Mutterschaft

Margaret Laurence (1926 – 1987) war eine bedeutende australische Autorin, deren Entdeckung wir in Deutschland dem Eisele Verlag zu verdanken haben. Bereits im vergangenen Jahr hat mich „Der steinerne Engel“ sehr beeindruckt, auch dieser neue Roman ist äußerst lesenswert.
Im Mittelpunkt steht die 34-jährige Rachel Cameron, die altjüngferlich mit ihrer hilfsbedürftigen Mutter zusammenlebt und in ihrem Heimatort, dem fiktiven kanadischen Städtchen Manawaka, als Lehrerin arbeitet. Rachel ist unzufrieden. Sie spürt, dass sie von ihrer Mutter ausgenutzt und instrumentalisiert wird, sie empfindet ihre Kollegin Calla als aufdringlich und ihren Chef als unsympathisch und distanzlos. Rachel weiß genau, dass sie sich dagegen wehren, sich dagegen auflehnen müsste. Sie erkennt menschliche Fallen, formuliert auch die richtigen Entgegnungen im Kopf - nur über die Lippen kommen sie ihr nie. Zu sehr ist sie in ihren gelernten Verhaltensmustern gefangen. Ihr zurückhaltendes, konfliktscheues und zutiefst unsicheres Wesen steht einer Auflehnung entgegen. Rachel kann nicht Nein sagen, stattdessen verstrickt sie sich in Notlügen oder trifft unliebsame Zusagen oder Verabredungen.
Die Ich-Erzählerin ist Rachel selbst. Sie schildert grundehrlich ihren Alltag und Szenen aus ihrem Leben. Sie lässt uns an ihren dezidierten Gedankenströmen teilhaben, wodurch sich die Diskrepanz zwischen Wollen und tatsächlichem Handeln verdeutlicht. Rachel geht sehr selbstkritisch mit sich ins Gericht, führt sogar imaginäre Streitgespräche mit Gott (christlich-biblische Motive durchziehen den Roman). Sie findet für ihr Umfeld treffende, spitzzüngige und sarkastische Vergleiche, über die man als Leser zuweilen lächeln kann. Man spürt Rachels Widerwillen. Sie hadert mit der Tatsache, dass sie nach dem Tod ihres Vaters nach Manawaka zurückgekehrt ist, dass sie im Gegensatz zu ihrer Schwester den Absprung nicht geschafft hat und ihr Leben festgefahren ist. In Rachels Situation spiegelt sich sehr genau das Frauenbild der 1960er Jahre wider. Damals wurde von Frauen Anpassung, Respekt und Unterordnung verlangt. Dagegen rebelliert Rachel – leider lange Zeit nur innerlich.
In den Ferien trifft sie den Jugendfreund ihres Bruders, Nick Kazlik, wieder, der auf dem elterlichen Bauernhof zu Gast ist. Beide haben dominante Eltern und die gefühlte Einsamkeit macht die beiden jungen Leute zu Schicksalsgefährten. Rachel genießt das Zusammensein mit Nick, bald treten tiefergehende Gefühle hinzu. Rachel kann sich endlich jemandem öffnen, lernt zu widersprechen. Über mehrere Stationen hat die titelgebende „Laune Gottes“ weitreichende Konsequenzen für ihr weiteres Leben, eine persönliche Entwicklung wird in Gang gesetzt…
Sprachlich und stilistisch ist der Roman eine Perle, zahlreiche passgenaue Sätze oder Metaphern zeugen von großer Lebensklugheit und Empathie. Laurence hat darüber hinaus eine komplexe Protagonistin geschaffen, deren Zwänge und innere Nöte man intensiv nachempfindet. Als Leser hat man einerseits Mitgefühl mit ihr, andererseits möchte man Rachel schütteln, weil sie doch so offensichtlich selbst weiß, wie sie sich aus der Zange befreien könnte. Schütteln möchte man auch ihre narzisstische Mutter, die ihre Krankheit gezielt einsetzt, um die Tochter zu manipulieren. Niemanden wird diese Geschichte kalt lassen. Sämtliche Beziehungsgeflechte werden intensiv ausgeleuchtet. Auch alle anderen Figuren werden mit Liebe zum Detail gezeichnet, Stereotype sucht man vergeblich, manche Nebenfigur weiß zu überraschen. Laurence muss eine unglaublich feinsinnige Beobachterin und Menschenkennerin gewesen sein. Sehr viel Psychologie und Authentizität schwingen in diesem Roman mit, der seine Geschichte ohne Sentimentalität oder Kitsch erzählt. Die Autorin bringt ihren Roman glaubwürdig über die Ziellinie. Manches mag einem dabei wenig zeitgemäß und antiquiert vorkommen. Man muss dabei unbedingt bedenken, dass der Roman erstmalig bereits 1966 erschien, wo noch ein völlig anderes gesellschaftliches Werteverständnis vorherrschte. Auf diese Tatsache macht auch Margaret Atwood in ihrem Nachwort aufmerksam. Sie lobt die Kunstfertigkeit der Kollegin: „Eine Laune Gottes ist ein Buch wie ein Ei – es ist schlicht, selbstgenügsam und von eleganter Form und enthält die Essenz eines Lebens.“ (S. 278)
In diesem Sinn empfehle ich den Roman allen Lesern, die gerne gute, psychologisch ausgefeilte Romane mit streitbaren, vielschichtigen Figuren lesen. „Eine Laune Gottes“ eignet sich auch bestens für Lesekreise, Diskussionsstoff bietet er reichlich. Margaret Laurence ist wirklich eine Entdeckung und ich hoffe, dass der Eisele Verlag noch weitere Werke dieser fast vergessenen Autorin veröffentlichen wird – gerne wieder gekonnt übersetzt von Monika Baark und in einer wunderschönen, bibliophilen Ausstattung wie dieser. Lese-Empfehlung!
Margaret Laurence, 1926 geboren und 1987 durch Suizid verstorben, zählt neben Alice Munro und Margaret Atwood zu den Großen der kanadischen Literatur. In ihrer Heimat sind ihre Romane längst Klassiker, doch hierzulande ist ihr Werk fast unbekannt. Dem will der Eisele- Verlag nun entgegenwirken. Erschien 2020 der Roman „ Der steinerne Engel“, passend zum Gastlandauftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse, so liegt nun „ Eine Laune Gottes“ in deutscher Übersetzung vor.
Der Roman spielt, wie einige der kanadischen Autorin, im fiktiven Städtchen Manawaka, in der östlichsten Prärieprovinz Manitoba gelegen.
Im Mittelpunkt steht die Ich- Erzählerin Rachel Cameron, eine 34jährige Grundschullehrerin. Sie lebt seit dem Tod ihres Vaters bei ihrer alles bestimmenden, egozentrischen Mutter. Eigentlich hatte sie durch ihr Studium den Absprung weg von daheim geschafft. So wie schon ihre ältere Schwester Stacey, die mit Mann und den vier Kindern weit weg wohnt und kaum mehr vorbeikommt. Doch Rachel fühlte sich verpflichtet, sich um ihre kränkliche Mutter zu kümmern. Und diese setzt sie permanent und sehr subtil unter Druck, überwacht jeden Schritt von ihr und lässt ihr keinerlei Freiheit. Rachel lässt das alles mit sich machen. Inwendig brodelt es zwar manchmal, doch nach außen bleibt sie die gehorsame Tochter.
Auch von anderen lässt sich Rachel vieles gefallen, so z.B. von ihrem Direktor und in gewisser Hinsicht auch von ihrer Kollegin Calla.
Mangelnde Selbstsicherheit, Selbstzweifel und Unentschlossenheit und ihre Angst vor Auseinandersetzungen lassen sie zu einem willfährigen Spielball anderer werden.
