Eine Frau in New York

Buchseite und Rezensionen zu 'Eine Frau in New York' von Vivian Gornick
3.85
3.9 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Eine Frau in New York"

Wir finden zu uns, indem wir anderen begegnen. Vivian Gornick ist eine Suchende, und nichts beruhigt ihr fragendes Herz mehr als ein Fußmarsch durch die schwindelerregenden Straßenschluchten New Yorks. Auf der Suche ist sie nach sich selbst, nach der Frau, die sie sein möchte. Und so sind die alltäglichen Begegnungen ihr Elixier: Aus den Gesprächen auf der Straße erfährt sie von den Schicksalen der anderen und lernt aus deren Überlebenstechniken, sie liebt den Geschmack von Welt auf der Zunge, die Streitbarkeit der Vielfalt und genießt die Wahlfreiheit, die sie als ungebundene Frau in der Stadt hat.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
EAN:9783328600886
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Rezensionen zu "Eine Frau in New York"

  1. 3
    15. Jul 2020 

    Eine Frau streift durch New York

    Bei Vivian Gornicks Buch „Eine Frau in New York“ wird vom Verlag als Roman bezeichnet. Tatsächlich haben wir es aber eher mit Literatur zu tun, die kolumnenhaft verschiedene Eindrücke der Autorin auf Streifzügen durch ihre Stadt aneinanderreiht. Wir suchen also vergeblich nach einer Handlung, werden aber bedient mit einer Fülle von Gedankengängen der Autorin beim Anblick ihrer New Yorker Mitbürger und deren Handelns. Diese Gedankengänge und Eindrücke entspringen dem Geiste einer bewussten, feministisch denkenden Frau, die ihrer Zeit (geboren wurde sie 1935) sicher weit voraus war. Aus dieser Sichtweise der Klügeren, Weiter-Entwickelten bewertet sie oft sehr direkt und unbeugsam ihre Mitmenschen. Des Lesers Reise durch New York an der Seite von Vivian Gornick wird in dem Buch deshalb häufig zu einem Ausflug mit einer unerträglichen Besserwisserin. Viele Gedanken sind klug und geben Anreize zum Weiterdenken. Dafür bekommt das Buch für mich ein großes Lob. Allzu oft aber glitten für mich die Gedanken und Bewertungen auch ab in die Einbahnstraße einer Besserwisserin, die mir keinen Anreiz mehr gaben, weiterzudenken, sondern nur meinen Ärger heraufbeschworen. „Ich weiß es besser“ etwa ist eines der Finale einer Beobachtung auf dem Weg durch die Stadt.
    Vivian Gornick wird in Besprechungen immer wieder als eine Suchende bezeichnet. Für mich ist sie das nicht! Wer sucht, muss offen sein für Neues, neue Einblicke, neue Sichtweisen. Das ist sie in meinen Augen in diesem Buch definitiv nicht. Sie ist festgelegt und sucht nur nach Bestätigung, ohne den Geist zu öffnen. Ich kann deshalb dem Buch auch nicht die gute Bewertung geben, die es von anderen fast durchgängig erhalten hat.
    Bei mir überwiegt Ärger und das führt zu 3 mageren Sternen.

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  1. Die Seele spiegelt sich in der Stadt spiegelt sich in der Seele

    Dies ist weder Roman noch klassische Biografie, geschweige denn Bekenntnisliteratur oder Seelenstriptease. Das Buch wirkt über Genregrenzen hinweg, getragen von der starken Persönlichkeit einer außergewöhnlichen Frau.

    Es vereint zahlreiche Momentaufnahmen aus dem Leben und den Gedanken der Autorin zu einem losen Konglomerat, bar jeder Einordnung in einen starren Handlungsablauf. Der Bewusstseinsstrom erinnert meines Erachtens mal an Joyce, mal an Woolf, ist letztlich jedoch pur Vivian Gornick.

    Die Stadt ist dabei nicht nur Kulisse und Staffage.
    Nirgendwo sonst als in ihrem ganz speziellen Ambiente hätte dieses Buch entstehen können. Ich schlendere quasi mit meiner guten Freundin Vivian durch New York, und sie erzählt mir dies oder jenes, was ihr gerade einfällt, scheinbar wahllose Erinnerungsfetzen.

    Zwischendurch wird die Unterhaltung intimer, dann springt sie wieder zu einem weniger persönlichen Thema… Dies wirkt vielleicht zunächst wie eine beiläufige Plauderei, entpuppt sich jedoch schnell als keineswegs belanglos. Schöne, starke Sätze, über die sich das Nachdenken lohnt, enthüllen das Bild einer Frau, die hochintelligent, gebildet und selbstbewusst ist.

    Vielen dieser Sätze spüre ich erstmal ein Weilchen nach, bevor der Spaziergang weitergehen kann.
    So fand ich zum Beispiel ihre Gedanken zum Wesen der Freundschaft einerseits und dem Wandel der Erwartungen an die Freundschaft andererseits sehr interessant. Aber es gibt auch Passagen voller Humor, die runtergehen wie warme Butter, und solche mit großartigem Biss, die ich mit diebischer Freude las.

    Sehr oft drehen sich ihre Gedanken um Kultur und Literatur. Verschiedene Schriftsteller spielen eine Rolle, werden zitiert, versinken wieder im Fluss der Unterhaltung. Auch zum Feminismus gibt es natürlich einige Überlegungen – das lädt dazu ein, vieles nachzuschlagen, um mehr zu erfahren.

    Aber natürlich spricht Vivian nicht mit mir, sondern mit Leonard, mit dem sie eine einzigartige Freundschaft verbindet.
    Obwohl beide nichts mehr schätzen als ihre Gespräche, können sie sich nicht allzu oft treffen. Zu sehr ermüden sie sich gegenseitig mit ihrem in Sarkasmus verhülltem Weltschmerz. Zu massiv stürzt ihr hochintelligenter Schlagabtausch sie in depressive Verstimmung. Dennoch ist ihnen ihre Freundschaft diesen Preis wert.

    “In Wahrheit sind wir zwei einsame Reisende, die durch die Landschaft ihres Lebens stolpern und sich gelegentlich an den äußeren Rändern verabreden, um Grenzberichte zu erstatten.”

