Momente der Klarheit: Roman

Die Partnerschaft der Detektive Patrick Kenzie und Angie Gennaro ist eine rein berufliche. Da passt Angies Mann Phil schon auf. Phil, der einmal der tollste Typ der Gegend war, ist inzwischen ziemlich heruntergekommen. Arbeitslosigkeit und unbezahlte Rechnungen fordern ihren Tribut. Wieso das hauptsächlich Angie zu spüren bekommt und sich das auch seit Jahren gefallen lässt, entzieht sich Patricks Verständnis. Ihr neuer Auftrag wirkt dagegen regelrecht einfach. Eine Putzfrau des Senators Brian Paulson soll ein paar Unterlagen des Politikers gestohlen haben. Diese müssen unbedingt wiederbeschafft werden, doch niemand weiß, wohin die Putzfrau verschwunden ist.
Ein lukrativer Auftrag für Kenzie und Gennaro. Doch zunächst gilt es, die verschwundene Jenna zu finden. Bald schon fragen sich die beiden Detektive, zwischen denen es doch mehr knistert als sie zugeben wollen, weshalb diese geheimnisvollen Papiere so wichtig sind, dass die Auftraggeber bereit sind, einen ordentlichen Bonus zu zahlen. Was Patrick und Angie herausfinden, erweist sich als brisanter als sie je vermutet hätten. Schon bald ist nicht nur Jennas Leben in Gefahr, sondern auch das der Detektive. Jeder, der zu viel weiß, könnte bald schon tot sein.
Bei ihrem ersten Auftritt, die erste Ausgabe des Buches erschien 1994, überzeugen Kenzie und Gennaro als gewiefte Ermittler. In Kenntnis wie der Hase in Boston läuft, sind sie ihren Gegnern manchmal ein paar Schritte voraus. Doch welchem perfiden Verbrechen sie hier auf die Spur kommen, können sie nicht ahnen. Die Spur aus der Vergangenheit offenbart ein Verbrechen, dass schlimmer kaum sein kann. Mit ihren flapsigen Wortgefechten wirkt das Detektivduo sympathisch und nicht so abgehoben. Wenn ihnen die Projektile um die Ohren fliegen, kommen die Beiden einen mitunter unkaputtbar vor. Doch was Angie in ihrer Ehe zu ertragen hat, kann auch beim Lesen fast zur Bürde werden. Man möchte wahrlich nicht mit ihr tauschen. Die Brisanz des Falles entwickelt sich nach und nach und ebenso nach und nach ist man immer mehr an das Buch gefesselt.
Ein spannender erster Teil einer empfehlenswerten Reihe, die nach dem ersten Erscheinen nunmehr neu übersetzt wurde.
Die Geschichte fängt ganz harmlos an. Der Ich-Erzähler Jack Harper ist unzufrieden mit seinem Leben und seiner Ehe. Sein früherer Traum einer Musikerkarriere hat sich zerschlagen, nun arbeitet er als mittelmäßig begabter Immobilienmakler. Auch mit seiner Frau Maria gibt es Probleme. Sie haben schon seit Jahren keinen Sex mehr und sind zu einer Zweckgemeinschaft geworden, die sich um den gemeinsamen Sohn Jonah kümmert, der nicht als Scheidungskind aufwachsen soll. Ein Bekannter als alten Musikerjahren erzählt Jack von der Dating-Seiten "Discret Hookups", auf der sich meist verheiratete Menschen zu einem unverbindlichen Seitensprung verabreden können. Trotz moralischer Bedenken meldet sich Jack bei dieser Seite an und beginnt einen heißen Flirt-Chat mit einer Frau, die sich "Fugitive Red" nennt, was übrigens der englische Originaltitel des Buches ist. Jack lebt durch diese positive Bestätigung förmlich auf und als "Fugitive Red", die eigentlich Sophie heißt, ein Treffen vorschlägt, ist er einverstanden. Allerdings plagt ihn auch das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber, er ist kein skrupelloser Fremdgänger. Als Jack zu der Verabredung geht, wird eine aberwitzige Spirale von Tod und Gewalt in Gang gesetzt, an der er fast zu zerbrechen droht.
Die Geschichte ist sehr spannend und wird durch die aberwitzige Zuspitzung immer dramatischer. Durch die Ich-Perspektive ist der Leser immer bei den Gedanken von Jack, der wahrlich kein gefestigter, aber durchaus sympthischer Charakter ist. Auf dem Höhepunkt der Ereignisse scheint ihm sich die Waage der Gunst wieder zuzuwenden und ich war fast ein wenig enttäuscht durch die unspektakuläre Entwicklung, aber der Autor bietet noch einen sensationellen Twist auf, der aus dem an sich schon guten Thriller einen sehr guten macht. Chapeau, das war sehr überraschend und gelungen und macht mich doch sehr neugierig auf weitere Bücher des Autors.
Geschichten über Abschiede, die belasten, und Abschiede, die befreien, über das Gelingen und Scheitern der Liebe, über Vertrauen und Verrat, über bedrohliche und bewältigte Erinnerungen und darüber, wie im falschen Leben oft das richtige liegt und im richtigen das falsche. Geschichten von Menschen in verschiedenen Lebensphasen und ihren Hoffnungen und Verstrickungen. »Liebe und mache, was du willst« ist kein Rezept für ein gutes Ende, aber eine Antwort, wenn andere Antworten versagen.
Seinen dritten Erzählband präsentiert Bernhard Schlink hier, und auf irgendeine Art beschäftigt sich jede der neun Erzählungen mit dem Thema Abschied. Auch wenn man im Zusammenhang mit diesem Wort sicher gleich auch an den Tod denkt, so trifft dies längst nicht auf alle Geschichten zu, die hier vorgestellt werden. Bei einigen Erzählungen kommt man sogar erst nach gründlichem Nachdenken darauf, auf welchen Abschied Schlink sich wohl beziehen mag.
Wie immer bei einer Sammlung von kürzeren Geschichten ist es schwer, ein Gesamturteil zu fällen. Auch in diesem Band sprachen mich manche Erzählungen deutlich mehr an als andere, wobei es einigen zudem anzumerken ist, dass sie sicherlich auch autobiografische Züge haben bzw. klar dem Gedankengut eines alternden Mannes entspringen.
"Sein Schreiben war Flucht, er wusste es, und er wusste auch, dass er das Leben nur bestand, weil er es floh..." (S.189)
Vielleicht ist es einfacher, kurz auf die einzelnen Geschichten einzugehen, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Bandbreite an Charakteren und Themen hier versammelt sind.
1. Künstliche Intelligenz
Der Ich-Erzähler, ein Informatiker, berichtet zunächst über den Tod eines Freundes und Kollegen, schildert schließlich aber die Geschichte eines schweren Verrats, verbunden mit der großen Kunst der Verdrängung und des Schönredens. Eine beeindruckende Erzählung, scheinbar leichtfüßig im Plauderton daherkommend und doch... Ein kleiner Schock gleich zu Beginn.
2. Picknick mit Anna
Wieder eine verstörende Geschichte - vordergründig ein Mann, der nachts aus dem Fenster heraus beobachtet, wie ein junges Mädchen auf der Straße ermordet wird und nichts unternimmt, um sie zu retten. Womöglich gab es noch andere, unentdeckte Zeugen, und das Thema "unterlassene Hilfeleistung" drängt sich geradezu auf. Hintergründig gibt es jedoch noch eine ganz andere, subtile Geschichte, die hier nach und nach ans Licht kommt und womöglich noch verstörender ist. Gelungen!
