Aufbruch nach Utopia

Buchseite und Rezensionen zu 'Aufbruch nach Utopia' von  Stefan Wolle

Inhaltsangabe zu "Aufbruch nach Utopia"

Format:Broschiert
Seiten:440
Verlag: Ch. Links
EAN:9783861536192
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Versteckte Jahre

Buchseite und Rezensionen zu 'Versteckte Jahre' von Anna Goldenberg

Inhaltsangabe zu "Versteckte Jahre"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
EAN:9783552059061
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Diesseits der Mauer

Buchseite und Rezensionen zu 'Diesseits der Mauer' von Katja Hoyer
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Diesseits der Mauer"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:592
EAN:9783455015683
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Rezensionen zu "Diesseits der Mauer"

  1. Zehn Kapitel DDR-Geschichte. Eine Einführung.

    Kurzmeinung: Es gibt Historiker, die nicht nur denken, sondern auch schreiben können.

    In zehn Kapiteln, die immer damit beginnen, dass eine Einzelperson ins Visier genommen wird „als Peter Claussen in der ostdeutschen Hauptstadt ankam, um seinen Posten … anzutreten (Kapitel 10)“, „Der 24jährige Berliner Erwin Jöris wurde in eine kleine Zelle gestoßen“ (Kapitel 1) – um sich von der individuellen Momentaufnahme alsbald zu lösen und das Ganze in den Blick zu nehmen, erzählt Katja Hoyer den Werdegang der Deutschen Demokratischen Republik vom allerersten Anfang an bis zu ihrem Ende. In Großbritannien ist „Beyond the wall“ ein großer Erfolg. Dies mag unter anderem daran liegen, dass sich Katja Hoyers Tonfall und ihre Schreibweise angenehm von der anderer Historiker unterscheidet.

    Es gibt keine Bandwurmsätze, keinen Nominalstil, keine quälenden Daten. Wer öfters historische Sachbücher liest, kennt das: jeder Pieps, jedes Zettelchen wird mit Datum, Jahr, Monat, Tag, Seitenangabe, manchmal sogar mit Uhrzeit, Ort und Autor versehen, selbst wenn es sich um völlig unerhebliche Aktenzettelchen handelt, so was gehört in Fussnoten. Wer was wann wo unterschrieben hat, mit welcher Tinte, interessiert den Historiker, mich jedoch nicht. Es ist ja nicht so, dass Katja Hoyer ohne Daten arbeiten würde, dies würde auch nicht funktionieren, aber es hält sich alles im Rahmen und geht nicht auf Kosten der Verständlichkeit. Auch mit reinen Fachbegriffen wirft Hoyer nicht um sich. Denn sie schreibt nicht für ihre Fachkollegen, sondern für uns Leser. Und das merkt man. So mancher renommierte Geschichtswissenschaftler kann sich bei ihr einiges abschauen!

    „Diesseits der Mauer“ ist eine Einführung in die Materie „Leben in der DDR“, die im Prinzip alle Aspekte des dortigen Lebens erfasst. Man wirft der Autorin hierzulande gerne eine Verharmlosung der Diktatur vor, weil das Leben in der Diktatur nicht ihr Thema ist, sondern das Leben in der DDR. Das ist etwas anderes. Trotzdem lässt sie weder die umfassende Bespitzelung durch die Stasi aus noch die Problematik der Grenzsoldaten, sie erzählt von der Militarisierung des Staates und der Gängelung der Staatsführung durch die Sowjetunion. Wenn man Hoyer überhaupt etwas vorwerfen könnte/wollte, dann eventuell eine gewisse Vereinfachung. Aber man muss sich eben entscheiden, ob man das große Ganze in den Blick nimmt oder sich in den Verästelungen komplizierter Details verfängt - derartige Publikationen gehören dann in die entsprechenden Fachzeitschriften.

    Am eindrücklichsten für mich sind die Schilderungen der Zwänge, die von Anfang an vorherrschten: die Wirtschaft wurde durch anhaltende Reparationsforderungen der Sowjetunion und die Ausplünderung und Verschleppung fast sämtlicher lohnender Industriekomplexe über Jahre hinaus gelähmt; eine eigenständige und unabhängige Politik zu entwickeln war auch ideologisch unmöglich. Davon abgesehen waren die Überlebenden der von Stalin durchgeführten „großen Säuberung(en)“, also die aus Moskau zurückgekehrten politischen Akteure, Walter Ulbricht und Konsorten abgebrühte, hartgesottene, machtbesessene und skrupellose Menschen geworden.

    Auch die Mangelwirtschaft ist Thema. Die Landumverteilungen. Die Enteignungen. Die Probleme der Bauern. Andererseits gab es keine Arbeitslosigkeit und die DDR-Bürger waren in der Regel samt und sonders gut ausgebildet. Der Blick auf die DDR ist facettenreich.

    Katja Hoyer behauptet und mit dieser Behauptung wird sie nicht falsch liegen, dass die DDR für die Mehrzahl ihrer Bürger Heimat gewesen ist, oft eine unbequeme, oft eine gehasste, aber dennoch eine Heimat. Eine Heimat, auf die man stolz war. Eine Heimat mit sozialistischem Grundgedanken, den man prinzipiell bejahte; wenngleich dieser Sozialismus manchmal lächerliche Züge annahm. Und manchmal brutale.
    Die DDR war eine Heimat, aus der man nicht weg wollte, die man jedoch gerne verändert und verbessert hätte. Niemand wünscht sich die DDR so zurück, wie sie gewesen ist. Auch nicht Katja Hoyer. Dennoch war die DDR ein Staat, in dem sich die meisten Menschen eingerichtet hatten, so gut es eben möglich war. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

    Fazit: „Diesseits der Mauer“ ist ein verständlich geschriebener 500seitiger Abriß über die Geschichte der DDR und das Leben in diesem Staat. Katja Hoyers Sicht ist eine völlig legitime, ihr Anliegen ist es, das ganze Leben in der DDR abzubilden, ihr Fokus liegt nicht auf dem Leben in einer Diktatur. Ihr Buch ist gerade wegen seiner Verständlichkeit hervorragend, sollte jedoch durch andere Sachbücher zum Thema ergänzt werden.