Während der Sommerferien trifft sie auf einen alten Klassenkameraden. Nick Kazlik, Sohn des ukrainischen Milchmannes und ebenfalls Lehrer, ist gerade auf Besuch bei seinen Eltern. Die beiden beginnen eine Affäre. Obwohl sich Rachel wenig Illusionen über die Art und Dauer ihrer Beziehung macht, wird diese Begegnung zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Sie entdeckt ihre Sinnlichkeit und begreift, dass sie selbst ihr Leben in die Hand nehmen muss, wenn sie glücklich werden will. Sie darf nicht länger ihre Wünsche und Bedürfnisse unterdrücken und hinten anstellen, sondern muss für sich selbst eintreten. Auch die Beziehung zu ihrer Mutter verändert sich gravierend. Sie ist nicht länger das brave Kind, sondern sie ist erwachsen geworden und die Rollen haben sich vertauscht.
Maragaret Laurence erzählt diese Geschichte aus der Perspektive Rachels, als langer innerer Monolog. Der Leser ist so ganz dicht bei dieser Figur, lebt und leidet mit ihr, möchte ihr zurufen oder sie schütteln. Rachel führt ständig Selbstgespräche, kommentiert und analysiert ihr eigenes Verhalten und das ihrer Mitmenschen. Das ist oft scharfsinnig, manchmal bissig und ironisch, zeigt aber auch ihre Frustrationen und ihr Scheitern. Die Diskrepanz zwischen Rachels Gedanken und ihrem Verhalten ist groß, was einerseits tragisch und andererseits oft unfreiwillig komisch ist. Mit Spannung verfolgt man ihre Entwicklung. Das Ende ist unerwartet, ohne jeglichen Kitsch, lässt aber Hoffnung , dass die junge Frau ihren Weg gehen wird. Ein absolut überzeugendes Finale!
Margaret Laurence schreibt eindrucksvoll und mit viel Liebe zum Detail. Jede Begegnung, jeder Gedanke, jeder Satz ist wohl überlegt und bei mehrmaligen Lesen lassen sich immer wieder neue Bezüge feststellen. Ihr großes psychologisches Einfühlungsvermögen zeigt sich nicht nur bei der Hauptfigur, sondern genauso bei all den anderen Protagonisten. Jeder wirkt glaubhaft und authentisch und wird vielschichtig gezeichnet.
Die Autorin greift verschiedene, z.T. brisante Themen auf: weibliche Begierde, Homosexualität, Mutterschaft, Klassenunterschiede, Glaube und Religion.
Und der Roman, obwohl in den 1960er Jahren geschrieben, hat keine Patina angesetzt. Manche Äußerlichkeiten haben sich seitdem zwar geändert, aber Selbstbefreiung und Selbstermächtigung sind nach wie vor relevant für ein gelungenes Leben.
Wie schon in „ Der steinerne Engel“ gelingt auch hier Margaret Laurence ein überzeugendes Frauenportrait und ein gelungenes Gesellschaftsbild.
Das begeisterte Nachwort von Margaret Atwood bringt die Bedeutung des Romans auf den Punkt: „ ein beinahe vollkommenes Buch“.
Es ist zu wünschen, dass der Eisele- Verlag auch die weiteren Bücher von Margaret Laurence herausbringt, denn von dieser Autorin möchte ich alles lesen.
Unbedingte Leseempfehlung und volle Punktzahl!
Toxische Bindung
Rachel ist schon in den Dreißigern und lebt mit ihrer Mutter zusammen in Manawaka. Als der Vater starb, die Mutter war zu krank um alleine zu bleiben, ging sie ins ehemalige Elternhaus zurück. Es wurde damals zwar verkauft, der Vater hatte in der unteren Etage sein Bestattungsinstitut, dieses wird nun von jemand anderem geführt, und die beiden Frauen dürfen die Wohnung im Obergeschoß weiterhin nutzen.
Ihre Anstellung als Lehrerin verrichtet sie mit Herzblut, doch man merkt schnell, dass Rachel sehr unsicher ist, jede ihrer Handlungen hinterfragt und durchleuchtet sie. Eine Kollegin sucht den Kontakt zu ihr, doch sie mag nicht absagen und geht lieber mit, auch wenn ihr die religiösen Feierlichkeiten zu denen Calla sie mitnimmt, überhaupt nicht gefallen.
Ihre ältere Schwester hat den Absprung geschafft, ist verheiratet und hat zwei Kinder, sie wohnt weit entfernt und fühlt sich der Herzkranken Mutter nicht verpflichtet.
Die Mutter ist ein sehr einnehmender Mensch, sie schafft es Rachel nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, in dem sie ihr indirekt Schuldgefühle einredet. Rachel ist ständig dabei sich zu sorgen und hat sehr große Selbstzweifel. Zweifel die über das normale Maß definitiv hinausgehen.
Als Nick in ihr Leben tritt, stellt dies alles auf den Kopf.
Die Handlung ist recht einfach, doch die Art wie die Autorin das Leben und die Probleme der jungen Frau schildert, gehen unter die Haut. Zuerst war ich unsicher, ob ich dies das gesamte Buch über ertragen kann, doch sie zaubert dann ein brillantes Ende, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet habe. Ein Ende, dass stimmig ist und auch Mut macht.
Früher, der Roman ist in den 60ern angesiedelt, gab es den Begriff einer toxischen Beziehung wahrscheinlich noch nicht einmal, doch genau das erlebt unsere Protagonistin. Fast erscheint der Roman zeitlos was dieses Thema betrifft. Margarete Laurence ist definitiv eine Autorin, deren Neuveröffentlichungen ich im Auge behalten werde. Schön, dass der Eisele Verlag sich ihren Werken annimmt.
Rachel Cameron ist Anfang dreißig, lebt bei ihrer Mutter und arbeitet als Lehrerin. Ihr Leben ist nicht wirklich das Leben, das Rachel sich wünscht. Es ist vor allem bestimmt durch die psychisch extrem manipulative Mutter. Während wir Rachel durch ihre Gedanken begleiten, erleben wir zuweilen eine völlig andere Person als sie es nach außen zeigt. Dabei wird deutlich, wie sehr Rachel eine Andere sein möchte, sich aber hinter (Selbst-)Zweifeln, Ängsten und gesellschaftlichen Dogmen versteckt. Als sie auf einen alten Schulfreund trifft, beginnt Rachel zaghaft ihre Mauer abzutragen. Ein regelrechtes Einreißen wäre überstürzt, aber es zeigen sich Risse und kontinuierlich werden Veränderungen und Erkenntnisse sichtbar.
Margaret Laurence ist eine kanadische Autorin, die mir bislang völlig unbekannt war. Dieser Roman ist bereits 1966 entstanden und nun erneut durch den Eisele-Verlag in einer neuen deutschen Übersetzung veröffentlicht worden. Dabei wirkt er gar nicht verstaubt, ganz im Gegenteil. Er ist unglaublich zeitlos.
Wenn auch die gesellschaftlichen Umstände eine Entwicklung hinter sich haben, so sind die Menschen in ihren Bedürfnissen und Nöten heute noch wie damals. Mit sehr viel Empathie führt Laurence ihre Figuren. Mit psychologischer Brillanz schafft sie es, dass wir uns in die Personen hineinversetzen können, insbesondere in den Hauptcharakter Rachel Cameron. Die inneren Monologe und Gedankengänge, die Zerissenheit und Zweifel erinnern so sehr an eigene ähnliche Situationen und sind zutiefst authentisch. Ich rechne der Autorin hoch an, dass sie es schafft, selbst bei den ungemütlichen, teils verabscheuungswürdigen Charakteren so behutsam vorzugehen, dass ich am Ende niemanden wirklich verurteilen will. Menschlichkeit und Mitgefühl sind in diesem Roman groß geschrieben. Ein wunderbares Plädoyer auch und besonders in der heutigen Zeit.
Ich bin überrascht und beeindruckt von dieser wiederentdeckten Perle. Sehr empfehlenswerte Literatur!
