Ameisen unterm Brennglas

Buchseite und Rezensionen zu 'Ameisen unterm Brennglas' von Jens Steiner

Inhaltsangabe zu "Ameisen unterm Brennglas"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
Verlag:
EAN:9783716027905
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Omama: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Omama: Roman' von Lisa Eckhart
3.35
3.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Omama: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:384
Verlag:
EAN:9783552072015
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Rezensionen zu "Omama: Roman"

  1. Es hätte so schön werden sollen...

    Gleich vorweg: Ich bin ein großer Fan der Kabarettistin und so wollte ich ihr Erstlingswerk unbedingt lesen und habe mich sehr darauf gefreut. Leider kam es anders als erwartet.

    In der Geschichte wird das Leben von Oma Helga von seinen Anfängen bis als Großmutter beleuchtet. Was muss sie für Kämpfe aushalten? Was hält ihr das Leben parat?

    Das große Problem bei diesem Roman ist schlichtweg, dass es keinen roten Faden gibt. Während es um Helga geht, wird schnell mal abgeschweift, der Hass der Österreicher gegen die Deutschen thematisiert und vieles mehr. Das hat den Lesefluss für mich sehr gestört, da ich mich immer wieder neu orientieren musste.

    Ansonsten liest sich das komplette Buch wie spitzzüngige Satire, die sich besser als Bühnenprogramm, denn als Roman gemacht hätte. Man ist so damit beschäftigt die überbordernde Sprache zu begreifen, dass man sich kaum auf die eigentliche Handlung konzentieren kann.

    Auch wenn ich anfänglich noch die Sprache mochte, so macht die Detailverliebtheit und Wortwahl das Lesen bald zu einer Herausforderung, der ich dann nur bedingt gewachsen war. Um es klar auszudrücken: Ich quälte mich durch, in der Hoffnung da käme noch die gewünschte Wende.

    Mit Kraftausdrücken habe ich kein Problem, sofern sie nicht Überhand nehmen. Hier besteht gefühlt die Hälfte des Geschriebenen daraus. Der Roman ist deswegen ungemein boshaft, zieht einen emotional herunter und verbreitete zumindest bei mir keine gute Laune, die ich aber schon gern haben möchte beim Lesen, erst recht wenn es ein humoriges Buch ist.

    Gut gefallen hat mir der eingestreute österreichische Akzent, der für Authentizität sorgte. Bei den Dialogen kam ich nämlich durchaus noch gut mit, bei den Abschweifungen dann eher weniger.

    Fazit: Ein Buch, das man nur lieben oder hassen kann. Ich kann leider keine Leseempfehlung aussprechen, auch wenn ich es noch so gern tun würde. Weniger ist manchmal eben doch mehr...

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  1. Spieglein an der Wand...

