ausschnitt lenkt den Blick des Betrachters auf die feingliedrigen Hände eines begabten Operateurs.
    Aber Barnes wählt nicht die direkte Methode um Pozzi zu charakterisieren, er nimmt sich gleich der ganzen Epoche an. Die Belle Epoque, die vielleicht erst in der Rückschau zur „schönen“ wurde.

    Seit einer gemeinsamen London-Reise waren Dr. Pozzi, der Graf Montesquiou, ein Homme de lettre und Prince Edmonde Polignac befreundet. Pozzi, aus bürgerlicher Kreisen stammend, suchte und genoss die illustre Gesellschaft. Die Ehe mit Therese, beziehungsweise deren Mitgift, ermöglichte es ihm auch finanziell mitzuhalten, zumindest zu Beginn seiner Laufbahn.

    Erstaunlich fand ich immer wieder, dass Pozzi trotz seiner Prominenz und seiner Patientinnen aus Adel, Geldadel und Gesellschaft, ein Anliegen war, auch das allgemeine Krankenhauswesen zu verbessern. Er sorgte für einen vorbildlichen, nach allen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen Neubau eines Krankenhauses.
    Barnes nähert sich seiner Figur auf vielfach mäandernden Schleifen, dabei fließt viel aus der Politik und der Gesellschaft dieser Epoche ein. Man trifft Sarah Bernhardt, (Pozzi hat wohl eine Affäre mit ihr) die Brüder Goncourt, Alphonse Daudet, Oscar Wilde und viele mehr. Es ist ein großes Vergnügen von Julians Barnes überbordenden Kenntnissen der Zeit zu profitieren. Malerei, Literatur, Musik und Theater, der Autor breitet diese aufregende Epoche vor dem Leser aus.

    Immer wieder kommt es zu Vergleichen zwischen Frankreich und Großbritannien, zum Beispiel bei Gerichtsprozessen. Honoriert in Frankreich der Richter Ironie und Schlagfertigkeit des Angeklagten, wird ein Crime passionel generell mit Milde beurteilt, wird Oscar Wilde bei seinem Prozess in London die gegenteilige Erfahrung machen müssen.

    Mit seiner eleganten Erzählweise wird die Lektüre immer zu einem unterhaltsamen, wenn auch nicht einfachem Lesevergnügen.

    Im Buch finden sich unter anderen Illustrationen auch viele Portraitfotos der Sammlung Potin, so dass die meisten erwähnten Persönlichkeiten auch visuell greifbar werden.

    Ganz zum Schluss ergreift Barnes auch noch leidenschaftlich für ein gemeinsames Europa das Wort und verurteilt neu aufkommenden Nationalismus wie Brexit gleichermaßen

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  1. Überall Pozzi

    „Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an.“

    Einer dieser drei Franzosen war Dr. Samuel Pozzi, die anderen beiden der Prinz Edmond de Polignac und Graf Robert de Montesquiou. Das 19. Jahrhundert näher sich seinem Ende. Für die, die es sich leisten konnten, war es die Belle Époque, eine Zeit der schönen Künste, der Reisen, der Ausschweifungen. Der britische Schriftsteller Julian Barnes ließ sich von dem markanten Gemälde „Dr. Pozzi at home“ des zu der Zeit gefragtesten Portraitmalers John Singer Sargent zu dieser absolut ungewöhnlichen Homestory über Samuel Pozzi inspirieren. Pozzi ist der „Mann im roten Rock“.

    Wer war nun dieser Samuel Pozzi? Arzt, Politiker, Liebhaber schöner Frauen. Trotz seiner bürgerlichen Herkunft bewegte er sich in den Salons der Adeligen wie ein Fisch im Wasser.

    „Pozzi war überall!“

    Doch Barnes hat hier weit mehr als eine Biografie verfasst. Das Buch ist ein Panoptikum der Epoche, das Sittenbild einer dekadenten Gesellschaft. Barnes spart nicht mit pikanten Details, Klatsch und Tratsch. Er vermittelt sein ungeheures Wissen über die damalige Zeit und erstreckt seine Schilderungen auf die Kunst in Wort und Bild, aber auch Justiz und Politik, beleuchtet das gesellschaftliche und damit einhergehende politische Ränkespiel zwischen Frankreich und England. Wobei Barnes sehr pointiert eine Brücke zu der aktuellen politischen Entwicklung in seiner britischen Heimat schlägt und seinen Unmut darüber kaum verhehlen mag.

    „Wir könnten auch mit einer Kugel beginnen und mit der Waffe, aus der sie abgeschossen wurde. Das funktioniert eigentlich immer: Eine eherne Theaterregel besagt, wenn man im ersten Akt eine Waffe sieht, wird sie im letzten garantiert abgefeuert. Aber welche Waffe und welche Kugel? Es gab so viele zu jener Zeit.“

    Barnes wird etliche Kugeln zum Rollen bringen. Eine Karambolage vieler Ereignisse, elegant über die Bande gespielt erledigt er die Liebschaft Pozzis zu Sarah Bernhardt, den Prozess gegen Oscar Wilde, streift hier an den Brüdern de Goncourt an und dort an der Dreyfus Affäre. Und noch an so viel mehr.

    Diese Lektüre ist ungemein fordernd, bereichernd und lehrreich. Barnes geschliffene Sprache, aber auch die elegante Aufmachung des Buches mit unzähligen (historischen) Abbildungen macht aus diesem Buch ein Schmuckstück.

    Letztlich ist das Buch auch Barnes Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben, insbesondere dem Schreiben einer Biografie, über gute und schlechte Bücher und darüber, was wir alles nicht wissen.

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  1. 4
    14. Feb 2021 

    Biographie einer Epoche

    2015 stieß der frankophile englische Autor Julien Barnes bei einem Besuch der National Portrait Gallery in London auf das übermannsgroße Gemälde „ Pozzi at home“ des amerikanischen Portraitmalers John Singer Sargent ( 1856 - 1925 ) und sein Interesse war geweckt.
    Wer war dieser Dr. Pozzi?
    Samuel Jean Pozzi, 1846 in der Dordogne geboren, 1918 gestorben, war ein Pariser Frauenarzt und Chirurg, ein Modearzt, der sehr viele Berühmtheiten seiner Zeit - Künstler und Adelige- zu seinen Patienten zählte, aber auch 35 Jahre lang an einem öffentlichen Krankenhaus gearbeitet hat. Er war ein Reformmediziner, der den ersten Lehrstuhl in Gynäkologie in Frankreich innehatte und dessen „ Lehrbuch der Gynäkologie“ jahrzehntelang das Standardwerk auf seinem Gebiet war. Gleichzeitig aber war Pozzi ein Lebemann und umschwärmter Liebling der Frauen ( „ ekelhaft gutaussehend“ ). Obwohl verheiratet waren seine Affären stadtbekannt.
    Trotz seiner Herkunft - bürgerlich und aus der Provinz stammend - schaffte er es aus eigener Kraft ( und mit dem Geld seiner Frau ) in die höchsten Kreise der Pariser Gesellschaft. Er war bekannt und befreundet mit allen, mit den Dandys und Lebemänner dieser Zeit, mit den Dichtern und Künstlern. Schon als Student hatte er eine Affäre mit der legendären Sarah Bernhard, der er ein Leben lang freundschaftlich verbunden blieb.
    Er war Prozessbeobachter im Fall Dreyfus, auf dessen Seite er stand und den er auch als Arzt betreute.
    Das Leben dieses Doktor Pozzi faltet Barnes mit sehr vielen Episoden und Details vor uns auf. Dabei weiß der Autor um die Schwierigkeiten beim Verfassen einer Biographie. „ Wir wissen es nicht“ , heißt es daher oft und „ Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden ,...“ ( S. 127 )
    Doch Julian Barnes hat mit „ Der Mann im roten Rock“ nicht einfach eine Biographie dieses außergewöhnlichen Mannes geschrieben, sondern er erzählt an dessen Leben entlang die Biographie einer ganzen Epoche. ( Denn „ Pozzi war überall.“)
    Jener Zwischenkriegszeit zwischen 1870/71 und 1914, die wir heute als „ Belle Epoque“ kennen. „ Die Belle Epoque : der Inbegriff von Friede und Freude, von Glamour mit mehr als einem Hauch von Dekadenz, eine letzte Blüte der Künste und letzte Blüte einer etablierten Society,...“ ( S. 34 )
    Und so entwirft Barnes ein riesiges Wimmelbild dieser Jahre. Dazu lässt er jede Menge bekannter und heute weniger bekannter Personen auftreten, von Maupassant über die Brüder Goncourt, von Oscar Wilde bis Marcel Proust. Über sie erzählt er unendlich viele Anekdoten und skurrile Begebenheiten, oftmals Klatsch und Tratsch ( viele Bettgeschichten), Wichtiges und eher Nebensächliches.
    Dabei greift Barnes eine Besonderheit dieser Zeit auf, das Duell und zeigt an vielen Beispielen, wie nichtig oftmals die Gründe waren, die zum Austausch von Kugeln geführt haben. Mit dieser Unsitte hat der Erste Weltkrieg glücklicherweise aufgeräumt, wie Barnes etwas zynisch schreibt.
    Immer wieder geht Barnes höchst amüsant auf die Unterschiede zwischen Engländern und Franzosen ein . Dabei kommen die englischen Frauen und die englische Hauptstadt wenig gut weg. Auch über die Liebe herrschen unterschiedliche Ansichten. Während die Briten an die Gemeinsamkeit von Liebe und Ehe glauben, sieht der Franzose das pragmatischer. „ Man heiratete um der gesellschaftlichen Stellung, um des Geldes und Besitzes Willen und um die Familie fortzuführen, aber nicht aus Liebe. ...Die Ehe war lediglich ein Basislager, von dem das abenteuerlustige Herz zu neuen Ufern aufbrach.“
    ( S. 51 )
    Und während für politisch Verfolgte in Frankreich oft England das Ziel war, wohin sie flüchteten, so floh man von der Insel eher, um einem Skandal zu entgehen. „ Sie schickten uns ihre geschassten politischen Köpfe und gefährlichen Revolutionäre, wir schickten ihnen unser nobles Gesindel.“ ( S. 44 )
    Als zweite Hauptfigur neben Pozzi wählte Julian Barnes den Grafen Montesquiou, einen homosexuellen Dandy und mittelmäßigen Dichter. Dessen exzentrischer Lebensstil war Anregung für andere Literaten; so war er Vorbild für eine Figur in Marcel Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und der dekadente Held in Joris- Karl Huysmans‘ Buch „ Gegen den Strich“ trägt eindeutige Züge des Grafen.
    Obwohl Pozzi mit Montesquiou regen Umgang pflegte und obwohl er auch den Freuden des Lebens niemals abgeneigt war, so war er doch ein ganz anderer Typ Mensch. Pozzi war aufgeschlossen und wissbegierig, ein moderner Wissenschaftler, dem es um den Fortschritt und die Verbesserung in der Medizin ging. Während der Dandy, eine Erscheinung der „Belle Epoque“ , nur um sich selbst kreist, nur die Selbstinszenierung und die Ästhetisierung des eigenen Lebens im Blick hat. „ Wem gilt die Liebe des Dandys? Sich selbst, natürlich.“ ( S. 71 )
    Weshalb Julian Barnes Sympathie dem Arzt Samuel Pozzi gilt, macht er nochmals in seinem Nachwort deutlich. Gerade Pozzis Maxime „ Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“ hat es ihm angetan. Pozzi ist für den englischen Autor der Gegenentwurf zur Ignoranz und Selbstgefälligkeit der Engländer, die sich aktuell bei der Brexit - Abstimmung wieder gezeigt hat. Pozzi war zwar ein Patriot, aber kein Chauvinist. Er war weltoffen und zukunftsorientiert und jederzeit bereit, vom Ausland zu lernen.
    Hervorzuheben ist auch die wunderbare Machart des Buches. Einige Porträts, neben dem titelgebenden „ Mann im Rock“ , des Societymalers Sargent erfreuen den kunstliebenden Leser, sowie die klugen Interpretationen des Autors . Dazu machen zahlreiche Photos sowie die Schokoladen - Sammelbilder der Firma Potin die Figuren lebendig.
    Julian Barnes hat mit „ Der Mann im roten Rock“ eine äußerst kluge und elegant geschriebene Biographie einer beachtenswerten Person und einer spannenden Epoche geschrieben. Dazu hat er sehr, sehr gründlich recherchiert und eine Unmenge an Material zusammengetragen. Das wirft zwar einen sehr detaillierten Blick auf die Gesellschaft und das Denken jener Zeit, allerdings hätte ich es in dieser Fülle nicht gebraucht.
    Barnes reiht, zwar gekonnt, Episode an Episode, Betrachtung an Überlegung, verknüpft leichthändig die verschiedenen Themen, doch ab und an fehlte mir hier die Stringenz.
    Trotz dieser leichten Vorbehalte ist „ Der Mann im roten Rock“ eine literarisch anspruchsvolle, sehr erkenntnisreiche und unterhaltsame Lektüre, die ich gerne weiterempfehle.

