Die Vernunft und ihre Feinde

Das Jahr 1923 in Deutschland ist das Jahr, in dem Grundsteine gelegt werden für die nachfolgenden berühmten Goldenen Zwanziger.
Es ist ein Jahr, in dem es vielen Menschen außerordentlich schlecht geht,
der 1. Weltkrieg ist zwar vorbei, doch durch die nachfolgenden Zwänge ist Deutschland in einer schlimmen Lage.
Der Autor beschreibt dieses Jahr in zwölf Monatsabschnitten, beginnend mit dem Januar.
In knappen prägnanten Notizen, erzählt er Markantes aus dem jeweiligen
Monat. Wir begegnen fast jedem, der nicht nur in diesem Jahr mehr oder weniger Rang und Namen hatte, Künstlern und ihren Werken, Politikern, Adeligen, Kriegsgewinnlern und Verlierern, Reichen und Armen, Saboteuren und Märtyrern und nicht zuletzt dem deutschen Kaiser.
Das Brot wird von Tag zu Tag teurer. Im Januar kostet es 250 Mark, im
Dezember erreicht es die bizarre Summe von 390 000 000 000 Mark!
Für Interessierte ein Leckerbissen. Manches könnte auch den Geschichtsunterricht interessanter machen.
Deutschland im Jahr 1923. Dieses Jahr wird ein sehr prägendes Jahr für die Geschichte werden. Die Franzosen und die Belgier haben das Ruhrgebiet besetzt. Hitler begeht seinen Putschversuch in München. Im Oktober kostet ein Brot 1.743.000.000 Mark. Die Arbeitslosenquote steigt stetig. Es gibt blutige Aufstände. Aber neben all diesen schrecklichen Sachen blüht das Kulturleben regelrecht auf.
Christian Bommarius versteht es, die Geschichte dieses Jahres wirklich spannend zu erzählen. Jedem Monat ist ein Kapitel gewidmet. Man weiß auch sofort, was einen erwartet, da jedem Kapitel eine kurze Zusammenfassung vorausgeht.
Man erfährt Interessantes aus dem Alltagsleben der Menschen, aus dem Kultur- und Nachtleben, Politik und Wirtschaft. Alles sehr verständlich erzählt. Ganz am Ende gibt es noch ein Personenregister. Hier erfährt man, wie es mit den im Buch genannten Personen weitergegangen ist. Das fand ich besonders gut, weil man nicht selber nachforschen muss. Sehr durchdacht.
Überhaupt ist das ganze Buch schön durchdacht und wird für jeden Geschichtsinteressierten eine Freude sein.
Autor
Christian Bommarius
Inhalt
Die junge Weimarer Republik im Krisenjahr 1923.
Eckdaten, die das Chaos aufzeigen:
Der Erste Weltkrieg ist beendet und die Weimarer Republik muss den Versailler Vertrag akzeptieren.
Deutschland wird kleiner, wird verpflichtet, die Reparationen zahlen und die "Kriegsschuld" anzuerkennen.
Deutschland kann die regelmäßig vereinbarten Zahlungen nicht einhalten. Frankreich und Belgien besetzen daraufhin das Ruhrgebiet gestützt auf das Londoner Ultimatum.
Es folgen Streiks, die zu einer Hyperinflation führen. Die deutsche Wirtschaft ist durch Produktionsausfälle und Generalstreiks lahmgelegt. Deutschlands Wirtschaft liegt in Scherben.
In Bayern wird am 26. September 1923 der Notstand ausgerufen, nach Gerüchten über einen kommunistischen Umsturz.
„Ende Oktober marschierte die Reichswehr in Thüringen und Sachsen ein und schlug den kommunistischen Aufstand nieder, bevor er überhaupt angefangen hatte.“
Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/notstand-in-bayern-1923-a-951270.html, 09.03.2022
Am 9. November 1923 versucht Adolf Hitler in München zum ersten Mal, politische Macht zu erlangen. Hitler, unterstützt von Ludendorff, setzt den „Marsch nach Berlin“ in Gang. Doch sein „Marsch nach Berlin“ wird an der Feldherrnhalle auf dem Odeonsplatz von der Polizei blutig niedergeschlagen.