„Eine Laune Gottes“ ist Rachel Camerons Leben, ein Scherz, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt, ein schlechter Witz. Die 34-jährige Grundschullehrerin voller Sehnsüchte lebt ein Leben im Käfig in einem engen Provinzort mit einer sehr begrenzten Anzahl sozialer Kontakte, keinerlei Vergnügungen und vor allem unter der Fuchtel ihrer, die Klaviatur der emotionalen Erpressung perfekt beherrschenden, Mutter. Rachels Leben steht im Dienst des Wohlbefindens ihrer Mutter, ihres Schuldirektors und zu einem gewissen Grad auch ihrer Kollegin Calla. Alles was geschieht, passiert, ohne dass Rachel aktiv Einfluss nehmen würde. Im Gegensatz zu ihrem äußerst fügsamen Verhalten ist ihr Geist geradezu rebellisch, die Diskrepanz zwischen der unterwürfigen Rachel nach außen und der scharf beobachtenden, mitunter bösen, meist aber einfach in eigenen Gedankenspiralen gefangenen, Rachel ist immens – die Beschränkungen ihres Daseins treten durch diesen Kontrast überdeutlich zutage. Rachel würde immer gern anders, sie kann aber nicht und sie weiß auch nicht so recht wie. Sie lebt letztlich eine unterdrückte Existenz, erlegt sich selbst ständig Begrenzungen auf, erhält aber auch von ihrem Umfeld keine Freiheit. Die unglaublich präzisen, sprachlich ausgereiften Einblicke in Rachels Seelenleben erlauben es dem Leser, sie ausgesprochen gut kennenzulernen. Selten gibt es so authentische, real erscheinende, durchdachte Figuren wie Rachel, die einem durch die umfassenden, lebensechten Innensichten auch so nah kommen – allein dafür lohnt der Roman schon die Lektüre.
Aber auch dafür, dass es sich hier um ein absolut glaubhaftes spätes Coming-of-Age handelt, bei dem Margaret Laurence sehr spannend die üblichen Merkmale des Genres abwandelt und für Rachel passend gestaltet. So trifft Rachel in Nick, der seine Eltern im Ort besucht, einen Bekannten aus alten Zeiten und wird von ihm aus ihrer altjüngferlichen Lethargie gerissen, lernt völlig neue, aber auch alte, Seiten an sich kennen, entdeckt Träume, Wünsche und Hoffnungen und unbekannte Ängste und versucht sich zu befreien – nicht nur von ihrer überaus anstrengenden Mutter, sondern vor allem auch von sich selbst und der Rachel, die der ganze Ort kennt. Obwohl in dem Roman nicht viel passiert (das meiste geschieht tatsächlich im Strudel von Rachels Gedanken), liest er sich spannend, mitreißend, abwechslungsreich und vor allem überraschend. Völlig begeisternd ist die Tatsache, dass alles, was Rachel widerfährt, glaubhaft ist, dass alles, was sie denkt, nachvollziehbar ist – auch heute noch. Hinzu kommen zahlreiche, sehr gelungene Anspielungen, Subtexte und Szenen, die dem Text sehr viel Tiefe und Möglichkeit verleihen – man könnte auch sagen, Margaret Laurence weiß, was sie tut. Zu guter Letzt wird dieser Roman, der an sich schon ein Meisterstück ist, dann auch noch fabelhaft über die Ziellinie gebracht. Ach, Rachel – dein Leben ist lesenswert!
„Eine Laune Gottes“ ist ein ausgezeichneter Roman, mit einer unvergleichlich gut gelungenen Protagonistin, von der man kaum glauben mag, dass sie „nur“ Fiktion ist – kurzweilig, berührend, befreiend und literarisch beglückend.
Margaret Laurence (1926 – 1987) gehört zu den wichtigsten Autorinnen Kanadas und beeinflusste maßgeblich Alice Munro und Margaret Atwood. Letztere schildert in ihrem vorzüglichen Nachwort zu "Eine Laune Gottes" eine unvergessliche Begegnung mit ihrem literarischen Idol anlässlich der Verleihung des Governor Generals’s Award 1967 und begründet, warum sie ihn für deren besten Roman hält.
Die Manawaka-Serie
Zentral im Werk von Margaret Laurence sind die fünf Romane der Manawaka-Serie, jener fiktiven Kleinstadt in Manitoba, die ihrer 170 Kilometer von Winnipeg entfernten Geburtsstadt Neepawa ähnelt. 2020 erschien der erste Teil aus dem Jahr 1964 in neuer Übersetzung von Monika Baark im Eisele Verlag unter dem Titel "Der steinerne Engel", nun der zweite, gänzlich unabhängig zu lesende, aus dem Jahr 1966, der somit fast zeitgleich mit John Williams‘ Stoner erschien. Sowohl in "Stoner" als auch in "Eine Laune Gottes" sind die Protagonisten in einer klaustrophobischen Welt gefangen. In "Stoner" wird das ganze Leben eines Mannes erzählt, in "Eine Laune Gottes" von einer kurzen Spanne im Leben einer Frau, die zum Wendepunkt werden könnte.
Ewig Tochter
Rachel Cameron, 34 Jahre alt und Ich-Erzählerin, sah sich nach dem Tod des Vaters gezwungen, ihren Ausbruchsversuch zum Studium nach Winnipeg abzubrechen und fortan die hypochondrische, sanft auftretende, aber anmaßende und hochgradig manipulative Mutter zu umsorgen:
"Ihre Waffen sind unsichtbar, und sie würde nie zugeben, welche zu tragen, geschweige denn, zu ihnen zu greifen." (S. 61/62)
Rachel kehrte als Lehrerin an ihre frühere Grundschule zurück, bezog ihr unverändertes Kinderzimmer und nahm ihre Rolle als braves, schüchternes, wegen ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße linkisches Mädchen wieder ein, dem inzwischen bereits etwas Altjüngferliches anheftet. Das Feststecken in der engen Welt ihrer Kindheit und die erdrückende Konventionalität des Präriestädtchens ließen sie bitter werden. Nach außen still und angepasst, herrschen in ihrem Kopf ganz andere Gefühle und Gedanken vor: Enttäuschung, Verzweiflung, Ängste, Einsamkeit, Selbstironie, beißender Spott und Wut gegen alles und alle in ihrer Umgebung, aber auch erotische Fantasien. Trotz ihrer analytischen Klarheit und Intelligenz kann sie sich nicht von fremden Erwartungen und der bösartigen Mutter lösen:
"Derlei Worte bleiben mir im Gedächtnis hängen wie Kletten in den Haaren, und ich schaffe es irgendwie nie, sie rauszubürsten, wie ich es eigentlich tun sollte." (S. 189)
Eine überraschende Chance
Als ihr früherer Schulkamerad Nick Kazlik, Sohn des ukrainischen Milchmanns, die Sommerferien in Manawaka verbringt, gehen die beiden mit unterschiedlichen Erwartungen eine sexuelle Beziehung ein. Während sich Rachel erstmals mütterlichen Wünschen widersetzt, klammert sie sich zugleich wie die oben zitierte Klette an Nick. Kann die Affäre so zum Tor in die Freiheit werden oder führt sie zu einer weiteren Niederlage?
Zeitloser Klassiker
2020 mochte ich "Der steinerne Engel" mit der 90-jährigen Ich-Erzählerin Hagar Shipley, nun gefiel mir "Eine Laune Gottes" sogar noch besser. Die ebenso raffiniert wie borniert und rücksichtslos um ihre Autonomie kämpfende Hagar ist zwar als literarische Figur interessant, konnte aber nicht wie Rachel mein Mitgefühl wecken. Beide Romane sind elegant geschrieben, voller Anspielungen und Bilder, meiden jede Sentimentalität, bestechen durch ihre verblüffende Zeitlosigkeit und sind absolut lesenswert. Die Wendungen in "Eine Laune Gottes" bis hin zum glaubhaften Ende sind allerdings noch meisterhafter.
Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren und 1987 gestorben, veröffentlichte sie den vorliegenden Roman schon in 1966.
