1913: Der Sommer des Jahrhunderts (Hochkaräter)

Inhaltsangabe zu "1913: Der Sommer des Jahrhunderts (Hochkaräter)"


Mit „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies habe ich in der vergangenen Woche ein Buch gelesen, um das ich mich sehr lange gedrückt habe, da ich es in dem Raster von fiktionaler Literatur und Sachbuch nur schwer einordnen konnte und mich deshalb einfach nicht entscheiden konnte. Nun habe ich es gelesen und weiß immer noch nicht, wie fiktional und/oder wie historisch/real es ist. Wie es in dieser Skala einzuordnen ist. Es präsentiert uns tatsächlich reale Einblicke in das Leben von Menschen, maßgeblich Künstlern, die Repräsentanten der im Jahr 1913 aufflackernden Moderne sind. Und bindet diese kleinen literarischen Miniaturen dann zu einem Blumenstrauß von Situationen zusammen, der in dieser Form ungemein literarisch und somit fiktional wirkt, ohne aber den realen Bezug zu der historischen Situation jemals zu verlieren, sondern im Gegenteil als Essenz alles das herauszufiltern, heraus zu liften scheint, was die Zeit ausmacht und zu dieser besonderen gemacht hat.
Es geht darum, „die ungeheure ungleichzeitige Gleichzeitigkeit, die das Jahr 1913 vor allem ausmacht, angemessen zu schildern.“(76) schafft Illies mit dem Buch dann eine angemessene Schilderung? Schwer zu sagen. Ungewöhnlich ist sie auf jeden Fall. Er erzählt die Geschichte der Moderne „als einmal komische, mal herzzerreißende Seifenoper,“ schrieb die Washington Post. Ist das statthaft? Keine Ahnung, wieviel Vereinfachung, Glättung und auch wie viel Ersonnenes in all den von Illies geschilderten Lebenssituationen der Berühmtheiten liegen, aber egal: es bereitet ungemeines Vergnügen! Das Jahr 1913 wird darin ungemein lebendig. Das Jahr ist ein „Moment höchster Blüte und zugleich ein erstes Aufflackern des Untergangs“ (Klappentext), das Illies hier als Jahrhundertjahr schildert.
Monat für Monat fasst Illies ungemein dicht recherchierte, besondere Szenen aus dem Arbeits- und Liebesleben von Berühmtheiten zusammen. Die große Kunst des Buches besteht dann darin, dass auf den ersten Blick Unverbundenes nebeneinandergestellt wird und dennoch zu einem Ganzen gestaltet ist und so beim Leser ankommt.
Ich kann nur möglichst vielen Lesern raten, sich auf dieses literarische Experiment lesend einzulassen und sich köstlich unterhalten zu lassen. 5 Sterne für einen absoluten Höhepunkt meines Lesejahres 2018.
Das Buch ist sehr interessant. Aber es ist kein Buch, bei dem man zwischendurch schnell mal ein paar Seiten lesen kann. Ich konnte es nicht einmal auf dem Weg zur Arbeit im Bus lesen, wie ich das sonst jeden Morgen tue.
Nein, dieses Buch braucht seinen eigenen Raum und ich habe den Sonntag damit zugebracht … Es ist ein kurzes Büchlein von gerade mal 180 Seiten, ich werde mich daher sehr kurz halten.
Auf den ersten Seiten erzählt Kalanithi etwas über seine familiäre Herkunft, über seine schulische und berufliche Laufbahn, über seine Beziehungen und über seinen Krankheitsausbruch, bevor er die Krebsdiagnose erhält.
Paul Kalanithi zählt zu den Menschen, die mit mehreren Begabungen auf die Welt gekommen sind. Er wurde 1977 geboren und war ein Vielleser.
Schon in seiner Jugend beschäftigte er sich mit hoher Literatur, wie z.B. George Orwells 1984. Wenn auch seine Mutter diese Begabung mitgefördert hat ...
Pauls Vater ist Arzt, in ihm fand er ein großes Vorbild. Eigentlich wollte Paul Schriftsteller werden, denn er konnte auch gut schreiben, hatte sich aber dann doch für die Medizin entschieden. Kalanithi wollte bei den Menschen etwas bewirken, was er auch tat. In seiner Berufspraxis als Assistenzarzt und später als Neurochirurg nahm er sich immer Zeit für seine PatientInnen.
Zitat:
In solchen Momenten bei den Patienten zu sein hat so sicher seinen emotionalen Preis, aber es gab auch den entsprechenden Lohn. Ich glaube nicht, dass ich je eine Minute darüber nachgedacht habe, warum ich diese Arbeit machte oder ob es das überhaupt Wert war. Denn meine Berufung, das Leben zu schützen - nicht nur das nackte Leben, sondern auch die Persönlichkeit und Würde eines Menschen; war unantastbar. Zitat Ende
Er hielt bis zum Ende seiner Arbeit am Menschen an seinen Idealen fest.
Dass er selbst ein krebskranker Patient werden würde, damit rechnet ein junger Mensch wie Kalanithi es war, nicht. Kalanithi hat schon viele PatientInnen sterben und andere wieder heilen gesehen. Nun zählte er selbst zu den Betroffenen und als Experte der Medizin ist es nicht einfach für ihn gewesen, in diese Patientenrolle zu schlüpfen:
Zitat
Seit meiner Diagnose hatte ich angefangen, die Welt aus zwei Perspektiven zu betrachten. Ich sah den Tod als Arzt und als Patient. Als Arzt wusste ich es besser, als zu sagen: Krebs ist ein Kampf, den ich gewinnen werde. Oder mich mit der Frage zu quälen: Warum ich? Denn die Antwort darauf ist: Warum nicht ich? Zitat Ende
Den Gedanken Warum nicht ich? fand ich höchst interessant. Soll es denn sonst einen anderen treffen?
