Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle

Buchseite und Rezensionen zu 'Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle' von Michael Köhlmeier
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Inhaltsangabe zu "Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle"

Format:Taschenbuch
Seiten:96
Verlag:
EAN:9783423147095
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Rezensionen zu "Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle"

  1. Nur Worte, Worte, Worte...

    Es ist der 4. Mai 2018. Der Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier hält eine Rede in der Wiener Hofburg anlässlich des Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus. Es sind knappe sechs Minuten, in denen er sich an sein Publikum wendet. Ganz klar richtet er seine Worte an die anwesenden hochrangigen Vertreter des Staates.
    "Erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle.", beginnt er seine Ansprache.
    Köhlmeier hat sich gut überlegt, was er zu jenen sagen will, die einer Partei der Ausgrenzung, des Fremdenhasses, der rassistischen, antisemitischen und rechten Parolen angehören.
    „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.“
    Mit den anschließenden Reaktionen – Standing Ovations und harscher Kritik – kann der Autor umgehen. Worte sind seine Berufung und an seinen Worten hält er fest.
    „Jedes Wort ist zugleich ein Zuwenig und ein Zuviel. Aber wir haben nur Worte, Worte, Worte.“
    Es ist ein schmaler Band mit dieser und weiteren politischen Reden des Autors. Es sind Reden gegen das Vergessen. Denn…
    „Wo nicht erzählt wird, wird vergessen. Wer das Erzählen aufgibt, begeht Selbstauslöschung. Und wer das Erzählte, das Erdichtete, das Buch verbrennt, der will auch noch das Gedächtnis an den löschen, den er bereits ausgelöscht hat.“
    Köhlmeier sieht sich selbst nicht als politischen Aktivisten. Nicht liegt ihm ferner als politische Kategorien, wenn in ihm eine Geschichte entsteht. Doch er ist aufmerksam und unduldsam, wenn Sprache missbraucht wird, um Verunsicherung zu schüren und gegen Minderheiten und ausgewählte Bevölkerungsgruppen zu hetzen.
    Wenn Michael Köhlmeier eingeladen wird, eine politische Rede zu halten, erzählt er von Menschen, die seinen Lebensweg kreuzten oder vom Schmerz darüber, dass eine Begegnung nicht mehr möglich war. Menschen haben Geschichten, und Menschen haben Geschichten, die nicht gelebt werden durften, weil sie im Getriebe zynischer Systeme ausgelöscht wurden.
    „Wo Michael Köhlmeier … erzählt, da ist »zu Hause«, und zwar für jeden. Und sei es zwischen zwei Buchdeckeln. Und sei es in einer politischen Rede.“

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Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time

Buchseite und Rezensionen zu 'Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time' von Baldwin, James
5
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Inhaltsangabe zu "Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:128
Verlag: Dtv
EAN:9783423281812
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Rezensionen zu "Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time"

  1. Zeitlos aktuell, eindringlich, zum Nachdenken

    „Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren.“ (Zitat Seite 38)

    Inhalt
    Diese Essaysammlung des US-amerikanischen Schriftstellers ist im Jahr 1962 unter dem englischen Titel „The Fire Next Time“ erschienen, der Tite der ersten Ausgabe in deutscher Sprache trug den Titel „Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung“, was eine der Kernaussagen von Baldwins Texten auf den Punkt brachte. Die vorliegende Neuauflage hält sich dagegen an den Originaltitel, ein Zitat aus dem Alten Testament. Dieses Buch umfasst zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt trägt die Überschrift Mein Kerker bebte und enthält einen Brief an seinen Neffen zum hundertsten Jahrestag der Sklavenbefreiung. Der zweite Abschnitt trägt den Titel Vor dem Kreuz, Brief aus einer Landschaft meines Geistes und verbindet seine Erinnerungen, seine persönliche Erfahrungen mit seiner Einschätzung der amerikanischen Gesellschaft.