3. Geschwistermusik
Ein Musikwissenschaftler trifft nach zig Jahren seine große Jugendliebe wieder, die wiederum schon seit ihrer Kindheit eine große Verbundenheit mit ihrem im Rollstuhl sitzenden Bruder zeigt. Ein Geflecht von Gefühlen, das keine Klarheit zulässt, Verletzungen provoziert und Liebe erstickt. Oder hat sie womöglich nach all den Jahren eine Chance? Vielleicht würde mir die Geschichte bei einem zweiten Lesen besser gefallen, so fand ich sie im Mittelteil ein wenig langatmig und etwas zu bemüht konstruiert.
4. Das Amulett
Eine zutiefst verletzte Ich-Erzählerin, die nie verkraftet hat, dass ihr Mann sie vor Jahren für eine andere Frau verlassen hat. Kurz vor dem Tod dieses Mannes kommt es noch einmal zu einem Treffen, das mit einigen Erkenntnissen endet. Eine eher nüchterne Erzählung, die trotzdem deutlich macht, wie sehr Gefühle unser Handeln bestimmen und dadurch Beziehungen zu Menschen beeinflussen, denen wir eigentlich nahe sein wollen.
5. Geliebte Tochter
Wieder eine Erzählung mit sehr ungutem Beigeschmack. Schlink bewegt sich manchmal am Rande von Tabus, vielleicht sogar darüber hinaus. Verbunden mit der Frage, ob aus etwas Falschem doch noch etwas Richtigem entstehen kann, lässt er den Leser mit etwas schwer zu Verdauendem zurück. Verstörend!
6. Der Sommer auf der Insel
Eine Mutter fährt mit ihrem Sohn für die Dauer eines Urlaubs auf die Insel - eine seltene Zweisamkeit, für die im Alltag kein Platz ist. In dieser Erzählung nimmt der Junge Abschied von seiner Kindheit, entdeckt ein Geheimnis seiner Mutter - und obwohl sich von hier an eine drückende Geschichte hätte entwickeln können, gibt Schlink dem Geschehen eine ungeahnte Leichtigkeit, die mir gut gefallen hat.
7. Daniel, my Brother
Ein alternder Schriftsteller, der seinerzeit Jura studiert hat, lebt mit seiner Freundin in Amerika, als ihn die Nachricht vom Tod seines Bruders erreicht. Dieser hat sich gemeinsam mit seiner kranken Frau das Leben genommen - und nun trauert der Schriftsteller nicht nur um seinen Bruder, sondern auch um das, was noch hätte sein können. Eine wohl sehr autobiografisch geprägte Erzählung, für mich die stärkste und authentischste in diesem Band. Diesmal gibt es nichts Irritierendes, jeder, der schon um jemand Nahestehenden getrauert hat, wird sich ein wenig in der Erzählung wiederfinden.
8. Atlersflecken
Anlässlich seines 70. Geburtstags blickt ein Mann recht melancholisch zurück auf seine Vergangenheit - vor allem eine verflossene Liebschaft lässt ihn nicht mehr los. Während er seit seiner Kindheit ansonsten stets versucht, die Erwartungen anderer zu erfüllen, fühlte er sich in dieser Liebe frei. Und gab sie doch auf, als das Leben etwas anderes von ihm verlangte. Ich habe diese Erzählung nicht ungern gelesen, aber nach der tiefgehenden Geschichte davor fand ich diese hier im Vergleich doch etwas blass.
9. Jahrestag
Die Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau - 38 Jahre Altersunterschied. Anlässlich ihres Jahrestages macht sich der Mann Gedanken über ihre doch wohl sehr unterschiedlichen Perspektiven. Wie viel des Weges werden sie gemeinsam gehen können? Ambivalente Gedanken befallen den Mann: soll er aus dem Leben der Frau verschwinden oder sein Glück einfach leben, solange es dauert? Eine nette, nicht zu schwere, wenn auch durchaus leicht melancholische Erzählung am Ende des Geschichtenbandes - passend in meinen Augen.
"Er saß auf der Bank, die laue Luft war nachsichtig, und er dachte schon, er könne die Vergangenheit wie ein gefaltetes Papierschiffchen auf den Kanal setzen und davonschwimmen lassen..." (S. 207)
Eine bunte Mischung in dem typischen Schreibstil Schlinks: Schlicht, verständlich, klar und schnörkellos. Lesenswert!
© Parden
Wie viele Formen der Abschiede gibt es? Wenn sich ein Lebensabschnitt dem Ende entgegen neigt, heißt es Abschied nehmen vom Althergebrachten. Wenn der Tod die Pläne zerstört, müssen die übrig bleiben damit leben. Manchmal muss man von dem Abschied nehmen, was man sicher geglaubt hat. Auch kann es eine Verlustangst sein, wenn es einem eigentlich bestens geht und einem die Ahnung beschleicht, es ist nichts für die Ewigkeit. Doch ein möglicherweise herannahender Abschied kann auch eine Chance sein, die Dinge zu regeln, Worte auszusprechen, die vielleicht etwas klären. Einem Abschied kann auch ein Neubeginn innewohnen.
Ist es ein wehmütiger Blick in die Ferne, die sich der Autor gönnt oder vielleicht ein ruhiger Blick zurück? Jedenfalls beleuchtet er aus seiner Sicht, welch vielfältige Gedanken er sich über Abschiede macht. Auch wenn er es nicht ausmalt, so ist die Vorstellung von Abschiedsfarben sehr interessant. Düster ist sicher der Tod, ein sehnsuchtsvoller Blick in einen mild angestrahlten Sommerhimmel, ruft vielleicht eine sanfte Wehmut hervor. Vielleicht gelingt es nicht, sich in jede Story hineinzufühlen, doch meist springt eine Stimmung über.
Mit leisen Tönen bedeutet einem Bernhard Schlink, dass man nie davor gefeit ist, möglicherweise Abschied nehmen zu müssen. Und doch versinkt man nicht in Ängstlichkeit. Eher gelöst staunt man über die verschiedenen Arten der Abschiede und beginnt nochmals über die Abschiede nachzudenken, die man selbst schon nehmen wusste und die sich vielleicht nicht nur als Endpunkt darstellen, sondern auch als Neubeginn oder Aufbruch. Ein nachdenklich machendes Buch, dass mit großer Herzenswärme geschrieben zu sein scheint.
In seinem Erzählband Abschiedsfarben präsentiert Bernhard Schlink eine Reihe von kurzen Erzählungen, die sich alle mehr oder auch etwas weniger eng mit dem Thema Abschiednehmen in verschiedenen Konstellationen und Lebensphasen beschäftigen.
Wie bei einem Erzählband unvermeidbar, sind dabei einige Erzählungen überzeugender als andere, ohne dass ich hier auf jede einzelne Erzählung eingehen möchte. Ich möchte vielmehr über den Eindruck schreiben, den dieses Buch bei mir hinterlässt.