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  1. Eine Biografie der anderen Art

    "Der Mann im roten Rock" ist ein Gemälde von John Singer Sargent aus dem Jahr 1881 und zeigt Dr. Samuel Jean Pozzi. Der Klappentext, und auch der Titel, lassen vermuten, dass es sich um die Biografie von Dr. Pozzi handelt. Tatsächlich lebte dieser ein sehr bewegtes Leben. Er war seinerzeit ein berühmter Arzt, Vorreiter auf dem Gebiet der Gynäkologie und ärztlichen Hygiene, vielfältig interessiert, weit gereist und verkehrte in den besten Kreisen. Dies alles hätte genug Stoff für eine Biografie (oder zwei) hergegeben.

    Das titelgebende Gemälde und die Person Dr. Pozzis nutzt Julian Barnes jedoch nur als Aufhänger für eine Reise ans Ende des 19. Jahrhunderts. Spinnennetzartig erzählt er gefühlte tausend Geschichten unzähliger historischer Persönlichkeiten, die teils nur lose oder gar nichts mit Dr. Pozzi zu tun haben. Anhand von Anekdoten und Anekdötchen sowie unzähligen, sicherlich profund recherchierten Informationen mäandert Julian Barnes durch die Zeit und lässt die sog. Belle Époque wiederauferstehen.

    Das alles ist zweifelsohne interessant zu lesen. Dem Buch ist zudem anzumerken, dass Julian Barnes die Recherche für das Buch und die Niederschrift unendlich viel Freude gemacht haben. Sein Stil ist makellos und eloquent. Allein schon deshalb lohnt es sich, das Buch zu lesen. Als kleiner Kritikpunkt verbleibt allerdings, dass er weniger an seine Leser gedacht hat. Ein stärker ausgeprägter roten Faden oder Rahmen hätten es mir erleichtert, die vielen Einzelinformationen zu verorten und einprägsam nachzuvollziehen. Meine Kapazitäten hat Julian Barnes jedenfalls ziemlich ausgereizt. Daher vergebe ich vier Sterne.

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  1. Dr. Samuel Pozzi oder "Der Mann im roten Rock"

    Dr. Samuel Pozzi oder " Der Mann im roten Rock"

    Julian Barnes ist mir durch mehrere Werke positiv im Gedächtnis geblieben, daher war ich sehr neugierig auf die neueste Veröffentlichung von ihm.
    Doch hier handelt es sich um eine Biografie, deshalb lässt es sich im Grunde gar nicht mit den mir bekannten Werken vergleichen. Dass lesen ist mir zeitweise schwer gefallen, da ich mit vielen Künstlern und Lebemännern aus der Zeit der Belle Époque , zu deren Zeit die Biografie ansetzt, wenig, mitunter gar nichts anfangen konnte. Größen wie Oscar Wilde oder Marcel Proust waren mir natürlich ein Begriff, doch Barnes verknüpft noch viel mehr Personen miteinander und mit dieser Zeit. Die am Ende des Buches auch so ziemlich ihren Glanz verloren hat.

    Hauptperson stellt der damals sehr erfolgreiche Gynäkologe Dr. Samuel Pozzi dar, der zu Beginn mit zwei weiteren Herren eine Reise antritt. Ob die drei gute Freunde waren, konnte ich nicht mal erkennen, aber sie gehörten wohl zur damaligen High-Society und passten daher gut zusammen. Jeder kannte damals wie heute jeden der Rang und Namen hatte.
    Im weiteren Verlauf erfahren wir einiges aus dem Leben der drei Männer. Ebenso erfahren wir über viele andere Künstler wo sie verkehrten, mit wem sie sich umgaben und so weiter. Einiges hat einen direkten Bezug zu Pozzi, doch bei vielen Personen fehlte mir dieser, oder ich konnte ihn einfach nicht nachvollziehen.

    Der Autor schaffte es dann irgendwann doch mich zu fesseln, und mir die Epoche und die Menschen aus dem gehobenen Stand näher zu bringen. Seine Intensität der Recherche muss immens gewesen sein, dafür verdient er große Anerkennung. Vor allem weil ihm hier und da Informationen fehlten, da beispielsweise Briefe oder Tagebücher, die Aufschlüsse hätten geben können, zerstört oder unauffindbar waren. Doch Barnes stellte sich dieser Aufgabe und ließ nur die echten Fakten sprechen. Und räumte an gegebener Stelle ein, dass es nicht nachvollziehbar sei, dass sich alles so und nicht anders abgespielt hat.

    Doch warum legte er sein Hauptaugenmerk auf Pozzi? War es das Gemälde, welches Pozzi noch in jungen Jahren abbildete, von dem Barnes als Kunstkenner so begeistert war? Oder wollte er mehr über diesen durchsetzungsstarkes Mann erzählen, der auf dem Gebiet der Wissenschaft viel erreicht hat? Wollte er den Leser am Leben dieses Menschen teilhaben lassen? Ich bin am Ende zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich gar keine Rolle spielt warum, sondern dass er es getan hat.
    Trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten aufgrund der Fülle an Personen, bilde ich mir ein gutes Bild der Zeit und dieses Mannes im roten Rock bekommen zu haben.
    Ein Buch, das Zeit erfordert. Zeit und Geduld, doch es hat sich am Ende gelohnt.

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  1. Kaleidoskop einer Epoche

    "Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an.""

    Mit diesem Satz beginnt Julian Barnes die ungewöhnliche Biografie über den französischen Gynäkologen Dr. Samuel Pozzi. Der zu seiner Zeit sehr bekannte Arzt schrieb ein fortschrittliches Standardwerk über Gynäkologie und war DER Arzt der gesellschaftlichen Oberschicht während der sogenannten "Belle Époque". Das Gemälde "Dr. Pozzi at Home" des amerikanischen Porträtmalers John Singer Sargent weckte das Interesse des Autors sich näher mit dem Leben Pozzis und vor allem dieser faszinierenden Epoche zu beschäftigen. Und so ist dieses Buch auch weniger eine Biografie einer einzelnen Person, sondern eher eine Sammlung von Anekdoten und Geschichten der Zeit. Es enthält eine Fülle an Informationen; Namen und Begebenheiten, aber auch Klatsch und Tratsch. Nicht alles ist interessant, vieles nebensächlich, aber wenn man sich intensiv mit Buch befasst, erfährt man viel Wissenswertes und kann viel Freude an diesem Plauderton haben. Die wunderbare Gestaltung des Buches hat es mir besonders angetan. Das Papier ist etwas fester, es gibt viele Fotografien, aber auch farbige Bilder von Gemälden, die sehr aufmerksam und detailreich beschrieben werden, unter anderem das schon erwähnte "Dr. Pozzi at Home". Die Bildbeschreibungen haben mir am besten gefallen und auch der leichte Plauderton Barnes' mit dem er durch diese Zeit wandelt, traf genau meinen Nerv. Ich hatte bisher noch nichts von diesem Autor gelesen, was ich jetzt schnell nachholen möchte.

    Wer eine reine Biografie des durchaus interessanten und beschreibenswerten Lebens Pozzis erwartet, wird vielleicht enttäuscht sein, mir hat in dieser Hinsicht auch ein wenig die Gradlinigkeit gefehlt, aber es ist ein interessantes Buch mit vielen Geschichten und Geschichtchen einer faszinierenden Epoche.