    Umsetzung
    James Baldwin schildert seine Jugend, seinen Weg in die Religion, von der er sich jedoch früh wieder abwendet, weil er die Verzweiflung und den Hass, den er dort vorfindet, nicht mit seinen Ansichten vereinbaren kann, dass es eine friedliche Lösung geben müsse, ein Annähern und gegenseitiges Verständnis, auch wenn er klar formuliert, dass dies ein sehr langer, mühevoller Weg für Amerika sein werde. Aus diesem Grund schließt er sich auch nicht der Black-Muslim-Bewegung an, fragt, ob Liebe nicht wichtiger sei, als die Hautfarbe und sieht die Zukunft Amerikas in einem Miteinander von Schwarz und Weiß. „Kurz gesagt brauchen wir, Schwarz und Weiß, einander dringend, wenn wir wirklich eine Nation werden wollen – um mit anderen Worten wirklich eine Identität zu erlangen, unsere Reife als Männer und Frauen.“ (Zitat Seite 117, 118) Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Jana Pareigis und endet mit einer Nachbemerkung der Übersetzerin in Bezug auf die moderne Wortwahl einiger Begriffe.

    Fazit
    Baldwins eindrückliche Beobachtungen und Überlegungen waren nicht nur einhundert Jahre nach der formellen Abschaffung der Sklaverei in Amerika aktuell und zutreffend, sondern haben auch heute, einhundertfünfzig Jahre später, nichts von ihrer Brisanz verloren und dies nicht nur in Amerika, sondern analog auch in Europa.

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Bus 57: Eine wahre Geschichte

Buchseite und Rezensionen zu 'Bus 57: Eine wahre Geschichte' von Dashka Slater
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Inhaltsangabe zu "Bus 57: Eine wahre Geschichte"

Der Bus der Linie 57 ist das einzige, was Sasha und Richard miteinander verbindet. Richard ist Afroamerikaner, geht auf eine öffentliche Schule und hat gerade einen längeren Aufenthalt in einer betreuten Wohngruppe für jugendliche Straftäter hinter sich. Sasha ist weiß, besucht eine Privatschule und identifiziert sich selbst als agender. Nur acht Minuten täglich verbringen Sasha und Richard gemeinsam im Bus 57. Bis zu dem Tag als Sasha den langen weißen Rock trägt und Richard ihn anzündet.

Dashka Slater hat den nachfolgenden Gerichtsprozess monatelang verfolgt, mit Beteiligten gesprochen und die Hintergründe recherchiert. Bus 57 ist die akribische Dokumentation eines berührenden Falles, der tragischen Verstrickung zweier Jugendlicher, die doch nur eines wollen: glücklich sein, trotz allem.

Im Februar 2015 erschien im New York Times Magazine unter der Überschrift "The Fire on the 57 Bus" ein längerer Artikel der Journalistin Dashka Slater über einen Vorfall, der sich eineinhalb Jahre zuvor in Oakland ereignet hatte. Ein afroamerikanischer Teenager setzt die Kleidung eines Gleichaltrigen in Brand, der genderqueer ist. Sashas und Richards Schicksal ließ Dashka Slater nicht mehr los, so dass aus dem Artikel dieses Buch entstanden ist. Sie erzählt darin von Sashas ungewöhnlicher fantasievoller Kindheit, dem Coming-Out, den Krankenhausaufenthalten, aber auch von der Unterstützung, die Sasha erfährt, nicht nur in der LGBTQ-Community. Genauso sorgfältig arbeitet sie Richards Geschichte auf und wirft einen Blick auf ein Justizsystem, das afroamerikanische Jugendliche anders zu behandeln scheint als weiße. Die Staatsanwaltschaft stuft Richards Tat zunächst als Hate-Crime ein, wodurch ihm ein Verfahren unter Erwachsenenstrafrecht droht und damit eine womöglich lebenslange Haftstrafe.

>> Diese ungekürzte Hörbuch-Fassung wird Ihnen exklusiv von Audible präsentiert und ist ausschließlich im Download erhältlich.