    Vivian Gornick ist eine echte Grande Dame, die sich mitnichten in süßlicher Nostalgie ergeht.
    Ich musste mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie im Jahr 1935 geboren wurde.

    Vor allem, was Emanzipation und Selbstwahrnehmung als Frau angeht, war sie ihrer Zeit weit voraus. Heute wächst man als Frau mit einer gewissen feministischen Grundausstattung auf; auch wenn man sich selber nicht als Feministin begreift, hat man das Wissen über Emanzipation und sexuelle Selbstbestimmung doch im Hinterkopf. Zu Vivians Zeiten war das noch nicht so, daher musste sie sich vieles selber erst erarbeiten.

    Sie ist eine kluge Frau, und sie weiß es. Sie beobachtet genauer, sie hinterfragt mehr, und auch das ist ihr bewusst. Manchmal mag sie vielleicht besserwisserisch wirken, weil sie das nicht versteckt, aber es ist eine echte Leistung als Frau dieser Generation, sich das Recht dazu einzufordern.

    Man muss und kann Vivian nicht immer mögen, aber das ist sicher auch nicht ihr Anliegen.
    Es ist wundervoll, wie viel Bedeutung sie in alltäglichen Zufalls-Begegnungen auf der Straße findet. Da spielt gar keine Rolle mehr, was ich eigentlich gerade lese – ob Autobiographie, Sammlung von philosophischen Essays oder Lobgesang des urbanen Lebens, in meinen Augen lohnt es sich so oder so.

    “Eine Sache oder auch alle gut zu machen, hätte bedeutet, sich leichtsinnig auf das Leben einzulassen – es mehr zu lieben als meine Ängste –, und das ging einfach nicht.”

    Fazit

    Vivian Gornick, Jahrgang 1935, lässt den Leser ganz ohne Erinnerungskitsch teilhaben an ihren vielfältigen Erfahrungen. Man sollte sich schnell von dem Gedanken verabschieden, hier eine Handlung von A bis Z vorzufinden – oder überhaupt jegliche Art von Struktur.

    Da geht es um Literatur und Gesellschaft, das postmoderne urbane Leben in all seinen Facetten, den Feminismus, dessen Vorstreiterin sie war. Sie lebt von Gesprächen mit Freunden und Begegnungen mit Fremden, zieht Energie aus dem stetigen Wandel ihrer Stadt, New York.

    Da ist alles im Fluss, von Alterssteifigkeit nicht die geringste Spur. Ich bin Vivian Gornick sehr gerne gefolgt auf ihren ziellosen, jedoch niemals sinnlosen Wanderungen durch die Stadt.

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  1. City Oddity

    New York: eine Stadt die nie schläft, ein gewaltiger Mikrokosmos, voller Gegensätze und gegensätzlicher Menschen. Dort lebt Vivian Gornick, dort begegnet sie Menschen, sucht und findet im heftig schlagenden Herz der Großstadt ihre Ruhe, ihre Bestimmung, ihren Platz.
    Vivian Gornick ist eine US-Amerikanische Journalistin, Literaturkritikern, überzeugte Feministin und Schriftstellerin. Vivian Gornick ist eine Frau in New York. Sie ist „The odd Woman and the City” (wie der Originaltitel des Buchs lautet. Das Buch ist eine „city oddity“, so kurios wie losgelöst, Episoden, die ineinander fließen, Gedanken, die um das große Ganze und die ganz kleinen Alltäglichkeiten kreisen. Die Autorin hat ein reiches Innenleben, sie beobachtet haarscharf und kommentiert mit ehrlichem und zumal auch bissigem Witz. Auf den ersten Blick mag Vivian arrogant wirken, aber damit teilt sie das Schicksal vieler anspruchsvollen, intellektuellen, denkenden Menschen.
    „Ich bin nicht die richtige für dieses Leben“, sage ich.
    „Wer ist das schon?“, sagt er.
    Er, das ist Leonard, ein homosexueller Schriftsteller, Vivians langjähriger Freund und Lebensbegleiter, ein Fixstern in Vivians Leben. Einer der sieht, was sie in ihrem Kopf herumträgt.
    Während Vivian durch die Straßen New Yorks flaniert, beschreibt sie Begegnungen, anrührende wie die Vaterliebe eines Mannes zu seinem beeinträchtigten Kind, skurrill amüsante wie der Dialog mit einer 90-jährigen über verflossene Liebhaber. Der intensive Puls der Stadt wird zu Vivians eigenem Herzschlag.
    Aus der kleinen Welt der jüdischen Bronx, wo die Autorin während der 1940er Jahre aufwuchs, aus der engen Welt der Mutter entwachsen, schildert die Autorin bisweilen sehr offenherzig über ihr sexuelles Erwachsenwerden, vom Wandel eines begehrten zu einem begehrenden Wesen. Sie berichtet von gescheiterten Beziehungen, Märchenprinzdoubletten, von Routinen und Tagträumen.
    Und von der Erkenntnis: „…mit unerwarteter Heftigkeit wurde ich mir nicht der Bedeutung, aber des Wunders der menschlichen Existenz bewusst. Da auf der Straße begriff ich, dass ich dabei war, zu mir selbst zu finden, die Gegenwart in Besitz zu nehmen.“
    „Eine Frau in New York“ ist eine Hommage an die Stadt, an die Freundschaft und vor allem an die unkonventionelle und selbstbestimmte Lebensweise. Ein intellektuelles Memoir gespickt mit klugen und merkwürdigen Sätzen. Ein Buch für das man sich Zeit nehmen muss, dem man die Langsamkeit des Flanierens entgegenbringen muss, um es wertschätzen und genießen zu können.

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  1. Hommage an New York

    Vivian Gornick ist mit ihrem Buch „Eine Frau in New York“ eine kleine Perle und Hommage an ihre Stadt New York geglückt. Die lose verknüpften Episoden mit dem Hintergrundrauschen der Großstadt mit ihren Möglichkeiten, Begegnungen und Menschen erlauben dem Leser ein Gefühl für die Autorin und für die Stadt, in der sie lebt.