    Kategorie: Sachbuch. Geschichte.
    Verlag: Hoffmann & Kampe, 2023

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Revanche

Buchseite und Rezensionen zu 'Revanche' von  Michael Thumann
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Revanche"

Martin Walkers Romane spielen im geschichtsträchtigen Périgord mit seinen herrlichen Landschaften und trutzigen Burgen. Von einer dieser Burgen, Commarque, brachen im Mittelalter die Tempelritter zu Kreuz­zügen nach Jerusalem auf. Tausend Jahre später nimmt das einstige Morgenland eine späte Revanche in der Person einer jungen Archäologin, die wild entschlossen scheint, bei den damaligen Eroberern einen sagenumwobenen geraubten Schatz sowie ein politisch höchst explosives altes Dokument zutage zu fördern.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406799358
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Rezensionen zu "Revanche"

  1. 5
    16. Mär 2023 

    Russlands Weg in die Diktatur

    Das System Putin: Reportagen, Analysen, Berichte, Einschätzungen eines Russlandkenners – sehr aktuell

    Wenn ich solche Bücher lese, möchte ich zuerst wissen, wer der Autor ist: Michael Thumann, Chefkorrespondent der 'ZEIT', Leiter des Moskauer Büros, der u.a. dort studiert hat. Also darf ich davon ausgehen, dass er langjähriger Russlandkenner ist. - Aber brauche ich noch ein Buch, wo ich doch gerade einiges zum Thema gelesen habe? Eindeutig JA und ich meine, dass dieses hier das bisher Beste ist. Es hat mir neue Erkenntnisse gebracht und einiges eingeordnet und an seinen Platz gerückt.

    Seine Themen: die Fehlentscheidungen deutscher Politiker, vor allem Schröder und Gabriel, russische Narrative erfolgreich in Deutschland, Blick auf den Putsch von 1991 (Gorbatschow auf der Krim festgesetzt; Jelzin), Tschetschenien als Testfeld, Putins 'Freunde' in der Welt, Propaganda, Aufhetzen der Bevölkerung und Informationskrieg, Straflager, gefälschte Wahlen, Missbrauch und Verfälschung der Geschichte, Krieg in der Ukraine, Rache am Westen und persönliche Kränkungen – Wie könnte es enden?

    Es fängt leicht und locker an: Thumann spricht mit Bekannten und Freunden in Moskau, er wohnt dort, fährt mit dem Rad und schildert seine Beobachtungen. Das ist leicht zu lesen und obwohl es faktenreicher und komplexer wird, bleibt es gut zu lesen und ich hatte nie den Eindruck, dass es mir zu viel würde.

    Auch wenn ich vieles schon weiß, so war ich doch über einiges ziemlich schockiert: z.B. über die Narrative der russischen Propaganda, die auch in Deutschland erfolgreich waren und leider immer noch sind, z.B. 'Die Krim war schon immer Russisch' oder 'Russland hat so gehandelt, weil es sich durch die Nato-Osterweiterung bedroht fühlte.' - Diese Behauptungen, die hier in Deutschland anscheinend auf Unwissenheit beruhen, widerlegt Thumann mit Fakten, zu denen auch nachweisbare Äußerungen von Putin gehören.

    Sehr interessant fand ich, wie er Russlands stufenweisen Weg in die totalitäre Diktatur analysiert und zum Heulen schrecklich, wie Russlands Bevölkerung aufgehetzt wird, wie der Völkerfrieden zerstört wird und wie es in Straflagern zugeht. Und bei allem scheinen persönliche und historische Kränkungen des Wladimir Wladimirowitsch Putin eine Rolle zu spielen. Das ist natürlich eine Meinung, eine Einschätzung.

    Für dieses Buch kann ich eine ganz große Lese-Empfehlung aussprechen. Für mich ist es das Beste, was ich in letzter Zeit zum Thema gelesen habe und aktuell ist es auch.
    6 von 5 Sternen ;-)

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  1. 4
    18. Apr 2022 

    Der Trauzeuge

    Für seine Freunde, die Archäologen Horst und Clothilde, soll Bruno, Chef de Police, als Trauzeuge fungieren. Seine Rede ist im Entwurf schon fertig, da bekommt er die Nachricht, dass am nahen Schloss eine tote Frau gefunden wurde. Erstmal ist das Brunos Sache, denn noch ist nicht klar, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handelt. Im Falle eines Falles wird er J. J., den Kollegen von der Kriminalpolizei hinzuziehen. Aber natürlich wird auch Bruno sein Möglichstes tun, um die Frau zu identifizieren. Dass er die junge Amélie aus dem Ministerium aufs Auge gedrückt bekommt, schmeckt ihm zunächst nicht.

