Falls ich da war, habe ich nichts gesehen

Buchseite und Rezensionen zu 'Falls ich da war, habe ich nichts gesehen' von Michela Marzano

Inhaltsangabe zu "Falls ich da war, habe ich nichts gesehen"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:368
Verlag: Eichborn
EAN:9783847901501
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The Marmalade Diaries

Buchseite und Rezensionen zu 'The Marmalade Diaries' von Ben Aitken
4
4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "The Marmalade Diaries"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:352
EAN:9783832168193
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Rezensionen zu "The Marmalade Diaries"

  1. Toast?

    Ben ist in London auf der Suche nach einem bezahlbaren Zimmer, als er eine Anzeige entdeckt. Es wird ein Zimmer in einem Haus für zweihundert Pfund angeboten. Ganz passabel für die Hauptstadt. Alles was man dafür tun muss, ist die 85jährige Witwe, der das Haus gehört, im Alltag zu unterstützen.
    Kein Problem, denkt sich der junge Mann und bezieht das freistehende Zimmer. Ben und die ältere Dame namens Winnie haben anfangs ein paar Startschwierigkeiten. Sie brauchen etwas Zeit um sich an die Anwesenheit des anderen, aber auch an dessen Eigenheiten zu gewöhnen. Doch schon bald haben sie sich an die Gesellschaft des anderen gewöhnt und wollen sie eigentlich nicht mehr missen. Das ist auch gut so, denn beide werden einigen Lockdowns heimgesucht haben viel Zeit, die sie miteinander verbringen müssen.

    Der Autor Ben Aitken ist eigentlich Journalist und ist in der ganzen Welt für seine Reprotagen unterwegs. In seinem aktuellen Buch schreibt er von seiner gemeinsamen Zeit mit der 85jährigen alten Dame. Er selbst zog nämlich wirklich kurz vor einem Lockdown bei der Dame ein.
    In tagebuchartigen Abschnitten erzählt er von seiner Zeit als „Untermieter“. Ben Aitken schreibt unterhaltsam, detailreich und interessant. Anfangs gelingt es dem Autor seine Leserschaft mitzunehmen. Man erhält einen guten Einblick in den Alltag der beiden Protagonisten und erfährt ziemlich viel von Winnis Vergangenheit, ihren Gewohnheiten und Einstellungen.
    Die beiden Protagonisten befinden sich in unterschiedlichen Lebensphase. Ben ist jung, die Welt steht ihm grundsätzlich offen, kurzum er steht mitten im Leben. Winni befindet sich in ihrem letzten Lebensabschnitt, konnte viel Lebenserfahrung sammeln und leidet nun an Demenz. Es machte mich neugierig, wie sich die Geschichte zwischen zwei so unterschiedlichen Charakteren entwickeln wird.
    Das Buch beginnt zunächst interessant und sehr vielversprechend. Doch an irgendeinem Punkt driftet Ben Aitkens in eine aneinander Reihung von Tagesabläufen und belanglosen Bemerkungen ab. Der Handlungsstrang „fließt“ ohne nennenswerte Ereignisse dahin. Unterbrochen werden diese „Längen“ zwar von lustigen Situationen und interessanten Gesprächen zwischen Winnie und Ben, dennoch hat sich meine anfängliche Begeisterung nicht halten können.

    Fazit:
    Eine anfänglich interessante Geschichte, die sich später künstlich in die Länge zieht.

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  1. Eine wahre Geschichte

    !ein Lesehighlight 2023!

    Klappentext:

    „LONDON 2020: Ben ist Mitte dreißig und sucht händeringend eine Wohnung. Winnie ist Mitte achtzig und braucht jemanden, der ihr in ihrem großen Haus zur Hand geht (und potenzielle Einbrecher abschreckt). Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Hoffentlich, denn bald muss das ungleiche Paar ungeahnt eng zusammenrücken. Was folgt, ist ein Jahr, in dem Ben viel über das Leben lernt. Ob bei Toast mit selbstgemachter Orangenmarmelade, der täglichen Lektüre der Times oder beim gemeinsamen Gucken der Serie The Crown: Die eigenwillige und einnehmende Winnie schöpft aus den Erfahrungen eines langen Lebens und hat so einige Weisheiten für Ben parat.

    ›The Marmalade Diaries‹ erzählt von einer Frau, die unbeirrbar ihren eigenen Weg gegangen ist, und zeigt, dass es nie zu spät ist, neue Freundschaften zu schließen.“

