Die jungen Bestien
Seit seiner Kindheit ist Simon Leyland von Sprachen fasziniert. Gegen den Willen seiner Eltern wird er Übersetzer und verfolgt unbeirrt das Ziel, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden. Von London folgt er seiner Frau Livia nach Triest, wo sie einen Verlag geerbt hat. In der Stadt bedeutender Literaten glaubt er, den idealen Ort für seine Arbeit gefunden zu haben – bis ihn ein ärztlicher Irrtum aus der Bahn wirft. Doch dann erweist sich die vermeintliche Katastrophe als Wendepunkt, an dem er sein Leben noch einmal völlig neu einrichten kann.
'Welcome home, Sir!' - mit diesen Worten wird Simon Leyland am Londoner Flughafen begrüßt, nachdem er Triest, der Stadt, die für viele Jahre sein Lebensmittelpunkt war, vorerst den Rücken gekehrt hat. Er zieht in das Haus eines verstorbenen Freundes, der Umzug ein Symbol seines neuen, seines zweiten Lebens.
Aufgrund einer fatalen Fehldiagnose hat Simon Leyland den von seiner verstorbenen Frau geerbten Verlag verkauft und muss sich nun neu orientieren. Als gelernter Übersetzer mangelt es ihm nicht an Arbeit, doch was genau erhofft sich Simon nun von der wider Erwarten geschenkten Lebenszeit?
Der Austausch mit alten und neuen Freunden, mit seinen beiden Kindern, mit ehemaligen Kollegen*innen und vor allem mit seiner verstorbenen Frau soll Klarheit in Simons Gedanken- und Gefühlswelt bringen. Der Übersetzer hat sich angewöhnt, wichtige Episoden, Geschehnisse und Überlebungen mit seiner Frau zu teilen und schreibt ihr dazu Briefe - im Grunde ein ins Jenseits gerichtete Tagebuch.
Simon Leyland erweist sich als genauer Beobachter - sowohl sein eigener jeweiliger Zustand als auch die äußeren Geschehnisse sowie die Verhaltensweisen und Motive der ihn umgebenden Menschen werden detailliert und wortgewandt wiedergegeben und durchleuchtet. Ein sehr intellektuell anmutender Prozess, der die Liebe zum gesprochenen und geschriebenen Wort offenbart - und das gerne auch in verschiedenen Sprachen.
Dabei kommt der Leser den einzelnen Figuren punktuell durchaus nah, gerade wenn es um emotional aufwühlende Themen geht. Doch sie bleiben irgendwie trotz allem eindimensional, sind nur insoweit greifbar, wie es für die einzelnen Themen wichtig ist. Und derer gibt es viele. Angefangen beim Leben selbst: was fängt man mit der Lebenszeit an, gäbe es eine Alternative zum derzeitigen Lebensentwurf, was wäre, wenn man einzelne Weichen anders gestellt hätte? Was bedeuten die Begegnungen mit anderen Menschen für das eigene Leben?
Die Rollen als Vater, Ehemann, Freund und Kollege stehen hier ebenso auf dem Prüfstand wie die Sprachvirtuosität auf der einen Seite und die zeitweilige Sprachlosigkeit in zwischenmenschlichen Begegnungen auf der anderen. Was bedeutet Heimat und wie findet man heraus, wo das ist? Das Thema der Gefängnisstrafe taucht hier mehrfach auf, ebenso wie die Frage nach einer Legitimation eines Tötens auf Verlangen. Ein breites Spektrum also, hier sicher nicht vollständig aufgelistet, was das Anspruchsvolle des Romans verdeutlicht.
Die Bedeutung der Sprache sowie die Liebe zu ihr, intellektuell-philosophische Lebensthemen und zwischenmenschliche Begegnungen - das sind im Kern wohl die drei Säulen des Romans. Der Erzählfluss ist langsam, behäbig fast, was aber angesichts der Sprachgewaltigkeit und Detailverliebtheit auch notwendig scheint. Mühsam und teilweise auch nervig erschienen mir allerdings die ständigen Wiederholungen von bereits Gesagtem. Sowohl in Gesprächen als auch in den Briefen an seine verstorbene Frau erläutert Simon Leyland häufig Aspekte, die dem Leser zuvor bereits in aller Ausführlichkeit präsentiert wurden.
Alles in allem ein leiser Roman, der das Lesen entschleunigt, der philosophische Ansätze bereithält, der zum Nachdenken anregt und der den Leser schließlich mit einem leisen Lächeln entlässt...
© Parden
Seit seiner Kindheit ist Simon Leyland von Sprachen fasziniert. Gegen den Willen seiner Eltern wird er Übersetzer und verfolgt unbeirrt das Ziel, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden. Von London folgt er seiner Frau Livia nach Triest, wo sie einen Verlag geerbt hat. In der Stadt bedeutender Literaten glaubt er, den idealen Ort für seine Arbeit gefunden zu haben – bis ihn ein ärztlicher Irrtum aus der Bahn wirft. Doch dann erweist sich die vermeintliche Katastrophe als Wendepunkt, an dem er sein Leben noch einmal völlig neu einrichten kann.
Fazit:
Schön finde ich, dass die Geschichte bzw. die Message auf sich selber überleitbar ist - nachdenken, wie wichtig manche Dinge wirklich sind - erst an einem Wendepunkt merkt man oft, wie unwichtig diese Dinge sind.
Eine schöne, sanfte, ruhige Geschichte die aber einen tollen Mehrwert hat.