Nun kann man sich fragen, ob ein Roman, der sich mit dem Kleinstadtleben einer 34jährigen Grundschullehrerin, „alten Jungfer“ und auch noch scheinbar von ihrer Mutter abhängigen Frau beschäftigt und aus dem Jahre 1966 stammt, noch zeitgemäß sein kann. Ob eine Lektüre hier wirklich lohnt oder doch unseren modernen Ansprüchen an Literatur gar nicht mehr genügen kann. Aber mit dieser Annahme kann man hier falscher nicht liegen! Laurence beschreibt das Leben von Rachel Cameron in ihren kleinen Gefängnissen des Alltags mithilfe eines inneren Monologs, den uns Rachel gedanklich vorträgt, vollkommen zeitlos in seiner Art und Umsetzung. Rachels Gedanken zu ihrer Arbeit, den Kolleg:innen, dem Verhältnis zur eigenen Mutter sowie zu einem Bekannten aus ihrer Kindheit, der in die Stadt Manawaka für einen Sommer zurückkehrt und mit welchem sie eine Affäre – ihre ersten sexuellen Erfahrungen überhaupt! - anfängt, repliziert Laurence so unglaublich gekonnt, nah am Menschen und stilistisch modern, dass man glauben könnte, es liege ein zeitgenössisches Werk vor.
Mithilfe dieses inneren Monologs werden wir Leser:innen Teil des Gedankenkonstrukts Rachels, ihre Sorgen und Nöte werden unsere Sorgen und Nöte. Selten habe ich mich beim Lesen so tief im Kopf einer Romanfigur angekommen gefühlt. So entsteht ein hoher, wenn nicht gar der höchste, Grad an Authentizität und glaubhafter Atmosphäre, den ein Roman überhaupt erreichen kann. Jede Handlung und Entscheidung Rachels wird dadurch Schritt für Schritt nachvollziehbar, wodurch wir unweigerlich mit dieser vielschichtigen Person bis zum unerwarteten Finale mitfiebern. Wir begleiten Rachel auf ihrem Weg von einer – bezogen auf ihre Durchsetzungsfähigkeit und Abhängigkeit von anderen – kindlichen Person, zu einer Frau, die erstmals wie eine Jugendliche sexuelle Erfahrungen macht und ihre Fühler Richtung persönlicher Freiräume ausstreckt, hin zu einer scheinbar erwachsenen Rachel. Sprachlich hat man das Gefühl, jeder Satz in diesem Roman ist punktgenau gesetzt und gibt Hinweise auf das weitere Schicksal Rachels. Die Autorin verwendet Sprachbilder, die über den Lektürezeitraum hinaus hängen bleiben, sich festsetzen und später in den eigenen Gedanken Wurzeln schlagen. Ein Werk, was auf diese Art einen tiefen Eindruck bei den Leser:innen hinterlässt und eigene Denk- sowie Verhaltensweisen zu hinterfragen hilft.
Margaret Laurence bespricht in diesem Roman nicht nur den Drang zur Selbstbestimmtheit und Loslösung von der Familie einer Frau in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sondern streift auch das Thema Homosexualität, Umgang mit dem eigenen Körper und das Liebesleben einer Unverheirateten.
Sprachlich wie auch inhaltlich setzt dieser Roman eindeutig hohe Maßstäbe und ist ein – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher übersehenes Meisterwerk. Leser:innen sollten ob des frühen Entstehungszeitraumes keinesfalls zurückschrecken sondern fraglos sofort zu diesem Buch greifen und es lesen! Diese Frau schreibt nie eingestaubt, auch wenn das Setting verständlicherweise nicht ganz dem heutigen entsprechen kann. Die behandelten Themen bleiben hochaktuell und so lohnt sich wirklich für alle Interessierten diese umwerfende Lektüre. Ich bin hundertprozentig überzeugt von der Autorin und stehe ebenso vollständig hinter der Entscheidung des Eisele Verlags diese Autorin erneut aufzulegen. Abgerundet wird die Ausgabe von einem lesenswerten und unerwartet persönlichen Nachwort Margaret Atwoods aus dem Jahre 1988.
Das ist ein absolutes Lesehighlight! In einem Wort: Wow!
Die 34-jährige Grundschullehrerin Rachel Cameron führt in der kanadischen Provinzstadt Manawaka ein ereignisloses Leben. Während sie zuhause ihre pflegebedürftige Mutter umsorgt und dafür die meiste Zeit aufbringt, findet sie auch im Berufsleben nicht wirklich Anschluss. Als ihr ehemaliger Mitschüler Nick für den Sommer nach Hause kommt, scheinen sich die Dinge schlagartig zu ändern. Rachel beginnt mit dem ein Jahr älteren Mann eine Affäre, die für sie nicht folgenlos bleibt...
"Eine Laune Gottes" von Margaret Laurence ist im kanadischen Original bereits 1966 erschienen, und der Eisele Verlag bringt in der Übersetzung von Monika Baark und mit einem Nachwort von Margaret Atwood versehen nun erstmals eine deutsche Fassung auf den Markt. Es ist eine wunderbare Entscheidung, denn der Roman ist ein literarisches Juwel erster Güte.
Während Laurence (1926 - 1987) in Kanada neben Atwood und Alice Munro als eine der drei großen heimischen Schrifstellerinnen gilt, war sie in Deutschland bis vor Kurzem nahezu unbekannt. Mit der Neuübersetzung von "Der steinerne Engel" bemühte sich der Eisele Verlag schon vor zwei Jahren, daran etwas zu ändern. Mit "Eine Laune Gottes" legt der Verlag nun den zweiten der fünf "Manawaka"-Romane nach.
Ich-Erzählerin und Protagonistin Rachel ist eine hinreißende Figur, der ich von Beginn an sehr gern gefolgt bin. Ihre inneren Monologe strahlen eine große Intensität aus, zudem ist sie eine zutiefst verunsicherte Person voller Selbstzweifel und mit einem fast krankhaften Wunsch, nicht auffallen zu wollen. Sie ist eine Hauptfigur voller Fehler und Makel, die mich nie kalt ließ und trotz ihrer Ambivalenz bei mir auf großes Mitgefühl stieß. Denn Margaret Laurence gelingt es, Rachel psychologisch sehr feinfühlig und gleichzeitig ehrlich und mit einer gehörigen Prise Selbstironie darzustellen. Diese Ambivalenz überträgt sich fast nahtlos auf die ebenfalls sehr gelungenen Nebenfiguren wie Nick, Rachels Mutter oder die heimlich in sie verliebte Kollegin Calla.
Laurences Schreibstil ist schnörkellos und mag auf den ersten Blick etwas simpel scheinen, doch immer wieder finden sich zwischen den Zeilen bemerkenswert kluge Sätze. "Kinder haben einen eingebauten Verlogenheitsradar", heißt es beispielsweise an einer Stelle oder "Die Nacht fühlt sich an wie ein gigantisches Riesenrad, das in der Dunkelheit seine Runden dreht" über eine schlaflose Nacht voller Grübeleien. Immer wieder schiebt sie zudem kleinere Absätze ein, in denen es um Träume oder Phantastereien Rachels geht. Auch durch diese fast surreal wirkenden Absätze gelingt es der Autorin, die Spannung durchweg hochzuhalten.
Zu Höchstform läuft Laurence gar im letzten Drittel des Romans auf, das sicherlich als Höhepunkt des gesamten Romans gelesen werden kann. Die Autorin überrascht die Leser:innen ein ums andere Mal mit nicht vorhersehbaren Wendungen und bleibt dabei trotzdem glaubwürdig. Und obwohl das Finale eine große Hoffnung ausstrahlt, verkommt es nicht einmal ansatzweise zu einem kitschigen Happy-End.