    Wenn Sie an England denken, denken Sie automatisch an Lemon Curd und Orange Marmalade? Ja, da haben Sie recht und genau diese Orangenmarmelade hat in dem Roman von Ben Aitken einen sehr hohen Stellenwert. Sein gleichnamiger Protagonist (es ist seine wahre Geschichte) ist in seinem Buch „The Marmelade Diaries“ auf verzweifelter Wohnungssuche und Winnie ist mit ihren mehr als achtzig Jahren auf der Suche nach einer Menschenseele, die sie versteht und hier und da ein wenig unterstützt auf den letzten Metern ihres Lebens und gegen die Einsamkeit ankämpft. Eigentlich weiß man als Leser bereits wie die Geschichte ausgehen wird aber dennoch ist sie lesenswert, denn sie beinhaltet nicht nur die Geschichte der Beiden und ihrer WG sondern auch Respekt voreinander, der in der heutigen Zeit mehr als oft verloren geht, auf die Neugier des Lebens in seinen unterschiedlichen Altersklassen und deren Gewohnheiten und Sichtweisen und so viel mehr. Ja, die beiden leben irgendwann zusammen in einer Art Wohngemeinschaft und profitieren voneinander. Auch wenn es hier und da schwierig ist, die Dinge das anderen zu akzeptieren und zu respektieren, so gewinnen doch beide nur an Erfahrung und Lebensfreude. Winnie wird für Ben zu einer Art Mentorin und Ben zeigt Winnie die Zeit von Heute. Das einkochen von Orangenmarmelade (wie das Cover bereits zeigt) wird der unauffällige, dezente rote Faden der Geschichte und für Beide eine Art Klebstoff. Aitken schreibt unheimlich zart und ruhig diese Geschichte und es sind wahre Begebenheiten die hier zu lesen sind. Die schrullige Winnie und der junge Ben - beide haben ihren Lebensrucksack zu tragen und als der Lockdown allem aktiven Leben einen Riegel vorschiebt, rücken beide zusammen und sind zumindest nicht allein mit ihren Sorgen, Problemen und Nöten. Davon haben beide nämlich eine Menge und diese erzählen sie sich. Die Schreibform ist wie ein Tagebuch niedergeschrieben und als Leser ist man gespannt wie die Geschichten ihren Lauf nehmen. Diese Schreibform kann oft langweilig erscheinen, aber hier war genau das Gegenteil der Fall. Aitken weiß den Leser zu fesseln ohne ihn dabei zu erdrücken oder mit sinnlosen Geschichten zu langweilen. Als Fazit bleibt mir hier nur abschließend: Die Geschichte handelt von Menschlichkeit, Sensibilität und dem Respekt vor dem Leben egal wie alt man ist. Nichts ist selbstverständlich, nur muss man den Strohhalm auch greifen, der einem hingehalten wird!

    Sie merken schon, die Geschichte hat auch philosophische und mehr als nachdenkliche Punkte in petto und genau deshalb kann ich sie auch so empfehlen zu lesen! Und um das Rezept mit der Orangenmarmelade kommt man hier auch nicht vorbei! Ben Aitken hat Winnie hier verewigt und ihr ein ganz liebevolles Denkmal gesetzt! 5 Sterne hierfür

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  1. Winnie und Ben: eine generationsübergreifende WG

    ‚Generationsübergreifendes Big Brother mit nur 2 Teilnehmern‘, klassifiziert Ben einmal im Tagebuch seine WG mit Winnie. Und es ist wirklich ein interessanter Mix, der da am 21.10.2020 entsteht: Winnie Carter, 85 Jahre und seit 10 Monaten Witwe, 3 Kinder. (Ihre Gedanken drehen sich jedoch ununterbrochen um Arthur, ihren Jüngsten, der mit einer Zerebralparese geboren wurde.) Sie kann sich nicht entspannen, ist ununterbrochen beschäftigt und ihre Liebe zur bittersüßen Orangenmarmelade ist legendär. (Das Rezept davon beschließt das Buch).

    Ben Aitken, 35 Jahre alt, Journalist und Autor, seit 4 Jahren mit seiner Freundin zusammen, war auf Suche nach einer bezahlbaren Wohnung in London.

    Der Lockdown überraschte dann beide. Und wir erleben – wie in jeder Beziehung – die verschiedenen Phasen: nach der anfänglichen Begeisterung, da alles neu und unbekannt ist, folgt die Ernüchterung, wo die Marotten des anderen einfach nerven. Und dann kommt, wenn die Beziehung nicht vorher beendet wurde, der Zustand, in der nicht nur toleriert wird, sondern die jeweiligen Marotten auch als amüsant, inspirierend und verblüffend empfunden werden. (Ich fand den Umgang von Ben mit Winnie sehr liebevoll und geduldig - ich weiß nicht, ob mir das immer so gelungen wäre!)

    Außerdem lernen wir den englischen Alltag mit seiner ‚Kulinarik‘, dem sozialen Leben, den Vorlieben für Gärten und seinen Fernsehprogrammen kennen – die Anmerkungen waren da sehr hilfreich. Gefallen haben mir außerdem die philosophischen Gedanken über das Alter und die Einstellung dazu.

    Das Tagebuch, mit Einschüben mit wichtigen Jahreszahlen und deren Ereignisse aus Winnies Leben, hat mich mit seinen witzigen und frechen Dialogen gut unterhalten. 4 Sterne vergebe ich deshalb und empfehle diese andersartige, aber amüsante und lohnende Lektüre.