    In zusammengestückelten Erinnerungsfetzen schreibt Vivian Gornick über Freundschaft, Liebe, Suche und Selbstfindung, manchmal mit journalistisch-distanziertem Blick auf die Menschen, die sie trifft, manchmal voller Nähe und Wärme für diejenigen, die sie begleiten. Sprunghaft und auf den ersten Blick zusammengestückelt begleitet man sie beim Lesen durch ihre Stadt und die Begegnungen, die für Vivian Gornick so essenziell sind. Die Stadt ist der Fluss, in dem alles schwimmt, der alles bewegt, die Stadt duldet und verzeiht, gibt keinen auf, der mit ihr verbandelt ist. Die Stadt liebt ihre Bewohner, sofern sie das nötige Temperament besitzen. Natürlich romantisiert die Autorin hier sehr, aber ich glaube der Vivian Gornick ihre Gefühle, die sie mit der Lebensart einer Stadt verbindet, in der Menschen und ihr Temperament wichtiger sind als gute Jobs und Sicherheit, und es ist großartig, genau dem Gefühl beim Lesen auf die Spur zu kommen.

    Mit äußerst wachen Blick betrachtet Vivian Gornick die Menschen und Situationen. Ich bewundere ihre Intelligenz und ihre Ehrlichkeit dahingehend, dass sie gegenüber dem Leser ihre eigenen Stachel des Unmuts und elitärem Denken zugibt. An anderen Stellen bekam ich beim Lesen Gänsehaut, so achtsam, großzügig und scharfsichtig sind ihre Analysen. Manchmal musste ich laut auflachen über klugen Witz, den sie situationsbedingt erkennt.
    Vivian Gornick betreibt Flanieren und nützliches Alleinsein, getragen von ihrer Stadt, von ihrer Suche nach sich selbst, von ihren Begegnungen, von ihrer Freundschaft und dem großen Gewinn, den sie für sich selbst daraus zieht.
    Das Buch hat mich in den Bann gezogen, nicht zuletzt wegen der sprachlichen Brillanz und wegen ihrer konsequent feministischen Betrachtungsweise.

    Es ist ein wunderbares Buch, wenn man sich darauf einlässt, dass es eben kein Roman ist sondern aneinandergereihte Episoden, die scheinbar nur ganz lose miteinander verknüpft sind aber dennoch einem Pfad folgen, nämlich dem der Stadt New York selbst, der Offenheit und Toleranz, dem Hochhalten der Freundschaft und dem „nützlichen Alleinsein“.

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  1. 3
    22. Jun 2020 

    Beobachtungen, Erinnerungen und Reflexionen

    Vivian Gornick ist eine in den USA bekannte Schriftstellerin und Feministin. Auf Deutsch ist bisher erst ihr Memoir „ Ich und meine Mutter“ erschienen. Nun ist ihr neues Buch unter dem Titel „ Eine Frau in New York “ auf Deutsch herausgekommen. Es ist kein Roman, sondern wir begleiten die Autorin auf ihren endlosen Fußmärschen durch New York , lesen von Begegnungen mit Freunden und Fremden und nehmen Teil an ihren Erinnerungen und Reflexionen. Das alles wird, scheinbar strukturlos, aneinander gereiht.
    Vivian Gornick, 1935 als Tochter jüdischer Einwanderer in der Bronx aufgewachsen ( „Als Kind in der Bronx zu leben, war, wie in einem Dorf aufzuwachsen.“), hatte schon früh einen Sehnsuchtsort, nämlich Manhattan. „ Hier zu leben, würde bedeuten, dass ich angekommen sei.“ Doch bald musste sie sich eingestehen, „ dass ich mich immer mehr zu einer gesellschaftlichen Randfigur entwickelte.“ Was ihr „ zorniges Herz“ heilen konnte, waren Spaziergänge durch die Straßen der Stadt.
    Dabei hat sie oft gewöhnliche und ungewöhnliche Begegnungen, die sie und uns unterhalten ( z.B. das Gespräch mit einer alten Trotzkistin über die mangelnden Qualitäten ihrer Liebhaber ), aber noch viel mehr Auslöser werden für Reflexionen.
    Die Begegnung im Bus mit einem Vater und seinem extrem missgestalteten, kleinen Sohn, bei der sie Zeugin wird eines intensiven, in Zeichensprache gehaltenen Gesprächs, ist eine der berührendsten Szenen im Buch.
    Oder die kleine Episode, bei der sie einem alten Mann über eine wackelige Planke hilft. Eine menschliche Geste, die keine große Dankbarkeit verlangt. Die führt zu einer banalen, aber trotzdem nicht weniger wahren Erkenntnis: „ ..., dass jeder Mensch, der in Schwierigkeiten gerät, das Recht hat, Hilfe zu erwarten, so wie jeder Zeuge die Verpflichtung, diese Hilfe anzubieten.“
    Eine Einladung bei Bekannten bewertet die Autorin knapp und vernichtend: „ Das Essen ist erlesen, die Konversation dagegen Junk Food.“
    Wir erfahren aber auch manches aus dem Leben Vivian Gornicks, lesen von ihren zwei Ehen und verschiedenen Liebhabern. „Erst nach dem Ende dieser beiden Ehen wurde ich sexuell erwachsen- das heißt, wurde ich mir meiner selbst als einem begehrenden im Unterschied zum begehrten Wesen bewusst.“
    Wir lesen vom problematischen Verhältnis zu ihrer anstrengenden Mutter. „Befreiung von den Wunden der Kindheit ist eine Aufgabe, die nie abgeschlossen ist, nicht einmal im Angesicht des Todes.“
    Sie erinnert sich an die Anfänge des radikalen Feminismus in den siebziger Jahren: „ ...dass wir , ..., primitive Anarchistinnen geworden waren. Wir wollten keine Reform, nicht mal Reparationen; wir wollten das gesamte System zerschlagen, die gesellschaftliche Ordnung zugrunde richten, egal, mit welchen Folgen.“
    Auch zahlreiche weibliche und männliche Schriftsteller und Dichter werden kommentiert und zitiert und in Beziehung zu ihren eigenen Erfahrungen gebracht. Ein Zitat von Winston Churchill z.B. „Es gibt keine dauerhaften Freundschaften, nur dauerhafte Interessen.“ ergänzt Vivian Gornick lapidar mit „ ...er irrt sich, es gibt auch keine dauerhaften Interessen.“
    Sie sieht sich in der Tradition eines Charles Dickens und Victor Hugos, die schon früh die Bedeutung der Großstadt und ihrer Bewohner erkannt haben und in der Nachfolge von Baudelaire und Walter Benjamin, die als „Flaneure“ in die Literaturgeschichte eingegangen sind.
    Dieses Buch ist ein Leseerlebnis, auf das man sich einlassen sollte; ein Buch, das man nicht verschlingt, sondern häppchenweise genießen kann. Manche Passagen haben mich berührt ( das waren dann eher Beobachtungen, weniger Reflexionen ), andere Abschnitte und Sätze haben mich zum Nachdenken gebracht, manche gelangweilt, ab und an erschien mir die Haltung der Autorin zu überheblich.
    „ Eine Frau in New York“ ist ein Buch, das mich nur teilweise erreichen konnte.

