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Tasso im Irrenhaus: Erzählungen

Buchseite und Rezensionen zu 'Tasso im Irrenhaus: Erzählungen' von Ingo Schulze
4
4 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Tasso im Irrenhaus: Erzählungen"

Drei Geschichten über die Kunst, das Leben und die verrückte bürgerliche Gesellschaft Ein Schriftsteller-Dissident flieht aus der Öffentlichkeit, um sein Leben zu retten. In der Installation ›Das Deutschlandgerät‹ findet er ein Muster, um die Gegenwart zu deuten. »Immer wenn man etwas weiß, gibt es gleich wieder etwas, das man nicht weiß.« Mit dieser Behauptung verwickelt ein Schweizer Verleger unseren Erzähler vor Delacroix' ›Tasso im Irrenhaus‹ in ein ambivalentes Gespräch, das für einen Moment seltener Klarheit sorgt. Und in einem Berliner Hospiz hält der Maler Grützke fröhlich Hof, womit er die ängstlichen Besucher überrascht und ihnen Stunden von glücklicher Intensität beschert. Die Kunst und das Leben: tragisch und komisch, abgründig und heiter. Wirft uns das eine virtuos aus der Bahn, setzt uns die andere wieder aufs Gleis. Oder ist es umgekehrt?

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
EAN:9783423282390
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Rezensionen zu "Tasso im Irrenhaus: Erzählungen"

  1. Nachhaltige(s) Kunst(stück)

    „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit.“ (Friedrich Schiller)

    Nun. Nun ja. Wir haben es bestimmt alle schon erlebt: man liest ein Buch, diskutiert darüber, findet es spontan „letztlich leider langweilig“, legt es zur Seite und wenn man einige Zeit später dann eine Rezension schreibt – tja, dann merkt man, dass das Buch einen die ganze Zeit über nicht losgelassen, die Gedanken immer wieder dorthin gelenkt hat. Und dann steht der Rezensent auf einmal vor dem Dilemma, seine spontanen 2,5* zu erhöhen und sich plausibel dafür zu rechtfertigen. Puh – schwere Aufgabe.

    „Tasso im Irrenhaus“ war mein Erstkontakt mit Ingo Schulze. Es sind drei Erzählungen, die bereits in anderen Editionen verfügbar sind und für diese Veröffentlichung ediert wurden. Alle drei Texte verbindet die Kunst: mal als Installation (Das Deutschlandgerät), mal klassisch (Tasso im Irrenhaus) und dann relativ modern (Die Vorlesung).

    „Das Deutschlandgerät“ ist ein mehr als 60-seitiger Brief (ein Schelm, wer dabei an Kafka denkt *g*) an eine (fiktive?) Museumsdirektorin und erzählt anhand von Erinnerungen an Begegnungen des Ich-Erzählers mit dem DDR-Dissidenten B.C. (wohl auch ein fiktiver Charakter, der aber stellvertretend für viele Künstlerinnen und Künstler stehen dürfte) dessen Geschichte. Dabei nimmt ein großer Teil die ausführliche Beschreibung der Installation „Das Deutschlandgerät“ von Reinhard Mucha, die 1990 im Rahmen der Biennale in Venedig gezeigt wurde und (in kleinerer Version) noch heute in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, ein. Dieser Teil ist dann auch der, der mir persönlich zu langatmig war. Liegt wohl auch daran, dass ich mit Kunstinstallationen wenig bis gar nichts anfangen kann, da mir dafür einfach die Vorstellungskraft und Phantasie fehlt *g*. Und trotzdem frage ich mich: was macht (moderne) Kunst mit einem? Bekommt man im Lauf der Zeit einen anderen Blick, verändert sich das Werk, bekommt es eine andere Bedeutung? Oder ist es der Mensch, das Individuum, dass sich verändert und sich dadurch der „Blick“ erweitert und die Interpretationsmöglichkeiten erhöhen? Eine durchaus philosophische Frage, über die es sich nachzudenken lohnt…

    Das Gemälde „Tasso im Irrenhaus“ von Eugene Delacroix steht im Mittelpunkt der titelgebenden Geschichte. Der Ich-Erzähler soll einen Vortrag über eben jenes Gemälde halten und schaut es sich im Original in der Schweiz an. Dabei wird er von einem weiteren Museumsbesucher „gestört“, mit dem sich ein (eher einseitiges) Gespräch entwickelt, in dessen Verlauf die geneigte Leserschaft aber einiges (neues) über die Schweiz und ihre ach so tolle und stets propagierte und betonte Neutralität und das Steuerwesen dort lernt. Insgesamt hat mich diese Geschichte am meisten der drei Erzählungen beeindruckt.

    Kann es in einem Hospiz Fröhlichkeit geben? Diese Frage stellt sich nicht nur mir angesichts der „ausgelassenen“ Stimmung im Zimmer des Malers Johannes Grützke. Hier soll der Ich-Erzähler über ein Bild von ihm schreiben. Das Gespräch entwickelt sich ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe, war mir (teilweise) inhaltlich auch zu „kunstvoll“ und abgehoben. Und trotzdem lässt mich auch diese Erzählung im Nachhinein nicht los.

    Das alles scheint keine Begründung für die höhere Benotung zu sein und doch: „Tasso im Irrenhaus“ lässt mich seit Wochen nicht los und ich zolle Herrn Schulze meinen Respekt für seine teils kunstvolle, wunderbare Sprache und den nachhaltigen „Giftpfeil“. Und so bleibt mir nichts Anderes übrig, als meine Bewertung zu erhöhen und 4 Sterne zu zücken. Wer weiß, ob irgendwann nicht noch 5 draus werden…

    ©kingofmusic

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  1. 4
    28. Jun 2021 

    Kluge Essays eingebettet in eine narrative Rahmenhandlung

    Die drei hier versammelten Erzählungen sind schon vor Jahren in Literaturzeitschriften erschienen und nun für diesen Band vom Autor überarbeitet und umgeschrieben worden. Im Zentrum einer jeden Geschichte steht ein Kunstwerk , über das ein Schriftsteller einen Essay verfassen, bzw. einen Vortrag halten soll.
    In der ersten und längsten Erzählung geht es um die Installation „ Das Deutschlandgerät“ ( so auch der Titel der Erzählung ) von Reinhard Mucha, die 1990 für den Deutschland- Pavillon auf der Biennale in Venedig aufgebaut und später in Düsseldorf reinstalliert wurde. Dieses Kunstwerk löst bei dem Ich- Erzähler Erinnerungen aus an einen von ihm hoch verehrten Schriftsteller. Dieser sah in der Installation eine Metapher, die ihn selbst betraf. „ ….dass man etwas, was man mal gemacht habe, nicht einfach in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wiederholen könne, sondern es selbstverständlich neu installieren, also auf den neuen Zusammenhang hin befragen müsse.“ Dieser B.C., ein ehemaliger Dissident aus der DDR, hadert mit seiner Rolle im wiedervereinigten Deutschland. Er fühlt sich missverstanden. Außerdem wird von ihm eine bestimmte Haltung gefordert, die er nicht einnehmen kann oder will.
    In der zweiten titelgebenden Erzählung geht es um das gleichnamige Gemälde „ Tasso im Irrenhaus“ von Eugene Delacroix. Es zeigt den italienischen Renaissance- Dichter Torquato Tasso, der in seiner Gefängniszelle von Gaffern bedrängt wird. Der Ich- Erzähler soll darüber einen Vortrag halten und reist deshalb nach Winterthur in das dortige Museum, um sich vor Ort Gedanken zu machen. Dabei wird er von einem älteren Herrn angesprochen, der ihm regelrecht ein Gespräch aufzwingt. Dieser brilliert nun so mit seinem Wissen, dass der Ich- Erzähler ganz eingeschüchtert wird. Danach steigert sich der Fremde noch in eine Wutrede auf die Schweiz hinein, die mit ihren Waffenlieferungen in die Krisengebiete der Welt viel Geld macht und gleichzeitig seine eigene Neutralität betont und mit ihren Bankgeschäften von weltweiten Verbrechen profitiert. Bei seiner Weiterreise mit dem Schiff über den Bodensee fühlt sich der Erzähler wie Tasso auf dem Gemälde von sonderbaren Mitreisenden beobachtet.
    In dieser Erzählung bekommt der Leser nicht nur eine genaue Beschreibung des Bildes, sondern umfangreiche Informationen sowohl zum Maler als auch zum Portraitierten. Das verknüpft Ingo Schulze mit allgemeinen Betrachtungen zur Kunst, der Rolle des Künstlers und zur politischen Weltlage.
    In der letzten Erzählung „ Die Vorlesung“ soll der Ich- Erzähler, ein Schriftsteller namens Ingo Schulze ( „ Schulze, Ingo, er arbeitet in Prosa.“ so wird er in der Geschichte vorgestellt ) über ein Bild von Johannes Grützke schreiben. Dazu besucht er den todkranken Maler in einem Hospiz, eher widerwillig. Fürchtet er sich doch vor der Konfrontation mit einem Sterbenden. Stattdessen erwartet ihn aber ein Zimmer voller Menschen - Verwandte und Freunde des Malers sind zu Besuch. Und es wird gegessen und getrunken, geredet und diskutiert. Es geht in den Gesprächen um abstrakte und gegenständliche Malerei, über die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst . Dabei fallen Sätze wie „ Kunst ist nicht modern, sondern immer.“
    In all den Erzählungen beweist Ingo Schulze, dass er schreiben kann. Kunstvoll aufgebaut, ineinander verschachtelt baut er kluge Essays über Kunstwerke in eine narrative Rahmenhandlung. Auch dabei erweist er sich als genauer Beobachter und stilsicherer Autor. Er verbindet immer wieder die Kunstbetrachtung mit Themen, die ihn umtreiben, seien es die Unterschiede zwischen Ost und West oder die Rolle des Schriftstellers bzw. des Künstlers in der Gesellschaft .
    Doch nicht alle Volten , die Ingo Schulze schlägt, nicht jede Verbindung hat mich überzeugen können, manche erschienen mir zu gewollt. Dafür haben mich die Bildbeschreibungen und die zusätzlichen Informationen dazu sehr interessiert. Deshalb würde ich diesen Erzählband wohl eher Lesern empfehlen, die ein gewisses Interesse für Bildende Kunst aufbringen.