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
EAN:
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Rezensionen zu "Bus 57: Eine wahre Geschichte"

  1. Für Vielfalt und Chancen

    An einem einzigen Tag ihres Lebens treffen Sasha und Richard aufeinander. Das einzige, was die beiden jungen Menschen verbindet ist die Fahrt im Bus der Linie 57. Es ist ein Tag, der das Leben der beiden Jugendlichen für immer verändern wird. An diesem Tag trägt Sasha einen weißen Rock mit Fransen und Richard zündet diesen an.
    Es ist eine wahre Begebenheit und „Kriminalgeschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, sind selten romantisch“, schreibt die New York Times. Die Journalistin Dashka Slater schreibt über diesen wahren Fall, der sich in Oakland im Jahr 2013 ereignet hat . Es ist viel weniger eine Kriminalgeschichte als ein eindringliches Plädoyer für Vielfältigkeit und Chancengleichheit.
    Sasha ist genderqueer. Als Junge geboren fühlt sier sich von klein auf nicht einer Kategorie zugehörig. Sasha ist überaus intelligent, großartig kreativ und fantasievoll, erfindet eigene Sprachen, ist non-binary. Als sier das erste Mal einen Rock trägt, weiß sier, dass sier nie wieder etwas anderes tragen möchte. Sasha kommt aus einem bildungsaffinen Umfeld. Sashas Eltern können sich für sihn eine Privatschule leisten. Sie unterstützen ihr Kind in allen Belangen, auch wenn ihnen hin und wieder das falsche Pronomen für Sasha über die Lippen kommt.
    Richard ist Afroamerikaner. Wegen eines Jugenddelikts war er für einige Zeit in einer betreuten Wohneinrichtung untergebracht. Seine Mutter ist alleinerziehend, hat mehrere Jobs. Richard besucht eine öffentliche Schule. Zu einer Vertrauenslehrerin fasst er langsam Vertrauen. Sein bester Freund stirbt bei einem Drive By Shooting.
    Es ist Langeweile und Übermut und eine riesige Portion Gedankenlosigkeit, die Richard veranlasst, den Rock anzuzünden, den der „Typ“ im Bus offensichtlich trägt. Richard schätzt die Konsequenzen seines Tuns völlig falsch ein. Denn Sasha erleidet starke Verbrennungen, verbringt viel Zeit im Krankenhaus. Die Polizei legt Richard ein Hassverbrechen in den Mund, verhört ihn ohne rechtlichen Beistand, ohne Anwesenheit einer erziehungsberechtigten Person.
    In ihrem Buch „Bus 57“ wendet sich Dashka Slater nicht nur dem diversen (und kontroversen) Thema der Geschlechtsidentifikation zu. Sie schaut auch genau auf die Schwächen des amerikanischen Justizsystems, auf die Chancenlosigkeit afroamerikanischer Jugendlicher. Nichts entschuldigt Richards Handeln. Richard selbst bereut zu tiefst und ernsthaft, als ihm klar wird, was er verursacht hat. Doch Kalkül und Politik geben ihm nahezu keine Chance auf Rehabilitation.
    Ich weiß nicht welcher Algorithmus mich zu diesem Buch geführt hat, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. „Bus 57“ hat mich betroffen gemacht, sprachlos und betroffen. Denn das Thema betrifft mich in meinem ganz nahen Umfeld. Es ist ein Buch, das die Augen weit öffnet für die Vielfalt unseres menschlichen Daseins. Sasha ist so ein großartiger Charakter, ein ganz besonderer junger Mensch. Es zeigt die Belanglosigkeit einer tradierten Etikettierung. Und Dashka Slater schreibt über die “restorative jusitice“, wiedergutmachende Gerechtigkeit, über die Chancen zwei Welten zusammenzufügen, zu einen. Sie lässt den Leser (und Hörer)hinterfragen, was auf den ersten Blick und im laienhaften Rechtsempfinden recht und gerecht erscheint. Dashka Slater appelliert an die Reflektionsfähigkeit des Publikums. Die Autorin macht das richtig gut: gut und richtig.
    Einen imaginären Hut ziehe ich im Übrigen vor der Übersetzer*in Ann Lecker. Vor allem die Passagen rund um Sashas Geschichte sind konsequent gegendert, die Verwendung der Pronomen sier, sihrem etc. durchgängig gesetzt. Ein Projekt, das sihresgleichen sucht.
    Die Hörbuchversion wird gelesen von Hans Jürgen Stockerl, der dem Thema angemessen den Ton trifft.
    „Bus 57“ ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert. Ich wünsche dazu alles Gute!