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Zwischen ihnen: Erinnerungen an meine Eltern

Buchseite und Rezensionen zu 'Zwischen ihnen: Erinnerungen an meine Eltern' von Richard Ford

Inhaltsangabe zu "Zwischen ihnen: Erinnerungen an meine Eltern"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:144
EAN:9783423147026
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Alle meine Geister

Buchseite und Rezensionen zu 'Alle meine Geister' von Uwe Timm
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Alle meine Geister"

Hamburg 1955 – der noch 14-jährige Uwe wird von seinem Vater, dem Inhaber eines Pelzgeschäfts, in die Kürschnerlehre gegeben. Im Takt der Stechuhren lernt der junge Mann die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, schult den Blick für das Material, die Kundinnen, die Tücken und Geheimnisse dieser Kunst. Er lauscht den Geschichten der Kollegen, schließt Freundschaften, bekommt Bücher empfohlen, entdeckt die Stadt und den Jazz. Der Lehrling, der vom Schreiben träumt, liest heimlich im Sortierzimmer Salinger und Camus, begleitet den »roten Erik« auf die Reeperbahn, erkundet mit dem Kollegen Johnny-Look, reichlich schüchtern noch, die Liebe, wird von Meister Kruse politisch initiiert und streitet sich nun umso intensiver mit dem Vater über die NS-Zeit. Inzwischen ist auf dem Pelzmarkt ein Preiskampf ausgebrochen, das Kürschnergeschäft der Familie floriert nicht mehr, und als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, muss der 18-Jährige ein völlig überschuldetes Geschäft sanieren. Die harte Arbeit und die großen Sorgen bringen ihn nicht ab von der Vorstellung eines ganz anderen Lebens. Ein großartiges Buch der Erinnerungen und des Aufbruchs, präzise und poetisch. Ein sprechendes Zeitbild, ein Initiationsroman der Liebe, des Lesens, des Arbeitens und Träumens.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
EAN:9783462005493
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Rezensionen zu "Alle meine Geister"

  1. "Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen"

    Uwe Timm (Jahrgang 1940) ist einer der großen deutschen Erzähler. Er hat schon viele bedeutsame Romane vorgelegt, in denen sowohl historische wie auch biografische Stoffe verarbeitet werden. „Alle meine Geister“ ist ein Alterswerk im besten Sinn, in dem der Autor wesentliche Stationen und Begegnungen seines Lebens noch einmal Revue passieren lässt. Teilweise ist der Text chronologisch fortlaufend, teilweise wird er aber auch immer wieder unterbrochen – eben durch die „Geister der Erinnerung“, die dem Autor plötzlich eine andere Episode oder eine sein Leben prägende Figur ins Gedächtnis rufen. Das liest sich zwar durchaus kurzweilig und unterhaltsam, treibt aber auch vom Hauptthema weg, was sich immer mal wieder wie ein Cliffhanger anfühlt oder den Text fragmentarisch erscheinen lässt.

    Durch den Kriegstod seines älteren Bruders lagen die Erwartungen der Eltern auf Uwe, das väterliche Pelzgeschäft zu übernehmen. Mit 15 Jahren wird er deshalb in einem befreundeten Hamburger Betrieb als Kürschner in die Lehre gegeben, obwohl er viel lieber das Abitur gemacht und studiert hätte. Doch die Zeiten waren schwer, die Nachkriegsgeneration durfte sich selten frei entfalten.

    Als Leser lernt man ein ausgestorbenes Handwerk kennen. Man staunt über Sorgfalt, Geschick, Passion und Respekt, die offenbar zur Ausübung dieses Berufs notwendig sind. Timm erklärt die einzelnen Ausbildungsschritte hervorragend, lässt auch das Zwischenmenschliche nicht aus, indem er die Beobachtungen des aufmerksamen Lehrlings wiedergibt. Deutlich wird auch Timms Liebe zur Literatur. Er nutzt jede freie Stunde zum Lesen, oft auch verbotenerweise in der Sortierwerkstatt. Es verwundert daher nicht, dass der Autor auch die Lektüren, die für sein Leben wichtig waren, in diesem Buch zitiert und vorstellt. Er arbeitet ebenso heraus, wie nahe das Kürschnerhandwerk dem Schreiben ist: „…dieses Umbauen, Ausbessern, Ausstreichen, Überschreiben, Verschieben von Textteilen, diese dem Handwerk so nahe Arbeitsweise.“ Die Arbeit als Kürschner hat Timm demnach zu einem guten Schriftsteller gemacht.

    1958 muss Uwe das hoch verschuldete Pelzgeschäft seines Vaters übernehmen, die schwierige Sanierung gelingt. Parallel zur Arbeit dort holt Uwe das Abitur nach. Seinen Traum, Philosophie und Germanistik zu studieren, verliert er nicht aus den Augen, bis es 1964 endlich soweit ist. Die Mutter führt zu diesem Zeitpunkt das Geschäft weiter, bis der Pelz auch durch die Massenpelztierhaltung in Misskredit gerät und zum Verkauf des Ladens zwingt.

    Vieles erzählt Timm mit einem Augenzwinkern, er blickt zufrieden und ohne Groll auf sein Leben zurück. Man folgt seinen Anekdoten und Geschichten aus der Jugendzeit gern, zu denen auch eine kritische Auseinandersetzung über die Verantwortung der Elterngeneration am Nationalsozialismus sowie eigene politische Ansichten gehören. Der Autor scheint immer vertrauensvolle Mentoren und zuverlässige Freunde um sich gehabt zu haben, auch Liebesgeschichten tauchen vereinzelt auf.

    Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Bestimmt können Leser/innen, die Uwe Timms Gesamtwerk sowie die vielen literarischen Bezüge kennen, noch mehr mit diesem Erinnerungsbuch anfangen. Aber auch ohne dieses Verständnis ist der Text leicht zugänglich, allerdings muss man sich auf einige (Gedanken-)sprünge einlassen können.

    Leseempfehlung!

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  1. Handwerk und Schreiben

    "Der die Existenz bestimmende Zufall bringt die Freiheit der Wahl mit sich, jemand, der ein gutes Blatt bekommen hat, kann ein schlechtes Spiel machen und verlieren, ein anderer mit schlechten Karten macht ein gutes, überlegtes Spiel und gewinnt." (S. 164)

    Ein Buch des 1940 in Hamburg geborenen Uwe Timm zur Hand zu nehmen, heißt für mich, mit den ersten Sätzen in der Lektüre anzukommen. Besonders gilt das für seine Erinnerungsbücher. "Alle meine Geister" reiht sich zeitlich nach "Am Beispiel meines Bruders" (2003) ein, in dem Uwe Timm auf höchst ergreifende Weise dem Schicksal seines 1943 gefallenen Bruders nachspürt und der Frage, warum der sich als 18-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS meldete. Am Ende von "Alle meine Geister" steht der Aufbruch aus der Enge Hamburgs ans Braunschweig-Kolleg, wo Uwe Timm sich ab 1961 zusammen mit Benno Ohnesorg auf sein Abitur vorbereitete, Stoff von "Der Freund und der Fremde" (2005).

    Kein Wunschberuf
    Den Beruf des Kürschners hatte sich Uwe Timm nicht ausgesucht, genauso wenig wie sein Vater, dessen Einstieg in die Selbstständigkeit im Pelzgeschäft der Fund einer Pelznähmaschine im Nachkriegs-Hamburg war. Nun wurde der Sohn, der einer Rechtschreibschwäche nach väterlicher Ansicht nicht zum Abitur taugte, als knapp Fünfzehnjähriger beim Hamburger Platzhirsch, dem soliden Pelz- und Modehaus Levermann in die Lehre geschickt, um einen Nachfolger für Pelze Timm auszubilden.

    Prägende Jahre verbrachte der junge Uwe Timm in der streng hierarchisch geprägten Werkstatt nahe dem Rathaus, lernte die heute nahezu vergessenen Fertigkeiten, das Vokabular und die jahrhundertealten Geheimnisse der Kürschnerei, hörte die Geschichten der Meister, Gesellen, Näherinnen und Kundinnen von Krieg, Heldentum, Flucht und Vertreibung, aber auch vom Jazz und von Amerika. Heimlich frönte er im Sortierzimmer dem „zufällige[n], anarchistisch[en] Lesen“ (S. 272) von Roald Amundsen über Salinger, Benn, Dostojewski, Tostoi und Schopenhauer bis Brecht, Camus, Bachmann und Heißenbüttel. Der SS-Staat von Eugen Kogon, entliehen vom Meister Walther Kruse, befeuerte den Dauerkonflikt mit dem Vater über das Schweigen im Nationalsozialismus. Der frühe Tod des Vaters 1958 kurz nach der mit Auszeichnung bestandener Gesellenprüfung des Sohnes beendete nach drei Monaten dessen Besuch des Abendgymnasiums. Obwohl er Pelze Timm bis 1960 in die schwarzen Zahlen zurückführte, übergab Uwe Timm das Geschäft an seine Mutter, um ab 1961 in Braunschweig die Voraussetzungen für ein Studium und die erträumte Schriftstellerlaufbahn zu schaffen.

    Die Möglichkeit des Gelingens
    Ich habe auch dieses dritte Erinnerungsbuch von Uwe Timm mit Freude und Begeisterung gelesen und ihm beim Staunen über Erinnern und Vergessen über die Schulter geblickt:

    "Wie eigentümlich sich Details, ohne ihre tiefere Bedeutung zu verraten, in unsere Erinnerung beharrlich gegen das Vergessen verkapseln." (S. 123)

    "Alle meine Geister" ist eine Hommage an eine, durch veränderte Umstände auch in den Augen des Autors glücklicherweise untergegangene Handwerkstradition, eine Sammlung von Anekdoten und empathisch gezeichneten Porträts, Nachkriegsgeschichte, Entwicklungs- und Bildungsroman und vor allem Zeugnis der Faszination für gute Literatur:

    "Das Erstaunliche ist, dass diese hohe Perfektion nicht entmutigt, sondern ein Versprechen auf die Möglichkeit des Gelingens gibt…" (S. 177)

    Mit den als Kürschner erlernten Fähigkeiten des sorgfältigen Sortierens und Anordnens hat Uwe Timm hier ein exakt solch gelungenes Stück Literatur geschaffen.