Über das gesamte Buch hinweg schafft es der Autor in meinen Augen, das übergreifende Thema erkennbar vorhanden zu halten und ihm immer wieder neue Fassetten zu geben. Zudem scheint aus dem Geschriebenen hindurch, wie stark der Autor selbst von der Thematik betroffen ist. Einige Erzählungen haben deutlich erkennbare, autobiografische Züge. Der ins Alter gekommene Autor Bernhard Schlink vermittelt dem Leser in meinen Augen hier sehr glaubwürdig, wie sehr Altern das Thema Abschied auf die Tagesordnung bringt. Er gibt dabei keinen trostlosen und depressiven Eindruck dieses Themas, sondern schafft eher Bewusstsein für ein positiv gestaltetes Abschiednehmen. Mit dieser Haltung hat er mich abholen können und bringt mich dazu, das Buch vielen Lesern zu empfehlen. Sprachlich, inhaltlich und von der Haltung her ist es ein wichtiges Buch in unserer alternden Gesellschaft. 5 Sterne!
Abschied – kann man so etwas in Farben ausdrücken? Laut dem Titel von Bernhard Schlinks neuestem Erzählband „Abschiedsfarben“ schon.
Und es gelingt ihm überaus überzeugend, seine 9 Abschiede (= 9 Geschichten) nicht (nur) in Schwarz „zu malen“, sondern in einem durchaus breiten Farbspektrum.
Natürlich wird jede*r Leser*in eigene Farben finden; jede*r liest und sieht anders; was für den einen „rot“ ist, strahlt für die andere in einem leuchtenden „blau“.
Und so will ich mich auf meine „Farbpalette in Schriftform“ auch gar nicht weiter einlassen.
Die Abschiede sind so vielfältig wie die Geschichten dahinter; das eine oder andere Mal habe ich mich gefragt, ob der Autor hier reale Fälle aus seinem Juristenalltag als Grundlage genommen hat.
Es sind Abschiede von Freunden, von der (Unschuld) der Jugend…Auch scheint autobiografisches („Daniel, my brother“) eingeflossen zu sein. Es sind aber auch Reflektionen eines älteren Mannes, der zurückblickt.
„Das Gedächtnis ist ein Fluss, der das Schiffchen der Erinnerungen, haben wir es erst einmal auf ihn gesetzt, fort- und fortträgt.“ (S. 180)
Das Ganze ist vorgetragen in einer (oberflächlich betrachtet) leichten Sprache; hier muss die geneigte Leserschaft jedoch genau auf den INHALT der Worte achten. Dann nämlich entfalten sich nach und nach wahre Perlen schriftgewordener Erzählkunst.
Mein erster Schlink: ein voller Erfolg!
5*
©kingofmusic
Abschiede gibt es in allen Bereichen des Lebens. Abschied von einem geliebten Menschen, Abschied von einem Lebensabschnitt, Abschied von einer Illusion – Bernhard Schlink gibt in seinem Erzählband jeder Form eine Platz.
Die Erzählungen sind kurz, scheinbar so einfach erzählt, manchmal in Ich-Form als lausche man den Erinnerungen des Erzählers, aber sie gehen sehr tief. Jede Geschichte hat mich auf ganz unterschiedliche Weise berührt. Es ist die große Kunst eines Schriftstellers Gefühle zu verdichten und dem Leser in einer Kurzgeschichte die Essenz nahezubringen. Auch wenn mir manche Geschichten thematisch näher waren, als andere – kaltgelassen hat mich keine.
Jede Episode entwickelt sich langsam und leise nähert sich der Leser den Protagonisten an. Deren Gefühle und Gedankenwelt sind tiefgründig erfasst und auf wenigen Seiten entfaltet sich deren ganzes Leben. Ob gescheiterte Beziehungen, Verrat am Freund, übermächtige Schuldgefühle und Erinnerungen, es ist großartig, wie der Autor den Leser einbezieht.
Ich möchte die Geschichten gar nicht einzeln beschreiben, jeder Leser sollte selbst den Zauber entdecken, aber hervorheben möchte ich „Daniel, my Brother“, die für mich – sicher auch aus persönlichen Gründen – der Höhepunkt des Erzählbands war.
Ein grandioses Leseerlebnis.
Bernhard Schlink, studierter Jurist und Schriftsteller, beschäftigt sich in seinem neuesten Erzählband mit Abschieden vielfältigster Art, aber auch mit den Themen Verlust, Verrat, Schuld und Selbstbetrug. Es sind insgesamt neun Erzählungen, in denen mal ein Ich- Erzähler spricht oder ein allwissender oder personaler Erzähler. Bis auf eine Ausnahme stehen Männer im Mittelpunkt, die auf ein längeres Leben zurückblicken.
In der ersten Geschichte „ Künstliche Intelligenz“ ist der Ich- Erzähler ein Mathematiker, der sich an seinen verstorbenen Freund Andreas zurückerinnert. Allerdings wird diese Erinnerung von einem Gefühl der Schuld belastet ( die er aber vor sich selbst leugnet). Früher arbeiteten sie gemeinsam an einem staatlichen Institut in der DDR. Doch als Andreas seine Flucht in den Westen plant, verrät ihn der Freund an die Stasi. Das bringt dem berufliche Vorteile, aber, so versucht er sich zu verteidigen, „ habe ich ihn in vielerlei Hinsicht gefördert, und ich glaube, die führenden Positionen, die ihm versagt blieben, hätten ihm auch nicht gelegen.“ Ungeheuerlich ist dieser Verrat und unser Ich- Erzähler muss nun fürchten, dass Andreas‘ Tochter , die Einsicht in die Stasi- Akten beantragt hat, davon erfährt. Aber bis zum Ende rechtfertigt er sein Verhalten und lässt sich in einem fiktiven Gespräch mit dem Verstorbenen Absolution erteilen.
In „ Picknick mit Anna“ geht es um einen älteren Herrn, der sich einige Jahre um das Nachbarkind Anna gekümmert hat. Es begann mit Nachhilfe und mit den Jahren verschaffte er ihr Zugang zu Bildung und Kultur. Doch als Anna älter wird, verändert sich das „ seltsame“ Verhältnis der beiden und als das Mädchen von ihrem jugendlichen Freund bedroht wird, hilft er ihr nicht, sondern schaut ( mit Genugtuung ? ) zu.
„ Geschwistermusik“ dreht sich um eine spezielle Geschwisterbeziehung. Der Protagonist, ein Musikwissenschaftler, trifft nach Jahrzehnten bei einem Konzert seine Jugendliebe wieder. Als Jugendlicher hatte er, der aus einfachen Verhältnissen stammte, Zugang zur gutsituierten Familie des Mädchens. Er war verliebt in sie und befreundet mit deren im Rollstuhl sitzenden Bruder. Doch als er sich von den beiden manipuliert fühlte, verschwand er wortlos aus deren Leben.
In „ Amulett“ wird eine Frau von ihrem Ex- Mann um ein Treffen gebeten. Die Scheidung liegt schon Jahrzehnte zurück, die Frau leidet noch immer unter der damaligen Kränkung, verlassen worden zu sein. Sie erhofft sich nun, dass ihr mittlerweile todkranker Ex-Mann sie um Entschuldigung bittet.
„ Geliebte Tochter“ war für mich ein absolutes Ärgernis. Eine Geschichte voller Klischees, mit einer völlig unglaubwürdigen Handlung und genauso unglaubwürdigen Figuren.
Mit „ Der Sommer auf der Insel“ haben wir es mit einer Adoleszenzgeschichte zu tun, mit ersten erotischen Spielen und einem neuen Blick auf die eigene Mutter.