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  1. Stadtliebe

    Kurzmeinung: Dieser Roman ist nicht jedermanns Sache: ich liebte ihn.

    Dieser Roman gehört zu der literarischen Gattung „stream of consciousness“, eine Art des Romaneschreibens, die mit Victor Hugo und Walter Benjamin im 19. Jahrhundert begonnen hat, wie uns die Autorin herself im Buch mitteilt.

    Die Interaktion mit sich und dem Leser, so dass das Buch eine Art Selbstgespräch und Gespräch mit dem Lesenden geworden ist, läßt mich manchmal schmunzeln. Es ist als, ob Vivian zum Tee gekommen sei und mir von ihren letzten Spaziergängen durch die Stadt ihres Herzens und ihrer Seele erzählte. Sie greift dieses Erlebnis heraus, dann jenes, Ähnliches erzähle ich auch, wenn ich von der großen Stadt nach Hause komme.

    Die Uhren ticken anders in der Großstadt. Und besondes in New York, sagt die Autorin, die findet, dass ihre Stadt mit keiner anderen vergleichbar ist. Sie ist die Stadt des Miteinander und des Gegeneinander, immer noch ein Schmelztiegel und nicht totzukriegen, obwohl auch die Autorin über das heutige Aussterben der Urbanität nachgedacht hat, der Mittelstand bricht weg, weil die Unternehmen wegzogen in Billiglohnländer. Aber noch ist New York nicht tot und, wie Vivian glaubt, wird es auch nie sein. Es ist viel zu quirling und lebendig, als dass man sich seine Erstarrung vorstellen könnte. Hoffentlich behält die Autorin Recht!

    Der Roman hat einen großen autobiografischen Anteil: Zehn Kilometer Straße macht die Protagonistin, die eben auch die Autorin ist, jeden Tag. Zur Entspannung und zum Einsaugen des New Yorker Lebens. Ich hätte gerne gewusst, welche Schuhmarke sie bevorzugt trägt! Sie geht mit wachen Augen durch ihre Stadt, liebt sie, hasst sie, liebt sie. Sie bekommt einiges mit und davon erzählt sie in kurzen Sentenzen.

    Weiß man nun nach der Lektüre, wie New York ist? Ja und Nein. „Eine Frau in New York“ ist kein Reiseführer, das Buch gibt "lediglich" eine Seelenlage wieder, vermittelt Schwingungen, Stimmungen. Auf alle Fälle gibt es wieder, wie Vivian Gronick über New York denkt und welche Beziehung sie zu der Stadt hat.

    Aber sie erzählt auch von ihrem inneren Leben, von ihrem literarischen Leben, von Büchern, die sie kennt, von der Kunst, die sie gesehen hat, von ihren Freundschaften und von der Veränderung ihrer eigenen Lebensalter. Wie sie hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auch die Stadt grundlegend, ja fast radikal, verändert. Ein wenig nostalgisch schaut sie zurück auf die Zeit, als die Plätze und Straßen noch niedlich und sauber waren und alles seine Ordnung hatte.

    Aber letztlich akzeptiert sie die Veränderungen, die geschahen und die geschehen. Sie sagt ja zu den urbanen Veränderungen, New York wurde wurde schmutziger, härter, aber auch realer.

    Eines der letzten Bilder des Buches ist, wie sie sich in einer großen Menschenmenge in einem riesigen Konzertsaal mit Tausender fremder Menschen eins fühlt, allesamt Fremde, die jedoch alle gleichzeitig dasselbe wollen: die Musik in sich aufnehmen, lieben, leiden und leben. Und dieses Gefühl und diese Menschenmenge, das ist New York. Das macht die Stadt aus.

    Fazit: Man muss diese Art Bücher nicht mögen, aber wenn man sich darauf einlässt wird man mit einer einzigartigen Atmosphäre belohnt und begreift amerikanisches Lebensgefühl.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur.
    Verlag Penguin, 2020

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  1. 2
    21. Jun 2020 

    ...eine Collage aus Beobachtungen und Gedanken...

    Es fiel mir nicht so leicht, im Buch anzukommen. Das mag daran liegen, dass ich nicht darauf vorbereitet war, dass es kein Roman im eigentlichen, bzw. im von mir erwarteten Sinne ist.

    Nachdem ich mir klargemacht oder vorgestellt habe, dass ich Vivian Gornick in ihrem Alltag oder auf einem ihrer Spaziergänge durch die Straßen New Yorks begleite und dabei ihre Begegnungen, Gedanken und Erinnerungen verfolge, und nachdem ich aufgehört habe, nach einer stringenten Geschichte zu suchen, kam ich besser zurecht. Es gibt hier keinen roten Faden und keine Struktur; es ist eine Collage.

    Die Ich-Erzählerin und Autorin Vivian Gornick erzählt von ihrer seit über 20 Jahren bestehenden Freundschaft mit Leonard und von ihren verschiedenen Begegnungen in New York und sie lässt uns teilhaben an ihren Erinnerungen und Gedanken.