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  1. 3
    26. Jun 2021 

    3x Kunst in einem Buch

    Das schmale Büchlein umfasst drei Erzählungen, die bereits getrennt voneinander vor mehreren Jahren erschienen sind. Für diese Ausgabe wurden sie überarbeitet oder umgeschrieben, ganz im Sinne der ersten Erzählung, Das Deutschlandgerät.
    Hier schreibt der Ich-Erzähler einer Museumsdirektorin einen langen Brief in dem er darlegt, weshalb sich seine Arbeit, eine Beschreibung dieser schwarzen Maschine (wie er sie nennt) verzögert und was diese mit einem von ihm bewunderten Schriftsteller zu tun hat, der aus der DDR ausgebürgert wurde. Letztendlich kulminiert das Ganze in der Feststellung, dass nicht das Kunstwerk seiner jeweiligen Umgebung angepasst wird, sondern auch der Mensch und seine Haltung. Über 60 Seiten braucht es zu dieser Feststellung, die auch eine Kunstbeschreibung enthält (empfehlenswert: parallel Bilder und Videos aus youtube dazu anschauen) – wozu jedoch 30 Seiten sicherlich gereicht hätten.

    Die zweite Erzählung befasst sich mit dem titel(bild)gebenden Tasso im Irrenhaus, einem Gemälde von Delacroix‘, das in Winterthur zu besichtigen ist. Hier korrespondiert der ‚Inhalt‘ des Gemäldes mit dem, was der Ich-Erzähler beim Betrachten des Bildes mit einem weiteren Museumsbesucher im Gespräch erfährt. Über die Beschreibung der damaligen Verhältnisse geht es kunstvoll über ehemalige Kolonien zu dem was die heutige Schweiz darstellt – mir war das etwas zu kunstvoll.

    Abschließend steht der Maler Johannes Grützke im Mittelpunkt, der sich zum Zeitpunkt der Erzählung im Hospiz befindet. Er bittet den Ich-Erzähler, über ein Bild von ihm zu schreiben, der sich eher widerwillig darauf einlässt. Bei einem vereinbarten Termin findet er im Hospizzimmer des Malers eine illustre Gruppe von Personen vor, die jenem offenbar nahe stehen. Diese führen ein ’skurriles‘ Gespräch über Kunst, das mir irgendwann zu verworren war. 39 Seiten – 20 hätten mir locker gereicht.

    Zwar war ich vom Inhalt der Geschichten nicht allzu begeistert, dafür umso mehr von der Sprache des Autoren. Wenn ich jetzt noch ein Buch mit einem ansprechenderen Inhalt von ihm lese, dann steht einer Lobeshymne sicherlich nichts im Wege ;-)

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  1. Erzählungen aus der Welt der bildenden Kunst

    Ingo Schulze muss ein Kunstkenner sein. Offensichtlich wird er häufiger um Stellungnahmen, Essays oder andere Auftragsarbeiten aus dieser Branche gebeten. Drei ältere Erzählungen, die ursprünglich in anderem Zusammenhang veröffentlicht wurden, versammeln sich in diesem neu bei dtv erschienenen Band „Tasso im Irrenhaus“.

    Die erste Erzählung „Das Deutschlandgerät“ handelt von einer ursprünglich in Venedig ausgestellten Installationsarbeit, die etwas reduziert in ein Düsseldorfer Museum überführt wurde. Der Ich-Erzähler schildert in seinem Bericht die Installation, schweift in seinen Gedanken aber zu einem von ihm hochverehrten Autor namens B.C. ab, der seiner Ansicht nach der größte Fan des Kunstwerkes ist und es dem Erzähler seinerzeit auch vorstellte. B.C. war ein DDR-Dissident, der das Land in den 1970er Jahren verlassen musste. Im Zuge der Erzählung rückt dieser in den Fokus. Er scheint ein schwieriger Typ zu sein, der wenig von Konventionen und Höflichkeitsfloskeln hält, bei anderen Kollegen genießt er einen schlechten Ruf, zumal er unter Kontrolle seiner Gattin zu stehen scheint. Im Lauf der Jahre hat der Erzähler mehrere persönliche Begegnungen mit B.C., die sein Verständnis für den aus der Heimat vertriebenen und in der BRD nicht recht heimisch gewordenen Mann wecken, dessen Meinung auf einmal nicht mehr en vogue war. Gezeigt werden auch Parallelen mit und Bezüge zum Deutschlandgerät, ebenso wie Interna aus dem Literaturbetrieb.

    Die zweite Erzählung führt den Autor in die Schweiz. Er soll über das Gemälde „Tasso im Irrenhaus“ des Malers Delacroix berichten, das in einem Museum in Winterthur zu sehen ist. Schulze nimmt sich einen Tag Familienauszeit, macht einen Umweg, um das Bild live zu sehen und dokumentiert alles in seinem Notizbuch. Am Ziel angekommen wird ihm der unverstellte Kunstgenuss von einem einheimischen Ausstellungsbesucher getrübt, der Schulze ungefragt in ein Gespräch verwickelt, dem er sich nicht entwinden kann. Dennoch gibt ihm der Mann zahlreiche Denkanstöße, brilliert mit Fachwissen. Erneut werden unterschiedliche Themenbereiche geschickt miteinander verwoben. Auch eine deutliche Kritik an der vermeintlichen Neutralität der Schweiz wird interessant hergeleitet. Abgerundet wird die Erzählung durch die Heimfahrt über den Bodensee, während der sich der Erzähler wie Tasso im Irrenhaus beobachtet fühlt - alles hängt mit allem zusammen.

