Als wir verloren waren (NORNENZEIT, Band 1)
Cover und Gestaltung
----------------------------
Den Titel ziert das Foto eines typisch englischen Dorfes. Anhand des Oldtimers kann man sehen, dass es schon älter sein muss. Optisch erinnerte es mich an die Reihe "Der Doktor und das liebe Vieh". Es passt zum Titel, dennoch hätte ich das englische Cover, auf dem die 5 Protagonistinnen abgebildet sind, passender gefunden.
Als Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen ist das Buch einfach ein tolles Schmuckstück im Regal.
Inhalt:
----------------------------
Chilbury, ein englisches Dorf in Zeiten des 2. Weltkrieges. Die meisten Männer sind im Krieg und wegen Sängermangel will der Dorfpfarrer den Chor auflösen. Doch dann kommt Musikprofessorin Primrose Trent aus London in den Ort. Sie beschließt, den Chor ausschließlich mit Sängerinnen wieder zu eröffnen. Mit dieser Entscheidung verändert sie entscheidend das Leben der Frauen und letztendlich des ganzen Dorfes.
Mein Eindruck:
----------------------------
Als erstes fiel mir der Sprachstil positiv auf: Man spürt sofort den gewissen, britischen Flair und obwohl die Geschichte in Kriegszeiten spielt, ist immer wieder der typisch britische Humor, manchmal auch Sarkasmus zu spüren. Die Handlung hat mich angenehm überrascht: ich hatte eine Geschichte erwartet, die sich ausschließlich um den Chor und die Musik dreht. Aber es wird viel über den Alltag der Frauen und ihre Gefühle berichtet. Die 5 weiblichen Hauptfiguren kommen mittels ihrer Briefe und Tagebücher abwechselnd zu Wort: Die dreizehnjährige Kitty Winthrop und ihre achtzehnjährige Schwester Venetia, das zehnjährige tschechische Flüchtlingsmädchen Silvie, sowie die verwitwete Mrs. Tilling und die leicht verbitterte Hebamme Mrs. Paltry. Diese persönlich formulierten Passagen wurden von der Autorin so geschickt eingeflochten, dass sich im Ganzen eine höchst spannende Handlung ergibt. Man erlebt tragische, komische, rätselhafte und aufregende Momente mit den 5 Frauen: Jeder im Dorf hat etwas zu verbergen, jeder tratscht über jeden und der Chor ist letztendlich der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Geschehens, der alle Frauen auf gewisse Art zusammen schweißt.
"Dinge, die man sich merken sollte, bevor die Menschen in den Krieg ziehen
- Die Form ihres Körpers - so sieht die Lücke aus, die Menschen reißen, wenn sie uns verlassen
- Die Art, wie sie sich bewegen, wie sie gehen, wie schnell sie sich umwenden
- Alle Gerüche und der persönliche Duft, der langsam vergeht
- Ihre Farbe, die alles überstrahlt, sogar ihren Tod." (Auszug aus Kittys Tagebuch, S.30)
Besonders Kittys Gedanken fand ich sehr beeindruckend, erscheinen sie für eine 13-Jährige sehr reif und sind gut und treffend formuliert. Aber auch insgesamt ist es interessant, die Entwicklung der Frauen zu beobachten. Viele entdecken durch den Chor, welche Stärken in ihnen schlummern und dass sie durch die Abwesenheit der Männer Talente entfalten können, die sich vorher unterdrückt hatten.
Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit: Die Autorin hat es auf Erzählungen ihrer Großmutter und deren Bekannten begründet, aber einen Teil auch dazu gedichtet. Ich war erstaunt, wie lebensnah diese Geschichte auf mich wirkte. Ich hatte den Eindruck, live dabei zu sein. Mir ging das Buch sehr nahe und ich hab bis zum Schluss mitgefiebert - ein echter Pageturner! In den Tagebucheinträgen und Briefen finden sich viele schöne Gedanken, weswegen ich das Buch noch öfter zur Hand nehmen und darin blättern werde.
Fazit:
----------------------------
Komisch, traurig, philosophisch und spannend bis zur letzten Seite: Ein phantastisches Beispiel für Stärke und Zusammenhalt von Frauen
Es ist das Jahr 1940 in einem kleinen Ort nahe der Südküste von England. Immer mehr Männer werden in den Zweiten Weltkrieg eingezogen. Während die Frauen um sie bangen und jede nur erdenkliche Abwechslung brauchen können, beschließt der Pfarrer, den Chor aufzulösen. Doch nicht mit den Frauen von Chilbury! Auf Initiative der Musikprofessorin Prim gründen sie einen eigenen Chor und wollen sogar an einem Wettbewerb teilnehmen.