So ist "Eine Laune Gottes" für mich insgesamt eine wunderbare Lektüre und zudem eine große Überraschung gewesen. Trotz seiner fast 60 Jahre wirkt der Roman angenehm zeitlos und alles andere als angestaubt. Durch die Kriegshandlungen in der Ukraine erhält er in einer Nebenhandlung sogar überraschende Aktualität. Zudem traut sich Laurence, gesellschaftliche und persönliche Themen wie weibliche Sexualität, Einwanderung, Glauben und Homosexualität anzusprechen, was vor allem im Nordamerika der 1960er-Jahre alles andere als selbstverständlich war. Aufgrund der Entwicklung Rachels wirkt "Eine Laune Gottes" auf mich außerdem fast wie ein Coming-of-Age-Roman mit einer Erwachsenen, was ich so bisher wohl auch noch nicht kennengelernt habe.
Laurence schafft es, mich mit dem Roman zum Lachen und - allerspätestens mit den herausragenden letzten drei Sätzen - zum Weinen zu bringen, mich mit und über Rachel zu ärgern und mich für sie zu freuen. Es ist der Autorin posthum und dem Eisele Verlag zu wünschen, dass "Eine Laune Gottes" die Aufmerksamkeit erhält, die das Buch verdient. Von mir gibt es jedenfalls eine große und uneingeschränkte Leseempfehlung.
Rachel Cameron, unsere Protagonistin und Ich-Erzählerin, ist in den 60er Jahren in Manawaka (eine fiktive Provinzstadt in Kanada) 34 Jahre alt. Sie arbeitet als Lehrerin, ist Single und lebt mit ihrer verwitweten Mutter zusammen.
Und sie ist extrem unsicher: sie stimmt jedem Gesprächspartner zu, äußert keine eigene Meinung (auch nicht gegenüber ihrer Freundin Calla) und sie entschuldigt sich laufend, auch bei unnötigen Gelegenheiten. (‚People Pleaser‘ ist der Fachausdruck für derartige Menschen!)
Anfang der Sommerferien taucht Nick, ein ehemaliger Schulfreund, im Städtchen auf, da er seine Eltern besucht. Das wirbelt nicht nur das Gefühlsleben von Rachel durcheinander!
Sehr plastisch werden die Unterhaltungen zwischen Rachel und ihrer Mutter geschildert. (Ich bekam dabei Aggressionen!) In ‚Eine Laune Gottes‘ geht es um einen Entwicklungsprozess einer jungen Frau, einer klammernden Mutter und um mangelnde Kommunikation.
Ich schwankte zwischen Schmunzeln über diverse Ausdrücke (z.B. ‚die sterbende Kameliendame, echt Kintopp‘ oder ‚blass wie eine abgezogene Mandel‘), Wut über die Manipulationen der Mutter und Freude über gewonnene Erkenntnisse bei Rachel.
Sehr gut gefallen hat mir der Besuch der Protagonistin bei Hector Jonas, der das Beerdigungs-Institut ihres verstorbenen Vaters übernommen hatte, und seine Erklärung, wie er seinen Beruf versteht. (Verkauf von 'Entlastung' und ‚Modifiziertes Prestige‘)
Wer Freude an Zwischenmenschlichem, an Psychologie, hat, der ist bei diesem Roman (mit seinen immer aktuellen Themen) richtig!
Trotz aller Pluspunkte, die die volle Zahl an Rezensions-Sternen verdiente, konnte ich mich nicht zum 5. Stern durchringen, da es für mich kein ‚Wohlfühlbuch‘ war - zu viele Vertreter der hier aufgeführten Charaktere kannte, bzw. kenne ich (leider)!
Anfang 1937 wird ein Offizier tot in seinem Auto aufgefunden. Offensichtlich hat er die giftigen Abgase eingeatmet. Allerdings deutet die Spurenlage darauf hin, dass es sich wohl nicht um einen Selbstmord handelt. Unter Verdacht gerät die Geliebte des Opfers Greta Overbeck. Diese wird nicht nur von der Polizei gesucht, sondern auch von Charly Rath. In der gemeinsamen Wohnung ist Greta schon seit Tagen nicht aufgetaucht. Eigentlich wollte Charly mit ihrem Ziehsohn Fritze ins Ausland gegangen sein. Doch zunächst mal muss sie ihn aus einer Anstalt herauspauken. Gereon Rath gilt als tot. Nur ganz wenige Menschen wissen von seiner Flucht.
In seinem neunten Auftritt kann sich Gereon Rath nicht mehr Kommissar nennen, er konnte sich absetzen und weiß noch nicht genau, wie es in seinem Leben weitergehen soll. Eine Möglichkeit bietet sich, als eine Person aus der Vergangenheit wieder auftaucht. Auch seine vermeintliche Witwe Charly musste ihre Pläne ändern. Sie will sich unbedingt um Fritze kümmern und auch ihre Freundin Greta muss sie ausfindig machen, die inzwischen auch von der Polizei gesucht wird. Und so gerät Charly in die Ermittlungen um den Mordfall, der ihr die Ereignisse zur Olympiade des Vorjahres in Erinnerung ruft.
Dieser neunte Fall um Gereon Rath bezieht sich recht eng auf den Vorgängerband, doch auch weitere Bezüge tauchen auf, die es als ratsam erscheinen lassen, die Reihe komplett zu kennen. Möglicherweise bietet es sich auch an, alle Teile noch einmal zu lesen, wenn die Reihe abgeschlossen ist. Wieder gelingt es dem Autor mit großem Können den immer beklemmender werdenden Alltag in dem politischen Umfeld Deutschlands kurz vor dem Krieg zu schildern und dies mit der spannenden Handlung eines Kriminalfalls zu verbinden. Man merkt einfach wie genau der Autor recherchiert, um diese besonders realistische Darstellung des Lebens unter dem grausamen Regime hervorzubringen. Wie die Menschen alltäglich durch Lautsprecherdurchsagen behelligt werden, wie tief die Propaganda in die Familien hineinwirkt, wie verblendet viele Menschen sind. Der Fall obwohl ebenfalls mit politischer Komponente bietet da einen Gegenpol.
Ein fesselnder zeitgeschichtlicher Kriminalroman aus einer Reihe, von der man sich wünscht, sie möge noch etliche weitere Bände bekommen.
4,5 Sterne
Nach einer etwas längeren Pause als zuvor ist nun mit "Transatlantik" der neunte Roman aus der Gereon-Rath-Reihe erschienen. Doch dieser spielt im Roman eher eine Nebenrolle Rolle, da er, mittlerweile in Amerika unter einem falschen Namen lebend, abgekoppelt vom Leben in der Reischhauptstadt Berlin ist, wo fast alle von seinem Ableben in der im Vorgängerroman geschilderten Schießerei ausgehen, auch wenn seine Leiche nie gefunden wurde. Der Erzählstrang um die Auseinandersetzung mit seinem ebenfalls in die USA ausgewanderten Erzfeind Marlow wird zwar fortgeführt, aber der Schwerpunkt des Romans liegt in Berlin, wo seine "Witwe" Charly auf eigene Faust im Fall eines Mordes an einem SS-Mann ermittelt, in den ihre Freundin Greta, inzwischen spurlos verschwunden, verwickelt zu sein scheint. Mal mit, mal gegen die Kripo bemüht sich Charly, ihre Freundin durch die Aufklärung des Falles zu entlasten, wobei die SS vermutlich ihre Finger im Spiel hat, also ein höchst riskantes Spiel, auf das sie sich eingelassen hat. Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um ihren ehemaligen Ziehsohn Fritze, der verzweifelt versucht, für sich und seine Freundin ein freies Leben im Prager Exil zu erlangen, ein Ziel, das im übrigen auch Charly selbst verfolgt.
Das vorläufige Scheitern dieses Plans ist nur einer der Aspekte, mit denen im Roman der dunkle Alltag im Dritten Reich geschildert wird, im Zweifelsfall setzt sich die Allgewalt des Staates gegen den einzelnen durch, ein Schicksal, das Charly und Fritze mit vielen Nebenfiguren teilen müssen, so auch Gereon Raths Exfreund und Lebensretter Reinhold Gräf. Insofern ein pesimistischer Roman, der aber eben deshalb vermutlich realitätsnäher ist als viele andere, in denen sich das Wünschenswerte am Ende gegenüber dem Bösen durchsetzt. Aber noch ist das letzte Wort ja noch nicht gesprochen, das Ende jedenfalls legt nah, dass der Kampf ums Überleben weitergehen muss und wird.