Erst 1924 beginnt in Deutschland eine Phase relativer Stabilität. Für die Republik ist es bis 1929 eine Zeit innenpolitischer Ruhe mit wirtschaftlichem Aufschwung und kultureller Blüte. Die "Goldenen Zwanziger" enden mit der im Oktober 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise, in der Armut und Verzweiflung schnell um sich greifen. Mit Erfolg entfesseln die Gegner der Weimarer Republik von rechts und links eine beispiellose Agitation gegen den Staat, der keine Mittel gegen die wirtschaftliche und politische Krise findet.
Neben den politischen Ereignissen pulsierte das Leben.
Berlin im Jahr 1923 eine Weltstadt im Rausch und voller sozialer und politischer Spannungen.
„Im Rausch des Aufruhrs“ werden die verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Facetten des Jahres 1923 erzählt.
Sprache und Stil
Kurze Texte ergeben über einen Zeitraum von zwölf Monaten ein bunt gemischtes Bild der Weimarer Republik und Politik, Wirtschaft und Kultur der Zeit.
Fragmentarisch werden über viele Schriftsteller aus der Zeit kurz berichtet, Stefan Zweig, Hans Fallada, Thomas Mann oder auch Bertolt Brecht.
„Joseph Roth traut seinen Augen nicht. Er sitzt im »Romanischen Café« an der Gedächtniskirche, dem angesagtesten Boheme-Kaffeehaus Berlins, also Deutschlands, seit das »Café des Westens« am Kurfürstendamm, auch bekannt als »Café Größenwahn« umgezogen ist und nun von der Boheme verschmäht wird.“ (S. 17)
Politische „Größen“ der Nazizeit sind noch nicht bekannt und leben ganz normal, wie zum Beispiel Goebbels noch bei seinen Eltern in Rheydt lebt.
„Am 2. Januar nimmt der 25 Jahre alte Dr. Joseph Goebbels in einer Filiale der Dresdner Bank in Köln seine Arbeit auf. Allerdings unter Protest. […] Der junge Mann aus Rheydt, der noch immer bei seinen Eltern lebt, fordert vom Schicksal eine Karriere als Schriftsteller oder Journalist.“ (S. 16)
Alltägliche Gegebenheiten werden erwähnt, insbesondere die Inflation in allen Bereichen. Die extreme Steigerung für den Fahrschein der Berliner Straßenbahn führt zur Empörung der Berliner über die „»unersättliche Straßenbahn«.“
„Der Fahrschein für die Berliner Straßenbahn hat am, 16. Juli 3000 Mark gekostet, am 30. Juli 6000 Mark und am 6.. August 10 000 Mark, am 14. August 50 000 Mark und am 2o.August 100 000 Mark.“ (S. 197)
Die extreme Steigerung der Inflation wird an diesem Beispiel überdeutlich.
Christian Bommarius lässt die Leser wie durch ein farbiges Kaleidoskop auf die damalige Gesellschaft blicken, episodenhaft und bunt gemischt.
Die einzelnen Monate werden durch Bilder getrennt, die die Atmosphäre und den Zeitgeist des Jahres widerspiegeln. Jede zweite Seite enthält eine kurze, aussagekräftige Überschrift, die einen Aspekt herausstellt.
Im letzten Kapitel „Was geschah“ gibt der Autor Informationen zu den Personen, die im Verlauf des Romans dargestellt werden.
Das Cover zeigt ein tanzendes Paar in der damaligen typischen extravaganten Kleidung.
Fazit
„Im Rausch des Aufruhrs“ gibt einen lebendigen Überblick über das Leben im Jahr 1923. Christian Bommarius hat mit seinem Buch ein Beispiel gebracht, wie Geschichte anschaulich und fesselnd geschrieben werden kann. Er zeigt das Jahr 1923 in seiner Ambivalenz zwischen Ende der Nachkriegszeit und als Auftakt der Zwanzigerjahre der Weimarer Republik in all seinen Facetten.
„Marcellus Schiffer zweifelt nicht länger: Die Zeit ist verrückt geworden.“ (S. 210)
Kurz nach der Flucht ihrer Eltern aus Mali wurde 1992 Aminata Touré in einer deutschen Unterkunft für Flüchtlinge geboren. Seit 2019 ist sie Vizepräsidentin des Landtages von Schleswig-Holstein. Als erste Afrodeutsche und jüngste Frau überhaupt.
„Wir können mehr sein“ ist Autobiografie und politisches Sachbuch zugleich und somit doppelt interessant und bemerkenswert. Aminata Touré berichtet nicht nur von ihrer Lebensgeschichte, sondern gibt auch Einblicke in die alltäglichen Geschäfte ihrer politischen Tätigkeit.