Mir hat es gut gefallen, dass auch einmal die Geschichten der Daheimgebliebenen thematisiert werden. Ich mochte auch, dass diese aus den Perspektiven mehrerer Frauen erzählt werden - in Form von Tagebucheinträgen, Notizen und Briefen. Ihnen allen gibt der Chor Halt und schafft ein verbindendes Element. Doch in der Geschichte geht es längst nicht nur um das gemeinsame Singen an sich, sondern auch um die Schicksale und Leben der unterschiedlichen Frauen und Mädchen. Es geht um Liebe, Angst und Trauer, aber auch um Lügen und Betrug. Deshalb fand ich das Buch nicht nur bewegend, sondern auch spannend. Humorvolle wie traurige Momente werden erzählt, sodass beim Lesen keine Langeweile aufkam.
Jennifer Ryan zeichnet ganz unterschiedliche Charaktere und deren Entwicklung - und zwar mit solcher Klarheit, dass man der Geschichte gut folgen kann und sich gut in die Figuren hineinversetzen kann.
Nicht zuletzt hat mir der Schreibstil gefallen. Es liest sich sehr flüssig - was sicherlich auch der Brief- beziehungsweise Tagebuchform geschuldet ist. Die Passagen der Frauen unterscheiden sich stilistisch deutlich voneinander. Das wirkte größtenteils auch authentisch. Einen Punkt Abzug muss ich leider dennoch geben, weil ich es etwas unglaubwürdig fand, dass einige Zitate und Schilderungen zu ausführlich und ungewöhnlich für diese Art der Erzählform waren.
Mit "Der Frauenchor von Chilbury" ist Jennifer Ryan ein gefühlvoller, abwechslungsreicher Roman gelungen. Ich bin gerne in die Handlung eingetaucht und kann das Buch allen weiterempfehlen, die mal eine etwas andere Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs lesen möchten.
Folge 2: "Der einsame Hirte"
Vier Jahre sind seit dem tragischen Unfall, der Attilas Leben veränderte, vergangen. Die drei Freunde haben sich aus den Augen verloren. Doch da bringt ein Zufall sie wieder zusammen. Attila trifft seinen Securitate-Kollegen in einer geheimen Schwulenbar. Da ist mehr zwischen ihnen als nur Freundschaft. Aber dürfen sie eine Beziehung wagen? Viorica sieht ihre Chance darin, ihre Träume endlich wahr werden zu lassen, als Tiberiu sie darum bittet, Attila zu bespitzeln. Auf was für ein gefährliches Spiel lässt sie sich da nur ein...?
Rumänien in den 1980ern. Drei Freunde trotzen den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit. Der Ungar Attila schwärmt heimlich für seinen Lehrer. Sein bester Freund Tiberiu, Sohn des Chefs der rumänischen Geheimpolizei, möchte sich in der Armee beweisen, sympathisiert aber mit einer Revoluzzergruppe. Und die Roma Viorica wird zur Hochzeit mit einem gewalttätigen Mann gezwungen.
Als ein politischer Skandal die drei auseinanderreißt, müssen sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie kämpfen wollen. Für oder gegen den Diktator Ceausescu. Für oder gegen das eigene Glück.
Eine Geschichte über Verschwörung und Revolution, Liebe und Hass, und wie Freundschaft tiefe Gräben überwinden kann.
Der zweite Teil der vierteiligen ersten Staffel von Timisoara spielt in den Jahren 1983-86 und erzählt die Geschichte dreier Freunde unter der Herrschaft von Nicolae Ceaușescu in Rumänien. Die Autorin schafft es, die damalige Zeit für den Leser hautnah zum Leben zu erwecken.
Inhalt:
Vier Jahre sind seit dem ersten Teil vergangen. Die drei Freunde haben sich aus den Augen verloren und bekommen nun zufällig wieder Kontakt zueinander. Die Roma Viorica ist mit einem gewalttätigen Mann verheiratet, dem sie schließlich entflieht. Sie landet bei ihrem Freund Tiberiu, der ihr einen eher gewöhnungsbedürftigen Job bei der Securitate besorgt, wo der Ungar Attila inzwischen zu einem angesehen Mitarbeiter aufgestiegen ist. Es geht um Verschwörung und Revolutionsgedanken, verbotene Homosexualität, Liebe, Hass und vor allem Freundschaft, die es in dem totalitären System nicht wirklich leicht hat.