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  1. 5
    07. Sep 2023 

    Ein Erinnerungsbuch

    Uwe Timm ist unbestritten einer der ganz Großen der deutschen Gegenwartsliteratur. Nun legt er mit „ Alle meine Geister“ ein
    Erinnerungsbuch vor.
    Es gab schon andere Bücher, in denen Uwe Timm seine eigene Familiengeschichte bzw. sein eigenes Leben zu Literatur gemacht hat. Man denke hier nur an sein berühmtestes Werk, die 2003 erschienene Erzählung „ Am Beispiel meines Bruders“. Hierin erzählt er die Geschichte seines älteren Bruders, der sich als Jugendlicher zur Waffen-SS gemeldet hatte und 1943 an der Ostfront fiel. Oder „ Der Freund und der Fremde“, zwei Jahre später erschienen, über seinen Freund Benno Ohnesorg.
    In „ Alle meine Geister“ geht es um die Jugendjahre des Autors selbst.
    Uwe Timm ist der Nachzügler in der Familie. Nach Kriegsende kehren Mutter und Sohn ins zerstörte Hamburg zurück. Der Vater eröffnet nach der Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft ein Pelzgeschäft in Hamburg. Und für den Vater stand fest, dass sein Sohn einmal das väterliche Geschäft übernehmen würde. Deshalb beginnt der fünfzehnjährige Uwe nach dem Abschluss der Volksschule eine Kürschnerlehre in einem großen Hamburger Pelzgeschäft. Pelze hatten damals noch nicht den schlechten Ruf, den sie heute haben. Im Gegenteil! Wer es sich leisten konnte, trug welche. Und die Kürschnerei war ein hoch angesehenes Handwerk, zählte im Mittelalter zu den „ sieben Höheren Künsten“. Uwe Timm beschreibt nun ziemlich detailliert und voller Leidenschaft, was ein Kürschner können musste, worauf es ankam und was für vielerlei Arten von Fellen es gibt. „Das muss, da der Beruf ausstirbt oder in seiner exklusiven Feinheit bereits ausgestorben ist, so ausführlich beschrieben werden, Mit ihm gehen seine Kenntnisse, seine Handreichungen, Fertigkeiten und auch jahrhundertalte Geheimnisse verloren.“ So lesen sich große Teile des Buches als Würdigung eines Handwerks, das es so nicht mehr gibt.
    Aber Uwe Timm zieht auch eine Analogie zum Schreiben. Nicht nur, dass beim Sortieren und der Suche nach dem passenden Fellstück Zeit war für das Geschichtenerzählen. Auch die Sorgfalt und das genaue Hinsehen sind Eigenschaften, die der Kürschner und der Schriftsteller gleichermaßen beherrschen müssen.
    Außerdem erzählt Uwe Timm von den Menschen, die ihn begleitet haben und von deren Einfluss auf sein Leben. Zahlreiche, z.T. humorvolle Geschichten und Anekdoten durchziehen das Buch. Einer der Gesellen erzählt vom Seekrieg und seinen norwegischen Freundinnen, bringt Jazzplatten mit, die zuhause bei Timms verpönt sind. Ein anderer taucht mit einer „abgetragenen proletarischen Lederjacke“ im mondänen Pelzgeschäft auf und weckt mit seinen Erzählungen vom fernen Amerika die Sehnsucht danach im jungen Uwe.
    Wichtig für den Lehrling wird schließlich auch sein Meister Walter Kruse, ein alter Genosse und Gewerkschaftler. Er vermittelt ihm nicht nur die Feinheiten seines Berufes, sondern auch einen „kritischen Blick auf die Gesellschaft und auf die deutsche Geschichte“. Damit beginnt gleichzeitig der Streit mit seinem Vater über die Verantwortung der Elterngeneration am Dritten Reich.