    Ein Hospiz ist der Handlungsort der dritten Erzählung. Der Maler Johannes Grützke sucht jemanden, der über ein Bild von ihm schreiben soll. Der Autor fürchtet sich vor dem vereinbarten Termin, erwartet er doch einen deprimierten Todgeweihten vorzufinden. Stattdessen trifft er einen lebhaften, gut gelaunten Grützke von höchst eigenwilligen Besuchern umgeben an. Das Zimmer ist voll, es wird gegessen, getrunken und gelacht. Schulze fühlt sich befremdet, hatte er sich doch ein Arbeitsgespräch mit dem Künstler erhofft, das ihm als Grundlage für die bevorstehende Auftragsarbeit dienen könnte… Es macht Spaß, den Dialogen der Besucher zu folgen. Sie foppen sich gegenseitig, spielen die Kunst gegen die Literatur aus, deren Vertreter Schulze ist. Man philosophiert, wirft sich Gedanken zu, führt sie weiter aus, befeuert durch den Kranken. Auch hier gibt es eine Ebene hinter dem Offensichtlichen zu entdecken, mich erinnert die surreale Situation im Hospiz an Grützkes Kunst, der auch mit Vorliebe verzerrte, seltsame Figuren ins Zentrum rückt und nur versteckte Hinweise auf weitere Inhalte zeigt Zudem werden Grützke zugeordnete Aussprüche in den Text eingebaut, was ihm Authentizität verleiht.

    Ingo Schulze versteht es meisterhaft, seine Erzählungen zu entwickeln. Er überrascht mit unvorhergesehenen Verknüpfungen und Entwicklungen. Man darf sich nicht auf das Offensichtliche verlassen, er fordert uns zum Nachdenken auf, zum Interpretieren, zum Blick zwischen die Zeilen auf weitere Ebenen. Kunstliebhaber werden gewiss begeistert sein.

    Ich selbst habe das Buch gelesen, weil ich Ingo Schulze sehr schätze. Ich habe mich zuvor nicht mit der Thematik der gesammelten Erzählungen beschäftigt, was ein Fehler war, weil ich ein bekennender Kunstbanause bin. Die Beschreibungen der eigentlichen Werke sind zwar durchaus gelungen, interessiert haben sie mich nicht. Fesselnder empfand ich das Drumherum, die Geschichten, die sich im Zusammenhang mit der Betrachtung der eigentlichen Werke ergaben. Diese zeugten von großer Beobachtungsgabe, Intelligenz und Menschenkenntnis. Schulze verfügt über große Allgemeinbildung, hat einen wunderbaren Stil und kann viele verschiedene Themen bedienen, was er auch in diesem Erzählband unter Beweis stellt. Er verknüpft die Kunst mit dem Alltäglichen, mit politischer oder gesellschaftlicher Kritik und natürlich mit der Literatur, seiner Profession.

    Obwohl ich anerkennen muss, dass die Erzählungen qualitativ gut gemacht sind, haben sie mich in großen Teilen gelangweilt. Zu fremd ist mir die Welt der Kunst und deren vermeintliche Faszination. Wer sich dort aber mehr zu Hause fühlt, wer gerne in Museen verweilt oder sich Ausstellungen (moderner) Künstler anschaut, wird den Beschreibungen Schulzes bestimmt mehr abgewinnen können und einen leichteren Zugang finden.

    Insofern kann ich persönlich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.

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  1. Mit verbundenen Augen Kunst betrachten...

    ... und sich dabei ganz und gar auf den Erzähler verlassen... so fühlte ich mich in den drei Erzählungen von Ingo Schulze.

    Er hat mich nicht vorgewarnt, das war sehr geschickt. Vielleicht hat er aber auch mehr Vorwissen bei mir vorausgesetzt, denn dann hätte ich erkennen müssen, dass der Buchtitel auch der Titel des Gemäldes von Eugène Delacroix ist, ein Ausschnitt davon ist auf dem Schutzumschlag zu sehen. So aber trieb mich, getriggert vom Wort "Irrenhaus", die Neugier für menschliche Abgründe.
    Das kalte Wasser schlug also ungehemmt über mir zusammen, nach meinem Sprung in das unbekannte Nass "Kunst".

    Die erste Erzählung, "Das Deutschlandgerät" rang mit mir um Verständnis. Bei der Beschreibung der künstlerischen Reinstallation eines Geräts zum Wiederaufstellen von entgleisten Zügen von Reinhard Mucha, gingen mir Bilder durch den Kopf, vermischt mit meiner eigenen Aufgabe einer Haushaltsauflösung, die sich im Nachhinein wenig deckungsgleich zum Original zeigten. Dennoch ließen mich Schulzes Ausführungen, verknüpft mit der Geschichte des Ostdissidenten , der in dieser Kunst sein Verständnis mit sich und seinem Werk endlich ergründet zu haben glaubt, mit der Gewissheit zurück, dass auch ich die Sachen nur neu arrangieren muss, damit Altes wieder Sinn macht, ohne gänzlich zu verschwinden. Die ganze Erzählung ist ein einziger Brief, der zugleich eine Versäumnisentschuldigung, Aufgabenerfüllung und Geschichte für den Leser ist.

    "Tasso im Irrenhaus", ist die zweite Geschichte und Auslöser für meine Bereitschaft, das Buch zu lesen. Der Erzähler soll in ein paar Wochen über Delacroixs Tasso eine Rede halten. Die Arbeit daran stockt und so beschließt er, sich das Bild nicht im Katalog, sondern im Original in der Schweiz anzuschauen. Seine Eindrücke und Erlebnisse bei der Anreise, die Betrachtungen im Museum und schließlich die Gespräche mit dem Mann dort, der sich ihm aufdrängt, hält er in seinem Journal (Tagebuch - der Text ist Frank Witzel gewidmet - ein Schelm, wer unschuldige Absicht dahinter vermutet) fest, und so entsteht eine Mischung aus Bildbeschreibung und philosophische Betrachtungen zur Schweiz, die Kunst und Politik dynamisch miteinander verwebt.

    Die letzte Novelle "Die Vorlesung" führt Ingo Schulze ins Hospiz zum sterbenden Maler Johannes Grützke. Aber anstatt einer gedrückten letzten Unterredung unter vier Augen, erwartet Schulze vor Ort eine illustre, heitere Gesellschaft, die sich über Kunst streitet, während der Todeskandidat eine Zeichnung eines vielköpfingen Drachens mit den Gesichtern seiner Besucher anfertigt. Irritiert und verärgert will Schulze sich früh entfernen, wird dann aber doch in diese so ganz und garnicht trauernde Versammlung hineingezogen.

    Die drei wiederveröffentlichten Geschichten von Ingo Schulze kumulieren für mich in der Einsicht, dass wohl nicht alles nach Plan und Vorstellung verläuft, dass so manche Einsicht erst durch das Unvorhergesehene gewonnen werden kann und nur dem, der innehält und nicht gleich fort- oder weiterrennt, sich das Fenster zum Größeren öffnet. Die angedeutetetn Klappen auf dem Titelbild mögen ein Symbol dafür sein. Für mich war es ein Ausszeit aus der Alltagshektik und ein wunderbarer Einblick in die Kunstwelt durch Schulzes Augen. Verführerisch und wohltuend.

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  1. Langweilig für Kunstbanausen und wertvoll für Kenner.

    In dem Bändchen „Tasso im Irrenhaus“ beschreibt Ingo Schulze eloquent drei besondere Kunstwerke. Am besten ist es, man hat sie schon einmal irgendwo gesehen, die Namen der Künstler sind einem geläufig oder man sollte zumindest gerne in Museen für gestaltende und bildende Kunst gehen. Oder sich danach sehnen, so ein Kunstwerk zu besitzen.

    Für alle Leute, die sich nicht für Kunst interessieren, ist das Büchlein eher nichts. Es ist auch kein sogenanntes Einsteigerbuch.

    Aber wenn man sich dafür interessiert und vielleicht sogar einen Bezug zu den vorgestellten Künstlern oder ihren Kunstwerken hat, dann sind die drei Essays eine großartige schriftstellerische Leistung, die man durchaus mit Gewinn und Genuss lesen kann. Eigentlich handelt es sich ja um eine Zusammenführung von beiden Genres. Die Beschreibungen sind Essays und das Drumrum, ihre Einbindung in eine Begebenheit, machen die drei Texte zu Erzählungen. Aber Essay ist drin.

    Die erste Erzählung widmet sich einer sogenannten Installation. Akribisch beschreibt Schulze Reinhard Muchas (geb. 1950) Konzeptkunstwerk „Das Deutschlandgerät“.