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  1. 3
    07. Feb 2021 

    Klatsch und Tratsch im 19. Jahrhundert

    Samuel Pozzi, der von 1848 bis 1918 lebte, war für mich bisher ein völlig Unbekannter. Er war Arzt, ein Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie. Und auch sonst ein sehr umtriebiger Mensch, der seiner Zeit in Vielem weit voraus war. Julian Barnes hat es sich zur Aufgabe gemacht, uns diesen Mann ein wenig näher zu bringen – und nicht nur ihn. Wir lernen seine Freunde, weitere Bekannte und Unbekannte kennen und die Zeit, in der er lebte.
    Im Plauderton erzählt Barnes nicht nur von Dr. Pozzi und seinen zahlreichen amourösen Verhältnissen, sondern auch eine Vielzahl von Anekdoten über bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten. Beispielsweise worauf Charles de Gaulles Abneigung gegenüber den Briten zurückzuführen war (Faschoda) oder Näheres zum Entdecker des Tourette-Syndroms. Keine Frage, wer sich für die Belle Époque interessiert, wird hier eine reichhaltige Fundgrube an historischen wichtigen aber auch belanglosen Informationen entdecken. Und nicht nur an Schriftlichem: Der Verlag hat aus dieser Lektüre ein wunderschönes Buch gemacht, gedruckt auf hochwertigem Papier mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißbildern, die viele der damaligen Persönlichkeiten auf Gemälden oder Photos abbilden. Nur die Biographie des Herrn Dr. Pozzi kommt leider etwas zu kurz, wie ich finde.
    Julian Barnes‘ Begeisterung an dieser Epoche und seinen Menschen (zumindest denen aus der gehobenen Schicht) ist überdeutlich zu spüren, was bedauerlicherweise nicht immer zum Vorteil der Lesenden gereicht. Es scheint, als wolle er uns so viel wie möglich an seinem immensen Wissen teilhaben lassen, und so werden viele der erzählten Dinge nur angerissen – zu knapp, wie ich häufig fand. Gerade Dr. Pozzi, dessen Gemälde das Cover des Buches zeigt, kommt meiner Meinung nach leider, wie schon erwähnt, viel zu kurz. Dies mag daran liegen, dass es über und von seiner Person nicht sehr viele Hinterlassenschaften gibt wie beispielsweise Briefe, Tagebücher o.ä. Wenn, dann sind es meist Dokumente aus zweiter oder dritter Hand wie beispielsweise das Tagebuch seiner Tochter oder die Briefe Sarah Bernhardts an Dr. Pozzi. Damit entsteht zwangsläufig ein ziemlich fragmentarisches Bild des titelgebenden Mannes ‚im roten Rock‘, während sein Freund Robert de Montesquiou-Fezensac wesentlich häufiger Erwähnung findet.
    So ist dieses Buch trotz des Titels kein Porträt einer einzelnen Person, sondern vielmehr ein Panorama der Belle Époque mit vielen Informationen aus jener Zeit – Klatsch, Tratsch und Belangloses mit inbegriffen.

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  1. Mit Vergnügen durch die Belle Époque

    An seinen Romanen wie "Vom Ende einer Geschichte" oder "Die einzige Geschichte" hatte ich in den vergangenen Jahren schon viel Freude, ohne zu wissen, dass Julian Barnes auch Sachbücher schreibt. Sein neuestes, "Der Mann im roten Rock", konnte ich nun lesen, mit großer Hochachtung vor Barnes‘ enormem Quellenstudium sowie seiner Gabe, Mosaiksteine der Geschichte gekonnt zu einem Gesamtbild anzuordnen und unzusammenhängende Fäden scheinbar spielerisch zu verweben. Allerdings ist der Gegenstand des Buches nicht in erster Linie, der französische Chirurg und Frauenarzt Dr. Samuel Jean Pozzi (1846 – 1918), der diese beiden Fachrichtungen in seinem Heimatland revolutionierte, sondern vielmehr die Gesellschaftsschicht, in der er sich bewegte: die „ferne, dekadente, hektische, gewalttätige, narzisstische und neurotische“ Belle Époque zwischen 1870 und 1914. Duelle und Attentate, Tratsch, Klatsch und Gerüchte, sexuelle Orientierungen, Kunst, Literatur, Sammlerleidenschaft, Mäzenaten- und Dandytum, Aufschneiderei und Exzentrik, Freundschaften und Feindschaften, Ehen und Liebschaften und immer wieder Vergleiche zwischen Frankreich und Großbritannien, all das interessiert Julian Barnes ungleich mehr als antiseptische Operationsverfahren oder politische Entwicklungen. Wie elegant er allerdings darüber schreibt, ließ mich zunehmend vergessen, dass ich eigentlich mehr über die Meilensteine der Medizingeschichte erfahren wollte, ähnlich wie in der detailreichen Biografie "Der Horror der frühen Medizin" über Pozzis Zeitgenossen und Vorbild Joseph Lister, in der die Medizinhistorikerin Lindsey Fitzharris völlig andere Interessen bedient.

    Panorama einer Epoche
    Erstmals begegnete Julian Barnes dem „Mann im roten Rock“ 2015 in der National Portrait Gallery in London auf dem 1881 entstandenen Gemälde Dr. Pozzi at Home von John Singer Sargent, das als Ausschnitt das Cover ziert. Seine Neugier war geweckt. Ausgehend von einer Bildungs- und Einkaufsreise, die Pozzi im Jahr 1885 mit dem Prinzen Edmond de Polignac und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezensac nach London unternahm, katapultiert uns Barnes in das Leben der Pariser High Society. Vor allem der Graf, ein mäßig erfolgreicher Romancier, homosexueller Dandy und Exzentriker, nimmt viel Raum ein. Er war Vorbild für mehrere Romanfiguren, darunter die Hauptfigur in Joris-Karl Huysmans‘ Roman Gegen den Strich (der wiederum eine Rolle in Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray und beim Prozess gegen ihn spielte), und im Werk von Marcel Proust. Aber auch die Brüder Goncourt, die Familie Proust, Paul Hervieu, Lucien Daudet, Sarah Bernhardt, Guy de Maupassant, Jean Lorrain, Claude Monet, Alexandre Dumas d. J. und viele, viele andere tauchen als Freunde, Feinde, Patienten oder Geliebte Pozzis auf. Von allen gibt es Abbildungen, häufig Schokoladenbildchen der Firma Potin, in diesem opulenten, auf hochwertigem Papier gedruckten und doch überraschend preiswerten Band.

    Ein Tausendsassa
    Samuel Pozzi, Nachfahre italienischer Protestanten aus der Dordogne und mit einer englischen Stiefmutter zweisprachig aufgewachsen, war Begründer der französischen Gynäkologie, erster Lehrstuhlinhaber, Lehrbuchautor, Kosmopolit, Modearzt und für medizinische Neuerungen aus aller Welt aufgeschlossen, aber auch Kunstsammler, Senator, Dreyfusien und Salonlöwe. Er setzte sich für den medizinischen Fortschritt und für schonende, ganzheitliche Behandlungsformen ein, schreckte aber nicht vor Affären mit Patientinnen zurück. „Pozzi war überall“, wie Barnes wiederholt betont, um dann gelegentlich augenzwinkernd einzuschränken: „Pozzi war doch nicht überall“.

    Anders - aber gut
    Auch wenn mir zu Beginn falsche Erwartungen und ein zunächst verwirrendes Füllhorn von Akteuren und eher amüsanten als wissenswerten Anekdoten den Einstieg erschwerten, so steckten mich doch Barnes‘ Begeisterung, sein Humor, seine (Selbst-)Ironie und sein Spiel mit Wissen und Nichtwissen zunehmend an. Nicht nur, aber auch aufgrund seines Mottos: „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“ ist Pozzi für den überzeugten Europäer und Brexit-Gegner Barnes „so etwas wie ein Held“.

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  1. Das Who is Who der Belle Époque

    Liebe Damen, schnürt die Korsetts und rafft die Kleider, liebe Herren, bürstet eure Melonen und haltet die Schusswaffen bereit, wir reisen in das Herz Europas der Belle Époque (1871 - 1914).

    Mit dieser Collage erheischt schon der Schutzumschlag Aufmerksamkeit; er zeigt den Rumpf eines Menschen im roten Rock, verbirgt darunter aber die außerordentlich hochwertige Gestaltung und Prägung des Buches von Kiepenheuer & Witsch. Ein Kompliment an den Verlag, man sieht und spürt einfach, mit wieviel Liebe zum Detail hier gearbeitet wurde!
    Gleich einer der ersten Seiten präsentiert uns dann das vollständige Gemälde eines charismatischen Mannes, rot in Rot, dessen Leben und Wirken der Dreh- und Angelpunkt dieses vergnüglichen Abenteuers in die Zeit des Überdrusses, des Pomp und Protzes ist; Barnes stellt vor, Samuel Jean de Pozzi, erfolgreicher Mediziner und Modearzt der Bohème, Franzose.
    Aber Samuel Pozzi ist nur der Nagel, der das Bild einer Epoche hält, in die wir gleich mit einer illustren Reisegesellschaft hineingezogen werden. Drei Männer, machen sich auf den Weg von Frankkreich nach London, um dort all die schönen Dinge, Stoffe und Kunstwerke zu kaufen, die Heim und Leben schmücken sollen. Drei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Pozzi wird begleitet vom Prinzen Edmond de Polignac und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezensac.
    Die schillernde Figur des Letztgenannten beschert und dann auch die größten Einblicke in diese Zeit der Eitelkeiten, der Auffassung von Moral, der Verletzungen des Ehrgefühls (es ist noch die Zeit der Duelle, meine Herren, deshalb seien sie immer bewaffnet), aber vor allem die Verabschiedung vom Alten und der Aufbruch in eine neue Zeit, was uns Pozzis fortschittliche Neuregelungen in der Gynäkologie sehr schön vor Augen führt.

    Streitigkeiten werden nicht nur auf dem morgendlichen, nebelbverhangenen Feld mit der Waffe verhandelt, sondern auch, quasi durch die Hintertür, in schriftlicher Form, pressetauglich, mit dem verabscheuungswürdigen Jean Lorrain, wenn es schnell gehen musste, oder aber im Romanformat ausgetragen. So tauchen denn auch bald Namen auf wie Marcel Proust, Oscar Wilde und Joris-Karl Huysmans als Weg- und Zeitgefährten auf. Huysmans Roman "Gegen den Strich" stellte fast unverhohlen das nicht ganz skandalfreie Leben des Grafen Montesquiou dar und obwohl es nur auf französisch erschien, musste sich später Oscar Wilde für seine Anspielungen auch auf diesen Roman vor Gericht wegen Homosexualität, welche in Frankreich, aber nicht in England legal war, verantworten.

    Dieses Namedropping ist nur ein kleiner Auszug, der verdeutlichen soll, wie Barnes die Be- und Empfindlichkeiten jener Zeit kongenial erfasst hat, aber mit dem bürgerlichen Pozzi auch eine Verbindung schafft, zu Verbesserungen in der Medizin und seinem Bestreben, den Mensch in den Mittelpunkt der Wissenschaft zu stellen. Beschränken wir uns beim Lesen aber allein auf Pozzis Biografie, so entgeht uns nicht seine unglückliche Ehe, seine Liebschaften und die große Hilfsbereitschaft für Personen mit heiklen, medizinischen Problemen, welche ihm letztendlich, schicksalsträchtig zum Verhängnis wird.