    In seinem zehnten Fall hätte Bruno Courreges eigentlich nicht viel mit Verbrechen am Hut, wenn ihm nicht die Realität dazwischen käme. Die Tote, die in der Nähe des Schlosses gefunden wurde, hatte offensichtlich eine Botschaft. Leider hat sie es nicht mehr geschafft, ihre Nachricht zu schreiben. So gibt es also das Rätsel um ihre Identität als auch das Rätsel um das Wort. Brunos neue Beobachterin Amélie erweist sich überraschend als echter Gewinn. Wie versiert ihre Finger über den Bildschirm ihres Handys fliegen und welch erstaunliche Informationen sie dem kleinen Gerät entlockt. Bruno und sie finden heraus, dass es sich bei der Toten um eine Archäologin mit einer Mission handelte.

    Egal. ob man die Reihe vollständig kennt oder nicht, man findet sich schnell in Brunos Welt zurecht. Als eine Art Dorfpolizist ist Bruno ein Mittelpunkt des Ortes St. Denis, er kennt jeden und jede und hat freundliche Beziehungen über die Grenzen des Ortes hinaus. Eigentlich im Waisenhaus aufgewachsen, hat er in dem Ort eine Heimat und in seinen Bewohnern eine Familie gefunden. Doch die Wirklichkeit macht auch vor dem beschaulichen Ort nicht Halt und der Tod der Unbekannten erweist sich als Teil eines perfiden Plans. Auch wenn es manchmal so erscheint, als sei Bruno einfach zu gut, so hat man hier eine liebevolle Beschreibung des Lebens in einer geschichtsträchtigen Region in Frankreich und gleichzeitig einen spannenden Kriminalroman, der durchaus einen Bezug zur heutigen Realität hat.

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Die Wokeness-Illusion

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Wokeness-Illusion' von Alexander Marguier
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Wokeness-Illusion"

Wokeness ist ein Kampfbegriff geworden. Das gilt sowohl für die Befürworter wie die Gegner einer Einstellung, die sich selbst als »wach« oder »aufmerksam« bezeichnet. Es gibt wenig sachlich begründete Auseinandersetzungen, dafür umso mehr Empörung. In diesem Buch werden zentrale Elemente von Wokeness kritisch geprüft: der Vorwurf der kulturellen Aneignung, die Forderung nach geschlechtergerechter Sprache, die Rede von strukturellem Rassismus, das Instrument der Cancel Culture und die Einführung einer geschlechtlichen Diversität. Die Autoren dieses Buches sind sich einig, dass die so kritisierte Wokeness nicht zur Abschaffung oder Einebnung von Unterschieden beiträgt, sondern im Gegenteil diese untermauert.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:128
Verlag: Verlag Herder
EAN:9783451395567
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Rezensionen zu "Die Wokeness-Illusion"

  1. Sachlich, informativ, lesenswert

    „Bedrückend an diesem Kampf der Identitäten – seien sie ethnischer, geschlechtlicher, religiöser, milieubezogener oder jedweder anderen Art – ist nicht nur die (Selbst-) Viktimisierung ganzer Bevölkerungsschichten, sondern die Unversöhnlichkeit, in der er gerade geführt wird.“ (Zitat Seite 11, Alexander Margulier)

    Thema und Inhalt
    „Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“, so lautet der Untertitel dieser Sammlung von neun Essays von neun Autoren, die sich mit den wichtigsten Elementen von Wokeness kritisch auseinandersetzen. Die Themen der einzelnen Beiträge reichen von den Anfängen der Identitätspolitik über woke Wirtschaft, politisch korrekten Konsum, Sprache, bis zur Debatte um die kulturelle Aneignung. Am Ende des Buches werden kurz die einzelnen Autoren vorgestellt.

    Umsetzung
    Die Beiträge sind in einzelne Kapitel gegliedert, umfassen jeweils etwa zwölf Seiten und ein Quellenverzeichnis. Interessant sind die unterschiedlichen Blickwinkel, mit denen die einzelnen Autoren das jeweils gewählte Thema betrachten, einige gehen weit in die Geschichte zurück und legen so die Wurzeln der Entstehung wichtiger Elemente frei, die von der Wokeness Bewegung unbewusst oder auch bewusst falsch interpretiert und ausgelegt werden. Auch wer zum Beispiel die sprachlichen Diskussionen, die Diskussionen um kulturelle Aneignung und Diversität aktiv mitverfolgt, findet hier bisher noch nicht bekannte Ansätze und neues Wissen. Interessant, weil in den Medien wenig präsent, die Beiträge zur woken Wirtschaft und dem neuen ethischen Konsum, das Phänomen Woke Washing als Entwicklung des seit Jahren bekannten Greenwashing. Besonders eindrücklich bringt folgende Aussage von Ralf Hanselle das Dilemma der neuen Identitätspolitik in seinem Essay zu diesem Thema auf den Punkt: „Und vielleicht gäbe es hinter der eigenen Wunde der Identität etwas Größeres zu entdecken – eine Realität, die ganz unabhängig ist von Identitäten, und einen Universalismus, der weit mehr ist als die Summe einzelner Partikularinteressen. Das Ende unserer Identitätsfixierung könnte auch der Neubeginn der Gesellschaft sein.“ (Zitat Seite 24, Ralf Hanselle)

    Fazit
    Dieses Buch der Cicero-Redaktion ist ein lesenswerte Sammlung von interessanten, sachlichen Beiträgen von Publizisten und freien Journalisten zu den wichtigsten Elementen der Wokeness, eine Bewegung, die dabei ist, die Gesellschaft zu spalten. „Der woke Blick findet überall neue Symbole, an denen sich allgemeine Empörung entzünden kann. Damit hält er die Protestenergie wach und demonstriert die eigene Macht.“ (Zitat Seite 65, Bernd Stegemann). Ein Buch zum Mitdenken, zum Nachdenken und vielleicht auch zum Überdenken eigener Ansichten.