Die Politikerin zeigt großes Engagement und Leidenschaft für eine offene Gesellschaft, für Gleichbehandlung und Gleichberechtigung. Vehement tritt sie gegen jede Art von Diskriminierung auf.
„Wir können mehr sein als Gesellschaft…Wir müssen die unterschiedlichen Situationen und Hintergründe von Menschen sehen und respektieren, und im nächsten Schritt eben auch die jeweiligen Herausforderungen erkennen und daraus politische Forderungen ableiten. Nur so können wir die Idee eines Zusammenlebens formulieren, das tatsächlich gleichberechtigt ist.“
Ihr persönlicher und politischer Werdegang bedeutet ihr, dass dieser Weg gerade nicht allen Menschen gleichermaßen offensteht. Aminata Touré will nicht die Ausnahme von der Regel sein. Sie will ermutigen, die Regeln durchbrechen.
Ich halte dieses Buch für ein wichtiges Buch, das – vielleicht gerade junge Menschen – inspiriert, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Denn nichts und niemand ist unpolitisch.
Bücher von Politikern lese ich normalerweise nicht. Ich erwarte dort nichts Gutes. Schließlich wollen diese Leute gewählt werden. Und das ist in Ordnung so, ich habe Respekt vor Politikern (ok: nicht allen). Aber da gibt es für mich andere Wege, mich zu informieren. Dieser Politiker hier kommt ja aber irgendwie anders rüber, deshalb habe ich mal eine Ausnahme gemacht und mir sein Buch „Von hier an anders. Eine politische Skizze“ durchgelesen. Und wurde positiv überrascht (ok: nicht immer).
Robert Habeck breitet uns auf fast 400 Seiten seine Gedankenwelt aus. Und es ist wie bei Forrest Gump’s Pralinenschachtel: Man weiß nie was man bekommt. Mal ergeht er sich in komplexen Gedankengängen und haut Sätze raus wie „Als Gesellschaft konstituieren wir uns über die Interpretation geteilter Erfahrung“. Er zitiert aber auch viele andere schlaue Köpfe. Das finde ich erfrischend uneitel und ich habe viel gelernt und mir den ein oder anderen Namen gemerkt. Dann erzählt er von sich und seinen Erfahrungen. Auch sein Sprachstil ändert sich dann, er findet z.B., dass die Leute aus seinem Heimatdorf „einfach gute Typen“ waren. Und ab und zu macht er halt politische Sprüche, schließlich – wie gesagt – wird ja bald gewählt.
Von den vielen Dingen, die er im Rahmen dieser 400 Seiten streift, ist mir das Bild des Paternosters hängen geblieben. Das Bild besagt, dass der soziale Aufstieg der Einen unter Umständen einen sozialen Abstieg von anderen bedingt. Oder dass positive politische oder gesellschaftliche Änderungen auch mit nicht so positiven Konsequenzen in anderen Bereichen einhergehen. Diese „Anderen“ nicht zu vergessen, Ihnen Raum und Stimme zu geben, ist ihm ein ernstes Anliegen – ich halte ihn hier für sehr offen, ehrlich und authentisch. Und so „punktet“ er bei mir.
Nicht alles im Buch fand ich klasse. Ich hatte es schwer immer den roten Faden zu finden. Wie gesagt: eine Schachtel Pralinen! Aber weil es doch anders war als meine Erwartungen und ich viel gelernt habe und ihm dieses Denken „auch an die anderen“ abnehme, gebe ich gute 4 Sterne.
Das Buch handelt vom Hunger, nicht nur dem physischen, sondern auch dem nach Neuorientierung nach dem Zerfall alter Werte. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft spürten die Deutschen erstmals tatsächlich Hunger, denn bis fast zuletzt funktionierte das Auspressen der besetzten Länder, das es ermöglichte, dass die Deutschen selbst in den Kriegsjahren einen relativ hohen Lebensstandard beibehalten konnten. Die Folgen des von ihnen verursachten Krieges wurden erst ab der sogenannten Stunde Null, die tatsächlich keine war, deutlich. Lebensmittelknappheit, Wohnraum- und Brennstoffknappheit, all dies prägte das Leben der Überlebenden. Harald Jähner zeigt in "Wolfszeit" die Überlebensstrategien auf, die die deutsche Gesellschaft in der ersten Dekade nach dem Krieg entwickelte. Dazu gehörten unter anderem das bekannte Hamstern ebenso wie der Mantel des Schweigens, der über die nationalsozialistischen Untaten gebreitet wurde. Von da bis zur Selbstsicht, selbst verführte Opfer des Nationalsozialismus zu sein, war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Und das bereits fünf Jahre nach dem Holocaust ein rechtsgerichteter Politiker darüber nachsinnt, ob Hitler den richtigen Weg gewählt hat, das "Judenproblem" zu beseitigen, passt da nur gut ins Gesamtbild.