    Julian Barnes hat hier einen, fragmentarisch anmutendes, letztendlich aber doch die Essenz jener Zeit erfassenden Überblick des Fin de Sciècle an der Biografie eines außergwöhnlichen Arztes festgemacht, dessen Bild rahmenhandlungstauglich das Buch eröffnet und beschließt.

    Eine vergnügliche, wenn auch für mich nicht immer einfache Exkursion in die Geschichte zwischen zwei Kriegen, in denen sich Deutschland und Frankreich feindlich gegenüberstanden, die Voraussetzungen für eine vereintes Europa aber schon erkennen lassen. Ob es noch eine barnsche Beleuchtung des einfachen Volkes jener Zeit geben wird, wir wissen es nicht! ;-)

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  1. 5
    02. Feb 2021 

    Die Belle Èpoque auf ganz besondere Art nah gebracht

    “Der Mann im roten Rock” von Julian Barnes wurde vom Kiepenheuer & Witsch-Verlag ohne eine Angabe des Genres in diesem Jahr veröffentlicht. Und auch mir fällt nach Lektüre des Buches nicht wirklich ein, um was es sich hier eigentlich handelt. Ein Roman ist es ganz sicher nicht. Dafür sind die non-fiktionalen Anteile einfach zu dominierend (mit ausführlicher Wiedergabe von Bildquellen aus der Zeit). Ein rein non-fiktionales Sachbuch ist es aber auch nicht, dafür ist die Sprach- und Gestaltungskreativität des Autors zu hervorstechend. Barnes schafft es, ein Buch zu schreiben, das den Lesern collagenhaft in die Zeit der Belle Époque entführt, die letztlich der wirkliche Held dieses Buches ist und die über eine große Auswahl von Vertretern der Gesellschaft in dieser Zeit vorgestellt und sehr anschaulich gemacht wird. Es ist dem Buch anzumerken, dass sich Barnes irgendwie in diese Zeit, in diese Gesellschaft verliebt hat und ihr vielleicht kein Denkmal setzen, aber diese Zeit doch in die Köpfe seiner Zeitgenossen zurückholen wollte. Er sieht in ihr einen Wert, der hochgehalten werden soll. Aber dazu später.
    Das Buch ist gestaltet rund um eine Person und deren gesellschaftliches Umfeld: Dr. Samuel Pozzi, erfolgreicher Arzt, Dandy, Gebildeter, Bourgeois, Frauenheld, Ehemann, Reisender. Für die Nachwelt festgehalten hat diese Person der Maler John Singer Sargent mit einem glamourösen Portrait: „Dr. Pozzi at home“, auf dem der Protagonist unseres Buches im roten Morgenrock weltmännisch an uns vorbeischaut. Über das Buch hinweg erfahren wir als Leser einiges aus dem Leben dieses Arztes – seine Familie, seine Profession, seine Affären, seine Reisen – und doch wird er nie wirklich zum Helden dieses Buches, auch wenn er dessen Titelgeber ist. Dafür ist das „Drumherum“ zu übermächtig, denn immer wieder verlässt Barnes diese Person, wenn an den Seiten von Pozzis Leben eine Situation oder eine Person auftaucht, die dem Autoren gerade besser geeignet erscheint, Einblicke in die Zeit und ihr Lebensgefühl zu geben. So tauchen Personen auf und sofort wieder ab (manchmal erscheint das als pures „name dropping“), andere begleiten uns über die Seiten der Geschichte immer wieder und geben dem Buch einen festen Halt. Neben der Sprache und Worten über diese Zeit spielt in dem Buch auch das Visuelle eine ganz besondere Rolle. Nicht nur das oben schon erwähnte Sargent-Portrait von Dr. Pozzi ist im Buch abgedruckt, sondern es finden sich Fotografien von fast allen angesprochenen Personen, wurden sie doch in eine zeitgenössische Schokoladenbildchen-Sammlung aufgenommen und hier erneut als „Who is who?“ der Zeit textuell und visuell für die Nachwelt festgehalten. Diese Schokoladen-Bildchen-Sammlung befindet sich nach Informationen aus dem Anhang im Besitz von Barnes und scheint so etwas wie ein Wegweiser für ihn durch das Labyrinth des Angesichts der Belle Époque gewesen zu sein: Wer hier abgebildet wurde, muss auch Bedeutung für die Zeit haben, also wird diese Person von Barnes herausgegriffen und in das Buch aufgenommen.
    Mein Fazit:
    Immer wieder während der Lektüre habe ich mich gefragt, was an dem Buch trotz seines collagenhaft, ja manchmal geradezu stückhaften Charakters so begeisternd, so soghaft funktioniert? Ich bin dem Geheimnis nicht ganz auf die Spur gekommen. Aber einige Punkte sind sicher hervorzuheben:
    - Der Sprachkunst Barnes gelingt eine meisterhafte Schilderung dieser Zeit des Dandytums mit seinen Spleens und Sonderbarkeiten.
    - Die distanziert ironische Haltung des Erzähltons gibt dem Text eine ganz besondere Note und Stimmung, in der nie ganz klar ist: Ist Barnes eigentlich der größte Fan dieser besonderen Zeit oder deren größter Skeptiker? Er schafft es tatsächlich manchmal, sich innerhalb eines Satzes von einer zur anderen Haltung komplett zu wenden.
    Dieses ganz besondere Portrait einer Epoche ist ein unvergessliches und unvergleichliches Leseerlebnis, nach dem auch ich als Leserin nicht mehr weiß: Bin ich Fan oder Skeptikerin dieser Zeit???
    Barnes allerdings löst für sich diese Frage auf in seinem Nachwort zum Buch. Hier stellt er diese weltoffene, nach unterschiedlichsten Einflüssen hungernde und diese nutzende Gesellschaft seiner zeitgenössischen chauvinistischen Heimat England gegenüber, die mit dem Votum für den Brexit solche positiven Einflüsse gerade hinweggeschoben und sich entschieden haben „in der Vergangenheit zu hocken“.
    Aber: Ist der Brexit die Motivation Barnes gewesen, gerade dieses besondere Buch als Reaktion darauf zu schreiben? Auch diese Sichtweise über das Buch erscheint eher abwegig.
    Und so gebe ich für ein Buch, das mir jede Menge Rätsel aufgibt, dennoch gerne 5 Sterne!

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  1. Patchworkbild der Belle Èpoque

    Der "Mann im roten Rock" ist Dr. Samuel Pozzi, geboren 1846 in Bergerac (Frankreich). Julian Barnes' Interesse an dem erfolgreichen Arzt und Gesellschaftsmenschen Pozzi entzündete sich an einem Porträt J.S.Sargents, das Pozzi "theatralisch inszeniert" in einem scharlachroten Hausmantel darstellt.

    Schon im ersten Kapitel des prächtig aufgemachten Buchs exerziert Barnes in launiger Weise mehrere Möglichkeiten durch, wie er beginnen könnte - mit Sargents Bild, mit einem anderen Bild, mit Oscar Wilde, mit Pistolenschüssen, mit einer Operation -? Nein, er beginnt mit dem roten Rock und den eleganten Händen. Jeder der kurz "angerissenen möglichen Anfänge" wird im späteren Verlauf des Buches erklärt und vertieft. Dieser Beginn ist symptomatisch für das ganze Buch, das nicht so sehr eine Biographie des Arztes Pozzi darstellt als vielmehr ein umfassendes Bild vom geistigen und gesellschaftlichen Leben der Belle Époque in England und Frankreich.

    Barnes liegt nichts daran, ein geordnetes Gesellschaftsbild zu liefern. Sein Wissen über tausenderlei Aspekte der Zeit, über Berühmtheiten der Kunst, Politik und der "hautevolee", über die medizinischen und technischen Möglichkeiten, gesellschaftliche Strömungen, über Presse und Klatsch ist umfassend. So ist auch "Der Mann im roten Rock" ein Patchwork aus Szenen, Tagebucheinträgen, Zitaten aus Briefen und Büchern und vielem anderem mehr. Barnes führt eine Unzahl bekannter und weniger bekannter Zeitgenossen vor; neben Oscar Wilde, Maupassant, Proust und Henry James, Sarah Bernhardt und anderen heute noch geläufigen Personen nehmen auch vergessene, aber damals angesagte Leute ihren Raum wieder ein, wie der Graf von Montesquieu und der Prinz von Poligny, bekannte Dandys der Zeit. Und alle, alle waren Bekannte oder Freunde von Pozzi. "Pozzi war überall", bemerkt Barnes mit literarischem Schmunzeln. Wir erfahren den typischen Ablauf eines Duells, Einzelheiten über das Verfahren gegen Wilde wegen "Sodomie", alles über Schlüsselromane und die richtige Interpretation alter Gemälde, Klatsch und Tratsch über schwule Dandys und über die "nymphomanische" Bernhardt. Aber auch über die rasante Entwicklung der Technik und der Medizin. Vor allem über Neuerungen, die Pozzi - der nicht nur ein umschwärmter Salonlöwe, sondern auch ein gewissenhafter und fleißiger Mediziner war - speziell im Bereich der Gynäkologie einführte; seine neuen und schonenden Behandlungsmethoden, verbesserte Ausstattung seiner Klinik und sein Bemühen um Verständnis für die Patientinnen.

    Kurz, Julian Barnes erschlägt die Leserin fast mit der Fülle der Einzelheiten, die er darbietet. Aber alles ist so kunstvoll verwoben und leichthändig ausgebreitet, dass es ein Vergnügen ist, ihm zu folgen (und notfalls bei Bedarf auch nochmal zurückzulesen oder etwas nachzuschlagen). Dazu enthält das Buch eine Vielzahl schöner und informativer Bilder: Porträts der Hauptfiguren von bekannten Malern der Zeit und eine Reihe Fotografien, darunter die "Schokolade-Sammelbildchen" der Firma Potin mit Porträtfotos von Berühmtheiten. Es ist eine Freude, das schön ausgestattete Buch zur Hand zu nehmen; es führt auf sehr unterhaltsame Weise durch die Epoche und lädt dazu ein, vielleicht mal wieder Maupassant, Proust oder Wilde zu lesen oder eine Gemäldegalerie zu besuchen.

    Nicht zuletzt handelt das Buch auch von dem regen Kulturaustausch zwischen England und dem Kontinent zur damaligen Zeit. "Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz" zitiert Barnes seinen Helden Pozzi und gibt im Nachwort seiner Unzufriedenheit über den Austritt Großbritanniens aus der EU Ausdruck. Sein Buch kann auch als Plädoyer für den europäischen Gedanken gelesen werden. Pozzi war ein weltoffener, neugieriger und offenbar fröhlicher Mensch, "fortschrittlich, international und unentwegt wissbegierig" - wie der Autor selbst.