„Daniel, my Brother“ scheint einen autobiographischen Hintergrund zu haben. Manche Parallelitäten zum Autor weisen darauf hin. Die Nachricht vom Tod ( Selbstmord ) des älteren Bruders trifft den Protagonisten hart. Neben dem Schmerz um den Verlust kommen Erinnerungen an frühere Kränkungen, Demütigungen zurück. Hier beleuchtet Schlink einfühlsam die unterschiedlichen Gefühle, die ein Trauerprozess auslösen kann.
In „Altersflecken“ fällt ein Mann nach seinem 70. Geburtstag in eine Art Altersdepression. Er fühlte sich zeitlebens dem Druck der Erwartungen anderer nicht gewachsen . Das Treffen mit einer ehemaligen Geliebten kann ihm etwas von seinen negativen Gefühlen nehmen.
Und in der letzten Geschichte lesen wir in „ Jahrestag“ von der Beziehung eines älteren Herrn zu einer wesentlich jüngeren Frau.
Bernhard Schlink wählt unterschiedlichste Konfliktsituationen, in denen Menschen Bilanz ziehen über ehemals gefällte Entscheidungen, über eigene Verfehlungen, verpasste Gelegenheiten. Meist sind es feinfühlige Betrachtungen, psychologisch durchdachte Geschichten. Allerdings streift Schlink manchmal die Grenze zum Kitsch und er bewegt sich beinahe immer im gleichen Milieu, nämlich das des gehobenen Bildungsbürgertums. Etwas Abwechslung hätte den Geschichten gut getan.
Von den insgesamt neun Erzählungen haben mich drei völlig überzeugt ( „ Künstliche Intelligenz“, „Daniel, my Brother“ und „Altersflecken“ ) und eine halte ich für misslungen.
Stoff zum Interpretieren und Diskutieren bieten sie aber alle.
Nachdem mir der Roman "Olga" so unglaublich gut gefallen hatte, war meine Neugier auf diesen Erzählband sehr groß. Gespannt begann ich mit der Lektüre.
Der Erzählband besteht aus neun Geschichten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, denn mal geht es um die Liebe, mal um Verrat und mal um das Abschiednehmen. Die handelnden Figuren sind dabei in den unterschiedlichsten Lebensabschnitten und - situationen.
Auch wenn man denkt, dass 230 Seiten schnell gelesen sind, so täuscht man sich doch arg, denn jede Erzählung ist so eindringlich, so anders und gleichzeitig besonders, dass man die Texte nicht einfach hintereinander weglesen kann. Manche berühren einen mehr, andere etwas weniger und dennoch lassen sie einen nachdenken über selbst Erlebtes.
Meist geht es einem als Leser so, dass man in einem Erzählband so seine ein bis zwei Lieblingsgeschichten hat. Hier fällt es mir schwer diese zu benennen, da mir alle richtig gut gefallen haben. Besonders hervorheben möchte ich jedoch "Das Amulett" und "Geliebte Tochter", die für Ahhs und Ohhs während der Lektüre gesorgt haben. Wenn ich beim Lesen Laute von mir gebe wie diese, dann bin ich meist besonders ergriffen.
Die dargestellten Protagonisten sind Menschen mitten aus der Gesellschaft gegriffen und ich denke jeder Leser wird eine Figur finden, mit der er sich identifizieren kann.
Fazit: Für mich ein Erzählband der besonderen Art, der mich emotional gefordert hat und der mir sicher noch eine ganze Weile in Erinnerung bleiben wird. Von mir eine klare Leseempfehlung. Klasse!
Abschiedsfarben – gut gewählt ist dieser Titel, kreisen doch die Geschichten in Schlinks neuem Buch rund um das Thema Abschied. Mit 70 Jahren wird sich nicht nur ein Autor mit dem Tod und der Vergänglichkeit der eigenen Existenz auseinandersetzen, doch ein Autor tut es mit Worten und lässt uns, die Leser, daran teilhaben:
„Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Generation vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation stirbt.“ (S. 7)
Doch der Tod ist nur eine der Facetten dieses Werkes, die thematische Ausrichtung wirkt weit vielfältiger. Es geht um Abschied von einem verstorbenen Freund/einer Freundin, von der Kindheit/Jugend, von einer Liebe, von der Unschuld, von der Rechtschaffenheit,… Der Autor hat eine gute Beobachtungsgabe, seine Erzählungen wirken nicht konstruiert, alles könnte genau so stattgefunden haben.
Jede Geschichte ist ein Reich für sich, in das man eintauchen kann. Immer gibt es neues Personal und verschiedene Erzählperspektiven. Allen gemein ist der leicht verständliche Plauderton, in dem Schlink einsteigt. Er setzt uns behutsam ab, stellt seine Figuren vor, kommt regelrecht ins Schwadronieren. Seine Gedanken gehen spazieren, man wird eingelullt – bis man schließlich zum Kern der Geschichte vordringt, wo auf einmal eine unvorhergesehene Wendung überrascht. Spätestens ab diesem Zeitpunkt entwickelt sich ein unglaublicher Sog.
Schlink gibt seinen Figuren große Komplexität, er verzichtet auf Stereotype und Schwarz-Weiß-Malerei. Er zeigt menschliche Abgründe, die zu Gewissenskonflikten führen. Niedrige Beweggründe wie Rache oder Eifersucht führen zu falschem, unrechtem oder zumindest unredlichem Verhalten. Kann eventuell sogar „aus etwas Falschem etwas Richtiges werden?“ (vgl. S. 151)
Nicht alle Geschichten haben ein konkretes Ende. Es obliegt dem Leser, die Handlung weiterzuspinnen, sich Gedanken zu machen über das Gelesene. Doch man steht keinesfalls im luftleeren Raum, Schlink hilft uns, gibt uns ein Geländer an die Hand, so dass man aus jeder seiner Erzählungen befriedigt auftauchen kann. Ideal eignet sich der Band für Lesekreise, weil er großes Diskussionspotential enthält.
Das liegt natürlich auch an der intensiven literarischen Auseinandersetzung. Schlink gibt sich nicht mit Oberflächlichkeiten zufrieden. Er beschreibt differenziert und in die Tiefe gehend, beleuchtet komplexe psychologische Aspekte und spaltet sie auf. In den nachdenklichen Erzählungen finden sich wunderschöne Sätze und Bilder:
„Es tut mir leid, Sabine. Was war, was ich getan habe – es tut mir leid. Aber mehr noch macht es mich traurig. Meine Traurigkeit legt sich auf alles, sie macht mich müde, sie ist ein schwarzes Wasser, ein schwarzer See, in dem ich ertrinke, unentwegt ertrinke.“ (S. 115)
Es gibt auch etwas leichtere Erzählungen rund um Erinnerungen an Urlaub, Liebe, an den Abschied von der Kindheit oder den Umgang mit dem Älterwerden. Seichtes sucht man jedoch vergeblich.