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  1. Ein Augenöffner. Muss man lesen!

    Kurzmeinung: Einige sehr kluge Beiträge zur Debatte um Wokeness

    Ja, was soll ich sagen? Dieses Buch hat mir klargemacht, dass es sich bei der Wokeness-Bewegung um eine waschechte Ideologie handelt, deren Vorzüge und Nachteile dringend breitbandig diskutiert werden müssten. Aber dies ist nicht der Fall und von den Vertretern der Wokness her nicht einmal gewünscht. Die neue Ideologie, die mit der Identitätsphilosophie eng verflochten ist, wünscht keine Auseinandersetzung, sondern sucht Anhänger. Zitat aus dem Vorwort: „Wenn jemandem etwa das Recht abgesprochen werden soll, überhaupt seine Meinung zu artikulieren, nur weil er nicht einer bestimmten Minderheit angehört, ist eine Diskussion nicht mehr möglich“.

    Der Herausgeber stellt acht kurze Essays vor, die sich mit dem Phänomen der Wokeness-Ideologie und deren Auswirkungen auf die Gesellschaften, mit besonderem Blick auf Deutschland, beschäftigen. Der Usprung dieser Ideologie liegt schon in den 1970igern Jahren begründet als der französische Autor Michel Foucault das Buch „Surveiller et Punir“ (Überwachen und Bestrafen) auf den Markt warf.

    Die Wokenessbewegung ist eng verwoben mit der Identitätsbewegung bzw. dem Identitätsbegriff, der - in Kürze und im Kern - fragt, was macht einen Menschen aus? Wird er bestimmt durch äußere Merkmale oder kann ein Mensch sich durch mentale Tätigkeit vollkommen selbst setzen, das heißt, „frei“ bestimmen, wer und was er sei. Michel Foucault selbst wechselte seine Identitätszuschreibungen ständig – in der letzten Ausprägung seiner Thesen gelangt man zum Genderfluidum, jeder kann sein, was er will und führt unter anderem zum für 2023 geplanten Selbstbestimmungsgesetz der Ampelregierung, das besagt, dass durch einen einfachen Sprechakt auf dem Amt jeder sein Geschlecht selbst festlegen könne. Was im ersten Moment liberal-progressiv klingt, unterhöhlt letztlich den Freiraum, den sich Frauen in einem jahrhundertelangen Kampf erworben haben und worum sie immer noch ringen, und das deshalb, weil sich ihnen nun eine Gruppe biologischer Männer anschließen könnte, die sich als Frauen „fühlen“ und dementsprechend Schutzräume für Frauen mitbesetzen wollen/können. Alice Schwarzer wirft Queer- und Transaktivisten vor, Frauen unsichtbar machen zu wollen, indem sie diese neuerdings unter FLINTA subsumieren, was für „Frauen, Lesben, Inter, Nichtbinäre, Trans- ud Agenderpersonen“ stehen soll. "Eine vergleichbare Schublade gibt es für Männer übrigens nicht", sagt Ben Krische.

    Wie dem auch sei, die woke Brille teilt die Welt in gut und böse ein, wobei die Woken definieren, wer gut ist.

    Beängstigend ist die These von Alice Hasters, dass nur „die Weißen Rassisten sein können, weil sie allein von ihrer eigenen Vorherrschaft profitieren“ und dass Rassismus nicht mehr an eine reale Tat durch eine Person gebunden und gesehen wird, sondern als Kollektivschuld. Letztlich hieße das, jeder Weiße ist ein Rassist. Der Gedanke der Sippenhaft und der Kollektivschuld aber trägt selbst einen faschistischen Kern in sich.
    Die Theorie des strukturellen Rassismus: „ist jedoch nicht in erster Linie eine Theorie mit Wahrheitsanspruch, sondern war und ist ein Kampfinstrument gegen die ungerechtfertigte Benachteiligung Nicht-Weißer“, ein Hilfsmittel, das im politischen, berechtigten Kampf für die Rechte Schwarzer in den USA entstanden ist. Aber in Deutschland/Europa haben wir andere Verhältnisse, sagt Matthias Brodkorb und weiter: „Es handelt sich um einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung, um einen Absturz in die Ideologie des Rassismus“. Und woher kennen wir eine Rassenideologie? Vom Nationalsozialismus: ganz gefährlicher Boden also.

    Was mich persönlich verstört, ist die Faktengleichgültigkeit der Bewegung: Es kommt nicht mehr darauf an, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Gut, bis zu einem gewissen Grad ist das immer schon so gewesen; aber die Wokisten treiben es zum Exzess!

    Behandelt wird natürlich auch die Sprachverschlimmbesserung durch die Genderbewegung, die von einem Erziehungsgedanken (wir müssen das Volk umerziehen, woher kennen wir das bloß) getragen ist sowie andere, ökonomische Gesichtspunkte wie das Wokewashing. Bedeutet: du bist gut, wenn du dieses woke Produkt kaufst, das keinen rassistischen Namen trägt, aber seine Mitarbeiter ausbeutet. Es ist eben leichter und eine intellektuelle Spielerei, in die Sprache einzugreifen (oder es zu wollen) als real existente wirtschaftliche Bedingungen zu verändern und etwa die Paygap zwischen den Geschlechtern zu schließen, denn bei ersterem kann man in seinem Elfenbeinturm sitzen bleiben, bei letzterem muss man heruntersteigen und sich in die Niederungen der Realpolitik begeben, mit seinen spezifischen Erfolgen und eben solchen Niederlagen!