    Obwohl sie zeitlebens in New York gelebt hat, sehnte Vivian Gornick sich immer nach dem „richtigen New York“.
    Aufgewachsen in der Bronx, machte sie schon als Heranwachsende immer wieder Ausflüge in den gleichzeitig nahen und fernen, aufregenden, quirligen und lebendigen Sehnsuchtsort Manhattan.

    Diese Streifzüge durch Manhattans Straßen, in denen sie die Menschen beobachtet, sowie die Unterhaltungen und Begegnungen auf diesen Fußmärschen beruhigen ihren Zorn, verschaffen ihr das Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung und helfen ihr dabei, sich zu sortieren und zu sich selbst zu finden.

    Als Erwachsene zieht sie schließlich an den Ort ihrer Träume, studiert, heiratet einen Künstler und wird Schriftstellerin. Sie lässt sich scheiden, heiratet erneut und lässt sich wieder scheiden.

    „Eine Frau in New York“ ist ein Buch, das ich nicht „in einem Rutsch“ lesen konnte. Nach manchen Absätzen hatte ich das Bedürfnis innezuhalten, um über das Gelesene nachzudenken.
    Manchmal gefiel mir eine Formulierung oder ein Gedanke so gut, dass ich mir die Passage ein zweites Mal vornehmen musste.
    Und manchmal hatte ich einfach keine Lust mehr, weil es mir zu uninteressant abstrakt oder auch zu langweilig wurde.

    Man spürt ihre Freude „an abstraktem Denken in Verbindung mit dem konkreten täglichen Leben.“ (S. 60) und sollte selbst an beidem Freude haben, damit einem das Buch gefällt.

    Manchmal wirkt die Autorin etwas überheblich. So, als stünde sie im Gegensatz zu all denen, die keinen Durchblick haben, über allem.

    Dann wieder formuliert sie auf sympathisch - kluge Weise Gegebenheiten und Wahrheiten, die man ein zweites Mal lesen möchte oder muss, weil es so treffend und schön formuliert ist und zum Nachdenken anregt.

    Mir gefiel zum Beispiel ihr Verweis auf das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse, mit dem sie verdeutlichen wollte, dass viele Menschen immer nur nach der Erbse, dem Störenden und Unangenehmen in ihrem Leben, suchen, anstatt das Hier und Jetzt zu genießen.

    Ich persönlich finde es etwas schade, dass die Autorin so viele Themen anreißt und dann abrupt wieder beendet und zum nächsten geht. Das verhindert ein Eintauchen und eine tiefgründigere und komplexere Auseinandersetzung.
    Aber das ist natürlich dem von ihr gewählten Aufbau des Buches geschuldet und liegt wohl in der Natur der Dinge.
    Vivian Gornick stellt, wie oben beschrieben viele einzelne Vignetten und Ausschnitte nebeneinander. Dabei entsteht kein homogenes Bild, sondern eine zusammengestellte Collage aus vielen Einzelteilen.

    Es stellt sich durchaus die Frage, ob sie ihrem Inneren einfach freien Lauf gelassen hat. Ob ihre Gedanken, Erinnerungen und Beobachtungen schlicht freie Assoziationen sind. Ob die Abfolge der Passagen einem ungesteuerten Bewusstseinsstrom entspricht.

    Ich empfinde es nicht so. Für mich handelt es sich um eine ganz bewusst erschaffene Collage, die weniger natürlich und aus sich kommend als ziemlich „gewollt und gemacht“ auf mich wirkt.

    Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das Buch seine Freunde findet, aber meinem individuellen Lesegeschmack entsprach es unter’m Strich leider nicht.

    (2,5 von 5 Sterne.
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  1. Musik

    Osman studiert Musik in Hamburg. Er ist Cellist und versucht seinen Abschluß zu machen. Dieses Vorhaben wird boykottiert als sein Vater sich sein linkes Handgelenk gebrochen hat. Er ist Violonist und mit der linken Hand werden die Griffe auf dem Geigenkörper absolviert. D.h. er ist berufsunfähig. Seine Tante aus Essen ruft Osman an, um zu helfen und zu inervernieren. Jedoch vermeidet Osman sich der Situation zu stellen. Er möchte nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben. Im Laufe des Buches kommt dann raus, dass Osmans Mutter die Familie verlassen hat und die Schwester von seinem Vater im Endeffekt Osman und seinen Bruder groß zog.

    Darüber hinaus findet Osman auf dem Hamburger Bahnhof ein Diktiergerät. Er hört sich die Inhalte des Gerätes an und kann für sich neue Aspekte in seinem Leben erkennen und sich neuen Situationen stellen.

    Eigene Meinung:

    Dieses Buch hatte seine Momente. Teilweise war es auch etwas langatmig und nacherzählend. Für mich war dieses Diktiergerät zu weit hergeholt. Auf der anderen Seite geht es in diesem Buch größtenteils um das Hören, die Macht der Musik, Identität, Familienbande + Familiengeheimnisse. Jedoch waren best. Aspekte nicht gut ausgearbeitet und dümpelten in der Oberfläche, als das es tiefgehend berühren konnte. Auch Osman, der keine Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen konnte und immer wieder ins Vermeidungsmuster zurück ging nervte mich nach einer gewissen Zeit.

    Alles in allem war alles eher angedeutet. Es ging nicht in die Tiefe, obwohl das Buch vom Inhalt her es hergeben konnte!

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  1. Sprache, Sprachlosigkeit und alles dazwischen.

    Handlung:

    Osman studiert Cello. Die Liebe zur Musik und das Talent dafür hat er von seinem türkischen Vater Suat geerbt, mit dem ihn jedoch eine eher schwierige Beziehung verbindet. Gerade läuft es generell nicht so gut: Osman tut sich schwer mit einem Stück, das er bald im Rahmen einer wichtigen Prüfung spielen soll, er hadert mit seinen erblühenden Gefühlen für seine Mitbewohnerin, und dann bricht sich sein Vater auch noch das Handgelenk, was für den Profigeiger natürlich eine Katastrophe ist. Osmans Tante Elide, die ihn quasi großgezogen hat, nachdem seine deutsche Mutter Mann und Kinder urplötzlich im Stich ließ, fleht ihn um Unterstützung an, was ihn haltlos überfordert.