„Er saß auf einer Bank, die laue Luft war nachsichtig, und er dachte schon, er könne die Vergangenheit wie ein gefaltetes Papierschiffchen auf den Kanal setzen und davonschwimmen lassen. Bis ein kühler Wind vom Wasser aufkam und die laue Luft vertrieb.“ (S. 207)
Einige Geschichten werden von einem auktorialen, einige von einem Ich-Erzähler präsentiert. In der Geschichte „Daniel, my Brother“ liegt der Eindruck nahe, dass der Autor hier tatsächlich den Tod seines eigenen Bruders verarbeitet. Wie sensibel er seine Erinnerungen sortiert, die gemeinsamen Erlebnisse schildert, wie er sowohl die schönen Kindheitserinnerungen als auch die Reibungspunkte und Missverständnisse des Erwachsenenlebens vor uns ausbreitet – ohne sich oder den Bruder zu entblößen – das zeigt die große Klasse Bernhard Schlinks. Er ist ein Autor, der sowohl die lange als auch die kurze literarische Form bravourös beherrscht.
Ich bin begeistert von diesem Geschichtenband, dem ich eine breite Leserschaft wünsche und den ich mit vollen 5 Sternen bewerte.
„So oft wird aus etwas Richtigem etwas Falsches. Warum soll nicht ebenso aus etwas Falschem etwas Richtiges werden können?“ (Zitat aus „Geliebte Tochter“, Seite 150)
Inhalt und Thema
Dieser Erzählband ist eine Sammlung von Geschichten, in denen es um das Abschiednehmen geht. Jeder Abschied hat eine Vorgeschichte, eine kurze Episode, oder auch ein ganzes Leben. Damit verbunden sind immer Erinnerungen, intensive Gefühle und auch Entscheidungen, die getroffen werden und dem Leben eine neue Wendung geben, in der Erinnerung dann bestätigt oder bedauert werden. Genau davon handeln diese Erzählungen, die sich dem Thema aus immer neuen, völlig unterschiedlichen Blickwinkeln nähern, vielfältig wie eine Farbpalette.
Handlung und Schreibstil
So unterschiedlich wie die Problematik, ist auch die Erzählform. Es gibt Ich-Erzähler, Hauptfiguren, die der Autor nur „er“ oder „sie“ nennt, von anderen erfahren wir den Namen durch die Dialoge.
In der ersten Geschichte geht es um ein Gespräch, das ein Mann schon längst mit seinem Freund hätte führen wollen, doch es schien nie der passende Zeitpunkt zu sein. Nun ist der Freund gestorben.
In der zweiten Geschichte findet ein nächtlicher Mord statt, der auf der Straße gegenüber dem Haus des Ich-Erzählers stattfindet, doch dieser hat geschlafen und nichts bemerkt.
Die dritte Geschichte handelt von einem überraschenden Wiedersehen. Das Mädchen war seine Jugendliebe, mit ihrem Bruder war er damals eng befreundet, doch dann hatte er sich für ein Amerikajahr für Schüler entschieden.
In der vierten Geschichte bittet ein schwer kranker Mann seine erste Ehefrau, die er vor neunzehn Jahren verlassen hatte, um ein Treffen und ein letztes Gespräch.
Ein Mann und eine Frau lernen sich in der fünften Geschichte bei einem Yoga-Treffen kennen und drei Wochen später haben beide ihre bisherigen Ehepartner verlassen und beginnen ihr gemeinsames Leben, zu dem auch die fünfjährige Tochter der Frau gehört.
Die sechste Geschichte handelt von besonderen Sommerferien eines elfjährigen Jungen mit seiner Mutter auf einer Nordseeinsel. Vier Wochen, in denen er beginnt, sich für Mädchen zu interessieren.
Die siebente Geschichte ist die persönlichste in dieser Sammlung. Es geht um den plötzlichen Tod des älteren Bruders eines Schriftstellers und die damit verbundenen Erinnerungen, vor denen er nicht in die Welt seiner Geschichten fliehen kann.
In der achten Geschichte begibt sich ein Mann kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag auf die Suche nach einer Frau, mit der er vor vielen Jahren die glücklichsten Stunden seines Lebens verbracht hatte.
Die neunte Geschichte erzählt vom Jahrestag einer Beziehung eines Mannes, er ist einundsiebzig Jahre alt, zu einer wesentlich jüngeren Frau. Er ist glücklich, macht sich aber Gedanken über die Zukunft.
Der Autor entwickelt seine Geschichten langsam, leise, in einer poetischen Sprache, klar schnörkellos und gerade dies macht sie so packend und eindrücklich.
Fazit
Geschichten, wie sie das Leben schreibt, Entscheidungen, für die es, einmal getroffen, keinen Weg zurück gibt, denn das mögliche andere Leben kann niemals mehr gelebt werden. In der Erzählung Altersflecken bringt es eine Protagonistin auf den Punkt: „Gemeinheiten, Peinlichkeiten, Fehler? – Altersflecken“ (Seite 219).
In den Geschichten thematisiert Schlink das Abschiednehmen, wie der Titel bereits vermuten lässt, allerdings geht es nicht nur um den Abschied von einer geliebten Person, sondern die Plots der Erzählungen und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, sind vielfältig und sehr unterschiedlich.
"Abschied muss sein; das Wissen, dass einer gestorben ist, bleibt beunruhigend, bis der Abschied ihn seine Ruhe finden lässt - und einen selbst." (7)
"Es hilft, beim Sterben dabei zu sein." (7)
Der Ich-Erzähler, Informatiker, der ein staatliches Institut in der ehemaligen DDR geleitet hat, führt in der ersten Geschichte "Künstliche Intelligenz" zunächst seine Gedanken zum Thema Abschied nehmen von Verstorbenen aus - die allgemeinen Gedanken bieten insofern einen perfekten Einstieg in den Erzählband. Von Menschen, die man nicht so oft treffe und mit denen man nicht mehr so oft zu tun habe, falle der Abschied schwerer, dazu zählt auch sein Freund Andreas, der ebenso wie er selbst als Informatiker am gleichen Institut gearbeitet hat. Stutzig gemacht haben mich die Gedanken zu Andreas Tod -
"(...) auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es, nur eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei." (10)
Welches Geheimnis birgt der Ich-Erzähler? Schlink deckt ganz geschickt Schritt für Schritt das Ausmaß eines Verrats auf, für den sich Andreas Freund rechtfertigt, indem er jegliche Schuld von sich weist und keine Reue zeigt.
Der Ich-Erzähler ist bis zum Schluss überzeugt das Richtige getan zu haben - die Leser*innen werden das anders wahrnehmen.
Auch in der zweiten Geschichte "Picknick mit Anna" steht ein männlicher Ich-Erzähler im Vordergrund, und wie in der ersten thematisiert sie nicht nur den Abschied von einem Menschen, sondern auch die Schuld, die damit einhergeht. Ein ältere Herr hat nachts von seinem Fenster aus beobachtet hat, wie Anna zusammengeschlagen wurde und an den Folgen verstorben ist. Warum hat er die Polizei oder den Notarztwagen nicht informiert, obwohl er Anna gut gekannt hat. Langsam entwirrt sich das komplizierte Beziehungsgeflecht, das ihn mit der jungen Frau verbunden hat.
"Geschwistermusik" gehört neben "Der Sommer auf der Insel" und "Daniel, my Brother" zu den Geschichten, die mir am besten gefallen haben.
Sie offenbart ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen einem Jungen, Philip, der sich in seine Klassenkameradin verliebt, die - so seine Interpretation - ihn benutzt, damit ihr behinderter Bruder einen Freund hat. Jahre später trifft er sie wieder und muss erkennen, dass er sich von seiner Sicht der Geschichte verabschieden muss.
