Inhaltsangabe zu "Gotteszahl"
Früher gab es bei den Stubøs immer Schweinerippe als Weihnachtsessen, aber diesmal hat Mutter Inger Johanne Kabeljau gemacht. Während Kommissar Yngvar Stubø aus Oslo dem Kabeljaukopf die Augen aussaugt, bringen die Kinder das Gespräch auf Wasserleichen.
Als wäre das noch nicht genug des Makabren, erhält der Ermittler auch noch einen Anruf: Im norwegischen Küstenort Bergen ist die sympathische und hoch geachtete Bischöfin Eva Karin Lysgaard, die sich durch ihren Einsatz für Homosexuelle und Arme allerdings nicht nur Freunde gemacht hat, ermordet worden. Die Spur führt zu einer mysteriösen zahlenmystischen Sekte namens „Gruppe 25“, die die von Verderbnis durchzogene christliche Welt reinigen wollen. Und, der Leser weiß es gleich zu Beginn von Gotteszahl/, viel früher aus der Kommissar: Bei einem Mord wird es nicht bleiben...
Irgendwann kommt wohl kein moderner Krimi-Autor mehr drum herum, eine (christlich-fundamentalistische) Sekte zum Ausgangspunkt der Handlung zu machen. Die Mystery-Thriller des Genre-Übervaters Dan Brown werfen ihre lange Schatten bis in die letzten ausgeleuchteten Winkel der Gattung hinein. Aber es kommt ja vor allem auch darauf an, wie man als Autor mit – bewussten oder unbewussten – Vorbildern umzugehen versteht, und da ist die norwegische Bestsellerautorin Anne Holt wie immer eine sichere Bank. Denn sie versteift sich nicht in Spekulationen, sondern erzählt so souverän, dass der ganze Fall logisch und authentisch wirkt.
Kurz und gut: Gotteszahl ist ein spannender, klug gebauter und mit einer gehörigen Portion Witz geschriebener Kriminalroman: allein schon, wie es Holt gelingt, von der skurrilen Darstellung eines Leichenfunds am Kai eines Fjordes mit einem literarischen „Filmschnitt“ zum Weihnachtsessen der Stubøs überzuleiten, ist nichts weniger als brillant. -- Stefan Kellerer
"Ich hab mich vollgeschluckt mit so viel Grauen ..."
"Er duckte sich zwischen den Laken auf der Wäscheleine hindurch. (...)
Kleine Punkte aus Sonnenlicht durchbrachen die Schatten, die von den Laken geworfen wurden. Er stand da und sah sie an. Dann schaute er an sich selbst hinab. Betrachtete seinen Pullover und die Hose, die ebenfalls von kleinen Punkten aus Licht übersät waren. Er spürte, wie sein Herz aussetzte. Fuhr mit dem Finger über ein Laken. Sofort fand er ein Loch. Und noch eins."
Dies ist kein besonderer Wendepunkt des Romans. Es ist ein Drama unter vielen, ein Nebenschauplatz - eine Stelle, an der geschossen wurde und die aufgehängten Laken von Kugeln durchlöchert sind. Ich zitiere die Stelle nur, um eine besondere Eigenart von Jo Nesbø aufzuzeigen, die ihn für mich in der Thrillerlandschaft einzigartig macht: Er nimmt sich für jede Szene, jedes kleine Drama die Zeit, eine besondere Atmosphäre zu schaffen; einen Moment der Sinnlichkeit, der die Leserin innehalten lässt. Die in Rezensionen anderer Thriller oft als Lob geäußerte Behauptung, dass man "durch die Seiten fliegt", passt auf Nesbø nirgends. Seine Bücher kann und soll man als Belletristik lesen. Seine zweite, für mich besonders wichtige Besonderheit ist, dass er auch den kompliziertesten Plot klar und einfach darbieten kann. Ich kann solche Thriller über Politik und vielfach verflochtene Korruption normal gar nicht lesen, weil es meine Hirnkapazität übersteigt. Selbst Harry Potter war mir zu kompliziert. Aber bei Nesbø kann ich folgen!
Der Plot ist eine getreue Adaptation des Macbeth-Stoffs. Wer das Shakespeare-Drama kennt, weiß, wie es kommen wird. Es ist vorhersehbar, aber doch äußerst bewundernswert, wie Nesbø jede wichtige Einzelheit, jede Person mit ihren Eigenarten in seine Romanhandlung transportiert hat. Schauplatz ist eine namentlich nicht genannte Stadt, die wir in Schottland vermuten müssen, und zwar gegen Ende einer starken industriellen Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit und verarmter Bevölkerung*. Polizei und Behördenapparat sind durchsetzt mit skrupellosen Machtpolitikern, so dass man sich zuweilen in einer Art Bananenrepublik wähnt - ich hoffe stark, dass es in Schottland nicht wirklich so zugeht. Macbeth ist ein anfangs integer erscheinender, dann zunehmend korrupter Polizist, der - vorgeblich im Zuge der Bekämpfung des Drogenhandels - in die höchsten Ränge der Polizeihierarchie aufsteigt, am Ende sogar das Bürgermeisteramt ins Auge fasst. Der norwegische "König Sweno", den Shakespeares Macbeth am Anfang besiegt, ist bei Nesbø der Chef der "Norse Riders", einer Motorradgang, die mit Drogen dealt. Und so geht es weiter: all die markanten Wendepunkte und Personen, die man aus Shakespeares Drama kennt - die von inneren Dämonen getriebene "Lady", die drei Hexen, ihre Prophezeiungen, Banquos Geist beim Bankett, der marschierende Wald von Birnam und so weiter - haben ihre Auftritte, und nichts wirkt aufgesetzt oder implantiert, sondern findet seinen Platz als funktionierendes Rädchen in dem Getriebe, das Macbeth in den Abgrund reißt. Was die Menschen antreibt und bewegt, hat sich seit Shakespeares Zeiten nicht geändert.
Dicke Leseempfehlung für ein sehr besonderes Buch!
*) Ich habe ein Interview gefunden, in dem es heißt, dass Nesbø die Stadt Newcastle im Sinn hatte.
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