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  1. Elegant geschriebenes Sittenbild über die Belle Èpoque

    „Der Mann im roten Rock“ ist wohl am ehesten eine Biografie, geht jedoch weit über das Leben des im Titel genannten Mannes, des Arztes Dr. Samuel Pozzi (1846 – 1918), hinaus. Pozzi ist der Aufhänger, anhand dessen uns eine ganze Epoche, die Belle Èpoque, vorgestellt wird. Handlungsschauplatz ist überwiegend Paris, mit kleinen Abstechern in London, in den USA und noch kleineren im Rest der Welt.
    „Der Ausdruck (Belle Èpoque) für diese Zeit des Friedens zwischen der katastrophalen französischen Niederlage von 1870/71 und dem katastrophalen französischen Sieg von 1914-18 hielt erst 1940/41 in die Sprache Einzug und war der Inbegriff von Friede und Freude, von Glamour mit mehr als nur einem Hauch von Dekadenz, eine letzte Blüte der Künste und letzte Blüte einer High Society, bevor dieses kuschelige Fantasiegebilde – mit einiger Verspätung – vom metallischen 20. Jahrhundert hinweggefegt wurde.“ (vgl. S. 34/35)

    Insofern steht nicht der normale Bürger im Zentrum, sondern eben jene High Society bestehend aus Adeligen, Künstlern und Mäzenen, die Einlass zu dieser Welt hatten. Barnes beginnt mit einer Einkaufstour dreier Franzosen unterschiedlichen Alters im Juni 1885 in London. Sehr eloquent werden die Teilnehmer vorgestellt, die gleichzeitig wiederkehrende Hauptpersonen dieses Buches sind: Der Bürgerliche Dr. Samuel Pozzi wird als charmanter, ehrgeiziger und erfolgreicher Arzt beschrieben. Der Prinz Edmond de Polignac, gilt als eher zurückhaltender heimlicher Homosexueller, der unerfüllte musikalische Ambitionen hegt. Der Graf Robert de Montesquiou-Fezenac ist wohl der Auffälligste, Schillerndste in diesem Trio. Auch er gilt als homosexuell, aber auch gesellig und umtriebig. Man kann ihn sich als Dandy und Connaisseur in Reinkultur vorstellen. Er war dermaßen ein Mann der Gesellschaft, dass er in mehrere Bücher (z.B. von Huysmans oder Proust) als literarische Figur Eingang fand – allerdings nicht zu seinem Gefallen.

    Auch im vorliegenden Buch nimmt der Graf viel Raum ein, man kann ihn als Prototypen eines Dandys begreifen. Durch seine Ich-Bezogenheit, Dekadenz und Arroganz war er bekannt wie ein bunter Hund und stellt einen Gegenentwurf zum zumeist ehrenwerten Dr. Pozzi dar, der als ein Pionier seines Berufsstandes galt. Pozzi verbesserte als Gynäkologe und Chirurg die hygienischen und sonstigen Verhältnisse in Krankenhäusern, brachte Operationstechniken voran und veröffentlichte ein über Jahre populäres medizinisches Standardwerk. Pozzi war ein Weltbürger, der auf seinen Reisen viel lernte und für die eigene Praxis umsetzte. Er hatte zahlreiche Förderer, wurde von seinen Zeitgenossen geschätzt – auch von den Frauen. Angepasst an die Gewohnheiten in der Belle Époque soll er zahlreiche Liebschaften gehabt haben, die auch mit seiner Heirat mit Thèrése Loth-Cazalis im Jahr 1879 nicht endeten, was ihn schon zu Lebzeiten zum Objekt der öffentlichen Gerüchteküche machte. Er selbst verhielt sich in derlei Dingen diskret, so dass sich viele Amouren nicht verifizieren lassen. Sein Familienleben galt allerdings nicht als glücklich – auch Dr. Pozzi hatte seine Schattenseiten.

    Die Epoche selbst liebte das Spekulieren: Gerüchte wurden gern zu bösartigem Klatsch ausgeweitet, auf das sich Presse und Literaten stürzten, so dass sie bald zur Pseudo-Wahrheit mutierten. Besonderes Interesse galt der Sexualität in allen Facetten, insbesondere eben auch „wer mit wem“ und andere pikante Details aus dem Privatleben.

    Abgesehen von der Dreyfus-Affäre ist „Der Mann im roten Rock“ kein Buch, dass sich vertieft mit Politik auseinandersetzt, den Zeitgeist jedoch spitzzüngig einfängt: „Die Franzosen glaubten damals ebenso wie die Briten, sie hätten eine einzigartige mission civilisatrice in der Welt; und wie nicht anders zu erwarten, hielt jede Nation die eigene zivilisatorische Mission für zivilisierter als die der anderen. Auf die Objekte der Zivilisierung wirkte das allerdings anders – wie eine Eroberung.“ (S. 36)
    Darüber hinaus behandelt das Buch die Kunst. Nicht nur die Kunst der Epoche, sondern die Kunst als Ganzes, als Bewahrer und Antiquar: „Die Kunst überdauert persönliche Launen, Familienstolz, gesellschaftliche Dogmen; die Kunst hat immer die Zeit auf ihrer Seite.“ (S.9)

    Barnes lässt uns an seinem umfangreichen Wissen teilhaben. Es tauchen viele historische Figuren auf. Interessantes wird über Schriftsteller Oscar Wilde, Schauspielerin Sarah Bernhardt und viele andere berichtet. Je mehr der Leser bereits über die Epoche weiß, desto mehr wird er vom Buch profitieren können (ansonsten bietet Google eine schnelle Alternative). Doch auch für den Einsteiger bietet der Autor eine Fülle an Eindrücken, Fakten, Gerüchten und Episoden, die ein umfangreiches Panorama der Zeit abbilden. Keinesfalls sollte man sich durch die vielen Namen irritieren lassen, die meiner Meinung nach mehr der Vollständigkeit als dem tieferen Verständnis dienen. Zahlreiche Portraits und Fotografien zeigen Persönlichkeiten der Belle Èpoque. Barnes gliedert sie in seine höchst unterhaltsamen Streifzüge ein. Er koloriert die Blütejahre der französischen Kunst, führt uns in die Salons und Raucherzimmer der gehobenen Gesellschaft, die sich routinemäßig in Duellen misst, um die vermeintliche Ehre wiederherzustellen. Dabei begnügt sich der Autor nicht mit dem Beschreiben: Gezielt nimmt er Stellung zu fragwürdigen Praktiken, verallgemeinert oder überträgt zuweilen auf die Gegenwart.

    Besondere Aufmerksamkeit widmet Barnes auch den Unterschieden zwischen Frankreich und England. Sei es die Stellung der Frau in Ehe und Familie, politische Korrumpierbarkeit, unterschiedliche Rechtsauffassungen oder bestehende Vorurteile: Barnes legt den Finger auf höchst intellektuelle Weise in die Wunde und deckt Widersprüchlichkeiten auf. In seinem Nachwort outet er sich denn auch als überzeugten Europäer und kritisiert den sektiererischen Austritt seines Heimatlandes aus der EU scharf.

    „Der Mann im roten Rock“ ist ein faszinierendes Buch. Es gibt unglaublich viel zu entdecken und bei Bedarf zu vertiefen. Der Autor springt durch die Zeit. Er fordert seine Leser zuweilen, hält sie aber durch seine elegante Schreibweise, durch die unterhaltsamen, interessanten und spannenden Episoden immer bei der Stange. Freunde von Kunst und Literatur werden dieses auch haptisch hochwertig ausgestaltete Buch lieben. Zahlreiche zeitgenössische Zitate sowie zeitlose philosophische Gedanken runden den Text dieses erzählenden Sachbuches ab.

    Außergewöhnlich, elegant und absolut lesenswert!

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  1. La Belle Époque (fast) nur für echte Blaustrümpfe

    Es ist ungewöhnlich eine Rezension mit einem Zitat aus Wikipedia zu beginnen:
    (Die) „Belle Époque ist die Bezeichnung für eine Zeitspanne von etwa 30 Jahren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hauptsächlich in Europa. Eine genaue Datierung kann nicht vorgenommen werden. Meist wird die Zeit von 1884 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 genannt. Für die Zeit vor der Jahrhundertwende ist auch der Begriff Fin de Siècle gebräuchlich.“

    Besser kann man es kaum sagen und genau darum geht es: um einen bestimmten Zeitabschnitt in der Geschichte, und unsere Geschichte in der Geschichte, spielt sich hauptsächlich in Frankreich ab und ein bisschen in England.

    In Frankreich, weil dort die Hauptpersonen der Handlung leben und in England, weil ein Gentleman seinen intellektuell geschärften Blick auf das in vielen Dingen eine Vorreiterrolle spielende England gerichtet hält.

    Dennoch, fanden die Gentleman, waren die Engländerinnen durchweg hässlich und rotgesichtig, die Männer und die Sitten „seltsam“, man hatte natürlich in Frankreich den besseren Geschmack und sah den Leidenschaften der Menschen als einer Art Naturgewalt viel mehr nach als die steifen Engländer, die nur die Ratio gelten lassen.

    Das galt insbesondere vor Gericht. Es war möglich, dass eine durch die Presse angefeindete Frau in eine Redaktion spazierte, den Chefredakteur zu sprechen wünschte, ihn mit einem gerade erworbenen Revolver erschoss und vor Gericht freigesprochen wurde. In England wäre dies undenkbar gewesen. Auch in Frankreich ging das nur, wenn man der Oberschicht angehörte, natürlich.

    In dieser vor spannenden Details wimmelnden Zeit, darunter manche Pikanterien, die uns Jules Barnes genüsslich in die Ohren reibt, er serviert uns Hunderte von kleinen, nicht allgemein bekannten Leckerbissen über Maler, Literaten, Wissenschaftler, Grafen, Prinzen, dem ganzen Gesocks der Oberschicht, also Insiderwissen, sind Barnes Hauptfiguren, ein Graf, ein Prinz und ein Arzt.

    Es handelt sich um die Personen Dr. Samuel Jean de Pozzi, Edmond de Polignac und Robert de Montesquiou.

    Das Hauptinteresse des Autors gilt Pozzi, der altersmäßig von dem jüngeren Grafen M. und dem älteren Prinzen P. eingerahmt ist. Alle drei kannten sich und man unterhielt mehr oder weniger innige Beziehungen zueinander. Über den snobistischen Grafen M. hatte Barnes jedoch am meisten Stoff.