    Einen Blick auf die gängige Praxis der Cancel Culture wird ebenso geworfen wie die Opfermentalität unsere Tage angesprochen wird. Empörungskultur, wohin man schaut. Wer fühlt, hat recht. Fakten spielen kaum noch eine Rolle. Ich kann nicht umhin in der ganzen Bewegung einen Rachegedanken zu entdecken, vor allem, da schon häufig, im nachhinein als ungerechtfertige Behauptungen entlarvt, diese Cancel Culture Jobs und Ansehen anderer Menschen zerstörte.

    Fazit: Man darf indes diesen kritischen Beitrag zur Wokeness-Ideologie nicht missverstehen. Die Autoren sind nicht der Meinung, dass Rassimus gut sei und auch keineswegs dagegen, im Alltag Sensibilität zu entwickeln, was wohl notwendig gewesen ist, jedoch beschäftigen sie sich mit den Auswüchsen eines Anliegens, das, ursprünglich legitim, zu einer die Gesellschaft spaltenden Ideologie mit eigenen rassistischen Zügen geworden ist. Muss man lesen!

    Kategorie: Sachbuch. Politik und Gesellschaft
    Verlag: Cicero, 2023

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Die Wokeness-Illusion

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Wokeness-Illusion' von Alexander Marguier
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Wokeness-Illusion"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:129
Verlag: Verlag Herder
EAN:
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Rezensionen zu "Die Wokeness-Illusion"

  1. Sachlich, informativ, lesenswert

    „Bedrückend an diesem Kampf der Identitäten – seien sie ethnischer, geschlechtlicher, religiöser, milieubezogener oder jedweder anderen Art – ist nicht nur die (Selbst-) Viktimisierung ganzer Bevölkerungsschichten, sondern die Unversöhnlichkeit, in der er gerade geführt wird.“ (Zitat Seite 11, Alexander Margulier)

    Thema und Inhalt
    „Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“, so lautet der Untertitel dieser Sammlung von neun Essays von neun Autoren, die sich mit den wichtigsten Elementen von Wokeness kritisch auseinandersetzen. Die Themen der einzelnen Beiträge reichen von den Anfängen der Identitätspolitik über woke Wirtschaft, politisch korrekten Konsum, Sprache, bis zur Debatte um die kulturelle Aneignung. Am Ende des Buches werden kurz die einzelnen Autoren vorgestellt.

    Umsetzung
    Die Beiträge sind in einzelne Kapitel gegliedert, umfassen jeweils etwa zwölf Seiten und ein Quellenverzeichnis. Interessant sind die unterschiedlichen Blickwinkel, mit denen die einzelnen Autoren das jeweils gewählte Thema betrachten, einige gehen weit in die Geschichte zurück und legen so die Wurzeln der Entstehung wichtiger Elemente frei, die von der Wokeness Bewegung unbewusst oder auch bewusst falsch interpretiert und ausgelegt werden. Auch wer zum Beispiel die sprachlichen Diskussionen, die Diskussionen um kulturelle Aneignung und Diversität aktiv mitverfolgt, findet hier bisher noch nicht bekannte Ansätze und neues Wissen. Interessant, weil in den Medien wenig präsent, die Beiträge zur woken Wirtschaft und dem neuen ethischen Konsum, das Phänomen Woke Washing als Entwicklung des seit Jahren bekannten Greenwashing. Besonders eindrücklich bringt folgende Aussage von Ralf Hanselle das Dilemma der neuen Identitätspolitik in seinem Essay zu diesem Thema auf den Punkt: „Und vielleicht gäbe es hinter der eigenen Wunde der Identität etwas Größeres zu entdecken – eine Realität, die ganz unabhängig ist von Identitäten, und einen Universalismus, der weit mehr ist als die Summe einzelner Partikularinteressen. Das Ende unserer Identitätsfixierung könnte auch der Neubeginn der Gesellschaft sein.“ (Zitat Seite 24, Ralf Hanselle)

    Fazit
    Dieses Buch der Cicero-Redaktion ist ein lesenswerte Sammlung von interessanten, sachlichen Beiträgen von Publizisten und freien Journalisten zu den wichtigsten Elementen der Wokeness, eine Bewegung, die dabei ist, die Gesellschaft zu spalten. „Der woke Blick findet überall neue Symbole, an denen sich allgemeine Empörung entzünden kann. Damit hält er die Protestenergie wach und demonstriert die eigene Macht.“ (Zitat Seite 65, Bernd Stegemann). Ein Buch zum Mitdenken, zum Nachdenken und vielleicht auch zum Überdenken eigener Ansichten.

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  1. Ein Augenöffner. Muss man lesen!

    Kurzmeinung: Einige sehr kluge Beiträge zur Debatte um Wokeness

    Ja, was soll ich sagen? Dieses Buch hat mir klargemacht, dass es sich bei der Wokeness-Bewegung um eine waschechte Ideologie handelt, deren Vorzüge und Nachteile dringend breitbandig diskutiert werden müssten. Aber dies ist nicht der Fall und von den Vertretern der Wokness her nicht einmal gewünscht. Die neue Ideologie, die mit der Identitätsphilosophie eng verflochten ist, wünscht keine Auseinandersetzung, sondern sucht Anhänger. Zitat aus dem Vorwort: „Wenn jemandem etwa das Recht abgesprochen werden soll, überhaupt seine Meinung zu artikulieren, nur weil er nicht einer bestimmten Minderheit angehört, ist eine Diskussion nicht mehr möglich“.