Cover:
Die Cover der Serie unterscheiden sich nur durch den jeweiligen Titel der Bände, ansonsten sind sie gleich, was leicht für Verwirrung sorgen kann. Die Rückansicht eines Mannes in blauer Uniform, dahinter die alte Fotografie eines Gebäudes. Passend, prägnant und dank des Timisoara-Schriftzugs leicht wiederzuerkennen.
Setting und Stil:
Die Autorin ist selbst zu dieser Zeit in Rumänien aufgewachsen und musste deshalb hautnah miterleben, was es heißt unter dem Regime zu leben. Man spürt jeder Seite an, dass sie weiß, worüber sie schreibt und man glaubt ihr, dass die beschriebenen Situationen so stattgefunden haben können. Ein äußerst gelungener Einblick in eine andere Zeit, die sich besser nicht wiederholen sollte. Ein ungeschönter Blick, den man als Leser erst einmal verdauen muss.
Die Geschichte wird aus Sicht der drei Hauptcharaktere erzählt, die völlig unterschiedliche Sichten auf die damalige Situation präsentieren.
Charaktere:
Viorica, Tiberiu und Attila sind Menschen, die das System geprägt hat. Es fällt sehr leicht sich in sie hineinzuversetzen und mit ihnen die doch meist ziemlich unangenehmen Ereignisse zu durchleben. Sie sind sehr unterschiedlich und haben trotzdem dank ihrer Freundschaft eine gemeinsame Basis. Die Möglichkeiten, sich gegenseitig zu helfen, sind beschränkt und dank Tiberius Abwanderung in den Widerstand hart auf die Probe gestellt. Ich bin gespannt, wie sie die nächsten Jahre durchstehen werden, das Ende ist auf jeden Fall sehr ungewiss.
Geschichte:
Attila meint sich dank seines hohen Postens bei der Securitate so ziemlich alles erlauben zu dürfen, wenn er sich da mal nicht getäuscht hat. Er hilft seiner alten Freundin Viorica, indem er sie bei sich arbeiten lässt, wobei ich diese Arbeit nicht wirklich einer guten Freundin geben würde. Tiberius plant inzwischen seine eigenen Schritte gegen das Regime und es spitzt sich alles langsam zu. Spannende Geschichten, schonungslose Momente und reichlich Hintergrundwissen über das Leben in Rumänien zu dieser Zeit.
Fazit:
Ein lohnenswerter und manchmal auch unangenehmer Ausflug in die Geschichte eines Landes, über das man zur damaligen Zeit hier nicht viel erfahren hat. Man merkt, dass es ein Anliegen der Autorin ist, diese Geschichten zu erzählen und es gelingt ihr, den Leser hautnah an den Ereignissen teilzuhaben. Mir hat der zweite Teil der Serie sehr gut gefallen, ich habe einiges über die damalige Zeit gelernt und einen Einblick in ein anderes Rumänien erhalten, das zum Glück nicht mehr existiert. Ich empfehle das Buch Lesern, die gerne realitätsnahe Geschichten lesen, mehr über Rumänien in den 80ern erfahren wollen und einfach Bücher lieben, die erzählt werden müssen.
Die richtige Entscheidung wird die falsche sein
Was wäre, wenn Sie gerichtlich bestellter Gutachter mit dem Auftrag wären, die Verhandlungsfähigkeit eines ehemaligen SS-Mannes festzustellen, der inzwischen hochbetagt ist und in einem Pflegeheim lebt? Wie begegnen Sie diesem Greis, gegen den die Indizienlage erdrückend ist, der Ihnen nun ebenso zerbrechlich und hilflos wie offen und freundlich gegenübersitzt? Spüren Sie die Blicke seiner Opfer im Nacken? Geraten Sie in Versuchung, Ihren Auftrag tendenziös auszuüben, damit eine lange zurückliegende Schuld endlich gerichtlich geahndet werden kann? Werden Sie die Würde jemandes wahren, der die Würde anderer hundertfach und mehr mit Füßen getreten hat? Kurzum: Werden Sie es schaffen, Ihren Auftrag korrekt zu erledigen? Das sind die Fragen, vor denen der Psychologe Auer steht, der Ernst Escher, ehemaligen Scharführer der Waffen-SS, zu begutachten hat.