Im Sommer auf der Insel verabschiedet sich ein 11-jähriger Junge, der allein mit seiner Mutter im Jahr 1957 Urlaub macht, von seiner Kindheit und entdeckt die weibliche Sexualität. Aber auch die Mutter muss Abschied nehmen von einem alternativen Leben, einer Liebe, die nicht gelebt werden kann, ebenso wie in der Geschichte "Altersflecken" ein 70-Jähriger über die verpassten Gelegenheiten seines Lebens sinniert, während in "Jahrestag" eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau im Mittelpunkt steht. Er nimmt Abschied von dem Gedanken, ihr alles geben zu können.
Die Geschichte "Das Amulett" zeigt, wie eine von ihrem Mann verlassene Frau, loslassen muss, wie es ihr gelingt ihre Wut, aber auch ihre Trauer hinter sich zu lassen - eine sehr beeindruckende psychologische Studie.
Die persönlichste Geschichte ist "Daniel, my Brother", die autobiografischen Bezüge drängen sich auf, da der Ich-Erzähler Schriftsteller ist und Jura studiert hat. Der Ich-Erzähler verabschiedet sich von seinem Bruder, der gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord begangen hat, da sie schwer krank ist und er offenbar am Ende seiner Kräfte. Allmählich kommen die Erinnerungen.
"Sie stahlen sich schon in die Nacht, nicht als Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit, aber als Erschrecken, verloren zu sein." (178)
Der Ich-Erzähler rekapituliert das Verhältnis zu seinem Bruder, stellt die positiven, aber auch negativen Seiten heraus, stolpert über einige Erinnerungen, hadert.
Der Trauerprozess ist sensibel und empathisch nachvollziehbar geschildert, ein Stück Prosa, das man immer wieder zur Hand nehmen möchte.
Nur eine Geschichte hat mich enttäuscht, und wie mir ging es einigen aus der Leserunde ebenso damit:
"Geliebte Tochter" fängt gut an, doch die Wende wirkt konstruiert, zudem hat sich uns nicht erschlossen, welche "Botschaft" Schlink mit dieser Geschichte vermitteln will. Allerdings stellt sich die Frage, ob immer eine Botschaft nötig ist ;) Auf jeden Fall laden die Erzählungen zum Diskutieren ein!
Insgesamt wunderbare Prosa, die nachhallt und die immer wieder gelesen werden kann, da sie sich durch authentische Figuren, eine plausible Handlung mit unerwarteten Wendungen und nicht zuletzt durch eine unprätentiöse Sprache auszeichnet.
In dem abwechslungsreichen Geschichtenband staunt man über die Phantasie des Autors, die so unterschiedliche, gleichermaßen fesselnde wie unspektakuläre Erzählungen zum Leben erweckt.
Es geht, wie der schöne, bildhafte Titel schon verrät, um die verschiedenen Arten von Abschied. Im Zentrum steht dabei das Abschied nehmen selbst und das, wovon man sich im Laufe des Lebens verabschieden muss:
von Nachbarn, von der Exfrau, vom Freund, von der Tochter, vom Bruder, von der körperlichen Unversehrtheit, von der eigenen Rolle, von einer Illusion, von einer Lebensphase, aber auch von Ängsten und Liebesgefühlen.
Wir lesen von Abschied, der Trauer, Ratlosigkeit, Enttäuschung und Wut auslösen, aber auch Erlösung und Befreiung sein kann.
Und es geht um Abschied, der manchmal notwendig ist, um seiner Haltung und damit sich selbst treu zu bleiben oder um sich Alternativen und neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Ich kann mich nur staunend und anerkennend wundern, wie es Bernhard Schlink immer wieder aufs Neue gelingt, den Leser in Windeseile in fremde Welten hineinzuziehen.
Man findet sich schnell darin zurecht und bekommt einen wunderbaren Eindruck von den Charakteren, die in ihrer ganzen Komplexität und Vielschichtigkeit gezeichnet werden.
Beeindruckt bin ich auch von der Sprach- und Wortgewalt des Autos. Kurz und knapp, treffsicher und bildhaft, bringt er das, was er sagen will auf den Punkt.
Bernhard Schlink erzählt feinfühlig und schafft es scheinbar spielerisch, komplexe psychologische Sachverhalte klar und differenziert zu Papier zu bringen.
Beim Leser wird die ganze Palette der Gefühle angesprochen.
Die Geschichten haben Tiefe und der Autor vermittelt Einblicke in das Seelenleben und in menschliche Abgründe. Er spricht aus, was im Alltag oft verschämt oder aufgrund von Konventionen tabuisiert wird.
Chapeau!
Sechs der neun Erzählungen fand ich bravourös, drei etwas schwächer.
Die erste Geschichte in dem Band überraschte mich schon mal positiv.
Wir erfahren so Einiges über die Freundschaft des berenteten Ich-Erzählers zum bereits verstorbenen Andreas.
Beide Männer waren Mathematiker, beide lebten in der ehemaligen DDR. Andreas unternahm nach dem Bau der Mauer einen Fluchtversuch, musste vier Jahre ins Gefängnis und anschließend ein Jahr in die Fabrik. Der Ich-Erzähler wurde Leiter eines Instituts für Kinetik und förderte und unterstützte seinen Freund Andreas Jahre später in diesem Institut.
Aber er hat Andreas zeitlebens auch etwas verheimlicht.
Etwas, das die Freundschaft hätte belasten können, wenn es ans Tageslicht gekommen wäre.
Nach dem Tod des Freundes kommt dessen Tochter auf die Idee, Einblick in seine Stasi-Akte nehmen zu wollen. Der Erzähler will ihr das ausreden.
Hat er Sorge, dass das Geheimnis dann gelüftet würde und dass die Freundschaft dadurch postmortem Schaden nehmen oder zur Farce werden würde?
Diese Geschichte war unglaublich eindringlich, eindrücklich und spannend.
Dann folgt eine Geschichte, in der die Kränkung über einen erzwungenen Abschied zu einer „Mordswut“ führt. Diese Wut wird so groß, dass sie den Erzähler die Augen vor einem beobachteten Mord verschließen lässt.
Die komplexe Beziehung eines Geschwisterpaares steht im Mittelpunkt der nächsten Geschichte. Das verwickelte Verhältnis basiert auf Schuld und Sühne und lässt der Schwester kaum Frei- und Spielraum. Anderen ist der Zutritt nur bis zu einer bestimmten Grenze gestattet.
Um eine fast „alltägliche“ und klischeehafte Thematik geht es in „das Amulett“:
Die Ehefrau wird vom Ehemann wegen des Au-Pair-Mädchens verlassen und reagiert darauf schwer gekränkt.
Aber wie der Autor diese Geschichte erzählt, ist alles andere als alltäglich. Hier erkennt man ganz deutlich, dass er psychologisch versiert ist.
Er verschafft dem Leser einen Einblick in die menschlichen Abgründe, zeigt innere Ambivalenzen und die Notwendigkeit des Verarbeitens auf und formuliert das Ganze noch dazu bravourös.
Die Geschichte mit dem vielsagenden und zweideutigen Titel „Geliebte Tochter“ zeigt dem Leser eine ganz andere Seite des Autors.
Rasant strebt die vordergründig idyllische Handlung einem Höhe- und Wendepunkt zu.
Hinter den Kulissen wirft sie Fragen auf über sexuelle Identität, Verleugnung und Wertung.
