Kopfkissenbuch (Manesse Bibliothek, Band 14)
Der stärkste Fünfzehnjährige der Welt ist Kafka Tamura. Seine Mutter ist mit seiner Schwester schon lange weg, an die beiden hat er keine Erinnerung mehr. Kafka lebt bei seinem Vater, einem begnadeten Bildhauer, doch der interessiert sich nicht für seinen Sohn. Kein Wunder, dass der schüchterne und wortkarge Junge, der auch in der Schule keine Freunde hat, von Zuhause abhaut. Kafka nimmt uns sodann mit in eine Welt, die weit weg vom Vater existiert. In dieser Welt zählen vorerst nur die Bücher der Komura-Gedächtnisbibliothek und sein Sport.
Bis dahin kann man der Geschichte gut folgen und alles ist verständlich - auch, wenn sich schon erste Fragen auftun. Aber wie es bei Murakami üblich zu sein scheint, häufen sich die Rätsel zusehends und man wird mehr und mehr verwirrt. Man findet sich schon bald in einer Welt, in der nicht klar ist, was Traum, was Wirklichkeit, was Fantasie und was Metapher ist. Ich habe das Buch in einer Leserunde gelesen und auch meine Mitleser (zwei davon noch Murakami-Neulinge) waren häufig ratlos, was es alles auf sich hat mit den Geschehnissen. Es blieb uns nicht viel anderes übrig, als zu rätseln, anzunehmen und zu spekulieren.
So zum Beispiel, warum es Fische und Blutegel vom Himmel regnet. Warum möchte ein Mann namens Johnnie Walker unbedingt eine "besondere Flöte" aus Katzenseelen herstellen? Wie kommt es, dass Kafka Tamura Bewusstseinsaussetzer hat und was hat Nakata, ein alter Mann, der sich selbst als dumm bezeichnet und die Katzensprache spricht, mit Kafka zu tun? Das sind nur ein paar wenige der unzähligen Fragen, die wir uns während des Lesens gestellt haben.
Literatur, klassische Musik, aber auch die Sehnsucht nach der Mutter sind Kernthemen in diesem Buch. Immer wieder stellt sich Kafka die Frage, ob diese oder jene Frau seine Mutter sein könnte. Warum er so mutterfixiert ist, wird schnell klar. Zusammen hängt das nämlich mit einer Prophezeiung, die ihm sein Vater immer und immer wieder eingebläut hat - und diese Prophezeiung verheißt nichts Gutes, schließlich erinnert sie sehr stark an die Geschichte von Ödipus.
Die Buchfiguren sind durch die Bank mal wieder herrlich einzigartig und teilweise sehr bizarr gezeichnet. So hat zum Beispiel auch Colonel Sanders - der Kentucky Fried Chicken-Typ - (nicht, dass ich den vorher gekannt hätte) einen Platz in der Geschichte bekommen. Und nicht zu vergessen: Katzen. Katzen sind für den Fortlauf enorm wichtige Wesen. Sie sind es, die vermitteln, Wichtiges mitteilen und die Handlung somit voranbringen. Murakami schreckt auch in diesem Buch (habe von ihm schon "Mister Aufziehvogel" intus) nicht davor zurück, blutige und brutale Szenen einzubauen. Besonders, wenn man ein großer Katzenliebhaber ist, könnten diese Szenen auf einen zartbesaiteten Leser verstörend wirken und sind deshalb vielleicht eher mit Zurückhaltung zu genießen.
Ich persönlich habe es sehr genossen, mit meinen Mitlesern zu spekulieren. Ich hatte großen Spaß daran, Schlüsse aus der Handlung zu ziehen und mir zu überlegen, wie oder was genau Murakami uns mit all dem vermitteln wollte. Auch, wenn ich mit meinen Annahmen wahrscheinlich oft falsch gelegen habe, hat es mich dennoch begeistert und mir einige schöne Lesestunden beschert. Jedem ist das Buch bestimmt nicht zu empfehlen, dafür ist Murakamis Art zu erzählen einfach zu speziell und teilweise zu abgehoben. Aber wer einmal einen Murakami gelesen und gemocht hat, kommt um dieses Exemplar sicher nicht drumherum.
Falls ich mich nicht schon entschieden hätte, als Autorin zu arbeiten, nach diesem Buch müsste ich es.