    I forat min Radl noch Rio
    Auf Schi noch Athen
    Oba a Strapaz wia di
    Wü i ma nie wieda gebn
    (Lyrics Ostbahnkurti und die Chefpartie)
    Helga ist 11 Jahre alt als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. „Hilfe, die Russen kommen!“, schallt es durch den bäuerlichen Ort Mautern. Helga wächst dort im Schatten ihrer hübschen aber einfältigen älteren Schwester Inge auf, deren Jungfräulichkeit jedenfalls vor den Besatzern bewahrt werden muss. Der Vater ist ein arbeitsloser Trinker, die Mutter rackert sich ab und verteilt Watschen wie warme Semmeln. Solange Helga unter der Vormundschaft ihrer Eltern steht, wird sie an diverse Stellen vermittelt, hauptsächlich um die Schulden der Eltern abzuarbeiten. Bis sie bei der Wirtin von Freienstein landet…..
    „Omama“ ist der Debütroman der österreichischen Kabarettistin, die unter ihrem Künstlernamen Lisa Eckhart bekannt ist.
    Es ist nicht ganz einfach unbeeindruckt und unbeeinflusst ein Buch zu lesen, wenn gerade eine Diskussion um die Autorin entbrannt ist. Wie weit muss eine Kunstfigur political correctness einhalten? Ist es schon zwingend nötig, Satire, als solche zu kennzeichnen, um verstanden zu werden? Gilt der Vorwurf Lisa Eckhart fische am rechten Rand oder hält sie einfach der Gesellschaft einen Spiegel vor? Wobei man nicht außer Acht lassen sollte, dass es genug Menschen gibt, die sich gerne im Spiegel betrachten.
    Was haben diese Fragen nun mit dem Buch „Omama“ von Lisa Eckhart zu tun. Nichts. Oder alles. Omama ist ein bitterböser Nachruf auf die Großmutter Helga. Vom rechten Rand weit entfernt und noch viel weiter entfernt von einer „Trümmerfrauenromantik“ und Nachkriegssentimentalität. Wenn Kunstfiguren Großmütter haben, dann muss es schon jemand wie die Helga sein. Politisch korrekt läuft hier nichts ab. Lisa Eckhart schwadroniert, derb, laut, ohne Blatt vor dem Mund.
    Über die Feinheiten der österreichischen Sprache….
    „Sie hat viele Haberer, aber kein Haberer hat sie. Denn haberer kommt nicht von haben. Ein Haberer ist der, der habert. Bald nagt er am Hungertuch, bald kaut er auf der Dorfmatratze!“
    …. und die „unsrigen“ tradierten Werte. Sämtliche gängigen Klischees ruraler Lebensweise und Stammtischparolen aller Art walzt Eckhart aus, bis sie dünner sind als ein Schnitzerl vom Figlmüller.
    „Das Wiener Schnitzerl muss so groß und dünn wie möglich sein. Ein Schnitzerl wie ein Jungfernhäutchen. Vom Ausmaß des Wörthersees. Und für den Gast naturgemäß immer noch nicht ganz perfekt. Selbst ein Stück Fleisch von der Größe einer Briefmarke, das man auf einen Quadratmeter flachklopft und nach dem Braten durch die Panier zieht, wäre dem Suderanten sowohl zu klein als zu dick.“
    Das Wirtshaus wird zur Vierten Gewalt im Staate. Überspitzt und pointiert nimmt Lisa Eckhart Abstecher, definiert Mutterliebe neu, erklärt Geheimnisse und ihre Sicht zur Relevanz von Nebenpersonen in Romanen.
    „Jeder andere Schriftsteller hätte den Hansi immerzu erwähnt, war er auch niemals von Belang. Der Vollständigkeit halber wird alles beschrieben, weil die Autoren selbst nicht wissen, was davon wahrlich relevant ist. Himmelsfarben, Teppichfransen, Hunderte Zitronenspalten zu einem geschmacklich unrettbaren Schnitzel, und zack, hat man die Buddenbrooks.“
    Situationskomisch betritt Lisa Eckhart einen sehr breiten Boulevard der schrägen Anekdoten. Von der „Mautnerschen Adolf-Verwechslung“ zu Nachkriegszeiten, die im Verschwinden eines alten Malers gipfelt, über eine Neudefinition des Pannonischen Picknicks im August 1989 bis hin, wie Helga den politischen Bauernfänger der 1990er mit zweifelhaftem Kultstatus um den Finger wickelt. Die mannstolle Traumschiffepisode war dann schon ein Alzerl zu viel (das phonetische äöüi lässt sich schriftlich nicht festhalten)
    Links? Rechts? Helga ist das Zentrum ihres eigenen Universums und so geradeaus, direkt und unverblümt wie möglich. Mit ihrer zynischen Sicht der Dinge, hält Lisa Eckhart den Leser auf Abstand und diesem auch hier einen Spiegel vor.
    Spieglein, Spieglein an der Wand… Provokation ist Lisa Eckharts zweiter Vorname, kontrovers ein Kosename für die Autorin.
    Und ich möchte mit einem Zitat unseres von mir sehr geschätzten Bundespräsidenten abschließen.
    „So sind wir nicht, so ist Österreich nicht.“
    So sind wir nicht! Nicht alle!