Sie zeigt wieder einmal, dass alles komplexer ist, als zunächst angenommen.
Es ist eine Geschichte, die von Aufrichtigkeit, Unspektakulärem, Toleranz und Unkonventionalität geprägt ist.
In den folgenden Geschichten geht es um den kurzzeitigen Abschied aus Routine und Angepasstheit, Suizid, Trauerarbeit und den wehmütigen Einschnitt, den ein 70er Geburtstag darstellen kann.
Plötzlich wiegt die Vergangenheit mehr, als die Gegenwart.
Erinnerungen verschiedener Couleur und Gefühle jegliche Schattierung drängen sich in den Alltag und der Protagonist wird melancholisch bis subdepressiv.
In der letzten Geschichte geht es um Verlustangst: Ein alter Mann liebt eine junge Frau und hat Angst, sie zu verlieren. Er befürchtet, sie könnte einen Erwartungsdruck verspüren, sich vereinnahmt fühlen oder von ihm enttäuscht sein... und ihn verlassen.
Bernhard Schlink wirft in diesem absolut gelungenen Werk brisante und tiefgründige Fragen auf und bietet mit seinen Geschichten Diskussionsstoff.
Ich bin froh, sie in einer Leserunde gelesen zu haben.
Ein Urlaub in Jesolo ist genau das Richtige, schon seit Jahren. Man muss nicht fliegen, die drei Stunden sind schnell geschafft. Andi und Georg kennen die Gegend und die Hotels. Zwar ist es nach der langen Zeit schon etwas abgegriffen, aber doch immer wieder schön. Georg aber möchte, dass sich ihre Beziehung weiterentwickelt. Mit Mitte dreißig sollte man doch erwachsen werden. Andi hat jedoch ganz andere Dinge im Kopf. Allerdings nichts bestimmtes, sie möchte das Leben auf sich zukommen lassen, sich nicht festlegen. Ihre Beziehung mit Georg gehört eigentlich auf den Prüfstand.
Sie will nicht zusammenziehen, sie will kein Kind, sie will sich nicht festlegen, sie will, dass es so unverbindlich bleibt wie es ist. Nach dem letzten Urlaub ist Andi kurz davor, sich zu trennen. Es wird ihr einfach zu viel. Doch dann die Nachricht: sie ist schwanger. Der erste Impuls, ist der Gedanke an eine Abtreibung. Schnell aber ändert sich dies, Andi behält das Kind und sie behält es erstmal für sich. Immer noch unsicher, ob sie sich einfach in die ihr zugedachte Mutterrolle fügen soll oder ob sie sich auflehnen soll. Nach einem heftigen Streit, erinnert sie sich wieder an die guten Zeiten.
Nicht jede Frau sieht es als Lebensziel, Ehefrau und Mutter zu werden. So auch Andrea genannt Andi. Sie lässt sich treiben im Leben, hat ihre Arbeit und einen Freund. Eigentlich reicht ihr das. Mit 35 verspürt sie den Wunsch nach Veränderung, allerdings geht dieser Wunsch wohl eher Richtung Trennung. Die Schwangerschaft kommt dann unerwartet. Doch Andi stellt sich der neuen Situation. Allerdings wirkt sie nicht glücklich. Freund und Schwiegereltern sind es, die vor Glück strahlen. Immer wieder stellt sich Andi alternative Situationen vor und sie scheint unsicher, was sie sich wünschen soll. Es gibt keinen wohligen Schwangerschaftskokon für Andrea.
Eine ehrliche Schilderung über Beziehung und Schwangerschaft, die doch sehr ernüchtert. Es müssen Kompromisse gemacht werden, die wohl nur der einen Hälfte der Familie gefallen. Vielleicht ist es ein Buch, auf das man gewartet hat. Gut, zu erfahren, dass nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen herrschen. Bei aller Ehrlichkeit jedoch, bleibt in den neun Schwangerschaftsmonaten offen, ob Andrea schließlich zufrieden ist mit ihren Kompromissen der Einengung oder ob sie nicht doch noch ein Hintertürchen findet, das ihr eine gewisse Freiheit bedeutet.
Georg und Andrea sind Mitte dreißig und schon seit der Jugendzeit ein Paar. Jedes Jahr fahren sie nach Italien, genauer gesagt nach Jesolo, immer ins gleiche Hotel. Da hat sich eine Menge Routine zwischen den beiden eingeschlichen, glücklich geht anders. Allerdings erfahren wir nur die Gedanken von Andrea, es sind aber auch ihre innersten Gedanken, Gefühle und Innensichten.
„Seit ich denken kann, gibt es immer nur uns. Immer nur mich zusammen mit dir. Wenn du nicht da bist, fragen mich die anderen zuerst, wo du bist, und erst dann, wie es mir geht.“ (S. 36)
Es gibt viele kleine Ungereimtheiten und Differenzen in diesem Urlaub. Die Ursache des Übels scheint aber die Tatsache zu sein, dass Georg gerne ein Kind möchte, Andrea sich vor dieser Entscheidung jedoch scheut.
Ein paar Wochen nach dem Urlaub stellt Andrea fest, dass sie schwanger ist. Ungewollt. Bezeichnenderweise beginnt das Buch erst jetzt mit Kapitel 1, der vorhergehende Urlaub fand im Kapitel 0 statt. Das Buch hat nachfolgend noch insgesamt 9 Kapitel, für jeden Schwangerschaftsmonat eins.
Andrea hadert von Anfang an mit dem Schwangersein, mit der Mutterrolle, den anstehenden Veränderungen, mit den Erwartungen, die die Umwelt an sie stellt. Diese Gewissenskonflikte werden sehr glaubwürdig und authentisch transportiert. In kurzen, klaren Sätzen. In Dialogen ohne Anführungsstriche und ohne Schnörkel. Andrea erkennt die Bemühungen Georgs an und versucht, sich selbst zu überzeugen:
„Es ist ein Wunder. Das größte Wunder der Natur. Ein besonderer Moment. Eine Meisterleistung. Ein Spektakel. Das emotionalste Erlebnis im Leben einer Frau.“ (S. 63)
Die vielen widersinnigen Ratschläge, die man als Schwangere bekommt, kennt jeder, sie sind fast ein wenig lächerlich: „Ich soll nicht fasten. Ich soll für Zwei essen. Mehr Eiweiß. Mehr Vitamine, Eisen, Magnesium. Auf keinen Fall Zigaretten und Alkohol. (…) Kein Hochleistungssport. Kein Tennis, Reiten, Tauchen. Laufen und Radfahren sind unbedenklich.“ (S. 91)
Was Andreas Lage zusätzlich erschwert, ist die Tatsache, dass sie von ihrer Mutter verlassen wurde, als sie noch ein Grundschulkind war. Das schwebt als unverarbeitetes Trauma im Hintergrund. Auch mit ihrem Vater hat sie seit Jahren keinen Kontakt. Im Gegensatz dazu sind die Schwiegereltern (über-)fürsorglich. Insbesondere Erika will helfen und unterstützen, schießt aber gern übers Ziel hinaus. Allerdings lässt Andi auch zu gerne alles geschehen. Sie wehrt sich nicht, ist passiv, sagt niemals „nein“…
Auf diese Art und Weise wird sie in Georgs Vorstellungen und Pläne hineingedrängt, die eigentlich so gar nicht ihre eigenen sind:
„Dieses Schwangersein., dieses Kindhaben, dieses Hausbauen. Ich habe bald dieses Leben: eine eigene Wohnung, ein Kind, einen Mann, der mich liebt. Die Familie ist die Erfüllung. Eine wohlige Seifenblase, die niemals platzt.“ (S. 131)
Dieses Buch hat mich mit seiner poetischen Sprache und seinen ausdrucksstarken Bildern völlig begeistert. Die Autorin hat es aber auch inhaltlich mit ihrem Debut geschafft, dass ich als Fünfzigerin (die sich früher tierisch auf ihre Kinder gefreut hat und der die Gefühle der Protagonistin aus eigenem Erfahren heraus völlig fremd sind) alles sehr gut nachfühlen konnte. Zu keinem Zeitpunkt habe ich gedacht: „Was ist die überspannt, die spinnt doch…“. Damit ist dieser Roman aus meiner Sicht für alle Altersklassen eine Bereicherung. Er zeigt sensibel auf, wie eine Frau von einer vermeintlich natürlichen Situation überfordert sein kann. Tanja Raich entführt in die Welt einer Frau, die Probleme mit ihrer neuen Rolle hat, aber dennoch versucht, sich ihr zu stellen. Es sind alles ehrliche Gefühle, die wir da lesen, man ist ganz nah dran.