    „Sein erstes Kunstwerk war 1978 kein Bild und keine Skulptur, sondern eine Mauer aus Hohlblocksteinen. Niemand identifizierte sie als Kunst, zumal Kommilitonen dort ihre eigenen Sachen aufhängten. Damals wie heute beobachtet Mucha die Besucher: "Sie denken, das sei keine Kunst. Es sieht eben nicht sofort wie Kunst aus. Das ist die Schwierigkeit. Ich spiele mit der Grenze zwischen Ästhetik und Realität." sagte Mucha. (Helga Meister, Artikel in: Westdeutsche Zeitung, 2009)

    Weiter schreib Helga Meister: „Warum aber nennt er sein Werk Deutschlandgerät? Seine Antwort: "Deutschlandgerät ist ein hydraulisches Werkzeug, um schwere Lasten anzuheben oder Schienenfahrzeuge wieder auf die Gleise zu stellen. In der Umbruchzeit nach 1989 war der Titel eine Anspielung auf die politische Situation in Deutschland."

    Warum zitiere ich hier Helga Meister anstatt Ingo Schulze, der so ausführlich darüber schreibt, während Helga Meisters Text eine veranschlagte Lesezeit von 2 Minuten aufweist?

    Weil ich Helga Meisters Beitrag sofort verstehe, aber Ingo Schulzes ellenlange Beschreibung mich fast zu Tode langweilt. Allerdings, und das macht die Kunstbeschreibung zur Erzählung, stellt Schulze dem Kunstwerk Muchas den DDR-Flüchtling B.C. entgegen oder zur Seite, der dieses Kunstwerk liebt und ihm, Schulze erklärt. B.C. ist selber ein Künstler, freilich einer, der unter der Fuchtel seiner Frau Elizabeta steht. So erscheint es. Aber der erste Blick täuscht. Man muss einen zweiten Blick werfen. Dann erkennt man das Wesentliche. So mag es auch mit dem Ausstellungsgegenstand „Das Deutschlandgerät“ sein. Man riskiere einen zweiten Blick. Allerdings ist Konzeptkunst wirklich Geschmacksache.

    Die zweite Darstellung eines Kunstwerks fesselt mehr. Es handelt sich um ein Gemälde von François Delacroix, dessen Titel „Tasso im Irrenhaus“ gleichzeitig titelgebend für Schulzes Buch ist.

    Wiederum beschreibt Ingo S. das Werk akribisch, was einen durchaus wieder langweilen könnte. Man kanns aber auch im Internet angucken.

    Gleichzeitig zu dem Gemälde namens "Tasso im Irrenhaus" zieht Schulze Parallelen zu anderen antiken Künstlern, zu Torquino Tasso, einem italienischer Dichter von anno dunnemal und zu Giacomo Leopardi, das ist ebenfalls ein italienischer Literat von anno dunno. Wohlwollend nehmen diverse Leser die Schließung ihrer Bildungslücken an.

    Im dritten Bespiel widmet sich Ingo S. wieder der Neuzeig, einem zeitgenössischen Künstler, dem Maler Johannes Grützke. Die Beschreibung des Kunstwerks ist Essay, der Besuch im Hospiz und die Gespräche des Sterbenden mit seinen Eleven über Kunst, ist wieder Erzählung. Das Kunstwerk ist betitelt mit "Die Vorlesung".

    Für Kunstverständige und Bildungsbürger also, schreibt Ingo S. Für dieses Mal. Muss auch mal sein und wird honoriert. Für Kunstbanausen ist das Bändchen grauenhaft langweilig. So what? Lesen wir derweil etwas anderes von Ingo S. Er kann unterhaltsame Sachen, die nicht weniger brillant sind.

    Fazit: Feinsinnig, bildungsintensiv. Die Zusammenführung von Essay und Erzählung ist brillant. Auf seine eigene Art genial.

    Kategorie: Kunst. Essays. Erzählung.
    Verlag: dtv. 2021

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Zeno Cosini

Buchseite und Rezensionen zu 'Zeno Cosini' von Claudio Magris
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Zeno Cosini"

Format:Taschenbuch
Seiten:640
EAN:9783499134852
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Rezensionen zu "Zeno Cosini"

  1. Wie viel Cosini steckt in uns?

    Was ist Wahrheit, was ist Lüge, (Selbst)täuschung, Rechtfertigung? Nichts davon wird man am Ende wissen – und das macht den Reiz dieses Romans aus. Italo Svevo (eigentlich Hector Aron Schmitz) lässt seinen Protagonisten Zeno Cosini dessen Leben erzählen – aber nicht als chronologische, biografische Aneinanderreihung von Ereignissen, sondern als rückblickenden Bericht für Cosinis Psychotherapeuten. Da liest man schon mal vor der eigentlichen Beschreibung, wie es ausgeht, was die Szene auslösen wird, da wird einem schnell klar, dass der Berichtende selbst interpretiert, einordnet und deutet – und das keineswegs nur zur Rechtfertigung, sondern oft auch mit deutlichen Selbstvorwürfen. Wenn man dann noch erfährt, dass er die Therapie beenden will, ist jeder Satz von Zeno Cosini mit diesen Brechungen zu lesen. Die Psychotherapie Freuds ist zwar Basis dieses 1923 erschienen, dritten und letzten Romans des Autors, aber eben oft eher als kritisch betrachtete Matrix. Zeno Cosini berichtet von den erfolglosen Versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören, vom Tod des Vaters, seiner Heirat, seinen beruflichen Tätigkeiten, Freund- und Feindschaften… Und so entsteht ein faszinierendes Leseerlebnis, bei dem vieles nicht zusammen zu passen scheint, vieles einem nicht logisch, nicht stringent vorkommt, und was daher gerade deswegen so sehr echtes Leben widerspiegelt. Denn Zeno Cosini ist kein sympathischer Mensch, keiner, der immer so handelt, wie man es vielleicht erwarten würde - er ist einer, mit dem man sich nicht identifizieren möchte, der einem aber so viel ähnlicher ist, als man sich das selber eingestehen will - oder ist das alles nur Fiktion und Zeno führt uns in die Irre? Wer kann das schon sagen? Mir war es auf jeden Fall ein außerordentliches Vergnügen, dieses Buch zu lesen, auch wenn mir so manche Ähnlichkeit zu denken gibt...
    „Aber man sieht die Dinge viel schlechter, wenn man die Augen allzu weit aufreißt.“

    Übersetzt von Piero Rismondo.

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Achtsam morden

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Noch 3 Treuepunkte bis zum Pfannen-Set

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Rezensionen zu "Noch 3 Treuepunkte bis zum Pfannen-Set"

  1. Ein leichter Roman der den Leser schmunzeln lässt

    Anette Ahlmann möchte Bürgermeisterin werden . Ihr Mann Achim ist davon weniger begeistert . Und ausgerechnet Julitta Baumgärtner die ihr vor Jahren schon mal den Vorsitz im Frauenverein streitig machen wollte bewirbt sich auf den Posten des Bürgermeisters .Aber auch die anderen Bewerber sind mit vollem Einsatz dabei .

    Die Protagonisten sind so wie du und ich oder wie deine Nachbarn also äußerst sympathisch und authentisch dargestellt . Besonders Achim , der brummig und immer was zu meckern und beanstanden hat hat hat mir gefallen . Der Schreibstil ist locker , flüssig und recht zügig zu lesen . Die Spannung nimmt von Kapitel zu Kapitel zu dabei sind sie nicht allzu lang aber das humorvolle rückt dann doch in den Vordergrund .

    Fazit : Achim und Anette könnten auch in deiner Straße wohnen . Szenen wie aus dem echten Leben gegriffen haben mich lachen und schmunzeln lassen . So manches kam mir sehr bekannt vor , ob selbst passiert , zugeschaut oder mitbekommen . Ich fand den Kurzurlaub an der Ostsee von den Ahlmanns super geschrieben . Aber auch der Rest kann sich sehen lassen . Kleinstadtidylle vom feinsten kam mir des öfteren beim lesen in den Sinn . Zum Schluss wird es nochmals spannend so dass dieser Roman kurzweilig zu lesen ist . Ich finde die Story um Anette Ahlmann ist abwechslungsreich , leicht und unterhaltsam geschrieben . Das Ende ist für mich so geschrieben , als ob es noch eine Fortsetzung geben könnte .