Die Verhältnisse in Berlin werden zunehmen unangenehmer. Daher wollten die Raths nach Prag. Doch es kommt anders für sie. Nach den Vorfällen im Jahr 1936 gilt Gereon offiziell als tot. Doch er ist untergetaucht und muss dann auch noch Hals über Kopf aus Deutschland weg. Für die Flucht nutzt er ausgerechnet das Luftschiff LZ 129, besser bekannt als die Hindenburg. Derweil versucht Charly alles, um Fritze aus der Nervenheilanstalt Wittenau zu retten. Dann ist plötzlich auch noch ihre Freundin Greta verschwunden und gerät auch noch unter Mordverdacht. Charly versucht alles, um sowohl Fritze zu helfen, als auch Greta zu finden und den Mord aufzuklären.
Ich hatte schon sehnsüchtig auf die Fortsetzung der Rath-Reihe gewartet und Volker Kutscher konnte mich auch mit diesem Roman wieder packen. Während die Vorgängerbände sich hauptsächlich um Gereon Rath drehten, ist es dieses Mal Charly, die den Hauptpart hat. Charly wollte längst in Prag sein, doch sie ist eine treue Seele und sie kann ihre Freundin und ihren Ziehsohn nicht im Stich lassen. Sie ist inzwischen sehr misstrauisch, muss aber dennoch feststellen, aber auch sie braucht Freunde, die ihr Rückhalt geben. Charly hat es früher nie gefallen, wenn Gereon sich nicht so recht an Regeln gehalten hat, nun ist sie es, die hin und wieder Regeln außer Acht lässt. Sie braucht die Unterstützung von Gereons Nachfolger Andreas Lange. Am Ende muss sie etwas tun, das ihr mächtig gegen den Strich geht.
Fritze hat mir auch sehr leidgetan. Schon in der illustrierten Ausgabe „Mitte“ wollte ich ihn oft schütteln, wenn er sich naiv verhalten hat. Auch jetzt versucht er alles, um seiner jüdische Freundin Hannah zu helfen und nimmt auf seine eigenen Befindlichkeiten wenig Rücksicht. Er landet wieder in der Familie Rademann.
Raths Widersacher Sebastian Tornow glaubt nicht, dass Gereon tot ist und setzt ausgerechnet Reinhold Gräf auf Charly an. Das strahlende Bild, das sich Gräf vom neuen Deutschland gemacht hatte, ist längst eingetrübt.
Das Leben im damaligen Deutschland wird immer einengender und bedrohlicher. Während die Meisten begeistert von den Veränderungen sind, gibt es aber auch solche Menschen, wie zum Beispiel Charly, die sich in ihrem Berlin und in ihrem Deutschland nicht mehr zu Hause fühlen. Dass alles auf einen Krieg hinausläuft ist schon spürbar, denn die Luftschutzübung wird nicht ohne Grund durchgeführt.
Es ist wieder ein großartiger und gut recherchierter Kriminalroman, der mich von Anfang an gefesselt hat.
Die Ich-Erzählerin, eine Mittvierzigerin und Fotografin aus Berlin, begibt sich auf den Weg nach Alaska.
Sie soll für einen Verlag Bilder von der Arktis machen und darauf die dortige Atmosphäre einfangen.
Sie sitzt zunächst im Flugzeug über den Gletschern Grönlands und denkt an ihre Verluste, die sie in ihrem bisherigen Leben verkraften musste.
Nach der Landung in „Nasser Sack“, einem kleinen Ort an der Südspitze Grönlands, geht sie über die Gangway an Bord des Passagierschiffes MS Svalbard, das sie und die anderen Kreuzfahrtteilnehmer in zweieinhalb Wochen nach Alaska bringen soll.
Sie beobachtet die anderen Passagiere und lernt den ein oder anderen, darunter auch nervtötenden, Gesprächspartner kennen.
„Sie drücken einen mit ihren luftdichten Wörtern und nahtlos aneinandergefügten Sätzen förmlich zu Boden, man kam nicht hoch, man konnte sich nicht rühren, keine Chance. Kein aber, kein ach, man hätte husten, röcheln, an Atemnot verenden können, sie hätten zumindest den Satz noch zu Ende geredet und einen dann vorwurfsvoll angesehen.“ (S. 52)
Der ca. 70-jährige akkurate Herr Mücke war vor seiner Pensionierung Uhrmacher und Lehrer und ist seit dem Tod seiner Frau fast ständig auf Reisen.
Lewis hat Krebs und wird bald sterben.
George hatte schon drei Schlaganfälle und seine Frau Agnes legt Wert auf Butterkuchen um vier. Die Kreuzfahrt bekamen sie von ihren Kindern zum Hochzeitstag geschenkt. Kinder seien wirklich alles, betont George… und da war es wieder: das Kinderthema.
Die Ich-Erzählerin wünscht sich, dass der eiskalte Wind an Deck ihren Schmerz und die quälenden Erinnerungen davonbläst.
Schon bald steht der erste von vielen Landausflügen an.
Mit einem Tenderboot geht’s, begleitet von Expeditionsleitern, zu mehr oder weniger bekannten, geschichtsträchtigen oder verlassenen, kargen, freundlichen oder unwirtlichen Orten.
Zwischendurch geht’s mit dem Schiff immer weiter Richtung Alaska.
Wir lernen weitere Kreuzfahrttouristen kennen, erleben Ausschnitte von Vorträgen über die Arktis oder die Inuit mit und lauschen Gesprächen zwischen Expeditionsteilnehmern.
Wir haben Teil an den Gedanken und Beobachtungen der Ich-Erzählerin, entdecken Krabbentaucher, Schneegänse und Eissturmvögel und nähern uns so der Arktis.
Es gibt auch viel Interessantes zu erfahren, wie zum Beispiel: „Perlerorneq – so nennen die Inuit die Winterdepression. Das Wort bedeutet: vom Gewicht des Lebens erdrückt werden.“ (S. 77)
Und immer wieder begleiten wir die Ich-Erzählerin auf Exkursionen.
Mit dem Boot vom Schiff aus durchs Meer zu beeindruckenden archaischen Orten wie Dundas Harbour oder Beechey Island, die ich natürlich googeln „musste“, weil Arezu Weitholz mich so neugierig gemacht hat.
Und dann wurde das Eis zu dick, um weiter zu fahren…
Arezu Weiholz formuliert in „Beinahe Alaska“ äußerst interessante Gedanken.
Sie hinterfragt z. B. gängige Bezeichnungen: „Wieso überhaupt alleinstehend? Wieso nicht alleingehend oder alleinliegend oder alleinlaufend? Als stünde man die ganze Zeit herum, so alleine. Zu einem Paar würde ja auch keiner sagen: „Ach, Sie sind wohl zusammenstehend.“…“ (S. 16)
Immer wieder stößt man auf wunderschöne, bildhafte und poetische Formulierungen:
„Leise zog das Schiff durch den Fjord, wie ein Messer durch weiche Butter.“ (S.18)
„Da war ein Glitzern und Funkeln, das die Sonne auf das Blau warf, Abertausend Diamanten, die das Meer in einen gigantischen Lurexteppich verwandelten.“ (S. 30)
„An Deck klatschte mir eiskalter Wind wie ein feuchter Lappen ins Gesicht.“ (S. 38)
Mir gefiel die eindrückliche Sprache der Autorin und ich staunte immer wieder über die schönen Bilder:
„Es war unmöglich, über ein Manuskript zu reden. Wenn man darüber sprach, fiel es in sich zusammen wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen genommen hatte. Ideen waren besonders zarte und zerbrechliche Geschöpfe.“ (S. 59)
„Beinahe Alaska“ ist ein nur 186-seitiges ruhiges und tiefgründiges Werk, das weder mit Ernsthaftigkeit noch mit leisem Humor geizt und zum Mit- und Nachdenken anregt.