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Wie du mich siehst

Buchseite und Rezensionen zu 'Wie du mich siehst' von Tahereh Mafi
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Wie du mich siehst"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:352
EAN:9783737356961
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Rezensionen zu "Wie du mich siehst"

  1. Wenn Vorurteile dein Leben torpedieren...

    Das ungewöhnliche Cover hat mich auf das Buch aufmerksam gemacht. Von der Autorin hatte ich schon viel gehört, aber bisher noch kein Buch gelesen, weshalb ich mich unvoreingenommen an die Lektüre wagte.

    In der Geschichte geht es um Shirin, die gerade in eine neue Stadt gezogen ist. Sie ist schon sehr oft umgezogen und kennt die Vorurteile ihrer Mitschüler, weshalb sie versucht so unauffällig wie möglich zu sein. Doch dann tritt Ocean in ihr Leben und plötzlich ist alles so unfassbar kompliziert. Wie wird sie mit der neuen Situation umgehen? Und was machen die Vorurteile der anderen mit den Betroffenen?

    Die Handlung wird uns über Shirin als Ich- Erzählerin nahe gebracht, was dazu führt, dass wir als Leser live miterleben wie sich die erste Liebe anfühlt. Dies hat mir sehr gefallen, da man sich als erwachsener Leser direkt nochmal jünger fühlt. Die Gefühls- und Gedankenwelt von Shirin ist teilweise so intensiv, dass es manchmal nur schwer auszuhalten ist. Zum einen ist sehr hart was sie alles aushalten muss, zum anderen wird man daran erinnert, dass man als Jugendlicher so viel intensiver fühlt und schnell mal alles um sich herum vergisst, wenn man verliebt ist.

    Shirin als Figur war mir anfänglich komplett unsympathisch. Sie ist so aggressiv und voller Wut, was ich am Anfang einfach nicht verstanden habe. Fast hat man das Gefühl, dass sie ihre Probleme selbst verursacht. Erst mit der Zeit kann man hinter die Fassade blicken und spürt, dass sie sich einen enormen Schutzpanzer zugelegt hat, um nicht verletzt zu werden. Trotzdem hätte ich sie gern das ein oder andere Mal wachgerüttelt, dass sie doch bitte anders agieren soll als sie es tut.

    Ocean ist das komplette Gegenteil von Shirin. Ihn mochte ich auf Anhieb, weil er so offen und ohne Vorurteile ist. Mir gefiel, dass er beharrlich an seinen Zielen festhält und sich nicht von anderen beeinflussen lässt.

    Die Thematik Kopftuch wird sehr ansprechend und verständlich erklärt. Ich konnte nachvollziehen warum Shirin sich dafür entschieden hat und trotz der Probleme bei ihrer Wahl bleibt.

    Zudem mochte ich es, dass Breakdance eine Rolle spielt. Ich habe mich damit bisher noch nie beschäftigt, fand aber gut wie der Zusammenhalt der Crew ist und was so alles möglich ist bei dieser Tanzform.

    Die Sache mit den Vorurteilen und dem Hass hat mich doch sehr bestürzt. Meine Schulzeit war sicher auch nicht leicht, aber so furchtbar wie im Buch beschrieben war es ganz sicher nicht. Besonders schlimm fand ich, dass selbst die Erwachsenen dabei mitmachen.