    Der Herausgeber stellt acht kurze Essays vor, die sich mit dem Phänomen der Wokeness-Ideologie und deren Auswirkungen auf die Gesellschaften, mit besonderem Blick auf Deutschland, beschäftigen. Der Usprung dieser Ideologie liegt schon in den 1970igern Jahren begründet als der französische Autor Michel Foucault das Buch „Surveiller et Punir“ (Überwachen und Bestrafen) auf den Markt warf.

    Die Wokenessbewegung ist eng verwoben mit der Identitätsbewegung bzw. dem Identitätsbegriff, der - in Kürze und im Kern - fragt, was macht einen Menschen aus? Wird er bestimmt durch äußere Merkmale oder kann ein Mensch sich durch mentale Tätigkeit vollkommen selbst setzen, das heißt, „frei“ bestimmen, wer und was er sei. Michel Foucault selbst wechselte seine Identitätszuschreibungen ständig – in der letzten Ausprägung seiner Thesen gelangt man zum Genderfluidum, jeder kann sein, was er will und führt unter anderem zum für 2023 geplanten Selbstbestimmungsgesetz der Ampelregierung, das besagt, dass durch einen einfachen Sprechakt auf dem Amt jeder sein Geschlecht selbst festlegen könne. Was im ersten Moment liberal-progressiv klingt, unterhöhlt letztlich den Freiraum, den sich Frauen in einem jahrhundertelangen Kampf erworben haben und worum sie immer noch ringen, und das deshalb, weil sich ihnen nun eine Gruppe biologischer Männer anschließen könnte, die sich als Frauen „fühlen“ und dementsprechend Schutzräume für Frauen mitbesetzen wollen/können. Alice Schwarzer wirft Queer- und Transaktivisten vor, Frauen unsichtbar machen zu wollen, indem sie diese neuerdings unter FLINTA subsumieren, was für „Frauen, Lesben, Inter, Nichtbinäre, Trans- ud Agenderpersonen“ stehen soll. "Eine vergleichbare Schublade gibt es für Männer übrigens nicht", sagt Ben Krische.

    Wie dem auch sei, die woke Brille teilt die Welt in gut und böse ein, wobei die Woken definieren, wer gut ist.

    Beängstigend ist die These von Alice Hasters, dass nur „die Weißen Rassisten sein können, weil sie allein von ihrer eigenen Vorherrschaft profitieren“ und dass Rassismus nicht mehr an eine reale Tat durch eine Person gebunden und gesehen wird, sondern als Kollektivschuld. Letztlich hieße das, jeder Weiße ist ein Rassist. Der Gedanke der Sippenhaft und der Kollektivschuld aber trägt selbst einen faschistischen Kern in sich.
    Die Theorie des strukturellen Rassismus: „ist jedoch nicht in erster Linie eine Theorie mit Wahrheitsanspruch, sondern war und ist ein Kampfinstrument gegen die ungerechtfertigte Benachteiligung Nicht-Weißer“, ein Hilfsmittel, das im politischen, berechtigten Kampf für die Rechte Schwarzer in den USA entstanden ist. Aber in Deutschland/Europa haben wir andere Verhältnisse, sagt Matthias Brodkorb und weiter: „Es handelt sich um einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung, um einen Absturz in die Ideologie des Rassismus“. Und woher kennen wir eine Rassenideologie? Vom Nationalsozialismus: ganz gefährlicher Boden also.

    Was mich persönlich verstört, ist die Faktengleichgültigkeit der Bewegung: Es kommt nicht mehr darauf an, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Gut, bis zu einem gewissen Grad ist das immer schon so gewesen; aber die Wokisten treiben es zum Exzess!

    Behandelt wird natürlich auch die Sprachverschlimmbesserung durch die Genderbewegung, die von einem Erziehungsgedanken (wir müssen das Volk umerziehen, woher kennen wir das bloß) getragen ist sowie andere, ökonomische Gesichtspunkte wie das Wokewashing. Bedeutet: du bist gut, wenn du dieses woke Produkt kaufst, das keinen rassistischen Namen trägt, aber seine Mitarbeiter ausbeutet. Es ist eben leichter und eine intellektuelle Spielerei, in die Sprache einzugreifen (oder es zu wollen) als real existente wirtschaftliche Bedingungen zu verändern und etwa die Paygap zwischen den Geschlechtern zu schließen, denn bei ersterem kann man in seinem Elfenbeinturm sitzen bleiben, bei letzterem muss man heruntersteigen und sich in die Niederungen der Realpolitik begeben, mit seinen spezifischen Erfolgen und eben solchen Niederlagen!

    Einen Blick auf die gängige Praxis der Cancel Culture wird ebenso geworfen wie die Opfermentalität unsere Tage angesprochen wird. Empörungskultur, wohin man schaut. Wer fühlt, hat recht. Fakten spielen kaum noch eine Rolle. Ich kann nicht umhin in der ganzen Bewegung einen Rachegedanken zu entdecken, vor allem, da schon häufig, im nachhinein als ungerechtfertige Behauptungen entlarvt, diese Cancel Culture Jobs und Ansehen anderer Menschen zerstörte.

    Fazit: Man darf indes diesen kritischen Beitrag zur Wokeness-Ideologie nicht missverstehen. Die Autoren sind nicht der Meinung, dass Rassimus gut sei und auch keineswegs dagegen, im Alltag Sensibilität zu entwickeln, was wohl notwendig gewesen ist, jedoch beschäftigen sie sich mit den Auswüchsen eines Anliegens, das, ursprünglich legitim, zu einer die Gesellschaft spaltenden Ideologie mit eigenen rassistischen Zügen geworden ist. Muss man lesen!

    Kategorie: Sachbuch. Politik und Gesellschaft
    Verlag: Cicero, 2023

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Ami go home!