    Barnes umkreist seine Personen. Er umkreist sie mit der Zeit, in der sie leben. Das ist das Raffinerte, aber auch das Blaustrümpfige. Der Mann im Roten Rock ist kein Roman für Lieschen Müller.

    Wenn Barnes sich mehr mit dem Leser als mit seinen Figuren verbündet, indem er immer wieder satirische Nadelstiche über das Geschriebene und die Beschriebenen in den Roman setzt, dann ist er ganz auf der Linie und einig und kongruent mit seinem Thema.

    Auch die Literaten ihrer Zeit vergnügten sich mit derartigen Nadelstichen. Es gab nichts Besseres als sich gegenseitig in ihre Romane einzuschreiben und zu karikieren. Nach Herzenslust und mit spitzer Feder.

    Davon wissen wir heutigen Leser zu wenig und lesen naiv darüber hinweg. Aber mit Barnes Hilfe kommen wir den Satirikern der Zeit auf die Spur.

    Erst so nach und nach enthüllt Julian Barnes die zentralen Ereignisse im Leben der drei Männer, die er ins Auge gefasst hat und darunter imponiert ihm der Arzt und Lebemann Pozzi am meisten. Zu Recht, denn Pozzi war alles und er war überall, wie Barnes immer wieder süffisant feststellt („Pozzi war überall.“ „Pozzi war doch nicht überall.“) Ich höre Barnes kichern.

    Unser Pozzi: Lebemann, Womanizer, Modearzt, Pionier, Professor für Gynäkologie, Erneuerer, Reisender, Literat, Sammler. Politiker mit Homestory. Das titelgebende Bildnis von John Singer Sargent lautet „Dr. Pozzi at home“.

    Pozzi war Ehemann und Vater, wobei er sich in diesen häuslichen Rollen nicht so besonders hervortat. Er führte eine Ehe zur linken Hand und hatte dennoch zahlreiche Affären. Er hatte ein ausgefülltes und reiches Leben. Sogar sein Sterbevorgang war besonders; selbst dabei erwies er sich als kaltblütig und beherzt.

    Die Themen der Zeit werden von Barnes, vergnüglichst mit Klatsch und Tratsch versehen, über den ganzen Roman verteilt: Dabei ist eine seiner Quellen die Tagebücher der Brüder Goncourts, die selber unzertrennlich waren und von denen einer an Syphilis starb. Pikante Details überall. Diese Tagebücher lesen sich wie die Yellow Press heutzutage und ein wenig ist auch Barnes Roman Yellow Press des Fin de Siècle.

    Was macht einen Gentleman aus. Was dürfen Männer? Alles. Was dürfen Frauen? Stillhalten und Leiden.Sie dienen auch als Goldesel: Besonders, wenn sie amerikanische Erbinnen sind, kann man sie heiraten. Heiraten, nicht lieben. Wenn das doch einmal geschieht, finden die anderen Männer dies aus der Art gefallen. Heiraten, ausnehmen, bevormunden, Kinder machen, alleine lassen.

    Die Gerüchteküche kochte fast ständig und oft focht man Verleumdungsklagen vor den Gerichten aus. Doch die französischen Gerichte, ich wollte nicht vor ihnen stehen, hatten viel Nachsicht mit Ideen! Wer also von einer Idee getrieben eine Straftat beging, konnte mit Milde rechnen. Nicht so in England, wo man Oscar Wilde anhand eines Romans den Prozess machte und ihn ins Gefängnis steckte. Homosexualität war in. Gleichzeitig anrüchig. Homosexualität war überall. Nur nicht offiziell. Das intellektuelle Gerangel zwischen England (eigentlich London) und Frankreich (eigentlich Paris) feiert bis heute fröhliche Urständ.

    Ein Gentleman hatte Geschmack und hielt seine Ehre hoch. In Frankreich duellierte man sich, in England versuchte man die Dinge rationaler anzugehen. In Duellen verletzte man sich, Pistolenkugeln flogen hin und her, sie sind ein Schlüsselelement des Romans. And so on. Ich könnte noch stundenlang erzählen.

    Fazit: „Der Mann im roten Rock“ ist eine äußerst originelle und raffiniert aufgebaute Dreier-Biographie, eingebaut in ein vergnügliches Sammelsurium von Kuriositäten und Insiderwissen über das Fin de Siècle beziehungsweise die Belle Epoque.

    Ich gebe eine Leseempfehlung an Blaustrümpfe. Gut, dafür sollte man wissen, was ein Blaustrumpf ist. Smiley.

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  1. "Pozzi, ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit." (188)

    Das erzählende Sachbuch beginnt mit einer Reflektion über den richtigen Erzählanfang:
    1. "Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an." (7)
    Gemeint ist dabei die Hauptfigur Dr. Samuel Pozzi, ein Bürgerlicher, der gemeinsam mit zwei Adligen zur Shopping Tour nach London reist, wobei sie bei Henry James logieren.
    Die anderen beiden sind der Graf Robert de Montesquiou-Fezensac sowie der Prinz Edmond de Polignac.
    Neben den Hauptfirguren wird die Verbindung zwischen Frankreich und England gezogen und wir sind direkt in der Zeit verortet und wissen, warum sie dorthin gereist sind. Klassischer Einstieg in einen Bericht ;)

    2. In seinen Flitterwochen liest Oscar Wilde einen französischen Roman, den er wiederum in "Das Bildnis des Dorian Gray" erwähnt.
    Gemeint ist "´À Rebours" von Joris-Karl von Huysmans, der 1884 erschienen ist (dt. "Gegen den Strich") und dessen Hauptfigur ein 29-jähriger Aristokrat ist, der erhebliche Parallelen zu Montesquiou aufweist, der sich im Verlauf der Ausführungen Barnes als schillernde Figur der Belle Époque erweist, heute würde man ihn einen Prominenten nennen, der die Klatschmagazin ziert.
    „Montesquiou war das Musterbeispiel eines aristokratischen Dandypoeten“ (67)

    Und immer wieder kommt Barnes auf die Unterschiede zwischen Frankreich und England zu sprechen:
    „Als Angehöriger der Mittelschicht, geschweige denn der Arbeiterklasse, konnte man in England schwerlich ein Dandy sein. In Frankreich durfte man in den Kreisen der künstlerischen Boheme ein Dandy sein.“ (67)
    Neben dem Grafen widmet sich Barnes auch dem Leben Oscar Wildes, dessen Prozess, seine Amerikareise finden Erwähnung sowie die Tatsache, dass auch er ein klassischer Dandy gewesen ist.

    3. "Wir könnten auch mit einer Kugel beginnen und mit der Waffe, aus der sie abgeschossen wurde." (7) Kugeln sind ein Leitmotiv. Eine Kugel, die Puschkin getötet haben soll, ist angeblich im Besitz des Grafen Montesquiou. Gleichzeitig verweist die Kugel auch auf die Duelle, die mehrmals thematisiert werden. Eine in Frankreich bis zum 1.Weltkrieg verbreitete Praxis, während sie "in England schon in den 1830er-Jahren aus der Mode gekommen [waren]." (57)
    "Wo war Pozzi bei all diesen wütenden Balgereien, die dieser Clown - die Ehre - angezettelt hatte?" (61)
    Er stand als Arzt zur Stelle und leistete Beistand, womit man zum nächsten möglichen Erzählanfang überleiten kann:

    4. In Kentucky hat im Jahr 1809 Ephraim McDowell erfolgreich die erste Ovarektomie durchgeführt. Anlässlich des 100. Jahrestag dieser Operation reist Pozzi, inzwischen ein erfolgreicher Gynäkologe und der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologie in Frankreich, nach New York (vgl. S.240).

    Dieser Erzählanfang verweist auf Pozzis berufliche Tätigkeit, der als Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie gilt und dessen beruflichen Werdegang Barnes anschaulich darlegt, wobei er vor allem seine Innovationen im Bereich der Hygiene, Operationstechnik, aber auch sein Empathie gegenüber den Patientinnen hervorhebt.
    Barnes beschreibt Pozzi als charmant, gastfreundlich, großzügig, bei allen beliebt, erfolgreich, wissenschaftlicher Atheist, dem jedoch der Ruf vorauseilt, ein notorischer Verführer gewesen zu sein - allein es mangelt an entsprechenden weiblichen Quellen. Gibt es nichts zu erzählen oder schwiegen die Damen?
    Lediglich Pozzis Tochter Catherine äußert sich in ihrem Tagebuch dazu, aber kann man einer Jugendlichen Glauben schenken?

    Die Ehe Pozzis mit Thérèse Loth-Cazalis basierte jedenfalls auf einem Arrangement. Pozzi ist der Überzeugung, sie liebe ihn nicht genug, daher wendet er sich anderen Frauen (Geliebten) zu, seine Frau wahrt jedoch nach außen den Schein, während es im Inneren zu Streitigkeiten und unschönen Szenen gekommen sein soll.
    Die französische Einstellung der Zeit:
    "Die Ehe war lediglich ein Basislager, von dem das abenteuerlustige Herz zu neuen Ufern aufbrach." (51) "Die Briten glaubten an Liebe und Ehe - dass die Liebe zur Ehe führt und darin fortbesteht" (51).

    5. Ein Mann liegt im Bett und "weiß, was er machen soll, er weiß nur nicht, wann und ob er machen kann, was er machen will." (8) Hätte Barnes damit begonnen, hätte er die Geschichte von hinten aufgerollt.
    Der Mann, der im Bett liegt, hat etwas mit Pozzis Tod im Jahr 1918 zu tun (s. auch Erzählanfang 3).

    6. Stattdessen entscheidet sich Barnes dafür, mit einer sehr genauen Bildbeschreibung von "Dr. Pozzi at home" (1881) von John Singer Sargent, das auch das Buchcover ziert, zu beginnen.

    "Mich zog das Porträt von Sargent zu Dr. Pozzi, ich wurde neugierig auf sein Leben und Werk, schrieb dieses Buch und halte das Bild noch immer für ein wahres und elegantes Abbild." (229)

    Wer erwartet, eine Biografie Pozzis zu lesen, wird zwangsläufig enttäuscht. Vielmehr ist der Roman ein Lesebuch der Belle Époque -
    "eine Periode neurotischer, ja hysterischer nationaler Angst, gezeichnet von politischer Instabilität, Krisen und Skandalen" (35) -
    das erzählt, welche politischen Themen à la mode waren, z.B. die Dreyfus-Affäre, welche wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Medizin stattfanden, welche Klatsch- und Tratschgeschichten kursierten - ein Bereich, der sehr viel Raum einnimmt - und vor allem, ein Buch über das "Who´s Who".

    Passend dazu sind ein Teil der Fotografien abgebildet, die Félix Potin von 1898-1922 herausbrachte und die jeweils seiner Tafel Schokolade beigegeben waren.