    Fazit: Für mich war dieses Buch sehr augenöffnend, weshalb ich es gern anderen Lesern ans Herz legen möchte. Auch für Erwachsene lesenswert.

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Das Muschelessen: Erzählungen

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Muschelessen: Erzählungen' von Birgit Vanderbeke
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Muschelessen: Erzählungen"

Format:Taschenbuch
Seiten:128
EAN:9783492274005
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Rezensionen zu "Das Muschelessen: Erzählungen"

  1. 4
    09. Apr 2024 

    Tiefe Einblicke in ein Familienleben...

    Angespannt wartet die Familie am gedeckten Tisch auf den Vater. Mutter, Tochter und Sohn sitzen vor einem Berg Muscheln, die allein das Oberhaupt der Familie gerne isst. Um die zähe Wartezeit zu überbrücken, beginnen sie miteinander zu reden. Je mehr sich der Vater verspätet, desto offener wird das Gespräch, desto umbarmherziger der Blick auf den autoritären Patriarchen und desto tiefer der Riss, der die scheinbare Familienidylle schließlich zu zerstören droht. (Verlagsbeschreibung)

    Eine klassische Familie: Vater, Mutter, Sohn und Tochter, dem Vater ist es wichtig, dass sie eine "richtige" Familie sind. Was das ist? Nun, das bestimmt der Vater. Selbst einige Jahre im Heim aufgewachsen, will er nun das Idealbild leben. Und das erfordert Strenge und Disziplin. Wenn ihn nur nicht immer alle enttäuschen würden...

    Zu Beginn der Erzählung wartet der Rest der Familie auf den Vater, der vermutlich gerade befördert wurde und nun Grund zum Feiern hat. Zu diesem Anlass hat die Mutter einen Topf voll Muscheln gekocht, die der Vater besonders gerne mag. Nun sitzen alle um den Tisch herum, doch der Vater kommt nicht. Ohne ihn mit dem Essen zu beginnen, kommt nicht in Frage - und so kommt man zunächst stockend und später mutiger miteinander ins Gespräch.

    Erzählt aus der Sicht der Tochter entpuppt sich hier nach und nach das Leben mit einem tyrannischen und gewalttätigen Vater, der allen das zur Hölle macht und jeden zu einer festen Rolle verpflichtet, aus der es kein Entkommen gibt. Besonders perfide spielt er alle gegeneinander aus, so dass es auch untereinander keinen Zusammenhalt gibt. An diesem Abend hinterfragen sie erstmals, weshalb das eigentlich so ist - und ob das immer so weitergehen soll?

    Der Schreibstil ist anstrengend, die Sätze sind lang und auch sonst gibt es kaum Absätze. Zudem wiederholt das Mädchen ständig bereits Gesagtes. Das wirkt irgendwie abgehetzt, so als müsse sich das Mädchen während des Erzählens immer wieder selbst bestätigen - und ist insofern ein gutes Stilmittel, denn es verdeutlicht die Unterdrückungsmentalität in der Familie, in der sonst nie jemand sagen darf, was er oder sie denkt oder meint. Und jetzt sprudelt eben alles ungefiltert aus ihr heraus.

    Eine eindringliche Erzählung in einem ungewöhnlichen Stil, die tiefe Einblicke in ein toxisches Familienleben bietet - und einen kleinen hoffnungsvollen Ausblick bei offenem Ende. Lesenswertes und preisgekröntes Debüt!

    © Parden

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  1. 5
    11. Nov 2019 

    Lesetipp

    Meine Gedanken zu „Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke.

    Diese Erzählung war für mich ein außergewöhnliches Leseerlebnis und lässt mich seltsam zwiegespalten zurück.
    Einerseits hat sie mich gepackt und finde ich sie, bis auf wenige Kritikpunkte, wunderbar und ganz besonders geschrieben, andererseits hatte ich während der Lektüre, vor allem auf den letzten Seiten, oft den Wunsch, dass sie endlich endet und am Schluss war ich gleichzeitig froh darüber, dass ich das Buch zuschlagen konnte, sowie begeistert, was die Autorin da geschaffen und präsentiert hat.