Murakami lässt den Leser ein bisschen hinter seinen Schreiballtag blicken und die Energie, die es ihn kostet. Dafür hat er sich einen Ausgleich geschaffen, das Laufen. Hier gibt er sich aber nicht mit kleinen Joggingrunden zufrieden, nein, es müssen Marathons sein und seit einiger Zeit auch Triathlons...
Wer schon einmal so eine Laufveranstaltung mitgemacht hat, kann die Gefühle, die er während des Laufens hat, gut nachvollziehen. Die Zweifel und der Stolz, wenn es dann geschafft ist.
Trotz aller Leistung schafft er es, nicht arrogant daher zu kommen sondern berichtet auch von Momenten des Scheiterns. Auch erzählt er ein bisschen von seiner Lebensgeschichte und wie er sich gewandelt hat. Vom Besitzer eines Clubs zur Studienzeit mit langen Nächten hin zu einem Autor der diszipliniert morgens um 5 Uhr aufsteht.
Abgerundet wird das Buch noch mit einigen Fotos des Autors beim Laufen und beim Radfahren.
Ein sehr persönliches und schönes Buch.
So viel ist sicher, aus einem Stoff, wie ihn der Roman "In Liebe, dein Vaterland" des Japaners Ryū Murakami beschreibt, werden in Hollywood die reißerischsten Action-Filme gedreht:
Eine nordkoreanische Soldatentruppe bringt das Baseball-Stadion der japanischen Stadt Fukuoka in seine Gewalt und nimmt somit mal eben 30.000 Geiseln. Bei den Hollywoods würde irgendwann eine heldenhafte Truppe, angeführt von einem kernigen Supermann, dem Ganzen ein Ende bereiten und die Geiseln befreien, natürlich nicht ohne spektakuläre Knalleffekte. Auf jeden Fall würden am Ende die Guten siegen. Denn die Guten siegen immer.
In "In Liebe, dein Vaterland (Teil I)" ist jedoch nicht ganz einfach zu entscheiden, wer hier die Guten sind. Daher lässt sich auch nicht vorhersagen, welchen Ausgang die Geiselnahme und die daraus resultierenden Folgen nehmen werden. Am Ende dieses Buches, welches das erste von zwei Teilen ist, sowieso nicht. Wir müssen schon bis zum Ende des zweiten Buchs (Der Untergang) warten, um zu wissen, wie die ganze Chose ausgehen wird.
"Der Plan war unschlagbar und Pak Yong-su konnte seine Aufregung kaum zügeln. Die Landsleute im Süden würden verschont bleiben, und die Heimat auch. Der Krieg würde auf überseeischem Territorium stattfinden. Blut würde fließen und Städte würden zerstört, doch nur in jenem Land, das einst das Vaterland beherrscht, zahllose Menschen zwangsumgesiedelt und damit die Ursache für die Teilung geschaffen hatte. Im verhassten Japan."
Die Geiselnahme gehört im Übrigen zu einem Plan, der am Ende vorsieht, den Süden Japans in eine Provinz Nordkoreas zu verwandeln. Es bleibt also nicht bei der Handvoll Nordkoreaner, die sich in Fukuoka breit machen. Sie machen nur den Anfang. Kurz nach dem Überfall auf das Baseball-Stadion treffen auch schon die nächsten nordkoreanischen Spezialeinheiten ein und besetzen das Zentrum der Stadt. In verblüffender Geschwindigkeit richten sich die Truppen hier ein, stellen ihre Forderungen und diktieren den Verantwortlichen der Stadt, wie die Übernahme verlaufen soll. Die Politiker sind überfordert, ganz Japan ist überfordert. Denn dieses Land hat seit geraumer Zeit andere Probleme, insbesondere seitdem der ehemalige Freund USA sich von Japan abgewandt hat und mit China und Nordkorea sympathisiert. Japan steht am wirtschaftlichen Abgrund, was sich in extremem Ausmaß bei der Bevölkerung bemerkbar macht. Hinzu kommt, dass Japan mit der militärischen Präzisionsarbeit der Nordkoreaner überfordert ist. Japan ist nicht gewohnt, mit Militärschlägen konfrontiert zu werden. Die Zeiten, in denen das japanische Militär gefordert war, liegen schon Ewigkeiten zurück.