Über booksnacks
Kennst du das auch? Die Straßenbahn kommt mal wieder nicht, du stehst gerade an oder sitzt im Wartezimmer und langweilst dich? Wie toll wäre es, da etwas Kurzweiliges lesen zu können. booksnacks liefert dir die Lösung: Knackige Kurzgeschichten für unterwegs und zuhause!
booksnacks – Jede Woche eine neue Story!
Über die AutorinKirsten Martha Wilczek, Autor/in/um, lebt und schreibt im niederrheinischen Nebel, macht beruflich irgendwas mit Recht, damit andere es behalten dürfen.
Klappentext:
Was wäre, wenn Sie gerichtlich bestellter Gutachter mit dem Auftrag wären, die Verhandlungsfähigkeit eines ehemaligen SS-Mannes festzustellen, der inzwischen hochbetagt ist und in einem Pflegeheim lebt? Wie begegnen Sie diesem Greis, gegen den die Indizienlage erdrückend ist, der Ihnen nun ebenso zerbrechlich und hilflos wie offen und freundlich gegenübersitzt? Spüren Sie die Blicke seiner Opfer im Nacken? Geraten Sie in Versuchung, Ihren Auftrag tendenziös auszuüben, damit eine lange zurückliegende Schuld endlich gerichtlich geahndet werden kann? Werden Sie die Würde jemandes wahren, der die Würde anderer hundertfach und mehr mit Füßen getreten hat? Kurzum: Werden Sie es schaffen, Ihren Auftrag korrekt zu erledigen? Das sind die Fragen, vor denen der Psychologe Auer steht, der Ernst Escher, ehemaligen Scharführer der Waffen-SS, zu begutachten hat.
Über die Autorin (Quelle: Kirsten Wilczek.com):
Kirsten Martha Wilczek ist in Viersen geboren, wo sie heute wieder lebt und als Anwältin arbeitet. Sie schreibt neben dem Beruf kurze Kriminalgeschichten. 2008 belegte sie zusammen mit Zsuzsa Bánk und Sabine Trinkaus dem ersten Platz beim Internationalen Kurzgeschichten-Wettbewerb der Stadt Mannheim.
Persönlicher Eindruck:
Die Kürze der Geschichte lässt nicht viel Raum, die Figuren zu entwickeln, aber es ist auch nicht nötig, dabei ins Detail zu gehen. Die Handlung, aus der Sicht des Gutachters erzählt, spricht für sich, und es gelingt der Autorin, das Dilemma des Protagonisten gut herauszuarbeiten. Eine Antwort auf die Kernfrage will sie nicht geben, sie überlässt es dem Leser, sich sein Urteil zu bilden. Alles in allem eine gelungene, trotz der Kürze spannende Auseinandersetzung mit einer Frage, die aktuell immer wieder diskutiert wird.
Fazit:
Kurze und eindringliche Betrachtung einer aktuellen Frage.
"Ich wollte nie wieder an das Geschehene erinnert werden und das Buch verbrennen. Doch Bücher kann man nicht mit Feuer vernichten! Sie überdauern das!" Konrad Gallinat, Buchhandelsgehilfe im Roman
Königsberg 1933 – Wilhelm Kirchner, der Inhaber der größten Buchhandlung Europas, wird von der geplanten Bücherverbrennung der Nazis herausgefordert. Gemeinsam mit seiner Nichte Emma und den beiden Mitarbeitern Konrad und Otto versucht er, so viele indizierte Bücher wie möglich zu retten. Aber auch ein geheimer literarischer Schatz soll vor dem Zugriff der Häscher versteckt werden. Doch schon bald sind die Buchhandlung, er selbst und seine Kollegen in größter Gefahr. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod.
Michael Paul nimmt seine Leser nach dem erfolgreichen Debütroman "Wimmerholz" diesmal mit in das alte Königsberg und das einzigartige "Haus der Bücher" am Paradeplatz.
"Ein spannender Roman voller historischer Realität. Handlung und Personen sind frei erfunden, die Geschichte hinter den dramatischen Geschehnissen aber ist erschreckend wahr und kann jederzeit wieder aktuell werden."
Jan Wiesemann, Verlag Gräfe und Unzer, München
Mit alten Fotografien der damaligen Buchhandlung, Informationen zum historischen Hintergrund und einem Vorwort von Arno Surminski.