    Dann findet er ein Diktiergerät und flüchtet sich in den Klang und die Stille dieses fremden Lebens: dem Leben von Ella und ihrer gehörlosen Schwester Jo.

    Meine Meinung:

    Das Erste, was mir einfällt, wenn ich über diesen Roman nachdenke, ist die Vielfältigkeit der Sprache.

    Das Offensichtliche, Naheliegende: auf dem Fußballfeld wird anders gesprochen und gedacht als im Konzertsaal, und die Gedanken verschiedener Generationen und verschiedener Nationalitäten haben einen prägnant unterschiedlichen Klang, Takt und Rhythmus. So weit ist das wenig überraschend, verleiht vielen Szenen jedoch Atmosphäre und verwurzelt sie im Kontext.

    So wird die Sprache älterer Migranten, die das Deutsche eigentlich fast perfekt beherrschen, manchmal fast bis zur Sprachlosigkeit reduziert.

    Ich stutzte, ich ließ nachwirken, ich dachte nach. Ein wirkungsvolles Stilmittel, um zu verdeutlichen, wie wenig sich der ein oder andere Charakter auch nach einem halben Leben in der Fremde beheimatet fühlt – wie sehr Sprache und Heimat untrennbar miteinander verwoben und verwachsen sind.

    Interessanterweise fällt Tante Elide genau dann zurück in ihre „Mutterzunge“, als ihr deutlich wird, wie sehr ihr dieses Leben aufgezwungen wurde. Sie, die bis dahin in der Geschichte immer nur diejenige war, die einfach da ist, die alles auffängt, die immer hintenansteht hinter den Bedürfnissen anderer Menschen, stößt das Deutsche ab, jäh und unbewusst – und emanzipiert sich damit kurioser Weise ein Stück weit.

    Dennoch: in den Dialogen wird die Sprache manchmal etwas gestelzt oder auch übertrieben flapsig, gerät aus dem Fluss.

    Interessant ist jedoch insbesondere, wie die Sprache sich wandelt, sobald in irgendeiner Form der Hörsinn angesprochen wird. Da gurgelt es, gluckert und zischt, knallt und schleift, da wird jeder Klang und jedes Geräusch ausgekostet und gefeiert. Dann gewinnen die Gedanken des 24-jährigen Musikstudenten Osman, dessen Perspektive wir die meiste Zeit folgen, eine eindringliche, manchmal geradezu zornige Poesie. Ihm selber ist dies sicher nicht bewusst – seine Welt ist Klang und Schwingung, Tempo und Pegel, dies geschieht so automatisch wie das Atmen.

    Er drückt viel aus über diese Klangwelt. So zerschmettert er Altglas mit großem Getöse, statt über seine Gefühle zu sprechen. Die Musik ist ihm Fluch und Segen zugleich, und das spürt man in jedem einzelnen Wort.

    Osman liebt die Musik nicht nur , er hasst sie im gleichen Atemzug. Im Verlauf des Buches füllten sich meine Notizen mit unschönen Vergleichen: Er leidet an ihr wie an einer chronischen Krankheit. Hadert mit ihr wie mit einer toxischen Beziehung. Verzehrt sich nach ihr wie nach dem nächsten Schuss Heroin. Manchmal kotzt er sie geradezu heraus, die Musik, die ihn innerlich zerfrisst.

    Dies sind die Passagen, in denen das Buch seinen Bann über mich sprach, in denen es mich an die Zeilen fesselte. Die Autorin bringt ihre Worte so deutlich zum Klingen, dass man sich manchmal geradezu so vorkommt, als hörte man das Hörbuch.

    Osman ist eine gute Wahl als zentrale Figur des Buches.

    Er ist nicht nur (meist) sympathisch und erlaubt es dem Leser, sich ein Stück weit mit ihm zu identifizieren, sondern ist auch in seinen persönlichen Konflikten spannend. Da steht nicht nur seine Hassliebe zur Musik, sondern auch das schwierige Verhältnis zu seinem türkischen Vater, das Verlassenwordensein durch seine deutsche Mutter, die Art und Weise, wie er die Liebe seiner Tante gedankenlos als gegeben und selbstverständlich annimmt, seine zögerlichen Gefühle für seine Mitbewohnerin und nicht zuletzt die Faszination für diese Frau, die er nie getroffen hat: Ella.

    Aber er hat sie gehört, er kennt den Klang ihrer Stimme, ihres Atems und ihres Schweigens.

    Seit er ihr Diktiergerät gefunden hat, hört er es wie besessen immer wieder ab. Hört zu, wie sie über ihre gehörlose Schwester Jo spricht und deren anstehende Entscheidung, ob sie sich ein Cochlea-Implantat einsetzen lassen will oder nicht – was Jo, die nie gehört hat, das Hören ermöglichen könnte. Die Aufnahme enthält viele Passagen des Schweigens, in denen Osman lernen muss, genauer hinzuhören auf das Geräusch der gebärdenden Hände, besser umzugehen mit der Stille.

    Dies wird zu seinem Rettungsanker, ein Stück weit zu seinem Lebensinhalt.

    Allerdings fängt es hier schon an mit den Aspekten, die mich nicht vollends überzeugen konnten.
    Im Grunde fand ich diese Konstellation hochinteressant. Hier prallen zwei Lebenswirklichkeiten aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Osman, für den Musik und Leben untrennbar verwoben sind, und Ella und Jo, in deren Leben die Stille eine zentrale Rolle einnimmt.

    Aber Jo wird in diesem Roman so sehr an den Rand gedrängt, dass sie kaum noch existiert. Sie, die wie viele Gehörlose die Gebärdensprache als ihre Muttersprache betrachtet, wird nahezu sprachlos gemacht. Hier könnte so viel zu Wort kommen, hier könnte der Leser einiges erfahren über die komplexe Gehörlosenkultur – warum zum Bespiel so viele Gehörlose gar nicht hören wollen, warum sie das Cochlea-Implantat ablehnen.

    Das ist eine ganz eigene Welt, die hier jedoch nur als Aufhänger benutzt wird.