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  1. Von hyperventilierenden Flitscherln und putschenden Tranklern

    Herrje! Wie soll man da jetzt eine Rezension schreiben, wo doch die Autorin gerade der Zankapfel des Corona-lahmen kulturellen Sommerlochs ist. Gibt es da nicht viel Berufenere, die Lisa Eckarts Erstling "Omama" glasklar analysieren werden, um dann zum unwiderlegbaren Schluss zu kommen, dass dieses Werk eine literarische Sensation bzw. wahlweise ein verabscheuungswürdiges Werk einer Rassistin, Anti-Feministin usw. ist. Und wird sich da nicht irgendwann die Waagschale der öffentlichen Meinung unwiderruflich auf die eine oder andere Seite neigen? Und was, wenn ich dann hier ganz falsch liege? Ich habe ja schließlich als einfache Leserin die unmaßgeblichste Stimme in diesem Disput.

    Aber wie würde die Autorin sagen: "Nun aber wieder schleunigst zurück zu unserer eigentlichen Geschichte." Nämlich der Geschichte der Großmutter der Autorin, bei der sie die ersten sechs Jahre nach der Geburt gelebt hat (was ich aus Wikipedia weiß, im Buch würden solche Details niemals stehen). Die Geschichte beginnt mit der frühpubertären Großmutter zur Zeit des Einmarschs der Russen in die Steiermark. Und von diesem Zeitpunkt an entwickelt sich ein wirres, faszinierendes und wahlweise er- oder abschreckendes Panoptikum von Niedertracht, Bauernschläue und Geilheit, das uns über die 50er Jahre bis heute führt.

    Wobei die eigentliche Geschichte nur einen Teil des Buches ausmacht. Den anderen nehmen Lisa-Eckert'sche Ausführungen ein (man hört die Bühnenfigur, wenn man sie liest). Es sind Variationen über Themen wie: die vier sakralen Säulen der Dorfgemeinschaft (der Depp, der Trinker, der Schönling und die Dorfmatratze), wieso der Österreicher, wo er doch den Deutschen hasst, mit ihm in den Krieg zieht (es sei verraten: es ist wegen der Ungarn), oder wieso Menschen mit außergewöhnlich Namen immer fad sein müssen. Diese Einschübe sind oftmals von einer unglaublichen Wortgewalt und von einem unnachahmlichen Humor. Ich durfte oft laut lachen. Aber über 360 Seiten kann die Autorin das nicht immer durchhalten, deshalb werden die Wortspiele manchmal voraussehbar und gezwungen, und manchmal einfach flach. Und so etwas wie der "cogito interruptus" ist wie eine faule Bohne in einem Pfund guten Bohnenkaffee - ein Stern Abzug!

    Mit ihrer Omama verbindet die Autorin offenbar eine Hassliebe. "Seneca schauderte vor ihr, könnte er sehen, wie herzlich egal ihr der eigene Tod ist. Weder ersehnt noch fürchtet sie ihn. Für beides bin ich zuständig." Im dritten Teil, wo die Autorin selbst in die Geschichte eintritt, erahnt man, dass die ersten beiden Teile nicht nur eine wilde Phantasterei und an- wie abstoßerregende Ausschmückung von Familienanekdoten sind, sondern uns den Blick der Autorin vor Augen führen. Da ist man ab und zu auch berührt von der Geschichte, obwohl die Autorin sicher abstreiten würde, solch eine Befindlichkeit auslösen zu wollen. Und keine Sorge: sie bleibt sich auch in diesem Teil treu: Es wimmelt von Zumpferln, Tutteln und Popscherln (das sind primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale auf Österreichisch), von Brunzerei und anderen Exkrementen, politischer Unkorrektheit und wilden Gewaltphantasien.

    Das Buch kann einen faszinieren, ekeln, langweilen und fesseln. Ich habe es gerne gelesen und würde es wieder tun.

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Schatten der Welt: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Schatten der Welt: Roman' von Andreas Izquierdo
4.85
4.9 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Schatten der Welt: Roman"