Die bekannten Probleme wurden durch die Millionen von Geflüchteten,Vertriebenen und displaced Persons verschärft, wobei sich schnell zeigt, das die im Nationalsozialismus verherrlichte Volksgemeinschaft eine Chimäre war. Mitgefühl mit den ehemaligen Opfern? Fehlanzeige. Mit den mittelos gewordenen Bewohnern der ehemaligen Ostgebiete? Dito. Wie schon Brecht festgestellt hatte, "Erst kommt das Fressen, dann die Moral". Futterneid und religiöse Vorurteile bestimmten zunächst die gegenseitige Sicht, langfristig führte die erzwungene Gemeinsamkeit aber etwas, was die Deutschen lange Zeit zuvor nicht geschafft hatten, nämlich das Überwinden landsmannschaftlicher und damit oft verbundener religiöser Vorbehalte.
All dies und noch viel mehr anschaulich zu beschreiben, ist das Verdienst Harald Jähners. "Der Neubeginn - neu gesehen" ist zwar ein etwas übertriebener Verkaufsslogan im Klappentext, denn für den Historiker wirklich bahnbrechend neu ist nichts des Dargestellten, aber es handelt sich tatsächlich um eine "eindrucksvolle Gesamtschau".
Ein Zauberlehrling und die Geister, die er rief
Thilo Sarrazin ist zweifelsohne ein Bestsellerautor – und er genießt es. 2010 lief er mir auf der Frankfurter Buchmesse zufälligerweise über den Weg. Für ein paar Sekunden drängten sich seine Fans um ihr, hielten ihm flehentlich »Deutschland schafft sich ab« zum Signieren hin, während ihn Bodyguards abschirmten. Er widersetzte sich, ließ sich nur widerwillig in eine Seitentür abdrängen. Ein merkwürdiger Glanz lag in seinen Augen, den ich erst jetzt verstehe, angesichts der autobiografischen Anmerkungen im neuesten Werk.
»Die Vernunft und ihre Feinde« ließ Sarrazin im August 2022 von Uwe Tellkamp präsentieren, einem zunehmend brauner werden Schwurbler – an sich schon ein Paradox, jedoch wird das Buch trotz derartiger Promotion wohl kaum die Millionenauflage eines vor hundert Jahren verfassten Bestsellers erreichen: https://en.wikipedia.org/wiki/Mein_Kampf#Sales
Auf den ersten Seiten seines neuen Buchs verurteilt Sarrazin Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine aufs Schärfste. Er ordnet sich in der politischen Mitte dar, klagt die ideologische Blindheit der Rechten und der Linken an, teilt gleichermaßen gegen rechte Corona-Verschwörungsmythen aus wie gegen linken Genderwahn. Sich selbst sieht er als kritischen Rationalisten, im jüdischen Philosophen Karl Popper und dessen 1944 erschienen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« https://de.wikipedia.org/wiki/Die_offene_Gesellschaft_und_ihre_Feinde. Fast möchte man glauben, Sarrazin habe sich vom Saulus zum Paulus gewandelt, sein neuestes Werk würde sich gegen »Falsche Propheten« wenden – den gleichnamigen Text veröffentlichte der jüdische Literatursoziologe Leo Löwenthal https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_L%C3%B6wenthal im Jahr 1947 und wurde in der deutschen Übersetzung von Susanne Hoppmann-Löwenthal 2021 neu aufgelegt.