    "Wie schon viele Biografen festgestellt haben, kann man sich die Freunde seiner wichtigsten Figur leider nicht aussuchen." (83)

    Gemeint ist Jean Lorrain, der neben dem Grafen und dem Prinzen immer wieder Erwähnung findet und der in der Tat sehr unsympathisch wirkt. Zudem steht er in ewiger Konkurrenz zum Grafen, der ihn jedoch ignorierte. In seinem Roman "Monsieur de Phocas" erschuft Lorrain "die zweite literarische Schattenversion von Montesquoiu", wobei insgesamt vier davon existieren.
    In der Leserunde kam die Frage auf, warum dem Leben des Grafen Montesquiou so viel Raum gegeben wird.
    Ich denke, dass der Graf neben der Tatsache, dass er eine berühmte zeitgenössische Person gewesen ist, auch als eine Art Negativfolie wirkt. Ein adliger Dandy, der seine Umgebung manipuliert, ausnutzt und sein Luxusleben genießt, während Pozzi sich als erfolgreicher Arzt einen Namen macht, wobei auch er weit davon entfernt ist, als Heiliger dargestellt zu werden. Barnes selbst begründet sein Interesse an Pozzi damit, dass er "ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit" (188) gewesen ist.

    Polignac ist dagegen "die Sorte Aristokrat, die mühelos zur Revolution anstachelt. Polignac war sanft, verschroben und ziemlich hoffnungsloser Fall: die Sorte Aristokrat, die eher harmlos erscheint und womöglich sogar leichtes Mitleid erregt." (140)
    Die Ehe mit der reichen amerikanischen Erbin Winnaretta Singer verläuft trotz aller Erwartungen harmonisch.

    Ist man zu Beginn von der Vielzahl an Namen überfordert, findet man sich schnell in Barnes scheinbar assoziativem Erzählen von Ereignissen, Figuren, Themen zurecht und genießt das Eintauchen in die Epoche. Neben der Kunst und dem Betrachten von Gemälden wird auch der "Schaffensprozess" selbst sowie die Problematik, eine Biografie zu schreiben, thematisiert.
    „Wir wissen es nicht. Sparsam gebraucht, ist das eine der stärksten Aussagen in der Biografensprache.
    Der Satz ruft uns in Erinnerung, dass die eingängige Lebensbeschreibung, die wir lesen, bei aller Detailfülle und Ausführlichkeit, bei allen Fußnoten, faktischen Gewissheiten und zuversichtlichen Hypothesen nur eine öffentliche Version eines öffentlichen Lebens und eine unvollständige Version eines privaten Lebens sein kann. Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden" (127).

    Auch die Wirkung von Literatur wird diskutiert. Flauberts Leitsatz dazu: „Man kann die Menschheit nicht ändern, man kann sie nur kennen.“ (219)
    Barnes merkt an, die Menschheit zu kennen und sie so zu beschreiben, wie sie ist, sei schon eine Korrekturmaßnahme, da man vieles aus neuer Sicht sehe. Was der Leser bzw. die Leserin daraus mache, liege jedoch nicht mehr im Ermessen des Autors bzw. der Autorin.

    Und was machen wir aus dieser Biografie, die eher eine Kulturgeschichte der Belle Époque ist?
    Lesen, staunen, genießen und Wissen anhäufen, an das wir zu gegebener Zeit, vielleicht bei der nächsten Lektüre, anknüpfen können.

    Vieles wissen wir nicht, aber wir haben viel dazugelernt ;),

    insofern kann ich jedem dieses intellektuelle "Lesebuch" ans Herz legen!

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Meine Hoffnung auf Frieden

Buchseite und Rezensionen zu 'Meine Hoffnung auf Frieden' von Jehan Sadat

Inhaltsangabe zu "Meine Hoffnung auf Frieden"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:224
Verlag: Heyne Verlag
EAN:9783453601482
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Faszination Frida Kahlo

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Rezensionen zu "Faszination Frida Kahlo"

  1. Da hatte ich mehr erwartet

    Klappentext:

    „Die markante Augenbraue, opulente, farbenfrohe Röcke und auffälliger Haarschmuck – Frida Kahlos Kleidungsstil ist bis heute eine Inspirationsquelle für zahlreiche Modedesigner*innen und Stars wie Madonna oder Rihanna. Ihr eigener, unverkennbarer Stil war für die Künstlerin ebenso Ausdruck ihrer Identität wie ein politisches Statement. Mit ihrem traditionellen mexikanischen Kleid entwarf Frida Kahlo eine zweite Haut, eine Leinwand. Sie nutze es als Stilmittel, um auf ihre Werte – wie ihren Wunsch nach einer zentralen Stellung der Frau und Künstlerin in der zeitgenössischen Gesellschaft – aufmerksam zu machen.

    Dieses Buch versammelt die vielseitige Auswahl der von ihr inspirierten Kleider und Kollektionen von den 1930er Jahren bis heute.“

    Ja, sie war mehr als besonders und genau das fasziniert mich an dieser Künstlerin. Umso gespannter war ich auf dieses Buch welches ihre Kleider in den Vordergrund hebt sowie den bekannten Kahlo-Style in der aktuellen Mode beleuchtet. Leider muss ich aber gestehen, sucht man hier die Kleider Kahlos vergeblich. Ein paar bekannte Aufnahmen gehen auf die Opulenz ein aber sie hat doch nicht einfach nur Kleider getragen sondern wahre Kunstwerke! Und genau das fehlt mir in diesem Buch. Warum hat sie diese Kleider so ausstaffiert, welchen Stil hat sie selbst dadurch entwickelt, welche Stoffe hat sie benutzt, welche Farben? All das kommt sehr knapp hier zur Sprache und auch die aktuellen Designer werden recht stiefmütterlich beleuchtet. Die Fotos, die hier gezeigt werden, haben selten etwas mit dem bekannten Kahlo-Style zu tun bzw. findet man bei jeder jeder Internet-Suche ganz automatisch.

    Kurzum: die Aufmachung ist gelungen und genau dafür gibt es auch die drei Sterne aber Frida Kahlos Kleiderstyle wird hier recht trostlos beleuchtet und zeigt leider nicht wirklich auf, warum sie sich so gezeigt hat wie sie eben war. Da sollte man andere Lektüre lesen. 3 von 5 Sterne.

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Der große Trip

Buchseite und Rezensionen zu 'Der große Trip' von Cheryl Strayed

Inhaltsangabe zu "Der große Trip"

Format:Taschenbuch
Seiten:448
EAN:9783442158126
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Schlamm, Schweiß und Tränen

Buchseite und Rezensionen zu 'Schlamm, Schweiß und Tränen' von Bear Grylls

Inhaltsangabe zu "Schlamm, Schweiß und Tränen"

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:538
EAN:
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Landverstand

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Rezensionen zu "Landverstand"

  1. Interessant, wissenswert, lesenswert

    „Allerdings ist das Meinungsklima der vergangenen Jahre durch einige wenige Umweltgruppen viel stärker geprägt, als es deren Fachkompetenz und Wissenschaftstreue rechtfertigen würde.“ (Zitat Seite 9)

    Thema und Inhalt
    Dieses Sachbuch trägt den Untertitel „Was wir über unser Essen wirklich wissen sollten“, und genau darum geht es. Thema sind die vielen unterschiedlichen Aspekte der brisanten Frage, ob das globale Ernährungssystem auch nachhaltig und biologisch funktionieren kann. Damit verbunden die Überlegungen, welche Zugeständnisse in Landwirtschaft, Nahrungsmittelproduktion und Tierhaltung notwendig sind, um die Menschen weltweit ernähren zu können.

    Umsetzung
    Der Autor, Agrarwissenschaftler und Journalist, ist selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er beginnt mit einem Vorwort, welches das Themenfeld beschreibt, die Zielsetzung und seine Intentionen. Es folgen neun in Abschnitte unterteilte Kapitel. Die vielfältigen Themenkreise beginnen mit dem Urprinzip der Landwirtschaft und führen weiter über die Bedeutung der Landnutzung für das Klima und entsprechende Lösungsansätze, und zu den Fragen rund um den Schutz der Artenvielfalt. In den letzten drei Kapiteln geht es um die heftig diskutierten und sehr umstrittenen Themen Kunstdünger, Pestizide und Gentechnik. Jedes Kapitel stellt Vorstellungen, Forschung und Praxis in einen größeren Kontext und endet mit einer kurzen Zusammenfassung. Kapitel zehn ist ein persönliches Resümee des Autors, gefolgt von einem Anhang mit den Quellenangaben zu den verwendeten Statistiken und Forschungsberichten. Die Sprache entspricht den wissenschaftlichen, informativen Anforderungen von Sachliteratur, ohne jedoch fachlich überladen zu sein. Dadurch ist sie sehr gut lesbar und bleibt verständlich. Auf Seite 172 fragt er uns Lesende: „Sind Sie noch da?“ und ich persönlich konnte antworten: „Klar, Sie haben mich auf keiner Seite und keine Minute lang verloren.“

    Fazit
    Auch wenn man, wie auch ich, in einzelnen Kapiteln und Aussagen sicher nicht die Meinung des Autors teilen wird, ist dieses Sachbuch eine wichtige, sehr interessant zu lesende und umfassend recherchierte Zusammenfassung der derzeit wichtigsten Themen und vielseitigen Aspekte im Zusammenhang mit Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Ernährung. Der Autor stellt viele Fragen, zeigt mögliche Antworten aus Sicht der Landwirtschaft, untermauert diese mit Untersuchungen des Weltklimarates. Er selbst fordert in seinem Resümee auf, dieses Buch, aber auch alle Statistiken und Informationen der Umwelt-NGOs kritisch zu hinterfragen. Dieses Buch brachte mir perönlich nicht nur mehr aktuelle Fakten und dadurch mehr Wissen zu den Themenschwerpunkten der Kapitel sieben bis neun, sondern führte zum Nach- und teilweisen Umdenken in meiner bisherigen Meinung.

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Waldnatur

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Rezensionen zu "Waldnatur"

  1. Absolute Leseempfehlung!

    Klappentext:

    „Der Wald bedeutet für jeden etwas anderes: Für die einen ist er ein wichtiger Klimaschützer, für andere ein Raum der Erholung oder sportlichen Betätigung, für die nächsten ein wirtschaftlicher Faktor, der Holz zu liefern hat.