Thorn in Westpreußen, 1910. Der schüchterne Carl, der draufgängerische Artur und die freche Isi sind frohen Mutes, dass der Ernst des Lebens noch ein wenig auf sich warten lässt. Nicht einmal die Nachricht, dass ein Komet namens »Halley« die Menschheit zu vernichten droht, kann die drei Jugendlichen schockieren. Im Gegenteil – ungerührt verkaufen sie Pillen gegen den Weltuntergang, während Halley still vorbeizieht. Doch das Erwachsenwerden lässt sich nicht aufhalten: Carl beginnt eine Ausbildung zum Fotografen, Artur und Isi werden ein Paar. Als 1914 die große Weltpolitik über sie hineinbricht, reißt es die Freunde auseinander. Artur und Carl werden eingezogen, fernab der Heimat werden die beiden Teil eines Kriegs, der jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil hat Isi zuhause in Thorn ganz andere Kämpfe auszufechten. 1918 ist der Krieg endlich vorbei. Nichts ist geblieben, wie es einmal war – und doch scheint ein Neuanfang möglich ... Mitreißend und mit viel Gefühl für seine Figuren erzählt Andreas Izquierdo die Geschichte dreier Jugendlicher, die in den Wirren des frühen 20. Jahrhunderts ihren Weg suchen. ›Schatten der Welt‹ ist Abenteuerroman, Coming-of-Age-Geschichte und spannender historischer Roman zugleich.

Format:Broschiert
Seiten:544
Verlag:
EAN:9783832164980
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Rezensionen zu "Schatten der Welt: Roman"

  1. Eine Freundschaft in schweren Zeiten

    Thorn in Westpreußen, 1910: Isi, Carl und Artur sind Freunde. So unterschiedlich sie von ihrer Art auch sind, sie wollen alle aus ihren ärmlichen Verhältnissen heraus. Doch es dauert nicht lange bis der 1. Weltkrieg anbricht und sie auseinanderreißt, denn die Jungen werden Soldaten und Isi bleibt zurück. Niemand hat sich vorstellen können, wie schrecklich dieser Krieg wird – nicht nur für die Soldaten an der Front, sondern auch für die Daheimgebliebenen.
    Andreas Izquierdo erzählt diese Geschichte einfach gefühlvoll und packend.
    Carl und Artur sind befreundet. Artur ist eher draufgängerisch, während Carl etwas zurückhaltend und verträumt ist. Dann stößt Isi dazu, die voller Ideen ist. Die drei gehören einfach zusammen. Als alle den Untergang der Welt sehen, weil der Halleysche Komt auftaucht, machen sie unbeeindruckt ihre Geschäfte. Carl macht eine Ausbildung zum Fotografen und aus Artur und Isi wird ein Paar. Doch die unbeschwerte Jugend ist schnell vorbei. Die Politik verändert das Leben.
    Als der Krieg dann zu Ende ist, gibt es Hoffnung auf einen Neuanfang und ein besseres Leben. Aber das Erlebte im Krieg lässt sich nicht einfach beiseiteschieben. Für die, denen es schon immer besser ging, hat sich nicht viel verändert. Dafür geht es den Armen noch schlechter. Unzufriedenheit macht sich breit.
    Isi, Carl und Artur kämpfen jeder auf seine Weise gegen die Ungerechtigkeiten der Zeit. Es ist schön mitzuerleben, wie sie sich weiterentwickeln.
    Mir hat diese Geschichte gut gefallen und ich habe mit den Protagonisten mitgelitten und mitgehofft.

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  1. Freundschaft fürs Leben

    Carl, Artur und Isi scheinen Freunde fürs Leben. Zusammengeschweißt bei einem kuriosen Gaunerstück, als 1910 der Halley’sche Komet erscheint. Die drei ergänzen sich und geben sich gegenseitig Halt. Läuft in ihren Familien nicht alles rund, sind sie sich gegenseitig Familie. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht werden die drei auseinandergerissen, Carl und Artur ziehen in den Krieg, Isi bleibt zurück.

    Erzählt wird die Geschichte aus Carls Sicht. Er ist der ängstliche und am wenigsten wagemutigste der Gruppe. Als Jude läuft er immer unter dem Verdacht ein gewissenloser Geschäftemacher zu sein. Artur hingegen will mehr vom Leben als Sohn des Wagners zu sein. Er denkt sich allerlei wagemutige Aktionen aus, die meist erfolgreich für die Gruppe ausgehen. Dabei verdienen die drei soviel Geld, dass sie sich ein Geschäft aufbauen können. Doch als der Krieg anfängt ist es vorbei mit dem Geld verdienen. Artur und Carl erleben an der Front vieles was sich nicht mit den Vorstellungen eines heroischen Krieges vereinbaren lässt und Isi kämpft zu Hause darum, dass Frauen nicht noch mehr ausgebeutet werden. Alle müssen Verluste hinnehmen und gehen nicht ohne Blessuren aus dieser Zeit heraus.