"Der Wunsch aufzugeben breitete sich wie ein Gestank nach faulen Eiern am Runden Tisch aus. Aufgeben bedeutete, sich einer überlegenen Macht zu unterwerfen und jeden Gedanken an Widerstand fallen zu lassen. An die Macht kam man durch Gewalt, und durch Gewalt hielt man sie aufrecht. Menschen, die lange im Frieden gelebt hatten und nicht an Gewalt gewöhnt waren, empfanden sie als unmenschlich und konnten sich nicht einmal vorstellen, wie es war, Gewalt ausgesetzt zu sein. Und wer keine Vorstellung von Gewalt hatte, konnte sie auch nicht anwenden."
Japans Politiker-Elite reagiert mit Hilflosigkeit auf die Bedrohung. Und was ein guter (japanischer) Politiker ist, der weist erstmal jegliche Verantwortung von sich und sucht sich mindestens einen Schuldigen, der bei etwaigen Fehlentscheidungen geopfert wird. Das Wohl der Bürger von Fukuoka steht hintenan. Zunächst gilt es, die eigene Haut und Polit-Karriere zu retten.
Die Besetzung der Stadt erfolgt anfangs relativ unspektakulär. Die Besatzer erweisen sich als sehr höflich und versuchen, die Unannehmlichkeiten für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Ein feiner Zug von ihnen, der von den Einwohnern wohlwollend registriert wird. Doch sollte man die Nordkoreaner nicht unterschätzen. Sie sind nämlich nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel, sobald sie auf den kleinsten Widerstand stoßen.
Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Murakami konzentriert sich dabei auf mehrere Gruppen, die an dem Szenario beteiligt sind. Diese Gruppen können nordkoreanische Militärgruppen, japanische Politiker, Journalisten etc. sein. Irritierend ist dabei eine Gruppe von kriminellen jungen Japanern, teilweise mit terroristischem Hintergrund. Diese Gruppe spielt zu Beginn des Roman eine Rolle, taucht aber später nicht mehr auf. Diese Japaner scheinen die Underdogs in der Geschichte zu sein. Eine Gruppe von kriminellen Außenseitern, die in der japanischen Gesellschaft keinen Fuß fassen konnten, aber das Zeug dazu haben, hinterher als Helden an dem Geschehen in Fukuoka mitzuwirken. So liefe das zumindest in Hollywood. Und man hofft, dass sich diese Entwicklung auch bei Murakami findet. Doch, ob es dazukommt, wird sich erst im zweiten Teil dieser Geschichte zeigen. Denn wie gesagt, diese Gruppe findet im Verlauf des ersten Teils nicht mehr statt, aber dennoch spürt man, dass sie eine besondere Bedeutung haben werden.
Der erste Teil endet mit dem Belagerungszustand in Fukuoka und dem Moment, wo die netten Besatzer zu Herrschern werden und nicht mehr so freundlich sind, wie sie ursprünglich waren.
Dieser Roman wird als Dystopie, Satire und Politthriller bezeichnet. Das kann ich nur unterschreiben, denn dieser Roman ist so vielschichtig, dass man ihn auf keinen Fall einem einzigen Genre zuordnen kann. Diesen Roman zu lesen verursacht Spannung, ungläubiges Kopfschütteln, aber auch Unwohlsein bei dem Gedanken wie schmal die Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität ist. Auf jeden Fall ist er ein grandioser Roman mit einem ungeheuren Spannungsaufbau, der mich neugierig auf den 2. Teil macht.
Leseempfehlung!
© Renie
Unterschiedliche Wirkungen, gemischte Gefühle...
Wer Lust hat, einmal weit über den Tellerrand hinauszublicken, sollte dieses überwiegend interessante und oft amüsante Werk lesen und sich in eine völlig andere Zeit und Kultur begeben.
Beim „Kopfkissenbuch“ wird der Leser von der einstigen Hofdame Sei Shōnagon 1000 Jahre zurückkatapultiert und in den Kaiserpalast Japans entführt.
Es handelt sich hier nicht um einen Roman, sondern um eine in Kapiteln gegliederte Aneinanderreihung von Listen, Erinnerungen und Gedanken der Autorin.