Eingangs Sarrazins analysiert in »Die Vernunft und ihre Feinde« brillant jene Gründe, die heutzutage zur Popularität von FakeNews: Belesenheit spielt angesichts frei verfügbaren Wissen und Pseudowissen keine Rolle mehr. Musste man sich vor der Erfindung von Internet und Smartphone sein Wissen mühsam durch das Studium von Fachliteratur erwerben, so reicht heutzutage ein Mausklick bzw. Daumenwisch auf dem Smartphone. Für welche gefühlte Meinung auch immer lassen sich heutzutage Fakten bzw. so genannte »Alternative Fakten« zu finden. Angelehnt an die Philosophie Karl Poppers, dessen Verehrung er mit dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt teilte, sieht sich Thilo Sarrazin als Aufklärer, als Verteidiger und Beschützer der Demokratie. Irrationale und einzig dem Gefühl sich überlassende Gesellschaftsströmungen seien in gewissem Maße hinzunehmen, wenn eine Gesellschaft offenbleiben will. Jedoch müsse beim Volk ständig und immer wieder Freude an rationaler Wahrheitssuche geweckt werden.
Im autobiografischen Kapitel von »Die Vernunft und ihre Feinde« schildert der Autor jene harte akademische Disziplin, die ihm sein Vater auferlegte, beschreibt seine Mutter, Vertriebene aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs, im Gegensatz dazu als verschlossen, melancholisch und depressiv: ein vollkommen gegensätzliches Elternpaar ohne gemeinsame Lebensauffassung. Aufwachsend unter zuerst einmal ärmlichen Verhältnissen in einer westfälischen Kleinstadt zieht es sich früh in die Welt der Bücher zurück. Inspiriert vom Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit verlegt er sich auf die rationale Welt der Zahlen – womit wir auf Seite 45 seines Buches angelangt sind, einer m.E. zentralen Passage, die seinen eingangs geschilderten Erfolg auf der Frankfurter Buchmesse 2010 erklärt, zugleich jedoch all das ad absurdum führt, was er jetzt in 2022 entlarven will als »Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens«.
Die Hypothese, dass sich mit Mathematik die menschliche Psyche erfassen lässt, mag 1972 für den damals gerade einmal 27-jährigen Thilo Sarrazin verlockend gewesen sein. Hoffte er, auf diese Weise die unterschiedlichen Lebensauffassungen seiner Eltern zu überbrücken? Er führte damals nach Anleitung des Psychologen Hans-Jürgen Eysenck an sich selber einen Intelligenztest durch, richtete nach eigener Aussage sein späteres Leben danach aus und veröffentlichte die Studien 38 Jahre später »unbefangen und in wissenschaftlich einwandfreier Diktion« (Zitat Sarrazin 2022 Seite 45) in »Deutschland schafft sich ab«, seinem Durchbruch als deutscher Bestsellerautor. Auf dieses Buch kommt er immer wieder zurück, bleibt bei den zweifelsohne als rassistisch und unwissenschaftlich einzustufenden Thesen – wider besseren Wissens, denn besagter Eysenck hatte seine Studien gefälscht, sie wurden 2019 vom Londoner King's College als »unsicher« eingestuft, man sprach in der Fachwelt vom »schlimmsten wissenschaftlichen Skandal aller Zeiten«. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_J%C3%BCrgen_Eysenck#Kritik_und_Kontroversen
Sarrazins Veröffentlichung jetzt in 2022 kann als Versuch gewertet werden, die fatale Wirkung seiner in den letzten zwölf Jahren mit Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens gespickten Publikationen insofern zurückzunehmen, als dass er als gelernter Volkswirt und erklärter Anhänger der Philosophie Karl Poppers mit seinen Bestsellern letztendlich Geister geweckt hat, die sich als erklärte Feinde von Demokratie und offener Gesellschaft verstehen.
»Der größte Angriff auf die menschliche Vernunft« sei Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, schreibt Thilo Sarrazin auf der ersten Seite seines neuen Bestsellers. Um zu verstehen, welchen Kampf er als Zauberlehrling jetzt führt, an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg, reichen Worte, Zahlen oder Statistiken nicht aus. Man muss die Kunst bemühen, ewige Mittlerin zwischen Intellekt und Psyche. Niemand konnte dies besser als Walt Disney. Im Gegensatz zu Leo Löwenthal und Karl Popper beantworte er 1940 den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit der Bildsprache des Zeichentricks. Sein wohl bedeutendstes Epos »Fantasia« war damals ein finanzielles Desaster, trieb sein Filmstudio beinahe in den Bankrott, ist mittlerweile jedoch zum Bestseller geworden. »The Sorcerer's Apprentice« ist immer noch sehenswert. https://www.youtube.com/watch?v=2DX2yVucz24
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