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Luftgitarrengott: Roman

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Rezensionen zu "Luftgitarrengott: Roman"

  1. Und immer wieder weiße Rosen aus Athen

    Bastian und Lisa sind Geschwister und träumen von einer Musikkarriere : Als Rock Duo wie Ike und Tina Turner , nur auf Deutsch . Aber Lisa hat es faustdick hinter den Ohren und drängt Bastian immer wieder ins Abseits . Wird er es trotzdem in der Musikbranche bis an die Spitze schaffen ?

    Ich bin sehr gut in das Buch hinein gekommen da der Schreibstil locker und leicht ist zu lesen ist . Dadurch bin ich recht zügig durch dieses Buch gekommen . Die Protagonisten sind äußerst sympathisch , ansprechend und herzlich . Sie passen sehr gut in die Story .
    Die Spannung baut sich zwar im Laufe des Buches auf , aber der Humor und Witz stehen doch im Vordergrund .

    Fazit: Die Kapitel fangen 1980 an und enden 2070 . Ich durfte miterleben wie alles begann angefangen bei Bastians Geburt . Dann geht es im zehn Jahres Rhythmus weiter . Je mehr Seiten ich las umso skurriler wurde die Story . Manchmal tat mir Bastian schon leid . Er hat das Glück nicht gerade gepachtet und das ist noch eine Untertreibung . Ich finde er ist der Pechvogel des Jahres . Das Buch ist witzig , frech , emotional und dramatisch . Mit Lisa hatte ich so meine Probleme . Ich bewunderte sie eigentlich wie sie immer wieder ihre Intrigen ausspielte . Anderseits hätte ich sie am liebsten aus dem Buch geschmissen . Ja , ich fieberte mit und mit meinen Gefühlen ging es zu wie auf einer Achterbahn . Gerade ab der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Geschichte rasant an Fahrt auf und zwar so , dass ich dableiben musste um zu sehen was das Leben noch alles mit Bastian vorhat . Die Geschichte zog sich für mich dann zwischendurch immer mal wieder in die Länge . Das Ende war emotional aber auch irgendwie schön . Auf jeden Fall ist die Geschichte skurril und schräg und es ist mal etwas ganz anderes was den Inhalt angeht .

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Die Reisen mit meiner Tante. Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Reisen mit meiner Tante. Roman' von Graham Greene

Inhaltsangabe zu "Die Reisen mit meiner Tante. Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:352
EAN:9783423141796
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Das Baby ist meins: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Baby ist meins: Roman' von Oyinkan Braithwaite
3.25
3.3 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Baby ist meins: Roman"

Nach ihrem preisgekrönten Bestseller »Meine Schwester, die Serienmörderin« legt Oyinkan Braithwaite ihren zweiten Roman vor. »Das Baby ist meins« ist eine augenzwinkernde Ansage an das Patriarchat, ein spannender Einblick in die nigerianische Gesellschaft – und vor allem eine rasante Geschichte um zwei Frauen, die wie Löwinnen um das Baby in ihrer Mitte kämpfen. Natürlich ohne Rücksicht auf Verluste oder gar auf den Mann, der versucht herauszufinden, wem er glauben soll. Und der selbst alles andere als ein Unschuldslamm ist.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:128
Verlag:
EAN:9783351050894
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Rezensionen zu "Das Baby ist meins: Roman"

  1. 3
    05. Sep 2022 

    Wer ist die Mutter?

    Normalerweise steht ab und an die Frage im Raum „Wer ist der Vater des Kindes?“. In diesem Roman dreht sich alles darum, dass zwei Frauen behaupten die Mutter eines Neugeborenen zu sein. Dabei wird die Geschichte aus der Perspektive eines jungen nigerianischen Frauenhelds erzählt, der mit der Zeugung des Babys kurioserweise rein gar nichts zu tun hatte. Er wird von seiner Freundin mitten im ersten Corona-Lockdown vor die Tür gesetzt und sucht im Haus des verstorbenen Onkels Unterschlupf. Dort trifft er nicht nur seine verwitwete Tante sondern auch die ehemalige Geliebte seines Onkels sowie einen Säugling an. Beide Frauen behaupten das Kind sei ihres und es läuft auf einen Kampf der hysterischen Hühner hinaus.

    Der letzte Satz ist etwas salopp formuliert, geht es doch ums Kindeswohl. Leider besteht aber ein Großteil der nur 128 Seiten kurzen Erzählung aus Hühnerkämpfen zwischen den beiden. Der Mitte Zwanzig jährige Ich-Erzähler dient zunehmend als Vermittler und wird über wenige Tage hinweg scheinbar erwachsen.

    Die Geschichte ist solide erzählt und mal etwas anderes für Zwischendurch. Allerdings wirkt der Roman ein bisschen, wie ein Lockdown-Lückenfüller. So richtig mitreißen konnte er nie und bleibt letztlich recht dünn. Die drei Figuren dieses Kammerspiels haben nur wenig psychologische Tiefe und hinterlassen kaum einen Eindruck. Nachvollziehbar sind ihre Persönlichkeitsveränderungen nicht wirklich. Die Sprache bleibt dabei unaufregend.

    Allein der „Ungewöhnlichkeitsfaktor“ beschert dem Roman von mir noch gerade so 3 Sterne. Kann man gelesen haben, muss man aber nicht zwingend.

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  1. 3
    14. Mär 2021 

    Erinnert an den biblischen weisen König Salomo...

    Nach ihrem preisgekrönten Bestseller »Meine Schwester, die Serienmörderin« legt Oyinkan Braithwaite ihren zweiten Roman vor. »Das Baby ist meins« ist eine augenzwinkernde Ansage an das Patriarchat, ein spannender Einblick in die nigerianische Gesellschaft – und vor allem eine rasante Geschichte um zwei Frauen, die wie Löwinnen um das Baby in ihrer Mitte kämpfen. Natürlich ohne Rücksicht auf Verluste oder gar auf den Mann, der versucht herauszufinden, wem er glauben soll. Und der selbst alles andere als ein Unschuldslamm ist.

    Wohngemeinschaften werden in der Regel auf freiwilliger Basis gebildet. Nicht so hier. Der Ich-Erzähler Bambi braucht dringend eine Unterkunft, nachdem er von seiner derzeitigen Freundin aus der Wohnung geworfen wurde. Er, der nach dem Postulat lebt, dass der Mann nicht für die Monogamie geschaffen sei, muss nun mit den Konsequenzen seines Handelns leben. Mitten in der Nacht durch Nigerias größte Stadt zu fahren, ist derzeit wegen der Corona-Pandemie verboten. Bambi fällt lediglich das Haus seines kürzlich vertorbenen Onkels ein, und so begibt er sich mit seinen wenigen in aller Hast gepackten Sachen dorthin.

    Zu seiner Überraschung findet er in dem Haus nicht nur die verwitwete Tante und ihr Baby vor, sondern auch die ehemalige Geliebte seines Onkels. Eine brisante Mischung, die noch explosiver wird, als jede der Frauen behauptet, die Mutter des kleinen Jungen zu sein. Wem soll Bambi glauben? Keine der Frauen gibt nach, und so kommt es zu Streitereien, körperlichen Auseinandersetzungen und Psychokrieg. Kann Bambi hier vermitteln? Und - will er das überhaupt? Eigentlich will er seine Ruhe haben, seine Wunden lecken, sich von den Frauen bedienen lassen. Und doch fühlt er sich irgendwie für das Baby verantwortlich...

    Eher ein Kammerspiel denn einen Roman hat Oyinkan Braithwaite hier vorgelegt. Der Inhalt erinnert an die Geschichte um den biblischen weisen König Salomo, doch wie die Lösung in diesem Buch hier ausschaut - und ob es eine gibt - wird natürlich nicht verraten. Das Buch liest sich aufgrund der geringen Seitenzahl sowie des flüssigen Schreibstils recht flott, ich fand die Mischung aus augenzwinkernden und zynischen Szenen ganz unterhaltsam, doch in Begeisterungsstürme verfallen bin ich nicht.