    In jeder Lebensphase waren Bücher für Uwe Timm elementar. Auch davon schreibt er, von seinen Lektüren und den Menschen, die sie ihm nahegebracht haben. War es anfangs die Mutter, die ihm vorlas, „ Grimms Märchen“ und die „ Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“, so sind es später Arbeitskollegen und Weggefährten, die seine Lektüre beeinflussen.
    Der eine bringt ihn mit amerikanischer Literatur, Salinger und Hemingway, in Kontakt, Meister Kruse empfiehlt die Russen, Lermontow, Turgenjew und vor allem Gogol. Danach hat Uwe Timm Dostojewski gelesen, „Roman um Roman“, die Figur des „ Idioten“ Fürst Myschkin war ihm „ wie ein Bruder nah“.
    Benn - Gedichte werden von einem Kollegen zitiert. Da stört den Siebzehnjährigen, dass dieser „ die Verse wie Einwickelpapier für seine Meinungen benutzte.“ Kafkas „ Verwandlung“ bringt ihm einen neuen Blick auf den Beruf des Kürschners, eine Verpflichtung, durch sorgsame Arbeit dem Tod der Tiere „ Achtung zu zollen“.
    All diese Leseerfahrungen bestätigten den jungen Uwe Timm in seinem Wunsch zu schreiben.
    Doch dafür war vorerst keine Zeit. Kurz nach der bestandenen Lehre ( als Lehrlingsbester seiner Zunft in Hamburg ) stirbt überraschend der Vater an einem Herzschlag, erst 58 Jahre alt. Der 18jährige Uwe Timm übernimmt das hochverschuldete Geschäft seines Vaters und schafft es, gemeinsam mit der Mutter und der älteren Schwester, den Betrieb wieder rentabel zu machen.
    Doch die Zeiten für das Kürschnerhandwerk gehen zu Ende. Nicht nur, weil das Geschäft mit dem Leid und dem Tod so vieler Tiere in Verruf geraten war, sondern auch wegen dem Strukturwandel. Die Luxusware Pelz wurde zu einem billigen Massenprodukt, Pelze aus Kunstfasern waren gefragt.
    Und als die über 80jährige Mutter eines Tages ihr Geschäft aufschließen will, prangt am Schaufenster das Wort „ Mörder“. Das war das Ende von „ Pelze Timm“, das Geschäft wurde verkauft.
    Uwe Timm bewirbt sich nun am Braunschweig- Kolleg, wo er mit einem Stipendium in zwei Jahren sein Abitur nachholen kann und wo später der gelernte Dekorateur Benno Ohnesorg sein Mitschüler und Freund werden würde.
    Hier endet das Buch und man darf hoffen, dass Uwe Timm seine Erinnerungen in einem weiteren Band fortführt .
    Natürlich waren auch Mädchen ein Thema für den jungen Uwe Timm. Doch anfangs ist er viel zu schüchtern, um selbst die Initiative zu ergreifen. Erst bei einer Ferienreise nach Schweden mit einem Freund kommt es zu einer Nacht mit einer hübschen Schwedin. Im Reisegepäck hatte Uwe Timm passenderweise Henry Millers „ Wendekreis des Krebses“.
    Neben all den Erlebnissen, den eigenen und den von anderen, steht immer wieder die aktuelle Lektüre im Zentrum seiner Erinnerungen. Ob „ Buddenbrooks“ oder „ Anna Karenina“, immer wieder belässt es Uwe Timm nicht bei der Aufzählung der Titel, sondern findet Bezüge zu sich selbst oder liefert kurze Interpretationsansätze. Ganz wichtig für seine weitere Entwicklung sollte Camus „ Der Fremde“ werden. Auch eigene Bücher fließen in den Reflexionsprozess ein.
    Leser, die mit dem Werk von Uwe Timm vertraut sind, werden auf manch Bekanntes stoßen. Andere dürften Lust bekommen haben auf die Romane und Erzählungen des Autors. Dieses Buch hier kann ich nur empfehlen.

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Plötzlich Gutsherrin

Buchseite und Rezensionen zu 'Plötzlich Gutsherrin' von Elisabeth Neufeld-Picciani
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Plötzlich Gutsherrin"

Format:Taschenbuch
Seiten:288
Verlag: Heyne Verlag
EAN:9783453606548
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Rezensionen zu "Plötzlich Gutsherrin"

  1. Wenn man endlich das Glück gefunden hat

    Klappentext:

    „„Als wir das erste Mal auf das etwas heruntergekommene Haus zufuhren, wollte mein Mann am liebsten gleich wieder umkehren. Aber ich hatte mich sofort in das Haus und den Park verliebt. Ich hatte ein wahnsinnig gutes Gefühl an diesem Ort, es war, wie nach Hause zu kommen in eine Oase der Ruhe.“

    Als die Kinder aus dem Haus sind, möchte Elisabeth Neufeld-Picciani noch einmal ganz neu beginnen und fragt sich: Was kann jetzt noch kommen? Wo und wie möchte ich leben? Womit möchte ich meine Zeit füllen?

    Das alte Gutshaus in Volzrade ist wie ein Wink des Schicksals. Es ist heruntergekommen, wurde Jahre lang vernachlässigt und zweckentfremdet und ist doch ein Ort mit Herz und Seele. Stück für Stück renovieren Elisabeth und ihr Mann Bruno das alte Haus. Mit viel Liebe zum Detail, einem Blick für die alten Schätze, als Bewahrer eines Ortes mit seiner ganz eigenen Geschichte. Eines Ortes, der zu einer neuen Heimat wird.

    In ihrem Buch geht es um Träume und Pläne, ums Aufbrechen und Ankommen, um die Verbindung von Orten und Leben, von Vergangenheit und Zukunft – und nicht zuletzt um den Sinn im eigenen Leben.

    Spannende Lebensgeschichte voller Nostalgie und Sehnsucht

    Von der Stadt aufs Land, Leben in einem alten Gutshaus, ein eigenes Café: Elisabeth Neufeld-Picciani macht Mut, Träume zu verwirklichen

    Ausstattung: mit Fotos“

    Die Geschichte von Elisabeth Neufeld-Picciani liest sich fast ein wenig träumerisch und vielleicht werden auch einige Leser neidisch bei dem Gedanken so ein Anwesen zu erwerben. Nur steckt hinter so einem Kauf eine ganze Menge mehr. Da wir selbst vor Jahren ein altes, historische und denkmalgeschütztes Haus mit viel Grundstück erworben haben, fand ich mich in der Geschichte der Autorin schnell wieder. Ja, es gibt solche Augenblicke, man sieht etwas und es ist um einen geschehen! Auch bei einem Haus ist dies möglich! Die Autorin berichtet von ihrer Suche und ihrem Fund des Hauses und wie sie begann, jeden Quadratzentimeter dort lieben zu lernen. Einerseits erdet so ein Anwesen ungemein, es fordert aber auch Kräfte, bei denen man nicht mal daran geglaubt hat dass man diese hätte! Es kostet Nerven, Schweiß, Tränen, Wut und Freude aber auch eine Menge Geld. Wenn man alles irgendwie vereint, dann wird aus einem alten Haus wie hier im Buch ein Traumhaus. Neufelfd-Picciani erzählt einerseits wie es mit dem Haus voran ging aber auch was es mit ihr gemacht hat.