Arezu Weitholz ist eine präzise Beobachterin und talentierte Erzählerin.
Aufgrund der detaillierten und eindrücklichen Naturbeschreibungen sieht man die Landschaft vor sich und spürt die Kälte.
Das leuchtende Weiß, die gefleckten und marmorierten Felswände, beeindruckende Wasserfälle, grellgrün leuchtendes Moos, Eisberge mit türkisen Streifen…
Darüber hinaus war „Beinahe Alaska“ für mich eine lehrreiche Lektüre, denn ich entdeckte viel Neues und konnte es nicht lassen, immer wieder parallel dazu zu googeln.
Ich empfehle diese „Reisebeschreibung“, in der es nicht in erster Linie um das Außen, sondern um das Innen geht, sehr gerne weiter.
Es macht Freude, den Gedanken der Ich-Erzählerin zu dem, was sie auf der Expeditionskreuzfahrt sieht und erlebt, zu lauschen.
Dieses Buch ist das erste Buch aus dem Hogarth Shakespeare Projekt, welches mir vor die Augen kommt. Im Hogarth Shakespeare Projekt erzählen bekannte Autoren Werke von Shakespeare in einem neuen Gewand nach. Und in "Hexensaat" erzählt Margaret Atwood "Der Sturm" nach. Ich habe "Hexensaat" sehr gern gelesen, habe aber leider auch etwas die Schärfe der Margaret Atwood vermisst, die in anderen Büchern dieser wunderbaren Autorin besser zum Vorschein kommt und auch diese Geschichte noch etwas mehr gewürzt hätte. Denn eine Prise Chili fehlt hier. Dennoch ist diese Geschichte über Rache ein wirklich gelungenes Buch. Vielleicht ist es auch schwer ein Bühnenstück in eine literarische Form zu bringen, gewisse Vorgaben sind ja einzuhalten. Ich habe ja noch einige Bücher aus diesem Projekt vor mir. Mal sehen, wie diese so vor meinen Augen abschneiden werden.
Felix Philips ist ein hervorragender Mensch des Theaters, er lebt für seinen Beruf, hat auch schon durch seinen Anspruch an seinen Beruf Schläge einstecken müssen. Dennoch brennt er für seine Arbeit. Seine Inszenierungen sind legendär, opulent und einzigartig. Doch eine fiese Intrige engster Mitarbeiter lässt ihn seinen Beruf/seine Stellung verlieren, gerade als er kurz vor der Premiere von "Der Sturm" stand. Er zieht sich Wunden leckend zurück und sinnt auf Rache. Auf seine Chance auf Rache. Er wartet. Und diese Chance wird ihm Jahre später geboten. In einer weiteren Inszenierung von "Der Sturm", auf einer anderen Bühne, an einem anderen Ort.
Die Geschichte ist gut erzählt, kommt aber vor meinen Augen leider nicht an "Der Report der Magd" oder an "Der blinde Mörder" heran. Aber vielleicht liegt das auch an mir und meiner Interpretation beider Bücher. :-)
Der Roman der von mir sehr geschätzten Autorin Jocelyn Saucier verpackt vier Erzählschichten in einem Buch. Laut Klappentext geht es um Gladys, eine 76Jährige, die ihre psychisch kranke Tochter zuhause allein zurücklässt und sich auf eine wirre Zugfahrt durch den Nord-Osten Kanadas aufmacht. Nach und nach soll aufgeklärt werden, was es mit der Zugirrfahrt der älteren Dame auf sich hat. Das ist aber nur ein Teil dieses Buches. Die größere Klammer entsteht dadurch, dass ein Ich-Erzähler berichtet, er sei mit dem Verschwinden der älteren Dame in Kontakt gekommen (wie, wird zunächst nicht erklärt) und gehe nun schon seit mehr als zwei Jahren dem Bedürfnis nach, die Geschichte von Gladys aufzuschreiben bzw. zu recherchieren. Er sei Lehrer und Eisenbahnnarr, daher kein richtiger Autor. Zu diesem Erzähler später mehr. Um diese Klammer des "Wer erzählt hier eigentlich wie und warum" schließt sich noch die Klammer, dass unser Ich-Erzähler gegen Ende des Romans mit seiner eigenen Geschichte ins Zentrum rückt und Gladys verdrängt. Und ganz tief im inneren der gesamten Romangeschichte steckt als zentrales Thema das Reisen mit der Eisenbahn im nur dünn besiedelten Nord-Osten Kanadas.
Für mich machte dieses letzte, zentrale Thema letztlich und eigentlich auch unerwartet den einzigen Reiz der Lektüre aus. Es ist wirklich interessant, was man aus diesem Buch über die Nutzung der Zugstrecken in dieser Region mit (fast) unendlichen Weiten alles erfährt. Man erfährt, dass Züge regelmäßig Verspätungen von einem Tag haben können, da der Personenverkehr dem Güterverkehr nachgestellt wird. Man erfährt, dass es früher "school trains" gab, in denen ein Lehrer mit seiner Familie durch Kanada gefahren wurde, um immer für zwei Wochen am Stück auf einem Abstellgleis zu parken und die Kinder der abgelegensten Regionen zu unterrichten. Wir erfahren, dass ein fast freundschaftlich-familiäres Verhältnis zwischen Zugchefs und regelmäßigen Fahrgästen besteht, dass auch mal auf freier Strecke angehalten wird, um Kanu-Fahrer mitzunehmen. Hm, jetzt habe ich bereits die interessantesten Informationen ausgeplaudert. Lohnt sich also darüber hinaus noch eine Lektüre?
Meines Erachtens nicht zwingend. Denn der Ich-Erzähler geht einfach nur unglaublich auf die Nerven mit seinen ständigen Erklärungen, warum er denn nun wieder einmal etwas nicht gut erzählen kann, warum er nicht zum Punkt kommt und sich immerzu entschuldigen muss. "Sollte meine Erzählung eines Tages Leserinnen und Leser finden, so bitte ich um Vergebung für die Unordnung. Obwohl ich erst ganz am Anfang stehe, merke ich jetzt schon, wie mir die Fäden entgleiten." Soll das eine Warnung an uns Leser:innen sein, dass auch Jocelyn Saucier so ihre Probleme mit ihrem Stoff hatte? Nach Abschluss der Lektüre glaube ich das tatsächlich. Denn sie bekommt ihren Stoff nicht unter eine Decke. Die Geschichte um Gladys wird zur Nebensache, diese Figur ist die, die am wenigsten Form bekommt in diesem Roman. Spätestens auf Seite 196 endet deren Geschichte, verpufft ins Nirwana und wirkt auch nicht nachhaltig nach. Natürlich war es ihre letzte Zugreise, das wird schon nach den ersten Seiten klar. Dann folgen noch 60 Seiten Palaver des Ich-Erzählers und er berichtet uns ausführlichst, wie es mit ihm nach dem Ende der Zugreise von Gladys weitergegangen ist. Dazu hatte ich dann gar keinen Bezug mehr und fühlte mich neuerlich von ihm genervt. So schreibt er zum Ende hin: "Bernie fragt mich häufig, wie weit ich bin. Ich antworte, es würden immer mehr Seiten, aber ein Ende sei nicht in Sicht." AMEN.
Meines Erachtens wurde die Autorin hier von ihren eigenen Ideen überrollt, hat vier Geschichten in eine gepackt und ist dann nicht mehr damit zurecht gekommen. Rund wirkt das Endergebnis für mich leider dadurch gar nicht. Allein die Informationen zum Eisenbahngewerbe in Kanada war nachhaltig. Allerdings habe ich die Vermutung, dass man diese Infos durchaus auch z.B. aus einer ARTE-Dokumentation hätte ziehen können. Dabei hätte der Mehrwert in zusätzlichen schönen Filmimpressionen gelegen.