    Oyinkan Braithwaite kann schreiben, das bewies sie schon mit ihrem Debüt 'Meine Schwester, die Serienmörderin', und auch hier erhält der_die Leser_in einen Einblick in die gesellschaftlichen Besonderheiten des patriarchalischen Nigeria, aber irgendwie war das mehr so ein Buch für zwischendurch. Nicht schlecht, aber eben auch kein Must-Read...

    © Parden

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  1. Der Mann an der Wiege

    Gerade ist Bambi von seiner derzeitigen Freundin aus der Wohnung geworfen worden. Der junge Mann findet Unterkunft im Haus seines verstorbenen Onkels, wo er überraschender Weise nicht nur seine verwitwete Tante vorfindet, sondern auch ein Baby und die ehemalige Geliebte seines Onkels. Die drei Erwachsenen müssen eine Art Zweckgemeinschaft bilden, denn das Land befindet sich im Corona Lockdown. In der Enge der häuslichen Situation spitzt sich die Situation zu, als beide Frauen behaupten, sie seien die Mutter des Kindes.

    „Das Baby ist meins“ von der nigerianischen Schriftstellerin Oyinkan Braithwaite ist kein Roman, mehr eine Kurzgeschichte, jedenfalls ein kryptisches Kammerspiel. Der scheinbar unerschütterliche Grundsatz „mater semper certa est“ gerät hier ins Wanken. Das Thema des Streits um ein Kind ist so alt wie das Alte Testament. Dass man heute mittels DNA Test die Verwandtschaft bestimmen könnte, übergeht die Autorin mit der derzeitigen Überlastung sämtlicher Labore aufgrund der COVID 19 Pandemie. Überhaupt ist der aktuelle Bezug in dieser Geschichte tonangebend.

    „…fühlte es sich seltsam an, die Alexander Road entlangzufahren und kaum einem anderen Fahrzeug zu begegnen. Man konnte sich schwer vorstellen, dass das Leben je wieder wie vorher werden würde.“

    Es ist eine eigene Stimmung in dem Haus des Onkels. Es wirkt verwahrlost, aufgegeben. Immer wieder fällt der Strom aus. Irgendwo treibt ein krähender Hahn Bambi in Rage. So erbittert der Streit der beiden Frauen – Auntie Bidemi und Esohe – um die Mutterschaft geht, ist es umso erstaunlicher, dass es oft nur Bambi ist, der sich um das Baby kümmert. Es mag mitunter auch an seinem Namen liegen, aber dem jungen Mann ist - obwohl ein Schwerenöter, der in den Tag hineinlebt und sich vor jeglicher Verantwortung drückt – die Leserin wohlgesonnen.

    Oyinkan Braithwaite bedient sich einer lakonischen und pointierten Sprache. Die psychische und emotionale Ausnahmesituation ist nur mit einer Prise schwarzen Humors aushaltbar. Die Autorin verteilt in diesem Kammerspiel die Rollen Frau und Mutter, Mann und Playboy zunächst ganz klassisch. Doch beim nächsten Hinschauen haben die Darsteller das Fach gewechselt. Hier kann man sich keiner Person sicher sein. Das Buch endet zu einem Zeitpunkt, wo andere Geschichten erst loslegen. Der offene Ausgang lässt einige Salomonische Schlüsse zu.

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  1. Skurriler Kurzroman aus Nigeria

    Ich-Erzähler Bambi ist gerade wegen wiederholter Untreue bei seiner Freundin Mide rausgeflogen. Wo kann man mitten in der Nacht bei geltendem Corona-Lockdown ein günstiges Domizil finden? Bei der Familie. So bezieht er ein Zimmer im Haus seines verstorbenen Onkels, das jetzt seine Frau Auntie Bidemi mit dem Neugeborenen Remi alleine bewohnt. Welch eine Überraschung, als er neben der Tante auch noch des Onkels ehemalige Geliebte Esohe im Haus antrifft. Der Grund ihrer Anwesenheit mutet ziemlich skurril an: Die beiden Frauen streiten lautstark um den Säugling. Jede beansprucht die Mutterschaft für sich, Bambi soll die Position der Familie vertreten und die Nebenbuhlerin des Feldes verweisen. Doch so einfach ist das nicht!

    Beide Frauen kämpfen mit ausgefahrenen Krallen, blutigen Traditionen und wenig Rücksicht auf das Kind um ihren Anspruch. Remi wird aus dem Schlaf gerissen, sporadisch gefüttert und zum Spielball der geifernden Frauen gemacht, bis schließlich Bambi die nächtliche Hege des Kindes übernimmt. (Wo er seine bemerkenswerten Kenntnisse gesammelt hat, bleibt im Dunklen). Obwohl Remi das Tohuwabohu relativ gelassen hinnimmt, ist keine Ruhe in Sicht. Jede Frau versucht, sich Vorteile zu verschaffen und Bambi auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Bambi eroiert die Möglichkeit von DNA-Tests, zieht Babyfotos heran – stichhaltige Indizien ergeben sich daraus nicht.

    Die Frauen lassen nicht nach, führen vermeintliche Beweise ihrer Mutterschaft an. Bambi ist der Mann im Haus. Er will nicht nur ordentlich verpflegt und bedient werden, er soll auch Recht sprechen. Die Dialoge sind kurzweilig mit Esprit verfasst, auch wenn die gesamte Grundproblematik skurril anmutet. Die Figuren wirken auf mich so schablonenhaft, dass ich eine offene Gesellschaftskritik dahinter vermute, Nigeria ist noch patriarchalisch strukturiert. Die Einbeziehung der aktuellen Corona-Pandemie ist originell, legt aber auch den Verdacht nahe, dass der kleine Roman in relativ kurzer Zeit geschrieben wurde.

    Die Kammerspiel-Atmosphäre bleibt bis zum Schluss erhalten. Bambi ist kein Sympathieträger, sondern ein Macho in Reinkultur. Er ist hin- und hergerissen zwischen Familiensolidarität und Esohes Attraktivität, zudem möchte er sich eigentlich aus dem Konflikt raushalten und nur den Kleinen beschützen.

    Zum Ende hin ergeben sich noch ein paar neue Aspekte, die den Leser einerseits überraschen. Andererseits fehlt aber auch die schlüssige Begründung für den relativ friedlichen Ausgang. So richtig überzeugen konnte mich der Roman nicht, wenn ich ihn auch interessiert gelesen habe. Er kommt an den Vorgänger „Meine Schwester, die Serienmörderin“, der mich in vielerlei Hinsicht begeistert hat, nicht heran. Dennoch ist der überzogene Streit zweier Frauen um ein Baby unterhaltsam zu lesen. Das Buch ist hübsch gestaltet und hat in der Printausgabe 128 Seiten. Länger hätte man es auch auf keinen Fall ausweiten dürfen.

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Die letzten Meter bis zum Friedhof

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Rezensionen zu "Die letzten Meter bis zum Friedhof"

  1. 4
    21. Aug 2020 

    Du suchst deinen Mörder und findest dich selbst...

    Jaakko ist 37, als sein Arzt ihm eröffnet, dass er bald sterben wird: Jemand hat ihn vergiftet. Das an sich ist schon genug, um einem Mann so richtig den Tag zu verderben. Leider wird Jaakko zu Hause auch noch Zeuge, wie ihn seine Frau mit Petri betrügt, dem jungen knackigen Angestellten der gemeinsamen Firma. Der Firma, die jüngst gefährliche Konkurrenz bekommen hat.

    Jaakko beschließt herauszufinden, wer ihn um die Ecke bringen will. Und er wird sein Unternehmen für die Zeit nach seinem Tod fit machen. Das Geschäft mit den in Japan zu Höchstpreisen gehandelten Matsutake-Pilzen läuft nämlich blendend, und in Finnlands Wäldern wachsen nun einmal die besten. Doch die neuen Mitbewerber kämpfen mit harten Bandagen. Ist es da Jaakkos Schuld, wenn jemand zu Tode kommt? Und hat er überhaupt noch Zeit für anderer Leute Sorgen? Eins ist jedenfalls klar: Mit dem Tod vor Augen geht’s irgendwie auch leichter.