Ein Storchenpaar, von bösen Vorahnungen geplagt, zieht aus dem warmen Süden in die Heimat, nach Belarus – in das Land der Wälder, Flüsse, Seen und Sümpfe. 26.04.1986: Super-Gau! Im Atomkraftwerk „W. I. Lenin“ in Tschernobyl. Schlagartig verdunkelt sich die Welt, Mensch und Natur gleichermaßen betreffend.
Ich war anfangs doch etwas verwirrt, was das Storchenpaar mit der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 zu tun haben könnte. Tatsächlich tauchen die Störche nur zu Beginn des Buches auf und stellen eine Art Sinnbild dar, da Störche in Weißrussland wohl sehr verehrt werden.
Tschernobyl - vor etwa drei Jahren las ich hierzu die sehr beeindruckende Dokumentation der weißrussischen Schriftstellerin Swetlana Alesijewitsch, der 2015 „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. Es blieb daher nicht aus, dass ich das vorliegende Buch zwangsläufig mit der Schilderung Alesijewitschs vergleichen würde.
Dieses Buch ähnelt dem der Literaturnobelpreisträgerin insofern, als hier die Geschichten verschiedener Menschen in Weißrussland erzählt werden, für die Tschernobyl ein tiefer Einschnitt in ihr bisheriges Leben bedeutete und bis heute bedeutet - sofern sie noch leben. Zwar kommen hier vorwiegend die sog. Liquiditoren zu Wort, also diejenigen, die die Aufgabe hatten, das betroffene Gebiet zu dekontaminieren und zu evakuieren, aber es wird auch deutlich, dass ein ganzes Volk über Jahrzehnte von der Katastrophe gezeichnet ist. Die sog. Todeszone wurde geräumt, aber die Lebensmittel, das Grundwasser, die Luft, die verstrahlten Menschen, die geplünderten und verkauften Habseligkeiten der Evakuierten - all das ist nach wie vor da.
"Die festgestellten Radionuklide dringen in den Organismus nicht nur mit der Luft ein, sondern auch über 'lebende Ketten' - Milch, Obst, Brot, Gemüse, Fleisch, welches verseucht ist."
Im Vergleich zu Swetlana Alesijewitsch, die unkommentiert die Erzählungen der interviewten Menschen abgedruckt hat, nüchtern oft in der Ausdrucksweise, kommt in den Schilderungen dieses Buchs die oft jahrelang aufgestaute Wut, Resignation und Sorge der Betroffenen unverhüllt zum Ausdruck. Dabei fehlen auch polemische Ausdrücke nicht wie 'Tschernobyler Mafia', 'sowjetische Schludrigkeit', 'Betrug der Obrigkeit'. Aber wenn man die Geschichten liest - wer will ihnen diese Wut und Bitterkeit vorhalten?
"...ihnen sagte man später, sie wären überhaupt nicht in der Zone gewesen. Das kann nicht sein, meinen Sie? Da irren Sie. Das behaupten die Beamten. Die Beamten der Staatsmacht bauen vor den Liquidatoren so viele Hindernisse und Barrieren auf, dass es fast unmöglich ist, den Aufenthalt in der Gefahrenzone nachzuweisen, geschweige denn, einen Nachweis der Teilnahme bei der Liquidierung der Katastrophe im AKW zu erhalten."
Tatsächlich wiegt die Verschleierungspolitik der russichen Regierung schwer - Lügen, Leugnen, Verharmlosen, und das jahrelang, hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen der Ersthelfer nach dem Super-Gau auch bis heute. Für die Betroffenen ein zusätzlicher Affront. Dazu Planlosigkeit, wilder Aktionismus und unsinnige Befehle mit Androhung strengster Strafen bei Zuwiderhandlung nach der Katastrophe - viele Gelder, wichtige Zeit und zahllose Menschenleben wurden da zusätzlich geopfert.
Doch: auch wenn der Maulkorb und die fehlende moralische, gesetztliche, finanzielle und vor allem medizinische Unterstützung der Liquiditoren nach ihrem Einsatz vielleicht zu einem großen Teil der Eigenheit des russischen Systems zuzuschreiben ist - meine Gedanken schweiften während der Lektüre doch einige Male ab. Wie sieht das eigentlich mit der Informationspolitik Japans aus nach der Reaktor-Katastrophe in Fukushima?