Buchseite und Rezensionen zu 'Ami go home!' von Stefan Baron

Inhaltsangabe zu "Ami go home!"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:448
Verlag: Econ
EAN:9783430210287
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Die Selbstgerechten

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Selbstgerechten' von Sahra Wagenknecht

Inhaltsangabe zu "Die Selbstgerechten"

Format:Taschenbuch
Seiten:416
Verlag: Campus Verlag
EAN:9783593516103
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Die Vernunft und ihre Feinde

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Vernunft und ihre Feinde' von Thilo Sarrazin
1
1 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Vernunft und ihre Feinde"

Wo Logik und Empirie durch „alternative Fakten“ ersetzt werden, weitet sich der Raum für ideologisch geprägtes Denken und es sinkt die Toleranz. Thilo Sarrazin beobachtet diese Tendenz in den letzten Jahren auf allen Seiten des politischen Spektrums und in vielen Medien. Sie passt nicht zum Geist der abendländischen Aufklärung und sie kann die Grundlagen unserer demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung infrage stellen. Sarrazin erläutert die Gefahren ideologischen Denkens für unsere Gesellschaft und unsere politische Kultur und beschreibt typische Irrwege. Ideologien wirken verlockend durch die trügerische Klarheit ihrer Rezepte und die Schlichtheit, mit der sie Gut und Böse trennen. Doch so stolpert die Menschheit in immer neue Irrtümer.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:392
EAN:9783784436418
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Rezensionen zu "Die Vernunft und ihre Feinde"

  1. Ein Zauberlehrling und die Geister, die er rief

    Thilo Sarrazin ist zweifelsohne ein Bestsellerautor – und er genießt es. 2010 lief er mir auf der Frankfurter Buchmesse zufälligerweise über den Weg. Für ein paar Sekunden drängten sich seine Fans um ihr, hielten ihm flehentlich »Deutschland schafft sich ab« zum Signieren hin, während ihn Bodyguards abschirmten. Er widersetzte sich, ließ sich nur widerwillig in eine Seitentür abdrängen. Ein merkwürdiger Glanz lag in seinen Augen, den ich erst jetzt verstehe, angesichts der autobiografischen Anmerkungen im neuesten Werk.
    »Die Vernunft und ihre Feinde« ließ Sarrazin im August 2022 von Uwe Tellkamp präsentieren, einem zunehmend brauner werden Schwurbler – an sich schon ein Paradox, jedoch wird das Buch trotz derartiger Promotion wohl kaum die Millionenauflage eines vor hundert Jahren verfassten Bestsellers erreichen: https://en.wikipedia.org/wiki/Mein_Kampf#Sales

    Auf den ersten Seiten seines neuen Buchs verurteilt Sarrazin Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine aufs Schärfste. Er ordnet sich in der politischen Mitte dar, klagt die ideologische Blindheit der Rechten und der Linken an, teilt gleichermaßen gegen rechte Corona-Verschwörungsmythen aus wie gegen linken Genderwahn. Sich selbst sieht er als kritischen Rationalisten, im jüdischen Philosophen Karl Popper und dessen 1944 erschienen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« https://de.wikipedia.org/wiki/Die_offene_Gesellschaft_und_ihre_Feinde. Fast möchte man glauben, Sarrazin habe sich vom Saulus zum Paulus gewandelt, sein neuestes Werk würde sich gegen »Falsche Propheten« wenden – den gleichnamigen Text veröffentlichte der jüdische Literatursoziologe Leo Löwenthal https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_L%C3%B6wenthal im Jahr 1947 und wurde in der deutschen Übersetzung von Susanne Hoppmann-Löwenthal 2021 neu aufgelegt.

    Eingangs Sarrazins analysiert in »Die Vernunft und ihre Feinde« brillant jene Gründe, die heutzutage zur Popularität von FakeNews: Belesenheit spielt angesichts frei verfügbaren Wissen und Pseudowissen keine Rolle mehr. Musste man sich vor der Erfindung von Internet und Smartphone sein Wissen mühsam durch das Studium von Fachliteratur erwerben, so reicht heutzutage ein Mausklick bzw. Daumenwisch auf dem Smartphone. Für welche gefühlte Meinung auch immer lassen sich heutzutage Fakten bzw. so genannte »Alternative Fakten« zu finden. Angelehnt an die Philosophie Karl Poppers, dessen Verehrung er mit dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt teilte, sieht sich Thilo Sarrazin als Aufklärer, als Verteidiger und Beschützer der Demokratie. Irrationale und einzig dem Gefühl sich überlassende Gesellschaftsströmungen seien in gewissem Maße hinzunehmen, wenn eine Gesellschaft offenbleiben will. Jedoch müsse beim Volk ständig und immer wieder Freude an rationaler Wahrheitssuche geweckt werden.

    Im autobiografischen Kapitel von »Die Vernunft und ihre Feinde« schildert der Autor jene harte akademische Disziplin, die ihm sein Vater auferlegte, beschreibt seine Mutter, Vertriebene aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs, im Gegensatz dazu als verschlossen, melancholisch und depressiv: ein vollkommen gegensätzliches Elternpaar ohne gemeinsame Lebensauffassung. Aufwachsend unter zuerst einmal ärmlichen Verhältnissen in einer westfälischen Kleinstadt zieht es sich früh in die Welt der Bücher zurück. Inspiriert vom Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit verlegt er sich auf die rationale Welt der Zahlen – womit wir auf Seite 45 seines Buches angelangt sind, einer m.E. zentralen Passage, die seinen eingangs geschilderten Erfolg auf der Frankfurter Buchmesse 2010 erklärt, zugleich jedoch all das ad absurdum führt, was er jetzt in 2022 entlarven will als »Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens«.