    Birgit Vanderbeke schaffte es, mich zu fesseln und gleichzeitig maximal zu fordern.

    Aber erst einmal ganz kurz zum Inhalt:
    Mutter, Tochter und Sohn sitzen am gedeckten Esstisch und warten vor einem Topf Muscheln auf den Vater, den sie von einer Geschäftsreise zurückerwarten. Sie wollen mit ihm seine Beförderung feiern, aber er verspätet sich. In den 3 3/4 Stunden bis das Telefon zu klingeln beginnt, breiten sich vor dem Leser allerlei erkenntnisreiche Gedanken und ein „weltbewegendes“ und „lebensveränderndes“ Gespräch aus.
    (Ich meine hier die Innenwelt bewegend.)

    Wozu kann eine kleine Abweichung von der Routine führen?
    Was, wenn einmal nicht alles in gewohnten Bahnen verläuft?
    Was, wenn man dadurch anfängt nachzudenken und beginnt, alles zu hinterfragen?

    Wie sehr kann jemand, der nicht präsent ist präsent sein?
    Das hängt von seiner Macht ab bzw. von der Macht, die ihm gegeben wird.

    Birgit Vanderbeke greift mit dieser bestürzenden Familiengeschichte aus den 60er Jahren ein zeitloses und brisantes Thema auf, das, wenn es zu viel Raum einnimmt, zu ernsthaften psychischen Problemen und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten führen kann.

    Die Erzählung, in der es um die ernste und tiefgründige Thematik der Anpassung und Selbstaufgabe mit all ihren Konsequenzen für alle Beteiligten geht und die an einer, so meint man zunächst, typischen 60er Jahre Familie illustriert wird, kommt erst einmal ziemlich leichtfüßig, humorvoll, zynisch und auch ironisch daher, steigert sich im Verlauf in ihrer Intensität und führte bei mir zu Erschütterung und Empörung.

    Der Leser meint sehr bald zu ahnen, wohin die Geschichte führt. Aber weit gefehlt. Es gibt Spielräume und verschiedene Möglichkeiten, die man sich im Verlauf der Lektüre ausmalen kann. Am Schluss kann man sich aus wenigen Sätzen und Gesten zusammenreimen, wie diese Geschichte dann tatsächlich endet.

    Die Autorin lässt den Leser in die überbordende und eindrückliche Gedankenwelt der Tochter des Hauses eintauchen und erstaunt mich mit eindringlichen und präzisen Formulierungen und Überlegungen, z. B. jene über notwendig versus hinreichend oder Punkt- und Flächenwissen versus Breiten- und Tiefenwissen.

    Sie spielt mit Wörtern und Sätzen, benutzt detaillierte Beschreibungen und schöne Metaphern (Harmonie in der Musik - Harmonie in der Familie). Nichts klingt bemüht oder gekünstelt. Sie schafft es, zum Nachdenken, zum Mitfühlen aber auch zum Schmunzeln, z. B. über Wortneuschöpfungen wie z. B. „akustische Wohnzimmerpest“ oder „Luftschnapport“, anzuregen. Es scheint, sie schreibe einfach so drauflos und es fließe einfach so aus ihr heraus.

    Es ist aber auch anstrengend, am Ball zu bleiben, da jeder Gedanke interessant ist und die Sätze endlos lang sind und es kaum Abschnitte gibt.
    Ein Gedankenstrom...
    ein Gedanke führt zum nächsten...
    freie Assoziation... Wunderbar! Eine Wonne!

    Aber man muss am Ball bleiben und sich konzentrieren, um den ganzen Genuss der in dem schmalen Bändchen steckt auskosten zu können. Deshalb ist die Länge bzw. die Kürze des Buches (121 Seiten) m. E. ideal gewählt.
    Man kann dem Strom in einem Rutsch folgen und das Büchlein dann zur Seite legen und es nachwirken lassen.