2020 ist Japan Ausrichter der Olympischen Spiele und der japanische Premierminister versichert: 'Die Lage ist unter Kontrolle!' Auch hier wird das wahre Ausmaß der Katastrophe verleugnet und verschwiegen, wie beispielsweise eine Dokumentation des ZDF vom 25.05.2018 nachweist. Und was ist mit den veralteten und störanfälligen AKWs in Belgien? Auch da gilt: alles unter Kontrolle, doch die belgische Regierung hält nun für alle Bürger des Landes Jodtabletten vor. Und ob bei einer etwaigen Evakuierung der Städte Aaachen, Düsseldorf und Köln im Falle eines Falles alles so viel planvoller ablaufen würde? Das bleibt nur zu hoffen...
"Obwohl das AKW völlig abgeschaltet wurde, der letzte Block am 15.12.2000, überwachen Ingenieure mit Technik aus den Siebzigern (keine Computer!) die nicht zerstörten Reaktorblöcke. Techniker üben in notdürftiger Schutzkleidung Kontrollgänge durch den Sarkophag aus - ein Höllenjob. (...) Der Sarkophag, der wie ein gigantischer Sargdeckel über die Reaktorruine gelegt wurde, befindet sich in einem äußerst kritischen Zustand. In der verrosteten Außenhülle klaffen große Löcher, druch die Stahlung entweicht und Regenwasser, welches das Grundwasser verseuchen könnte, eindringt..."
Doch nun genug der gedanklichen Exkurse und zurück zum Buch. Dieses verleiht einigen Betroffen stellvertretend für zigtausende Leidgenossen eine Stimme und oft erstmals eine Möglichkeit, auch ihre aufgestauten Emotionen loszuwerden. Auch wenn die Übersetzung ins Deutsche teilweise recht holprig geraten ist und einige 'Nebenthemen' die eigentliche Thematik etwas verwässern, ist dies in meinen Augen ein wichtiges Buch. Denn das Ereignis 'Tschernobyl' ist nicht allein das Thema eines betroffenen Volkes. Es geht uns alle an. Ob wir nun wollen oder nicht...
© Parden
Homefront
England ist eine Insel. Trotzdem hat der zweite Weltkrieg sie und auch das Dörfchen Chilbury erreicht. Viele Söhne des Ortes sind in der Armee und einige sind auch schon gefallen. Im Jahr 1940 soll der Chor von Chilbury geschlossen werden, weil es nicht mehr genügend männliche Stimmen gibt. Warum eigentlich? Die Frauen beschließen alleine weiter zu machen. Die regelmäßigen Chorproben geben ihnen Halt und die gelegentlichen Auftritte erfreuen die Gemeinde und machen Mut in einer schweren Zeit. Auch ohne den Krieg hätten die Bewohner des Dorfes genug Probleme. Halt hergebrachte Traditionen brechen auf und nicht jeder ist davon begeistert.
Dieser Roman besteht aus einer Sammlung von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Zeitungsausschnitten. Aus Sicht der sehr unterschiedlichen Schreiberinnen und selten auch Schreiber kann er Leser sehr nah teilhaben am dörflichen Leben in den schweren Kriegstagen. Der Krieg ist allgegenwärtig. Besonders im Fehlen der Lieben, die Kriegsdienste leisten. Doch auch die Daheimgebliebenen sind gefordert, Lücken zu füllen und ihren Teil zu leisten. Dabei geht es nicht ohne die alltäglichen Sorgen und Nöte ab. Die Liebe lässt sich vom Krieg nicht aufhalten, den Kummer hat sie manchmal mit im Gepäck. Strukturen verändern sich mitunter und bleiben manchmal auch erhalten. Und der Chor übersteht den Wandel.
Sehr warmherzig und doch authentisch wird die schwere Zeit geschildert. Man spürt die immerwährende Sorge um die Lieben. Und auch die Grausamkeit eines plötzlichen Bombenangriffs wird eindringlich vergegenwärtigt. Dass auch während eines Krieges eine Art normales Leben weitergeht, macht einen großen Teil des Romans aus. Da gibt es die große Liebe, Leidenschaft, Intrigen, Lügen und auch eine kleine Liebe. Der Chor ist es, der alles auf wunderbare Weise zusammenhält. Am Ende des Sommers 1940 hat sich viel verändert in Chilbury. Ein schwerer Sommer, der einige Dorfbewohner hat wachsen lassen. Klug, gefühlvoll und doch auf eine Art geschrieben, dass man sich vorstellt, so könnte es gewesen sein.