    Die Hypothese, dass sich mit Mathematik die menschliche Psyche erfassen lässt, mag 1972 für den damals gerade einmal 27-jährigen Thilo Sarrazin verlockend gewesen sein. Hoffte er, auf diese Weise die unterschiedlichen Lebensauffassungen seiner Eltern zu überbrücken? Er führte damals nach Anleitung des Psychologen Hans-Jürgen Eysenck an sich selber einen Intelligenztest durch, richtete nach eigener Aussage sein späteres Leben danach aus und veröffentlichte die Studien 38 Jahre später »unbefangen und in wissenschaftlich einwandfreier Diktion« (Zitat Sarrazin 2022 Seite 45) in »Deutschland schafft sich ab«, seinem Durchbruch als deutscher Bestsellerautor. Auf dieses Buch kommt er immer wieder zurück, bleibt bei den zweifelsohne als rassistisch und unwissenschaftlich einzustufenden Thesen – wider besseren Wissens, denn besagter Eysenck hatte seine Studien gefälscht, sie wurden 2019 vom Londoner King's College als »unsicher« eingestuft, man sprach in der Fachwelt vom »schlimmsten wissenschaftlichen Skandal aller Zeiten«. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_J%C3%BCrgen_Eysenck#Kritik_und_Kontroversen

    Sarrazins Veröffentlichung jetzt in 2022 kann als Versuch gewertet werden, die fatale Wirkung seiner in den letzten zwölf Jahren mit Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens gespickten Publikationen insofern zurückzunehmen, als dass er als gelernter Volkswirt und erklärter Anhänger der Philosophie Karl Poppers mit seinen Bestsellern letztendlich Geister geweckt hat, die sich als erklärte Feinde von Demokratie und offener Gesellschaft verstehen.

    »Der größte Angriff auf die menschliche Vernunft« sei Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, schreibt Thilo Sarrazin auf der ersten Seite seines neuen Bestsellers. Um zu verstehen, welchen Kampf er als Zauberlehrling jetzt führt, an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg, reichen Worte, Zahlen oder Statistiken nicht aus. Man muss die Kunst bemühen, ewige Mittlerin zwischen Intellekt und Psyche. Niemand konnte dies besser als Walt Disney. Im Gegensatz zu Leo Löwenthal und Karl Popper beantworte er 1940 den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit der Bildsprache des Zeichentricks. Sein wohl bedeutendstes Epos »Fantasia« war damals ein finanzielles Desaster, trieb sein Filmstudio beinahe in den Bankrott, ist mittlerweile jedoch zum Bestseller geworden. »The Sorcerer's Apprentice« ist immer noch sehenswert. https://www.youtube.com/watch?v=2DX2yVucz24

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Sonderbehandlung

Buchseite und Rezensionen zu 'Sonderbehandlung' von Filip Müller
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Sonderbehandlung"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783806244335
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Rezensionen zu "Sonderbehandlung"

  1. Wir dürfen es nie vergessen!

    Klappentext:

    „Was mit der Wannseekonferenz begann, die die Organisation der Deportation und des Massenmords an den europäischen Juden beschloss, durchlitt Filip Müller (1922 - 2013) wie kaum ein anderer. Wer KZ und Zwangsdienst im Sonderkommando Auschwitz-Birkenau mehr als drei Jahre er- und überlebt hat, der gehört zu den wichtigsten Zeugen des Grauens des Holocaust - und ist für sein Leben gezeichnet.

    1979/80 veröffentlichte er auf Deutsch seinen Zeugen-Bericht „Sonderbehandlung“: Erschütternd, schonungslos und mit geradezu literarischer Wucht erzählt er von seiner Lagerzeit, beschreibt Täter und Opfer und gibt den Blick frei ins Herz der Finsternis. Es handelt sich dabei um die erste authentische Gesamtdarstellung der Geschichte des Sonderkommandos. Wer Müller, als einzigen Zeugen des Sonderkommandos, in Claude Lanzmanns Film „Shoah“ gesehen hat, vergisst sein Gesicht, seine Stimme nicht.

    Nach der Veröffentlichung 1980 gab es massive Bedrohungen durch Alt- und Neo-Nazis, so dass Müller nie einer deutschen Neuausgabe zustimmt. Zum 100. Geburtstag 2022 nun macht seine Familie eine kommentierte Neuausgabe möglich.“

    Dieses Buch hier ist eine Art Mahnmal, ein Gedenken an Filip Müller und all die anderen europäischen Juden, die in den KZ‘s leiden oder gar ihr Leben lassen mussten. Zugegeben, wer sich mit der Thematik befasst, erliest immer wieder harte Kost, hier wird es noch eine Spur härter, so jedenfalls mein Empfinden. Müller erzählte hier klar und deutlich was er gesehen hatte, was ihm angetan wurde, was er fühlte und durchlitt. Er hat all das überlebt und es gleicht mehr als einem Wunder. Er beschreibt sein Seelenleben, seine Gedanken aus dieser Zeit ganz offen und ja, vieles ist hier schwer zu ertragen.

    Ich will hier gar nicht zu viel „verraten“ aber das Buch lohnt sich auf jeden Fall zu lesen. Danach muss man seine eigenen Gedanken erstmal sortieren und all das Gelesene sacken lassen. Filip Müller hat hier ein besonderes Werk veröffentlicht, welches nun im Jahr 2022 wieder eine Neuauflage erfährt. Dafür gibt es 5 Sterne!

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