    Obiger Klappentext verrät in der Tat sehr gut, um was es in dem Buch geht. Um seine Gedanken zu ordnen - und das tut Not angesichts der sich überschlagenden Ereignisse und der Kürze der verbleibenden Zeit - fährt Jaakko gerne ziellos mit dem Auto durch die Straßen der kleinen Stadt. Wer hat ihn vergiftet und weshalb? Wer oder was steckt hinter dem plötzlichen Konkurrenzunternehmen in der Pilzbranche? Steht seine Firma ebenso vor dem Aus wie er selbst? Und wem kann er überhaupt noch vertrauen?

    „Bist du krank?“, fragt sie. --- „Nein“, entgegne ich. Ich fühle mich tatsächlich in diesem Moment ganz gesund. Ich bin ja auch nicht wirklich krank, ich sterbe nur.

    Jaakko beschließt jedenfalls, keine Zeit damit zu verlieren, zur Polizei zu gehen und zu versuchen, die merkwürdigen Umstände zu erläutern, die sich gegen ihn verschworen haben. Bis die Polizei einen möglichen Täter gefunden hat, ist der 37Jährige womöglich schon tot. Es bleibt ihm also nur, selbst nach seinem Mörder zu fahnden. Und im Rahmen seiner Ermittlungen kommt es dann zu allerlei skurrlien Begegnungen...

    Natürlich ist Jakkoo schockiert über die Nachricht, dass er bald sterben wird. Aber so kann er eben auch plötzlich jeden Augenblick so leben, als sei er sein letzter, was ihn Dinge machen lässt, über die er zuvor nie auch nur nachgedacht hätte. In jedem Fall ruiniert er nach und nach seine komplette Garderobe, denn immer wieder landet er aus diversen Gründen in Dreck und Schlamm, was letztlich fast so etwas wird wie ein Running Gag.

    Trotz des drohenden Todes mit einigen durchaus schwermütigen Gedanken, kommt hier auch der Humor nicht zu kurz. Schwarz, trocken, morbide kommt der daher, so dass der Hörer hier auch durchaus was zu lachen hat. Skurrile Szenen gibt es hier zudem zuhauf, so überzogen oft, dass sie den Wirklichkeitstest sicher nicht bestehen würden - Spaß machen sie trotzdem. Ob nun eine Verfolgungsjagd im Kreisverkehr, ein actionmäßig gekonnt in Szene gesetzter Suizid oder ein zweckentfremdeter Saunaofen: man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

    Ein wenig fehlte mir hier phasenweise der Spannungsbogen, gerade im Mittelteil zog sich die Erzählung für meinen Geschmack etwas zäh in die Länge. Dann aber überraschte der Autor wieder mit ungeahnten Wendungen - und letztlich kommt eben doch immer alles anders als gedacht.

    Jaakko fungiert hier als Ich-Erzähler und ist demzufolge der Charakter, der am sorgfältigsten ausgearbeitet wurde und den man im Verlauf immer besser zu kennen glaubt. Schön fand ich, dass er bei aller Betroffenheit über seine tödliche Vergiftung nicht in Selbstmitleid verfiel, sondern im Gegenteil zunehmend das Heft selbst in die Hand nahm und dadurch lebendiger wurde als je zuvor. Die anderen Charaktere blieben eher eindimensional, was hier aber nicht schlimm ist, allenfalls skurril.

    Mich hat das Hörbuch (ungekürzte Ausgabe, 7 Stunden und 57 Minuten, passend unaufgeregt gelesen von Peter Lontzek) jedenfalls so gut unterhalten, dass ich gerne Ausschau halte nach weitern Büchern von Antti Tuomainen.

    © Parden

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  1. Ein Raum aus Zeit, der schwindet

    Jaakko geht wegen einer hartnäckigen Magendarmgrippe zum Arzt – und wird zum Sterben nachhause geschickt. Irgendjemand hat ihn vergiftet, offenbar über einen langen Zeitraum hinweg. Alle Organe sind bereits so stark geschädigt, dass da nichts mehr zu machen ist; er hat nur noch ein paar Tage, allerhöchstens Wochen.

    Wer steckt dahinter? Seine Ehefrau und ihr beschämend attraktiver Liebhaber? Die zwielichtige Konkurrenz, die seinem florierenden Pilzhandel nur zu gerne die Kundschaft stehlen würde?

    Jaakko wird herausfinden, was dahintersteckt – auch wenn es höchstwahrscheinlich das Letzte ist, was er tut. Aber bis dahin pflastern erstmal die Leichen anderer Menschen seinen Weg… Düster ist es in Finnland – bitter die Schwermut, schwarz der Humor.

    Es gibt Szenen, die actiongeladen und brutal auch in einem Film von Tarantino nicht fehl am Platz wären. Gnadenlos überzogen, da muss man jeglichen Gedanken an Glaubwürdigkeit erstmal fallen lassen. Aber irgendwie funktioniert das.

    Es gibt Szenen, bei denen man sich totlachen will, wo einem das Lachen dann aber quer im Halse stecken bleibt. Darf man das, so über den Tod lachen? Über eine Tragödie, die ihrem Helden quasi das Leben von den Knochen schabt? Ja, darf man, vor allem, wenn der Humor so gekonnt und wohldosiert eingesetzt wird.

    Dies ist eine Tragikomödie mit Flair, die ihre Munition nicht unbedacht verpulvert.

    Und nebenbei, vollkommen überraschend: Tiefgang, das kann Antti Tuomainen auch. Und dieser Tiefgang ist es auch, der für die nötige Balance sorgt, so dass der Humor nicht zu viel wird, die Geschichte nicht zu platt.

    Noch bei den skurrilsten Entwicklungen schwingt ein leiser Ton lebenskluger Philosophie mit. Denn so klischeebehaftet es klingt, so zutiefst ehrlich und lebensnah liest sich das: erst im Angesicht des Todes wacht Protagonist Jaakko auf und begreift, was das Leben noch alles zu bieten hätte. Nur ist es jetzt zu spät. Oder?

    Er hat nicht mehr viel Zeit, aber er packt so viel Leben in jede Minute, wie möglich – allerdings nicht, indem er einen Baum pflanzt oder einen Sohn zeugt. Seinen Mörder finden, das will er unbedingt noch schaffen, bevor er den Löffel abgibt. Und seinen Betrieb retten, obwohl ihm das ja eigentlich schon egal sein könnte. Nebenbei kann er ja noch am ein oder anderem Blümchen riechen.

    Fest steht: irgendwie erleichtert ihn sein bevorstehender Tod auch. Er hat nicht mehr genug Platz im Handgepäck für Nebensächlichkeiten.

    Was wir hier haben, ist eine Geschichte mit scheinbar überschaubarem Verlauf und Ende. Schließlich weiß man von Anfang an, was passiert und wie es unvermeidlich enden wird: Jaakko stirbt. Ob er seinen Mörder findet oder nicht, ob er seinen Betrieb rettet oder nicht. Nicht vielleicht. Nicht im schlimmsten Fall.

    JAAKKO. STIRBT.

    (Oder? Die Hoffnung stirbt zuletzt.)

    Dennoch baut der Autor einige unerwartete Wendungen ein, die es in sich haben. Während dem Leser noch der Kopf schwirrt, wartet Tuomainen mit einem brillant geschriebenen Charakter nach dem anderen auf, dem das Kunststück gelingt, gleichzeitig lebensecht und wie ein Klischee zu wirken. Er treibt diese Klischees auf die Spitze, bis man sich denkt: ja klar, solche Menschen muss es doch auch wirklich geben. Wahrscheinlich in Finnland.

    Das ist so zutiefst originell und einfallsreich, dass man sowas wie logische Schlüssigkeit gar nicht vermisst. (Das muss man als Autor auch erstmal schaffen.) In dieser Stadt, in diesem verklingenden Leben, sind die Dinge nun mal, wie sie sind. Und das nimmt den Leser, der sich darauf einlässt. mit auf eine spannende, lustige, tragische Reise. Alles auf einmal.