Das hat mich wirklich beeindruckt und dafür vergebe ich mit 5 Sternen meine volle Lese-Empfehlung!
Dieses Sachbuch der Autorin Nora Bossong fasst in zehn Reportagen die Welt des Sex zusammen, über die Erotikmesse, dem Tabledance, über die Sauna ins Bordell. Nora Bossong hat in alle möglichen Bereiche hineingeschaut und eines übereinstimmend festgestellt: diese Welt ist männlich, weibliche Bedürfnisse kommen zu kurz oder schlimmer, interessieren hier niemanden. Dabei sind es zumeist weibliche Dienstleisterinnen, doch die geldeinbringende Kundschaft ist nun einmal männlich. In einem hervorragenden Schreibstil berichtet die Autorin fast schon in Romanform, doch ihre Stories sind nicht fiktiv sondern brandaktuell. Wieso geht Sex im Jahre 2017 nur schmuddelig oder höchst steril? Wie kann frau samt ihrer Bedürfnisse sich besser einbringen in dieses Geschäft? Kann käuflicher Sex befriedigen? Fragen, die die Autorin zu beantworten versucht.
Gerne vergebe ich diesem Sachbuch fünf von fünf möglichen Sternen und empfehle es weiter an Leser, die sich ein Bild machen möchten über die Erotikwelt heute und deren Macher. Ein schwieriges Thema, da häufig ein Tabu, doch umso interessanter und mit spannenden Einblicken gestaltet.
Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon zum ersten Mal nach Jahrzehnten in seine Heimatstadt. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Fotos an – das ist die Ausgangskonstellation dieses Buchs, das autobiografisches Schreiben mit soziologischer Reflexion verknüpft. Eribon realisiert, wie sehr er unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus litt und dass es der Habitus einer armen Arbeiterfamilie war, der es ihm schwer machte, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert er eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens seit den fünfziger Jahren und fragt, warum ein Teil der Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist. Das Buch sorgt seit seinem Erscheinen international für Aufsehen. So widmete Édouard Louis dem Autor seinen Bestseller »Das Ende von Eddy«.
Romanbiografie
„Vielleicht bin ich ihm als Frau zu einfach, zu sehr Galway, zu wenig Bildung, zu arm. Vielleicht stehe ich ihm im Weg und er will jetzt seine Freiheit, vielleicht schreibt er mir deshalb Dinge, damit ich mich gräme und weine, allein in unserem Bett.“ (Zitat Seite 189)
Inhalt
Die Irin Nora Barnacle arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel in Dublin. Sie ist zwanzig Jahre alt, als sie 1904 James Joyce kennenlernt. Gemeinsam verlassen sie heimlich Irland und leben in wilder Ehe zusammen. Ihr Weg führt sie nach Zürich, Triest, Paris. Beide können nicht mit Geld umgehen und so leben sie viele Jahre mit ihren zwei Kindern auf engstem Raum und in großer Armut, unterstützt von seinem Bruder Stanislaus Joyce und Freunden, bevor der Erfolg seiner Bücher sie finanziell absichert. Für Nora, Vorbild der Frauenfiguren in seinen Romanen, ist der alkoholsüchtige, schwierige Künstler, ihr Jim, der Mittelpunkt ihres Lebens und sie glaubt an seinen Erfolg als Schriftsteller.
Thema und Genre
Dieser Roman mit biografischem Hintergrund schildert das Leben von Nora Joyce an der Seite des irischen Schriftstellers James Joyce als fiktive Autobiografie der Ich-Erzählerin Nora.
Charaktere
Im zeitgenössischen Freundes- und Bekanntenkreis wird Nora als sehr gewöhnliche, ungebildete Frau geschildert. Obwohl Brenda Maddox in ihrer Biografie dieses wohl einseitige Bild ändern konnte, zeigt der vorliegende Roman wieder das Bild einer Nora, die zwar die Gedichte ihres Jim liebte, doch seine Bücher nie gelesen hat, weil sie einfachste Heftromane bevorzugte. In den schwierigen Zeiten vor seinem Erfolg bleibt sie nur bei ihm, weil sie befürchtet, alleine nicht für ihre beiden Kinder sorgen zu können. Die Gutmütigkeit von Stanislaus, James‘ Bruder, nützt sie aus, immer wieder bittet sie ihn mit Selbstverständlichkeit um Geld. So macht dieser Roman aus Nora eine nicht sehr sympathische Frau.
Handlung und Schreibstil
Nora Barnacle-Joyce schildert ihre Geschichte selbst, der Roman ist als Ich-Erzählung in Tagebuchform gestaltet. Er beginnt mit dem ersten Date mit James „Jim“ am 16. Juni 1904. Es folgt eine kurze Schilderung ihrer Kindheit bis zu diesem Tag. Die Handlung endet 1951 in Zürich. Um Nora authentisch wirken zu lassen, ist dieser Roman in einer einfachen Umganssprache geschrieben und konnte mich streckenweise nicht überzeugen und packen. Vielleicht liegt dies teilweise auch an der Übersetzung, oftmals „grunzt“ Jim, oder Nora, oder ein Freund, bevor sie bzw. er etwas sagen und hier hätte es, wie so oft in der englischen Sprache, mehrere Übersetzungsmöglichkeiten geben. Während der Bahnfahrt nach Zürich: „Jim grunzt. ‚Bald geht’s durch den Arlbergtunnel, Nora.‘“ (Zitat Seite 260)
Fazit
Ein Roman in autobiografischer Form, dessen deutscher Untertitel „und die Liebe zu den Büchern“, der im englischen Original fehlt, dazu führte, dass ich eine etwas andere Schilderung des Lebens von Nora Joyce erwartet hatte. Hier wird zwar auch erzählt, wie James Jocye an seinen Romanen schreibt, aber generell geht es nicht um Literatur, sondern um Noras Alltag, ihre Befindlichkeiten, ihre Suche nach Freundinnen in fremden Städten, ihre sexuellen Phantasien. Dennoch ist es eine interessante Frauengeschichte über das Leben an der Seite eines schwierigen Künstlers, die sicher begeisterte Leserinnen finden wird.
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