    Josef H. Reichholf nimmt uns mit auf eine Reise in heimische Wälder, klärt auf und begeistert, ordnet ein und überrascht. Er durchwandert urwaldartige Auwälder und Fichtenforste; erkundet den blühenden Frühsommer ebenso wie den vermeintlich kargen Winter; blickt zurück in die Geschichte der Waldnutzung und voraus in die ungewisse Zukunft vieler Baumarten. Indem er das große Ganze ebenso betrachtet wie mikroskopisch kleine Vorgänge, macht er die Vielfalt der Natur im Wald greifbar und liefert eine augenöffnende Einführung in einen der wichtigsten Lebensräume unseres Planeten.“

    Die Reihe von Josef H. Reichholf wird mit diesem zweiten Band fortgesetzt. Beleuchtet wird dieses Mal der Wald. Ja, er ist ein Aufklärer von der ersten Seite des Buches an. Er versteht auch hier den Leser vom ersten Anschnitt an zu fesseln, ihm die Natur praktisch zu Füßen zu legen. Er beleuchtet wieder unheimlich detailliert die Jahreszeiten, die Pflanzen die dann wachsen, die Tiere die dort leben, kurzum: die Flora und Fauna bis ins Detail. Den Wald nutzen wir Menschen in gewisser Weiße aber wie macht man es richtig? Wie wird man ein „g‘scheiter“ Waldbauer? Viele Fragen und noch mehr Antworten liefert Reichholf in diesem Buch. Schnell wird klar - wir leben mit dem Wald und der Wald mit uns - aber mit gegenseitigem Respekt Bitteschön. Ohne unsere Wälder wären wir verloren und das wird nicht erst zum Ende des Buches hin klar! Reichholf hat immer wieder Botschaften „versteckt“ die eines klar und deutlich machen - Schutz für die Natur!

    5 von 5 Sterne für dieses tolle Buch!

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Wildes Land

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Rezensionen zu "Wildes Land"

  1. Die Natur holt sich alles zurück, wenn man sie nur lässt

    !ein Lesehighlight 2022!

    Klappentext:

    „An stillen Junitagen kann man auf dem Landgut Knepp in West Sussex wieder das unverkennbare Gurren der selten gewordenen Turteltauben hören. Ein wahres Wunder für das ehemals intensiv bewirtschaftete Agrar- und Weideland, das nur 70 Kilometer vom Londoner Stadtzentrum entfernt liegt. Auch die in Großbritannien bedrohten Waldohreulen und Wanderfalken sowie zahlreiche Tagfalter- und Pflanzenarten siedeln sich nun in Knepp an, und jedes Jahr kommen neue hinzu.

    Als Isabella Tree mit ihrem Mann das wegweisende Renaturierungsprojekt initiierte, ahnte sie noch nichts von

    der Geschwindigkeit, mit der sich die Natur erholen kann. Trees persönlich geschriebene, faszinierende Geschichte handelt von der Schönheit und Kraft der Natur und gibt Hoffnung.“

    Land wieder urbar zu machen, kennt man ja schon aus der Literatur bzw. sieht es oft mit eigenen Augen wenn man sich für seine Flora und Fauna interessiert. Hier wurde das Projekt nur etwas akribischer und intensiver durchgeführt als anderswo. In „Wildes Land“ beschreiben Isabella Tree und ihr Mann wie sie ihr Landgut in West Sussex wieder renaturiert haben. Ich muss gestehen, für mich las sich diese Geschichte wie ein packender Roman! Ich war von der Idee der beiden komplett begeistert und gespannt was mich nun hier als Leser erwartet. Es scheint schier unglaublich was die Trees hier erzählen und doch kennt man es: die Natur holt sich alles zurück, wenn man sie nur lässt. Die Trees beschreiben eindrücklich ihr Handeln und ihre Grundgedanken dahinter, wir erleben als Leser das Wachsen und Werden der Natur fast hautnah - besser geht es nicht. Es gibt Tiefpunkte aber auch Höhen und wenn man bedenkt das die Natur hier wieder zum Herrscher über die Grashalme wurde und die Tiere wieder einen neuen, alten Lebensraum gefunden haben, rührt das unheimlich an den Gefühlen. Einfach nur wunderschön! Auf dem Landgut Knepp ist wieder Leben eingezogen aber der anderen Art und es ist erstaunlich wie und warum die Tiere wiederkommen. Als Natur-Begeisterter hat man hier seine wahre Wonne das Buch zu lesen. Man bekommt Lust es ihnen nachzumachen, nur fehlt bei vielen vielleicht einfach die Fläche, aber warum nicht mal mit Gemeinde- oder Stadtverwaltung sprechen, mit dem Bauern nebenan? Vieles ist machbar wenn wir es nur wollen! Familie Tree hat hiermit wunderbare Einblicke aber auch ein gewisses Statement gesetzt. Ich bin schwer beeindruckt von dem Buch und vergebe 5 von 5 Sterne!

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Kopfarbeit

Buchseite und Rezensionen zu 'Kopfarbeit' von Dr. Peter Vajkoczy
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Kopfarbeit"

Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag der Neuro-Chirurgie - und in das menschliche Gehirn: Ein weltweit renommierter Gehirn-Chirurg erzählt von außergewöhnlichen Fällen und seinem Alltag im Operations-Saal. Das faszinierende Sachbuch zum Thema Gehirn-Chirurgie und Neuro-Wissenschaft. Prof. Dr. Peter Vajkoczy ist Direktor der Klinik für Neuro-Chirurgie an der Berliner Charité. Bis zu hundert Patienten aus aller Welt betreut er auf seinen drei Stationen und führt mit seinem Team bis zu fünf, sechs Operationen pro Tag durch – meist geht es um Schlaganfälle, Gehirntumore, Bypässe und Störungen an der Wirbelsäule. Diese Operationen sind körperlich anstrengend, oft zermürbend lang und hochkompliziert. Und alles spielt sich im Mikrobereich ab: Der Operateur sieht das, was er tut, nur durch ein Mikroskop in bis zu vierzigfacher Vergrößerung und näht mit Fäden, die nur wenige Hundertstel Millimeter Durchmesser haben. Auch wenn oft behauptet wird, es seien Wunder, die Prof. Vajkoczy und sein Team vollbringen - es ist vor allem das routinierte Zusammenspiel von jahrelang geschulten Spezialisten, modernster Technologie und der Bereitschaft, auch neue Wege zu gehen, um Heilung möglich zu machen. Doch all dies ist keine Garantie, dass das gewünschte Ziel erreicht wird. Geht etwas schief, ist die Gefahr groß, dass Patienten nur mit schweren Behinderungen oder im schlimmsten Fall gar nicht überleben. Es ist ein schmaler Grat, auf dem Prof. Vajkoczy und sein Team unterwegs sind, und zwar immer, an jedem Tag, bei jeder Operation, selbst wenn sie noch so beherrschbar scheint. In aufrichtiger Offenheit erzählt Prof. Vajkoczy, wie er und sein Team mit dieser Herausforderung umgehen, wie schwierigste Operationen geplant und ausgeführt werden, was ihn als Neuro-Chirurgen antreibt und was er fühlt, wenn er scheitert - und wenn sein Plan gelingt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:336
Verlag: Droemer HC
EAN:9783426278147
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Rezensionen zu "Kopfarbeit"

  1. interessant

    In dem Buch" Kopfarbeit" berichtet der Autor aus seinem Berufsalltag. Was sehr ungewöhnlich ist, ist er doch Neurochirurg, also in einem Beruf tätig, der fernab der Öffentlichkeit stattfindet. Ich liebe ja Sachbücher über medizinische Tätigkeiten und dieses Buch hat mich staunend zurückgelassen, darüber, was heutzutage alles medizinisch möglich ist. Mal ehrlich, "die wühlen in menschlichen Gehirnen", wobei es wühlen ja nicht wirklich trifft. Das ist absolute Präzisionsarbeit, wo in tausendstel Millimetern gerechnet und operiert wird. Und, auch das fand ich sehr unglaublich und berührend, die Überlebensrate ist gar nicht mal so schlecht. Der Autor hat die Fälle persönlich ausgesucht und alles ist aus erster Hand, der Autor hat nämlich selber operiert. Einige der Geschichten sind mir wirklich sehr zu Herzen gegangen und ich bewundere den Mut solcher Menschen, die sich trauen , an solch diffizilen Gewebestrukturen zu arbeiten. Ein falscher Handgriff und der Patient ist tot. Solch einen Mut muss man erst einmal haben. Der Sprachstil ist sehr verständlich und der Autor schafft es mit jeder Geschichte dem Leser sowohl die menschliche, als auch die medizinische Seite verständlich und empathisch zu erklären. Natürlich klingt auch immer ein wenig Enthusiasmus dem eigenen Handeln gegenüber mit , aber wie soll man etwas beschreiben, was nur extrem wenige Menschen auf der Welt in dieser Perfektion beherrschen? Das fand ich unter dem Aspekt völlig in Ordnung.
    Ich bin auf jeden Fall wieder ein wenig schlauer auf einem Gebiet, mit dem ich mich zuvor noch nie befasst hatte, ich durfte ein tolles berührendes Buch lesen und ich danke dem Autor, dass er den Mut hatte gewillten Lesern diese wunderbare Welt einmal etwas näherzubringen.
    Zwei kleine Dinge hätte ich am Rande zu bemängeln: Der Autor hat in seinem Buch nie wirklich beschrieben, wie die Abläufe in der Klinik an sich sind. Also, was passiert, wenn sich zwei Leute des OP Teams mit Magen – Darm plötzlich und unerwartet krankmelden, oder eine OP dauert viel länger als geplant , wechselt dann das OP-Team , weil eine Mami ihr Kind aus dem Kindergarten abholen muss?
    Solch alltäglichen Nebensächlichkeiten haben mir tatsächlich ein wenig gefehlt. Und Kritikpunkt Nummer zwei hat mich zwischendurch beinahe dazu veranlasst einen Stern abziehen zu wollen: Was bitte hat Gendersprache in einem Sachbuch verloren? Kurzer Satz auf die erste Seite : Hiermit stellen wir klar , dass ein Neurochirurg natürlich alle Geschlechter haben darf, die es heutzutage so gibt , aber um des Leseflusses willen wird in diesem Buch nur die nominal männliche Schreibweise benutzt, wir bitten um Ihr Verständnis liebe Leser "
    Oder für mich noch einfacher: Bitte liebe Verlage druckt bitte in Zukunft einen Vermerk auf das Cover :" Achtung das Buch enthält Gendersprache“ , dann würde ich getrost die Finger davon lassen.
    Zum Glück bezog sich das Gendern nur auf einige wenige Ausdrücke und Berufsbezeichnungen , zumeist hat der Autor seine Mitprotagonisten namentlich erwähnt, was ich ganz, ganz toll fand, deshalb bleibt es bei fünf Sternen.

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