Wie viel Zeit bleibt mir noch? Eine Frage, die sich alle krebskranken PatienInnen stellen, so auch Kalanithi. Auch wenn er sich beruflich für die Medizin entschieden hat, so hatte er trotzdem noch Pläne; er hegte schon die Absicht, wenn er nur lange genug leben würde, auch Bücher schreiben zu wollen ...
Kalanithi hat sich in seinem Leben belletristisch viel mit Sterben und Tod befasst, er fand z. B. in Franz Kafka, Virginia Woolf, Der Tod des Iwan Iljitsch, Montaigne; Memoiren von Krebspatienten, große Lehrmeister… Später las er durch seinen Beruf dazu viel Fachliteratur.
Mutig ging Paul Kalanithi den Kampf gegen den Krebs an …
Mein Fazit?
Zu dem Buch fällt mir ein Zitat ein. Wenn morgen die Welt untergehen würde, würde ich trotzdem noch einen Apfelbaum pflanzen.
Kalanithi hat zwar keinen Apfelbaum gepflanzt, aber etwas Ähnliches hat er doch getan, was symbolisch auf dasselbe hinausläuft. Mitten in seiner Erkrankung zeugte er ein Kind, und er und seine Frau bekamen ein Mädchen kurz vor seinem Tod. Das fand ich sehr mutig und diese Szenen, als das Baby in den Armen des sterbenden Vaters gelegt wurde, haben mich tief berührt. Ich selbst hätte nicht sterben können, mit dem Wissen, ich würde ein süßes kleines Mädchen zurücklassen. Aber Kalanithi und seine Frau haben sich bewusst für das Kind entschieden, nach der Prämisse, Leben zu schenken, während das eigene zu Ende geht.
Es ist schön zu lesen, dass er und seine Frau nicht nur ein Kind in die Welt brachten, nein, auch dieses Buch entstand durch den Autor, betrachte ich ebenso als eine Geburt, wenn auch auf geistiger Art. Und seine Frau war an dem Buch mitbeteiligt, ihr haben wir die letzten Kapitel und die Herausgabe zu verdanken.
Das hat mir sehr gut gefallen. Paul Kalanithi hat mit seinem kurzen Leben viele Schätze hinterlassen.
Ein Schlaglicht auf das Vorkriegsjahr
Das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, ein Jahr voller gegenseitiger Versicherungen, dass der europäische Frieden gefestigt ist und alle Beteiligten frohen Mutes, mit neuen Ideen in die Zukunft blicken. Das Jahr 1913 wird, wenn man dem Autor Glauben schenkt, von Kunst und Liebe beherrscht. Gutgelaunt, mit festem Blick auf Wien, Paris und Berlin, zählt Illies alle Ereignisse und Befindlichkeiten zeitgenössischer Persönlichkeiten und ihrer Musen auf. Von Januar bis Dezember, von Louis Armstrong bis Graf Zeppelin, vom alten Adel bis zum vorbestraften Kunstmaler, wird der Leser weich gebettet und darf sich auf gute Unterhaltung freuen, mit vermurksten Liebesbriefen, zögerlichen Anträgen, unvorbereitete Weltreisen und Bünde, die sich schließen und im Streit wieder zerbrechen.
In der Kunst bricht sich der Kubismus Bahn, ein erfolgloser österreichischer Maler geht in die Politik, Freud und sein Schüler Jung gehen getrennte Wege, Wien scheint eingeschlafen, Paris dafür erwacht zu sein und überhaupt scheinen alle durcheinanderzulaufen, auf der Suche nach neuen Zielen, der großen Liebe, der neuen Erkenntniss.
Und wenn man genau hinschaut in diesem Wimmelbild (ein Dank an Wanda), dann scheint die einzige Konstante, die verschwundene Mona Lisa aus dem Louvre zu sein. Dabei hatte sie sich auch nur auf den Weg in ihre Heimat begeben.
Und dann, mit nachlassendem Licht, schwindet auch die Hoffnung auf Frieden, tauchen erste Zweifel und apokalyptische Zukunftsvisionen in Wort und Bild auf.
Was ist Ursache, was ist Wirkung? Diese Frage stellte sich mir in diesem Kaleidoskop des bunten Allerlei. Waren alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, blind für das Große Ganze, oder waren alle dermaßen gelangweilt vom frommen Verlauf der Geschichte, dass der Kampfgeist heraufbeschworen wurde?
Ich aber glaube, dass es im gemeinen Fussvolk, welches in diesem Werk keine Stimme hat, gebrodelt hat.
Illies beschreibt mit fröhlichem Ton ein buntes, aufregendes Europa. Die Liste seiner Zeitgenossen scheint komplett, ja erschlägt zuweilen, birgt aber auch so manchen intimen Einblick, der mich staunen ließ. Der Schwerpunkt liegt auf Kunst und Kultur und nur hie und da lugt die Politik mit drohendem Unheil durch den Vorhang. Die Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung wird völlig ausgeblendet und so könnte man schnell auf die Idee kommen, dass es mindestens zwei eigenständige Kreisläufe gegeben hat, die sich nicht auf derselben Erde gedreht haben.
Teilen