    Im Verlauf entsteht aus vielen Puzzleteilen ein detailliertes Bild der Familie. Wir bekommen einen Einblick in die Biographien der Protagonisten, in die Geschichte der Familie und in deren aktuelle Situation und wir lernen die Charaktere ziemlich genau kennen:
    - den narzisstisch veranlagten, überheblichen, besserwisserischen, wichtigtuerischen, großspurigen Vater, einen Naturwissenschaftler,
    - die unterwürfige, angepasste, tüchtige Mutter, eine Lehrerin, die sich dem Patriarchen beugt, sich dabei selbst größtenteils aufgibt und ihren Kindern kein angemessenes Vorbild ist.
    - Wir lernen auch die beiden vom Vater gedemütigten und abgewerteten Geschwister kennen, die nicht nur unter der Dominanz und Lieblosigkeit des Vaters, sondern auch unter der Schwäche der Mutter leiden, die sie weder schützt noch ihnen den Rücken stärkt und die stattdessen nicht selten von ihren Kindern Schonung, Trost und Beruhigung braucht.

    Trotz meines überwiegend positiven Eindrucks kann ich nicht umhin, zu erwähnen und zu bemängeln, dass Birgit Vanderbeke ihr Thema recht klischeehaft präsentiert. Es gibt in ihren Schilderungen schwarz und weiß, aber die Bandbreite dazwischen fehlt.
    Uns werden Täter und Opfer vorgestellt.
    Es geht um Macht und Ohnmacht.
    Es gibt das Gute und das Böse.
    Aber ist das wahre Leben in der Regel nicht komplexer?

    ABER:
    Sie zeigt, dass es möglich ist, durch Selbstreflexion, Austausch, Introspektion und Mut, Rollen abzulegen, auszubrechen, und sich zu befreien. Dass es möglich ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und es zu gestalten. Dass man nicht auf die Opferrolle festgelegt ist.
    Und das ist doch eine wundervolle Botschaft vor allem auch für Schüler (die Erzählung wird ja manchmal als Schullektüre gewählt).

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Vom Sinn unseres Lebens

Buchseite und Rezensionen zu 'Vom Sinn unseres Lebens' von Michael Nast
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Vom Sinn unseres Lebens"

Autor:
Format:Broschiert
Seiten:208
EAN:9783841906847
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Rezensionen zu "Vom Sinn unseres Lebens"

  1. Mehr als nur ein Buch über Ost und West...

    Ich muss ehrlich gestehen, dass ich aufgrund der Aufmachung des Buches nie darüber gestolpert wäre, weil es einfach so unglaublich schlicht aussieht. Ich hab jedoch bei einer Freundin in das Buch reinlesen können und war sofort gefesselt. Optik allein ist eben doch nicht alles, was wohl nicht nur für Bücher gilt.

    Im Buch beleuchtet Herr Nast nicht nur witzige Anekdoten über die Unterschiede zwischen Ost und West, sondern auch wie unsere heutige Gesellschaft tickt mit ihrem Selfie- und Optimierungswahn.

    Der Autor findet die richtigen Worte und in seinen kleinen Geschichten findet man sich einfach wieder. Egal ob es dabei um das Finden oder Ausbleiben der Liebe geht, um Freundschaften oder die Anonymität in der Großstadt. Dabei schafft er immer wieder eine Brücke in die Vergagenheit, wie lief es damals und wie ist es heute.

    Aus vielen der Geschichten geht hervor, dass alles im Leben nur noch Konsum ist und genauso ist unsere aktuelle Gesellschaftt leider. Einen Klick entfernt ist die große Liebe, einen Klick entfernt das nächste tolle Smartphone oder die teure Designerjeans. Und dann kommt noch hinzu, dass viele nur noch an sich selbst denken. Wenn man anders ist und nicht die Ellenbogen ausbreitet, dann wird man komisch angeguckt und sorgt für Unverständnis.