    In meinen Augen die größte Schwäche des Buches: Zu viele Themen, zu viele Erzählebenen, das hätte 500 Seiten füllen können (müssen?) statt 168. So werden manche Konflikte nur grob angerissen, wie zum Beispiel die Homosexualität von Osmans Bruder, die zum Bruch mit dem türkischen Vater führt. Manchen Themen hätte mehr Tiefgang gut gestanden – so zieht vieles am Leser so schnell vorbei, dass gar keine Zeit ist für den nötigen Wiederhall.

    Das passt nicht so recht zum Grundkonflikt von Osman: der muss im Verlauf des Buches erst lernen, sorgfältig und bedacht zuzuhören und auch Leerstellen zuzulassen.

    Fazit:

    Osman hat drei Probleme: Er studiert Cello und verzweifelt fast an dem Stück, das er in der nächsten Prüfung spielen soll. Dann bricht sich sein Vater Suat, seines Zeichens Profigeiger, das Handgelenk. Und auf einmal fordert Osmans Tante Elide seine Unterstützung, die er gerade nicht geben kann oder will.

    Zu seinem Rettungsanker wird das Diktiergerät, das er findet – er hört sich die Stücke eines fremden Lebens immer wieder an: Ella spricht über sich, spricht über ihre gehörlose Schwester Jo, und Osman lernt, die Stille zuzulassen.

    Die Sprache hat grandiose Elemente, gerade wenn Osman seine reiche Klangwelt zum Ausdruck bringt. Die Autorin spricht eine Vielzahl interessanter Themen an, und paradoxer Weise liegt genau darin mein Hauptproblem mit diesem Buch: für nur 168 Seiten sind es zu viele Themen, die dadurch nicht genug Raum bekommen, um mehr zu sein als Aufhänger – als Mittel zu dem Zweck, Osmans Geschichte voran zu treiben.

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Vierundzwanzig Türen: Roman

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Rezensionen zu "Vierundzwanzig Türen: Roman"

  1. Ein besonderer Adventskalender und seine Geschichte

    „Vielleicht lag es an der klaren, klirrenden Kälte dieses Morgens, dessen Licht rosig durch die Dämmerung brach und die Baumschatten als Hieroglyphenschrift auf mich zufallen ließ, daß bestimmte Momente meiner Kindheit in mir wach wurden.“ (Zitat Seite 22)

    Inhalt
    In der Vorweihnachtszeit eines modernen Haushalts mit zwei Töchtern im Teenageralter versucht der Erzähler, etwas von der besinnlichen Ruhe der Weihnachten seiner Kinderzeit in die Gegenwart zu bringen. Genau dies passiert, als seine Frau Stacy einen Adventskalender mit ungewöhnlichen Zeichnungen nach Hause bringt, den ihr ein alter Mann geschenkt hatte. Die Bilder erzählen eine Geschichte von Weihnachten in der frühen Nachkriegszeit, als der Handel auf dem Schwarzmarkt für viele Menschen der einzige Weg war zu überleben.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um Weihnachten einst und heute, um Hilfsbereitschaft und Familie.

    Handlung und Schreibstil
    Der Autor erzählt abwechselnd zwei Geschichten, die parallel in zwei unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Einerseits berichtet der Ich-Erzähler der Gegenwart von den Alltagserlebnissen, die in unserer Zeit untrennbar mit der Vorweihnachtszeit verbunden sind. Das tägliche Öffnen des Türchens auf dem Adventskalender öffnet in ihm jedoch auch eine Erinnerung an die Weihnachten seiner Kindheit in den fünfziger Jahren, die er seiner Familie schildert. Gleichzeitig erzählen diese Bilder die Geschichte von drei jungen Männern, die sich durch den Diebstahl von zwei Gemälden und Eintausch auf dem Schwarzmarkt Heizmaterial und Lebensmittel für das kommende Weihnachtsfest finanzieren wollen. Gekonnt verbindet er diese Geschichten zu einem weihnachtlichen Ganzen. Ich schätze den Autor für seine poetische, wunderbar schildernde Sprache, die auch diesen Roman zu einem Lesevergnügen macht.

    Fazit
    Eine poetische Weihnachtsgeschichte, verbunden durch Erinnerungen, Hoffnung und den Zauber dieser besonderen Zeit.

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Damals

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Rezensionen zu "Damals"

  1. 4
    24. Aug 2022 

    Drei Erzählebenen, zwei Themenbereiche, sehr interessant

    Dieses Buch ist per definitionem der Autorin eine Autofiktion. Dazu habe ich im betreffenden englischsprachigen Wikipediaeintrag folgendes Zitat gefunden: "Hustvedt has said she "[...] actively [hoped] to undermine" the assumption that autobiographical fiction by women tends to be less imaginative than equivalent works by men."

    Für die Rezeption dieses Romans ist wichtig, dass man das Wort "imaginative" ernst nimmt. Hustvedt arbeitet nämlich nie eindeutig heraus bzw. spielt gezielt mit den Annahmen der Leser:innen, was an der Geschichte "wahr" ist und was nicht. Es gibt drei Erzählebenen:

    1. Eine Schriftstellerin (S.H.) berichtet aus dem Jahre 2017/18 heraus über ihr erstes Jahr in New York, nachdem sie 1978 nach ihrem Collageabschluss aus Minnesota dorthin gezogen ist, um im Folgejahr an einer Uni Literatur zu studieren. Sie erhielt damals den Spitznamen "Minnesota", da sie aus der Provinz stammte. Die Schriftstellerin erzählt nicht nur über ihre Vergangenheit in New York sondern außerdem noch über die Gegenwart mit ihrer demenzkranken über 90 Jahre alten Mutter. Aber sie formuliert auch essayistische Gedankengänge aus zum Zustand der Gesellschaft bezüglich der Wahrnehmung von Frauen und Theorien wie unsere Erinnerungen immer nur verfälscht sein können, da sie in der Gegenwart stattfinden und sich mit jedem Erinnern wandeln.

    2. Es gibt lange Textpassagen aus dem ersten (Jugend-)Roman, an welchem "Minnesota" in ihrem ersten Jahr in New York arbeitete und welcher im Laufe des Romans "Damals" immer mehr von den berichteten Erlebnissen von "Minnesota" beeinflusst wird und sich mit der Zeit wandelt.