Sie vermittelt in einer Art Brainstorming tiefe Einblicke in den Palastalltag. Der Leser bekommt eine gute Vorstellung von den Gepflogenheiten bei Hofe, von der höfischen Etikette, von der Bedeutung von Gewändern und erlesenen Stoffen, von buddhistischen Vorträgen, von Dichtkunst und von Festtagen sowie von den Haltungen, Gedanken und Gefühlen der Menschen, die zu den sogenannten Ranghöheren im Palast gehörten.
Vor dem geistigen Auge entstehen lebendige Bilder, Szenen und Filme.
Formal besteht das Buch aus 3 verschiedenen, nicht chronologisch geordneten, sich abwechselnden Arten von Kapiteln:
-Auflistungen konkreter Dinge
-Abschnitte, in denen sie Gedanken und Meinungen anhand von Beispielen kundtut
-Kapitel, in denen sie Erlebnisse schildert.
Die Auflistungen fand ich nur mäßig interessant und deshalb langweilten sie mich. Zum Teil war es da dann auch unnötig, zu den Anmerkungen nach hinten zu blättern, weil sie keine besonders erhellende Aussage hatten.
Es waren dies z. B. Auflistungen von Bergen, Schluchten, Brücken, Kräutern, Blumen, Tieren, Bäumen...Diese Listen überflog ich irgendwann nur noch recht oberflächlich.
Die nach dem gleichen Schema aufgebauten Abschnitte mit Überschriften wie „Bange Gefühle“, „Gegensätzliches“, „Was mit den Erwartungen nicht im Einklang steht“, „Unausstehliches“, „Worüber ich mich totärgern könnte“... interessierten, faszinierten und amüsierten mich nicht zuletzt deshalb, weil so viele Parallelen und Überlappungen zwischen heute und damals festzustellen waren.
Um einen Eindruck von diesen Abschnitten zu vermitteln, zitiere ich im Folgenden ein paar Kostproben:
„Bange Gefühle weckt auch ein Kleinkind, das noch nicht reden kann, wenn es sich trotzig gebärdet und schreit, ohne sich auf den Arm nehmen zu lassen.“
„Ein Besucher, der genau dann kommt, wenn ich dringende Dinge zu erledigen habe, und dann endlos daherschwatzt ist sehr unangenehm!“
„Wenn mir bei einem Brief, ganz gleich ob ich ihn von mir aus oder als Antwort auf einen erhaltenen Brief verfasst habe, der eine oder andere viel treffendere Ausdruck erst einfällt, wenn ich ihn schon abgeschickt habe - dann könnte ich mich totärgern. “
Die Kapitel, in denen Sei Shōnagon Erlebnisse an ihre Zeit als Hofdame erinnert und beschreibt, haben mich gefesselt und begeistert.
Das Werk ist in gut lesbarer, flüssiger, lebendiger einfacher und direkter Sprache geschrieben, wobei die verschiedenen Rangbezeichnungen und japanischen Namen sowie das Hin- und Herblättern zu den meist hilfreichen, aber bisweilen überflüssigen Anmerkungen am Ende des Buches, die Lektüre immer wieder ins Stocken bringen.
Die selbstbewusste, ca. 30jährige Autorin ist eine äußerst interessante Frau, die scharfsinnig beobachtet, kein Blatt vor den Mund nimmt und schreibt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie hat klare Prinzipien, unumstößliche Ansichten und unverrückbare Meinungen.
Sie hat zu wirklich allem etwas zu sagen, ist schlagfertig und gewitzt.
Manchmal musste ich wegen der herablassenden, unsensiblen Art der Autorin und der damaligen höherrangigen Hofleute schlucken.
Nicht selten musste ich schmunzeln und ab und zu war ich, wie bereits oben erwähnt, gelangweilt.
Die konservative und traditionsbewusste Autorin war Tochter eines Lyrikers und hatte nicht nur eine Vorliebe, sondern ein herausragendes Talent für Wortspiele und Gedichte.
Im damals beliebten Stehgreifdichten war sie äußerst bewandert.
Sie war sehr modebewusst und extrem belesen.
Sehr interessant und hilfreich für ein besseres Verständnis sind Nachwort und Glossar.
Summa summarum:
Ich bin froh, dass ich mir dieses Werk vorgenommen habe, weil ich japaninteressiert bin, viel Neues gelernt habe und überwiegend recht gut unterhalten wurde.
Und jetzt bin ich froh, dass ich es beendet habe und dass ich es beiseite legen und mich wieder einem „richtigen Roman“ zuwenden kann.
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