    Ich habe das Buch über mehrere Abende genossen. Man kann die Geschichten in einem Stück lesen oder auch einzeln. Auch querlesen oder sich die ein oder andere Abhandlung heraussuchen ist ebenfalls möglich.

    Ich bin sonst eher kein Fan von Ostgeschichten, weil diese meist nicht von Menschen verfasst wurden, die die DDR selbst erlebt haben. Bei Herrn Nast ist das anders und das spürt man auch, denn er beschreibt ein Leben, was ich selbst erlebt habe.

    Gut gefallen hat mir zudem, dass nicht alles schlecht gemacht wird, sondern das Positives und Negatives beleuchtet wird, aber nie mit erhobenen Zeigefinger, sondern beobachtend und erfrischend.

    Fazit: Endlich mal ein Sachbuch, welches mit Witz und Charme aufklärt und gleichzeitig unterhält. Klasse!

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Der überflüssige Mensch

Buchseite und Rezensionen zu 'Der überflüssige Mensch' von Ilija Trojanow

Inhaltsangabe zu "Der überflüssige Mensch"

Format:Taschenbuch
Seiten:96
EAN:9783423348546
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Das deutsche Krokodil: Meine Geschichte

Buchseite und Rezensionen zu 'Das deutsche Krokodil: Meine Geschichte' von Ijoma Mangold

Inhaltsangabe zu "Das deutsche Krokodil: Meine Geschichte"

Format:Taschenbuch
Seiten:352
EAN:9783499632167
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Das deutsche Krokodil: Meine Geschichte

Buchseite und Rezensionen zu 'Das deutsche Krokodil: Meine Geschichte' von Ijoma Mangold

Inhaltsangabe zu "Das deutsche Krokodil: Meine Geschichte"

Meine Geschichte
Gebundenes Buch
Ijoma Alexander Mangold lautet sein vollständiger Name; er hat dunkle Haut, dunkle Locken. In den siebziger Jahren wächst er in Heidelberg auf. Seine Mutter stammt aus Schlesien, sein Vater ist aus Nigeria nach Deutschland gekommen, um sich zum Facharzt für Kinderchirurgie ausbilden zu lassen. Weil es so verabredet war, geht er nach kurzer Zeit nach Afrika zurück und gründet dort eine neue Familie. Erst zweiundzwanzig Jahre später meldet er sich wieder und bringt Unruhe in die Verhältnisse.
Ijoma Mangold, heute einer unserer besten Literaturkritiker, erinnert sich an seine Kindheits- und Jugendjahre. Wie wuchs man als "Mischlingskind" und "Mulatte" in der Bundesrepublik auf? Wie geht man um mit einem abwesenden Vater? Wie verhalten sich Rasse und Klasse zueinander? Und womit fällt man in Deutschland mehr aus dem Rahmen, mit einer dunklen Haut oder mit einer Leidenschaft für Thomas Mann und Richard Wagner?
Erzählend beantwortet Mangold diese Lebensfragen, hält er seine Geschichte und deren dramatische Wendungen fest, die Erlebnisse mit seiner deutschen und mit seiner afrikanischen Familie. Und nicht zuletzt seine überraschenden Erfahrungen mit sich selbst.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:352
EAN:9783498044688
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Das Haus meiner Eltern hat viele Räume

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Haus meiner Eltern hat viele Räume' von Ursula Ott

Inhaltsangabe zu "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume"

"Tolles Buch, sehr empfehlenswert - ist ein großer Bestseller und ich verstehe jetzt, warum." Markus Lanz, ZDF

Das Elternhaus. Es ist zu groß geworden für die alten Eltern. Es steht vielleicht sogar weit weg vom Leben, Lieben und Arbeiten der Kinder, die in der Mitte des Lebens genug mit sich selbst zu tun haben - und jetzt doch entscheiden müssen: Was machen wir mit dem Ort unserer Kindheit? Wie verabschieden wir die Heimat in Würde? Was hat für uns als Familie wirklich noch einen Wert und was muss weg?

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
Verlag: btb Verlag
EAN:9783442758241
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