    Jaakko selber ist ein liebenswerter Mensch mit Macken und Fehlern, der durch seinen nahenden Tod paradoxer Weise erst so richtig aufblüht.

    Das Sahnehäubchen auf dem Beerdigungskuchen ist der Schreibstil. Mal ist er locker-leicht, mal so karge und knochentrocken, dass man zum Glas greifen will. Aber immer zielsicher mitten rein, ob nun ins Herz oder ins Zwerchfell. Und manchmal wird er gar melancholisch-poetisch – ohne so zu klingen wie die pseudo-poetischen Ergüsse auf Grußkarten. Da haut der Autor einem mal so eben die eigene Sterblichkeit um die Ohren.

    "Es ist seltsam. Wie lange ich in dem Glauben gelebt habe, unsterblich zu sein, als würde Sommer auf Sommer folgen, als würde der nächste besser werden als der vergangene. Wahr ist, dass wir nur einen Augenblick haben: einen Moment lang Sonne, einen hellen Schein, den wir nicht verstehen, einen Raum aus Zeit, der schwindet."
    (Zitat)

    Fazit

    Jaakko hat gerade erfahren, dass er nur noch wenige Tage, höchstens Wochen, zu leben hat – Organversagen durch eine lange andauernde, schleichende Vergiftung. Die Zeit, die ihm bleibt, will er nutzen, um aufzuräumen: seinen Mörder finden, seinen Betrieb so hinterlassen, dass dieser Chancen am Weltmarkt hat.

    Skurril. Morbide. Zum Schreien komisch. Tragisch. Actiongeladen, Mit Tiefgang. Absurd.

    Über das Buch kann man vieles sagen, auch viel Widersprüchliches. Aber es ist alles wahr, alles auf einmal, denn es schert sich keinen Deut um Konventionen und Genregrenzen. Verfolgungsjagden im Kreisverkehr (!!) kommen hier genauso vor wie choreographisch beeindruckende Actionszenen mit ungeplantem Suizid.

    In meinen Augen ist das sehr gelungen und wirklich mal was ganz Anderes, wenn auch sicher nichts für allzu Zartbesaitete.

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  1. 4
    12. Jan 2020 

    Fast tot

    Seit einiger Zeit fühlt Jaako sich nicht wohl. Endlich geht er zum Arzt, der ihm mitteilt, dass die Untersuchungen Hinweise auf eine Vergiftung ergeben haben. Diese sei schon so weit fortgeschritten, dass nichts mehr zu machen sei. Schockiert überlegt Jaako, wer einen Grund haben könnte, ihn zu töten. Tja, wer? Jemand aus seinem Umfeld? Er muss unbedingt mit seiner Frau sprechen. Daheim angekommen ist das erste was er sieht, seine Herzensdame, die sich mit einem Angestellten vergnügt. Ist da das Motiv? Oder liegt es doch eher in seiner Firma, die Pilze nach Japan liefert und die plötzlich Konkurrenz bekommen hat.

    Schon seltsam, man geht zum Arzt und erfährt, dass man eigentlich schon so gut wie tot ist. Damit muss man erstmal zurecht kommen und auch mit dem Gedanken, dass einem offensichtlich einer ans Leder will. Fraglich, wem man noch vertrauen kann. Der eigenen Frau offenbar nicht. Und die Konkurrenz beginnt, Mitarbeitern in seiner Firma Arbeitsplätze anzubieten. Haben sie alle Jaako etwa schon abgeschrieben? Das lässt Jaako nicht mit sich machen. Er will unbedingt herausfinden, was wer vorhat. Und wenn es das Letzte ist, war er tut.

    Richtig schön schräg ist dieser Kriminalroman um skurrile Typen aus Finnland. Natürlich ist es eine Ausgangslage, in der man nicht stecken möchte. Da ist man doch lieber gesund. Aber nichtsdestotrotz Jaako packt es an. Er gibt nicht einfach auf und damit ergibt sich eine spannende Gemengelage, die es aufzulösen gilt. Wahrscheinlich nicht perfekt und manchmal vielleicht auch etwas weit hergeholt, aber so witzig oder gar irrwitzig wie sich die Handlung entwickelt, da kann man einfach nur weiterlesen. Leicht und vergnüglich, aber auch fesselnd besticht dieser Roman mit seinem Helden quasi auf Krücken. Gerade das Richtige für einen entspannten Sonntagnachmittag.

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Brumm!

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Rezensionen zu "Brumm!"

  1. Ein originelles Lesevergnügen

    „Bei uns sagt man, der Panda ist freundlich und die Verkörperung der Seelenruhe, doch begegnest du ihm, tritt ihm nicht zu nahe, willst du nicht gegen einen gnadenlosen Krieger kämpfen.“ (Zitat Seite 46)

    Inhalt
    Dr. Urs A. Podini, 46 Jahre alt, von seiner egozentrischen Lebensgefährtin Karolin „Bärchen“ genannt, ist als Werbemanager und Co-Geschäftsführer eines Marketingunternehmens erfolgreich. Sein Traum von einer Professur für vergleichende Literaturwissenschaften und vom eigenen Roman dagegen hat sich nicht erfüllt. Gutmütig lässt er zu, dass ihn sein Leben lebt statt umgekehrt. Bis er eines Tages in der schrägen Boutique „Transitions!“ ein flauschiges Pandakostüm entdeckt, in das er mit einem zunächst vorsichtigen „Brumm“ schlüpft. Damit beginnt ein neues Leben für ihn, denn jetzt bestimmt sein Krafttier, der Panda, seine Handlungen, sanft, gemütlich, verspielt – doch wenn es darauf ankommt, fletscht er die Zähne und wird zum hartnäckigen Kämpfer.

    Thema und Genre
    Der Autor nennt seinen Roman eine moderne Fabel für unsere Zeit, in der Fakten bewusst durch gefühlte Wahrnehmungen ersetzt werden. Themen sind die alles bestimmende Medienpräsenz unserer Tage und ihre Scheinwelten, satirische Gesellschaftskritik und Politik. Es geht aber auch um Entscheidungen darüber, wer man sein will und wie man sein Leben gestaltet.

    Charaktere
    Ein Stückchen „Doktor Urs Ailuro Podini“ findet sich wohl im Leben vieler Menschen, die Entscheidung für Karriere und ein finanziell abgesichertes Leben, statt zumindest zu versuchen, die eigenen Träume zu leben. Kreativität ohne das notwendige Umsetzungspotential. Bei Dr. Urs A. Podini bewirkt der Panda in seinen Gedanken und dann auch in seinem Kostüm das Umdenken und die Veränderung. In welcher Form auch immer, als Leser schließt man diesen sympathischen, liebenswerten Hauptprotagonisten der Handlung sofort ins Herz.

    Handlung und Schreibstil
    Die Sprache zeigt den studierten Theaterwissenschaftler, sie führt uns flüssig durch die Handlung, ein großartiges Lesevergnügen. Unsere moderne Zeit der Influencer und ihrer Netzwerke, die Schwächen der derzeit die politische Bühne bespielenden Figuren werden gekonnt überspitzt, treffend, und mit einem großen Augenzwinkern beschrieben. Es sind der Humor und Witz, die skurrilen und doch aus dem Alltagsleben gegriffenen Szenen, die für laute Heiterkeit während des Lesens sorgen, unterbrochen durch Nachdenklichkeit und manchmal die Sorge um Urs. Denn auch sein Leben als erster anerkannter menschlicher Panda wird in der Geschichte immer noch von außen gesteuert, und als Romanfigur vom Autor, der mit einer überraschenden Wendung das von mir erwartete open End kappt. Für mich trotz verschiedener Andeutungen nicht stimmig, zu viel gewollt und zu bewusst konstruiert.

    Fazit
    Ein vergnüglich zu lesender, sprachlich großartiger Roman mit einer liebenswerten Hauptfigur. Mit einem grollenden „Brumm!“ für das Ende ziehe ich persönlich zwar einen Bewertungsstern ab, aber empfehle, dieses ungewöhnliche Buch auf jeden Fall zu lesen, es macht wirklich Spaß!

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