    Die Geschichte ist recht anspruchslos und schnell und flott zu lesen. Definitiv ist es ein lesenswertes Buch für Sinnsuchende, Gleichgesinnte und die, die es werden wollen. Fest steht jedenfalls: Heimat ist dort wo man seine Wurzeln verankert hat und Elisabeth Neufeld-Picciani hat ihren Wurzeln ganz tief im Gutshaus in Volzrade verankert.

    4 von 5 Sterne

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Der Trost der Schönheit: Eine Suche

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Trost der Schönheit: Eine Suche' von Gabriele von Arnim
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Trost der Schönheit: Eine Suche"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783498003517
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Rezensionen zu "Der Trost der Schönheit: Eine Suche"

  1. Einfach gelungen!

    Gerade gestern hat meine erwachsene Tochter am Telefon geseufzt, dass es seit drei Tagen regnet und sie keine Lust mehr hat. Es ist zwar gerade Sommer, aber ich dachte sofort an den Beginn des Buches von Gabriele von Arnim Der Trost der Schönheit. Ich las meiner Tochter die Zeilen vor, eine Beschreibung der nassen Blätter als Wunderteppich, endete mit " Ein zartes Glücksgefühl durchzieht mich , und ich mache mir zufrieden meinen Frühstückstoast." Das Buch bezieht sich laut Titel auf Eine Suche. Nun konnte ich schon etwas weitergeben, nämlich den Trost, in dem Regnen etwas Schönes zu suchen und zu finden.
    Eine Kleinigkeit, aber gerade diese Kleinigkeiten sind wertvoll. Das lehrt die Autorin in diesem Buch.
    Man braucht es nur zufällig aufzuschlagen und kann begeistert lesen. Über die Kraft der Dinge, die uns umgeben. Eine Vase, ein Teppich, die Geschichte dahinter oder einfach das gute Gefühl dabei.
    Nicht Dingen nachjagen, immer neues Kaufen sondern wertschätzen was man hat. Eigentlich selbstverständlich, aber wir müssen es uns immer wieder bewusst machen.
    Gabriele von Arnim tut das und nicht mit rechthaberischem Anspruch, sie erzählt einfach. Von ihren Gedankengängen, was sie gelesen hat, was sie erlebt hat.
    Das Buch gibt Trost und hilft uns dabei, die Schönheit wiederzuentdecken.

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Das volle Leben: Frauen über achtzig erzählen

Buchseite und Rezensionen zu 'Das volle Leben: Frauen über achtzig erzählen' von Susanna Schwager
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das volle Leben: Frauen über achtzig erzählen"

Format:Taschenbuch
Seiten:272
EAN:9783492258210
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Rezensionen zu "Das volle Leben: Frauen über achtzig erzählen"

  1. Ein gelungener Versuch, mit Kunstsprache dem Erzählten näher zu

    Oral History als akademische Studienarbeit ist im Grunde unlesbar. Wort für Wort, Stammelei und Ähs und Öhs inbegriffen, werden in schriftlicher Form Tonbandprotokolle von Gesprochenem aufgezeichnet. Ein schier unleserliches Kauderwelsch, das im Alltag fast jeder von uns spricht, wenn er nicht als Politiker oder Callcenter-Agent etc. perfekte Rede trainiert hat.

    Zeitungen und Rundfunkanstalten redigieren solche Texte in aufwendiger Weise und legen sie vor Veröffentlichung den Interviewten zur Freigabe vor. Fernsehsoaps wie »Gute Zeiten schlechte Zeiten« habe Storyliner, die die »Futures« der Erzählstränge skizzieren, Drehbuchautoren für die einzelnen Folgen, und engagieren für das auf dem Bildschirm gesprochene Wort spezielle »Dialogschreiber«. Manuskripte von Theaterstücken habe ihr eigenes Bühnendeutsch, sei es nun Shakespeare, Goethe oder Brecht. In Kinofilmen existiert wiederum eine eigene Sprache, welche dem Zuschauer die Illusion geben soll, die Helden auf der Leinwand würden »ganz natürlich« sprechen.

    Susanne Schwager lässt in »Das volle Leben« Frauen über achtzig selbst zu Wort kommen. Großformatige Porträts zu Beginn jeden Kapitels verstärken die Illusion, hier würden beispielsweise eine stinkreiche Schlagerdiva, eine bettelarme Zigeunerclan-Urahne, eine Schauspielerin gutbürgerlicher Herkunft oder eine energische Kämpferin für Frauenrechte, die sich vom ärmlichsten Immigrantenverhältnisse in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf bis nach New York und in die hohe Politik hochkämpfte, und andere mit uns am Küchentisch sitzen und aus ihrem Leben erzählen.