Leider kann ich eine Lektüre von "Was dir bleibt" nicht ohne weiteres empfehlen. Wenn man einen selbstunsicheren Erzähler, der ständig seinen Fortschritt kommentieren muss, ertragen kann, dann könnte es vielleicht eine kurzweilige Lektüre werden. Ansonsten gilt eher: Finger weg.
2,5/5 Sterne
Da Kanada Partner der Frankfurter Buchmesse 2020 ist, wollte ich auch mal etwas aus einer kanadischen Feder lesen und bin auf diesen Roman gestoßen.
In der Geschichte geht es um einen namenlosen Ich- Erzähler, der sich auf die Spuren der verschwundenen Gladys begibt. Wer wird ihm auf seiner Reise begegnen? Was wird er herausfinden?
Das Besondere an dem Roman ist, dass wir über Gladys und ihr Leben durch Dritte erfahren. Der Ich- Erzähler spricht mit diversen Menschen aus ihrem Leben und bekommt so etwas über sie erzählt.
Gladys hat es nie einfach gehabt im Leben und scheint trotzdem glücklich zu sein, was ich sehr bewundere. Besonders ihre Fürsorge für Tochter Lisana hat mich berührt.
Sprachlich ist der Roman einfach wundervoll. Da gibt es diverse Sätze, die man auch als Lebensweisheit benutzen könnte.
Das Schwierige für mich an dem Roman war, dass ich keinen wirklichen roten Faden erkennen konnte und was uns die Autorin eigentlich damit sagen wollte. Ging es ihr mehr um Gladys, um den Ich- Erzähler oder um das Reisen an sich?
Spannend fand ich die Thematik mit den School Trains in Kanada, denn davon hatte ich vorher noch nie etwas gehört. So bekommen auch Menschen an entlegenen Orten Bildung. Auch die Faszination für Züge kam gut rüber.
Gut hätte mir gefallen, wenn nicht so viel offen geblieben wäre, sondern mehr von den Erzählsträngen auch aufgelöst worden wären. So bleibt dem Leser sehr viel Interpretationsspielraum.
Fazit: Mal ein etwas anderer Stil und sprachlich angenehm. Es wäre noch Luft nach oben gewesen, daher kann ich nur bedingt eine Empfehlung aussprechen.
Besser spät als nie!
Hierzulande war Margaret Laurence mit Sicherheit bis vor kurzem, als der Eisele Verlag begann, die Werke dieser kanadischen Autorin neu aufzulegen, sicher weitgehend unbekannt. Während sie in Kanada lange schon auf einer Stufe mit solch bekannten Autorinnen steht wie Margret Atwood und Alice Munro, beginnt die deutsche Leserschaft gerade erst, ihre Werke zu entdecken. Nach der Lektüre von "Eine Laune Gottes" kann ich nur sagen, dass dies längst überfällig ist. Es ist zu hoffen, dass der Eisele Verlag nach und nach die weiteren Werke der Autorin "ausgräbt" und verlegt.
Interessant ist vielleicht zu wissen, dass Laurence nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrer Tante aufwuchs. Zudem ging sie mit ihrem Ehemann nach Somalia und suchte nach der Trennung in England eine neue Heimat. Zeitlebens soll unter mit Alkoholismus und Depression gelitten haben. Dies könnte eine wichtige Kontextinformation für das Verständnis des Werkes sein.
"Eine Laune Gottes" ist wohl der zweite von insgesamt vier Werken der Autorin, die in Manawake (Kanada) spielen. Es ist die Geschichte der Emanzipation von Rachel Cameron, die viel zu lange festgefügte Strukturen einfach hingenommen hat. Worum geht es konkret?
Rachel Cameron kehrt nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer hilfebedürftigen Mutter nach Manawaka zurück und arbeitet dort fortan als Lehrerin an einer Schule. Ihr Leben ist trist und ernüchternd. Zu Hause muss sie permanent die Klagelieder ihrer hilfsbedürftigen Mutter ertragen, die sie auch noch im Erwachsenenalter bevormundet und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Statt Dankbarkeit zu zeigen, dass Rachel sich als einzige von drei Kindern um sie kümmert, nimmt ihre Mutter Rachels Aufoperung und Einsatz für selbstverständlich. Die Mutter-Kind Beziehung scheint sehr toxisch. Doch auch im Arbeitsumfeld scheint Rachel von Menschen umgeben, die ihr einfach nicht gut tun. Ihre Kollegin Calla ist übergriffig und penetrant, ihr Vorgesetzer ist unsympathisch und distanzlos. Rachel nimmt all dies hin und erträgt es widerstandslos. Sie ist wohl ein Kind ihrer Zeit, denn der Roman spielt in den 60er Jahren, einige Zeit vor der Emanzipation der Frau. Als Leser möchte man sie schütteln und anschreien, damit sie endlich beginnt, etwas in ihrem Leben zu ändern. Umso mehr, als Rachel eigentlich selbst weiß, dass sie sich wehren und widersetzen müsste. Doch es muss erst etwas passieren, damit Rachel ausbricht. Worum es da konkret geht, soll natürlich an dieser Stelle nicht verraten werden. Aber es hat mit den Folgen und Konsequenzen einer ersten Liebe zu tun...
Insgesamt betrachtet, habe ich das Buch sehr gerne gelesen. Ich kenne das Vorgängerbuch zwar nicht, aber die Buchbeschreibung und vor allem die vielen begeisterten Stimmen haben mich im Vorfeld doch sehr neugierig gemacht. Ich kann diese positive Kritik grundsätzlich gut verstehen, denn sicher ist Laurence eine Autorin, die angesichts ihrer schrifstellerischen Qualitäten ganz zu Recht in einem Atemzug mit Atwood und Munro genannt wird.
Im Grunde genommen ist das ganze Buch ein einziger innerer Monolog, durch den uns Rachel als Ich-Erzählerin unverblümt und selbstkritisch begleitet. Dieses Erzählprinzip ist genial umgesetzt und macht die Geschichte zu einem Erlebnis der ganz besonderen Art. Kein Wort scheint zuviel, jedes Wort ist ganz bewusst so und nicht anders gewählt. Das Erzähltalent von Laurence zeigt sich sehr deutlich und sei hier unbestritten.
Die Charakterzeichnung der Figuren ist ebenfalls sehr gelungen, was sich auch daran zeigt, dass deren Eigentümlichkeiten während des Lesens starke Emotionen erzeugen. Allerdings muss ich sagen, dass bei mir nicht wirklich Mitgefühl für Rachel und ihr Schicksal geweckt wurde. Ich erlebte sie in allererster Linie als sehr anstrengend und auch ein wenig "kindsköpfig" und unreif. Anderen Protagonisten, wie der Mutter und dem Direktor gegenüber empfand ich eher Wut, Calla betreffend dominierte Unverständnis. Ich würde grundsätzlich sagen, dass es ein Erfolg ist, wenn ein/e Autor/in es schafft, solch starke Gefühle auszulösen.
Allerdings muss ich kritisch anmerken, dass ich zum einen die Bezüge auf Glauben und Gott nicht in Gänze verstanden habe. Diese Motive wurden für meinen Geschmack zu wenig ausgearbeitet. Zum anderen überzeugt mich das Ende nicht; es kommt mir letztlich auch zu abrupt. Mit offenen Enden kann ich zwar prinzipiell gut umgehend, aber hier kam mir die Entwicklung zu sprunghaft und plötzlich; auch würde mich da der weitere Entwicklungsweg von Rachel interessieren.
Letztlich bin ich aber sehr dankbar, dass ich diesen Roman und damit eine sehr interessante Autorin entdecken durfte. "Eine Laune Gottes" bleibt in meiner Lesebiografie sicher nicht das einzige gelesene Werk von Margaret Laurence. Ich kann dieses Buch nahezu uneingeschränkt weiter empfehlen, wobei es wichtig ist, bei der Lektüre die damaligen Zeiten mit ihren prägenden Strukturen im Hinterkopf zu behalten. Sehr lesenswert!
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