    3. Die 1970er "Minnesota" führt Tagebuch, welches die Schriftstellerin S.H. angeblich nutzt, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Die Tagebucheinträge werden immer länger und romanhafter, sodass zunehmen angenommen werden kann, dass diese ebenso von S.H. für den Roman "Damals" abgeändert wurden.

    Inhaltlich dreht sich vieles um die zunächst latente Unterdrückung der Protagonistin als Mädchen und Frau und die allgemeine Misogynie in der Gesellschaft. Aber es wird auch eine gerade noch abgewendete Vergewaltigung, wie überhaupt zu dieser Situation kommen konnte und deren Folgen thematisiert und auf allen Erzählebenen durchdekliniert. Aber eben auch das Thema Erinnerungen und Verzerrung von Erinnerungen taucht immer wieder auf.

    Insgesamt hat mir der Text sehr gut gefallen. Siri Hustvedt beherrscht ein literarisches Schreiben, welches stark essayistische Züge annehmen kann, jedoch immer flüssig lesbar bleibt. Manchmal wird sie dabei fast zu "alles erklärend" und hätte meines Erachtens etwas mehr Aussparungen vornehmen können. Gerade in den Textpassagen aus dem (Jugend-)Roman gab es für mich Längen. Trotzdem behalte ich die Autorin, von der dieser autofiktionale Roman das erste Werk ist, welches ich von ihr gelesen habe, definitiv im Blick und werde mich nun auch gern einmal durch einen rein fiktionalen Roman von ihr lesen.

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  1. Das erste Jahr in New York

    Die Protagonistin beschreibt ihr erstes Jahr in New York. Sie zieht weg von Minnesota nach New York. Sie möchte das erst Jahr für ein Buch nutzen, der in ihrem Kopf schlummert. Leider entwickelt sich die Geschichte nicht so wie sie es erhofft hat.

    Nach und nach lernt sie Menschen und gute Freunde in New York kennen. Ihre Nachbarin benimmt sich seltsam. Sie hört durch die Wand seltsame Selbstgespräche. Es dreht sich um eine unglückliche Ehe, Mord eines Kindes und Gewalt in der Ehe.

    Aber es geht auch in diesem Buch, um Dichterinnen / Bücher, die die Protagonistin geprägt hat.

    Das Buch ist sehr gehoben (sophisticated) und manchmal auch etwas mühsam zu lesen. Es ist sehr ausufernd. Z.B. habe ich persönlich immer wieder die Entwürfe ihres Romans übersprungen, da sie mir als Leser nichts gegeben haben.

    Mich hat sehr die Entwicklung der Protagonistin und das Verhältnis zu ihren fünf Freunden und zu der Nachbarin interessiert. Für mich entwickelte sich ab dem letztem Drittel ein Lesesog.

    Das Buch hat mich wirklich gefangen genommen und es hat mich auch nach dem Lesen nachhaltig beschäftigt. Es ist wirklich ein außergewöhnliches Leseerlebnis gewesen!

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Genquotient 8713: Thriller (Edition Totengräber)

Buchseite und Rezensionen zu 'Genquotient 8713: Thriller (Edition Totengräber)' von Ole Pankow

Inhaltsangabe zu "Genquotient 8713: Thriller (Edition Totengräber)"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:232
Verlag: Periplaneta
EAN:9783959960779
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Marzahn, mon amour

Buchseite und Rezensionen zu 'Marzahn, mon amour' von Katja Oskamp
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Marzahn, mon amour"

Katja Oskamp ist Mitte vierzig, als ihr das Leben fad wird. Das Kind ist aus dem Haus, der Mann ist krank, die Schriftstellerei, der sie sich bis dahin gewidmet hat: ein Feld der Enttäuschungen. Also macht sie etwas, was für andere dem Scheitern gleichkäme: Sie wird Fußpflegerin in Berlin-Marzahn, einst das größte Plattenbaugebiet der DDR. Und schreibt auf, was sie dabei hört – Geschichten wie die von Herrn Paulke, vor vierzig Jahren einer der ersten Bewohner des Viertels, Frau Guse, die sich im Rückwärtsgang von der Welt entfernt, oder Herrn Pietsch, dem Ex-Funktionär mit der karierten Schiebermütze. Geschichten voller Menschlichkeit und Witz, Wunderwerke über den Menschen an sich – von seinen Füßen her betrachtet.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:144
Verlag: Hanser Berlin
EAN:9783446264144
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Rezensionen zu "Marzahn, mon amour"

  1. Warmherzig und menschlich

    In der „Zeit“ bin ich in der Rubrik ,Freitext‘ auf Katja Oskamps Geschichten einer Fußpflegerin in Marzahn gestoßen. Und diese kleine Erzählung hat mich neugierig gemacht. Nun sind die Beiträge als Buch erschienen „Marzahn, Mon Amour“ und es ist nicht nur eine Liebeserklärung an einen Stadtteil, es ist vor allem eine Liebeserklärung an die Menschen, die dort leben.

    Die Alten, die seit dem Erstbezug der Plattenbauten dort leben, die neu Dazugekommenen, für die Marzahn in erster Linie billiges Wohnen bedeutet und all die Menschen, die man als typische Berliner bezeichnen könnte. Nie gibt sie ihre Protagonisten der Lächerlichkeit preis, sie lässt ihnen ihren Stolz auf ihr Leben und ihr Berlin. Das hat mich beeindruckt.

    Ich fand ihre Erzählungen warmherzig und sehr dem Menschen zugewandt. Sie lässt die ihre Charaktere für sich selbst sprechen und grade zwischen den Zeilen kann man vieles von den Brüchen der Wendezeit ahnen. Ich mochte alle ihre Klienten, vielleicht nicht grade den Herrn Hübner, aber er gehört auch im Biotop in Marzahn dazu. In ihren Geschichten findet sich zarte Poesie, aber auch das derbe Leben. Das unter einen Hut zu bringen ist Katja Oskamp wunderbar gelungen.

    Ich liebe diese Geschichten der Schriftstellerin aus Marzahn, die – weil man nicht immer von literarischer Arbeit leben kann, auch als Fußpflegerin tätig ist.

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Sumpfblüte (Edition MundWerk)

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