    Die Autorin bedienst sich hierbei einer ganz speziellen Kunstsprache, die statt mit wörtlicher Rede die literarische Technik der erzählten Rede anwendet – und das derart feinsinnig, dass sich eine faszinierende Palette gelebten Lebens zum wahren Lesegenuss entfaltet.

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Mildred

Buchseite und Rezensionen zu 'Mildred' von Rebecca Donner

Inhaltsangabe zu "Mildred"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:624
EAN:9783985680474
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Nonna

Buchseite und Rezensionen zu 'Nonna' von Thomas de Padova
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nonna"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446258570
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Rezensionen zu "Nonna"

  1. Mehr als nur ein berührendes Porträt der italienischen Nonna

    Ab den 1960er-Jahren entwickelte sich Italien mehr und mehr zum Traum-Urlaubsziel vieler Deutscher, die nun in Scharen an den „Teutonengrill“ nach Rimini fuhren. Auch der 1965 in Neuwied geborene Physiker, Astronom, Wissenschaftsjournalist und Autor Thomas de Padova verbrachte die ersten fünfzehn Sommer seines Lebens Italien, allerdings aus ganz anderen Gründen: Sein Vater war italienischer Gastarbeiter aus Apulien. Es waren Besuche im vom unwegsamen Gargano-Gebirge umringten 6000-Seelen-Dorf Mattinata bei der um 1914 geboren Nonna, die ihm als Kind unheimlich erschien:

    "Meine Nonna trägt immer Schwarz. Seit ich denken kann. Wenn ich sie im Sommer in Süditalien besuche, habe ich kurzärmelige Hemden und Shorts, Badehose und Flip-Flops in meinem Koffer. In Mattinata, dem Geburtsort meines Vaters, erwarten mich Sonne, Meer und weiße Adriastrände. Und meine Nonna in schwarzer Kluft. […]
    Sie kam mir wie ein Relikt aus der Vergangenheit vor, eine Frauenfigur, die mir unbekannte Zeiträume durchlebt hatte, eine Hüterin dunkler Erinnerungen." (S. 11 u. 12)

    Hüterin der Familiengeschichte
    Erst als Student lernte Thomas de Padova Italienisch, später den aussterbenden Dialekt seiner Nonna, um ihr dadurch näher zu kommen. Nur sie als einzige Überlebende, die niemals eine Schule besuchte, Analphabetin war, alles in Schonbezüge packte und kaum aus dem Haus ging, konnte ihm von seinen Vorfahren erzählen. Behutsam, geduldig und mit viel Einfühlungsvermögen entlockte Thomas de Padova ihr angesichts des lauernden Todes lückenhafte Teile seiner Familiengeschichte.

    Nonna ist deshalb auch sehr viel mehr als ein berührendes Bild einer alten Frau, die sich nie von den Traditionen entfernte, Mattinata nie verließ und die, hätte sie noch einmal wählen können, lieber ins Kloster gegangen wäre. Thomas de Padova erzählt von vier Generationen, von Auswanderung in die USA, später nach Deutschland, und manchmal Rückkehr, von Bleiben und Warten, von Entbehrungen und der Mühsal des Überlebens in einer der ärmsten Gemeinden Italiens, von familiären Schicksalsschlägen und der Ursache für die unglückliche Ehe der Großeltern und ganz nebenbei auch über sich selbst. Wenn er jedes Jahr die 1700 Kilometer zwischen Berlin und Mattinata zurücklegte – und auch heute, nach dem Tod der Nonna, noch dorthin reist –, so lag und liegt das weniger an der berauschend schönen Landschaft:

    "Denn nicht als Tourist komme ich hierher, sondern weil sich ein Teil meines Lebens um dieses Zentrum dreht, weil ich irgendwie dazugehören möchte zu diesem Dorf und seiner Geschichte, und sei es nur für die Dauer des Sommerurlaubs." (S. 128)

    Ein bleibender Leseschatz
    Die von Thomas de Padova eindringlich beschriebene entschleunigte Lebensweise in Mattinata hat sich beim Lesen auf mich übertragen. Ich habe mir sehr gerne von den Lebenswegen seiner italienischen Vorfahren erzählen lassen, bin hin- und hergesprungen zwischen Menschen, Orten und Zeiten, um immer wieder zur Nonna nach Mattinata zurückzukehren. Mit dem leisen, gänzlich unaufdringlichen Schreibstil und den vielen kleinen sprachlichen Perlen ist dieses entzückende, von mir leider erst jetzt entdeckte schmale Buch ein wahrer Leseschatz, weit über die eigentliche Familiengeschichte hinaus.

    "„Alles ist so gekommen, wie es kommen musste“, sagt sie irgendwann. „Wir haben alle unsere Bestimmung. Jeder von uns.“" (S. 172)

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Glück besteht aus Buchstaben

Buchseite und Rezensionen zu 'Glück besteht aus Buchstaben' von Karin Schneuwly

Inhaltsangabe zu "Glück besteht aus Buchstaben"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
EAN:9783312010417
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