Der Sprecher passt perfekt zur Geschichte - es war wunderbar der Erzählung zu lauschen.
Das Gehörte bleibt lange im Gedächtnis, insbesondere da es ein Buch mit enormen Tiefgang ist. Meine Erwartungen wurden erfüllt.
Amitav Ghosh hat mit „Die Inseln“ ein literarisches Buch über Klimawandel und Migrationsbewegungen in heutiger Zeit geschrieben. Geschickt verwebt er dabei die alte bengalische Legende eines Kaufmanns, der vor der Schlangengöttin Manasa Devi flieht, mit politischen und klimatischen Begebenheiten des 17. Jahrhunderts und den globalen Umweltproblemen unserer Zeit.
Zwei wichtige Schauplätze sind die Mangrovenwälder Südindiens und Bangladeshs sowie Venedig - also Orte, die durch den steigenden Meeresspiegel unmittelbar bedroht sind. Hauptprotagonist Deen Datta liebt alte Bücher und Geschichten. Eines Tages besucht er einen tief in den Mangrovenwäldern verborgenen Schrein der Schlangengöttin. Dort kommt es zu einem Zwischenfall, in dessen Folge sich eine spannende Geschichte voller Tragik, Mythologie und Magie entwickelt. Gemeinsam mit seinen Freunden löst Deen Stück für Stück die Rätsel der nur mündlich überlieferten Legende und findet zahlreiche Parallelen im Hier und Jetzt. Orte der Handlung liegen mal in Asien, mal in Nordamerika oder auch in Europa. Die Folgen des Klimawandels betreffen unseren ganzen Planeten und sind allgegenwärtig. Es kommt zu Waldbränden, Stürmen, Überschwemmungen. Wale stranden, Menschen und Tiere befinden sich auf der Flucht, sind auf der Suche nach anderen Lebensräumen. Von den meisten Menschen werden diese dramatischen Änderungen und Warnsignale des Klimawandels jedoch kaum wahrgenommen bzw. verdrängt - das Leben geht weiter wie bisher. Auch die Weigerung europäischer Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen und Seenotrettung sind hochaktuelle Themen des Romans. Amitav Ghosh verbindet auf großartige Weise Vergangenheit und Gegenwart, zeigt globale Verflechtungen auf und verweist nachdrücklich auf die drängendsten Probleme unsere Zeit. Der Roman ist gewürzt mit einer gehörigen Portion Mystik. Visionen und „Übernatürliches“ haben ihren selbstverständlichen Raum in dieser Geschichte, die sich dadurch in die Tradition eines magischen Realismus stellt. Eine beeindruckender Roman, der die fünf Sterne nur knapp verfehlt, da er mir an einigen Stellen etwas zu konstruiert ist.
Zurück zur Empfindsamkeit
Die Lektüre von Gerd Koenens "Das rote Jahrzehnt" war Anlass für mich, nach mehr als 25 Jahren Peter Schneiders "Lenz" erneut zu lesen. Ähnlich dem Büchnerschen Lenz gerät Schneiders Lenz in eine Sinnkrise, die ihn die gewohnte Umgebung fliehen lässt, in seinem Fall in Richtung Italien.
Lenz, ein engagierter Linker in der unmittelbaren Nach-APO-Zeit, gerät, nachdem ihm seine Freundin verlassen hat, in eine tiefe Sinnkrise. Sein politisches Engagement wird immer mehr zu einer unpersönlichen, entfremdeten Beschäftigung, auf neudeutsch würde man heute Hirnwichserei sagen. Die Begriffe entgleiten ihm, geben nicht das wieder, was er fühlt. Als er Ernst macht und als Hilfsarbeiter in einen Betrieb eintritt, verstehen ihn seine Genossen, im theorielastigen Marxismus irgendeiner Provenienz verhaftet, nicht mehr. Doch auch die Arbeiter, deren Nähe er sucht, lehnen ihn ab und verstehen nicht, warum er, der mit seinem Studium Karriere machen könnte, sich in die Niederungen der Arbeitswelt begibt.
Die avantgardistischen Kreise, in denen er sich bewegt, werden ihm zunehmend suspekt, weil sie sich in linken Theorien ergehen, aber letztendlich nicht mit dem sogenannten kleinen Mann, für den sie sich vorgeblich einsetzen, verstehen. Stattdessen möchten sie den Arbeiten den Weg zum Glück vorschreiben, den sie in einer diffusen Revolution sehen. Lenz flieht nach Italien und wird dort in Rom in den gleichen Kreisen herumgereicht. Auch hier ergehen sich kommunistische Milliardäre (man denkt unwillkürlich an Feltrinelli) über die Arbeiterklasse, was er mit dem Vorwurf kontert, dass sie, nachdem sie die ökonomische Vorherrschaft zu verlieren drohten, nun die politische Vormundschaft über die Abhängigen übernehmen wollten. Erst im Norditalien gelingt es Lenz durch die Beobachtung seiner Mitstreiter, die Leichtigkeit des Seins mit den politischen Auseinandersetzungen um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Nach seiner Ausweisung nach Deutschland scheint er geläutert und mit sich selbst im Reinen zu sein.
Schneiders Lenz ist ein Musterbeispiel für die "Neue Innerlichkeit" der siebziger Jahre. Dem Autoren ist es gelungen, nach dem Verfassen verquaster Pamphlete für die APO zu einer lyrischen Sprache zurückzukehren und Gefühlen den Vorrang vor der Theorie einzuräumen, insofern dürfte der "Lenz" auch ein Stück Autobiographie enthalten.
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