    Schatten der Welt war mein erstes Buch von Andreas Izquierdo. Ich war von seinem Schreibstil sehr begeistert, trotz der teilweise unschönen Themen liest man immer weiter und durch die kurzen Kapitel denkt man sich oft: Eines geht noch. So fliegt man durch dieses Buch und fiebert mit den dreien mit.

    Die Geschichte beleuchtet das endende Kaiserreich von mehreren Seiten. Kaiserverherrlichung und Willkürherrschaft der Adeligen sind ein Thema, der damalige Ehrbegriff und der Umgang mit Frauen und Töchtern. Und eben die Unzufriedenheit der Unterdrückten. Das Kriegsgeschehen und dessen Verherrlichung, sowie der Alltag an der Front, der mit den Bildern in Zeitung und Wochenschau eben nichts gemein hat.

    Mir hat das Buch ausgesprochen gut gefallen. Das Ende lässt darauf hoffen, dass es einen weiteren Band mit den dreien geben wird, in dem wir hoffentlich erfahren, wie es nach dem Krieg mit ihnen weitergeht.

    Von mir eine Leseempfehlung!

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  1. Helle Jugend - finsterer Schatten Krieg

    Thorn in Westpreußen, 1910: Carl Friedländer, Sohn eines jüdischen Schneiders, und Artur Burwitz, dessen Vater Wagner und Trinker ist, sind Freunde, die unterschiedlicher nicht sein können. Carl, der besonnene, vorsichtige, kluge Bursche. Artur der bauernschlaue Draufgänger voller herrlicher und gefährlicher Ideen. Als Carl auf Isi trifft, wünscht er sich zunächst das Mädchen niemals kennengelernt zu haben, so unliebsam war seine erste Begegnung mit ihr. Doch die forsche, freche und mutige Lehrerstocher wird bald Dritte im Bunde dieser Freundschaft. Eine Freundschaft, die vielen Prüfungen ausgesetzt ist. Denn die Welt steht am Rande eines Abgrundes. Nach dem Ersten Weltkrieg ist nichts mehr wie es war und doch ist es die Zeit für einen Neuanfang.
    Der deutsche Drehbuchautor und Schriftsteller Andreas Izquierdo erzählt in seinem Roman „Schatten der Welt“ feinfühlig und bewegend von drei jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Er erzählt von einer Zeit, in der die Welt, wie sie bisher war, nicht mehr existierte, vom Krieg, vom Umbruch und vom Aufbruch in andere Zeiten.
    Alles beginnt bei den Geburtstagsfeierlichkeiten für den Kaiser. Es ist der legendäre „Baracken-Bumms“, den Artur initiiert hat, ein militärischer Skandal. Dann folgt der Halley’sche Komet und mit nicht ganz astreinen Methoden kommen die Carl, Artur und Isi - die Leichtgläubigkeit der Mitmenschen ausnutzend - an eine kleine Summe Geldes. Sie sind fast noch Kinder, haben die ganze Welt vor sich. Jeder für sich hat trotz ihrer jungen Jahre eine Bürde zu trage. Carl Schneiderssohn, wie er oft neckisch von Isi genannt wird, muss sich mehr und mehr um seinen Vater kümmern, der immer mehr in die Vergesslichkeit abgeleitet. Artur erlebt den rauen Umgang mit seinem meist betrunken Umgang mit stoischer Ruhe. Isis Vater hingegen ist ein patriarchalischer Haustyrann, der Frau und Töchter gerne misshandelt und dessen politische Gesinnung am rechten Rand zu finden ist.
    Mit Staunen und Neugier richten sie ihre Aufmerksamkeit auf Neuerungen, die der Fortschritt bietet, während der Großteil in Thorn noch den Schlaf der Gerechten schläft. Es ist die Fotografie, die Carl begeistert und Artur erkennt das Potential von Lastkraftwagen und wird trotz seiner 17 Jahre zum erfolgreichen Unternehmer.
    „Carl! begann Artur von Neuem. Verstehst du denn nicht, was da heute Morgen passiert ist?
    Wir haben einen Lkw gesehen antwortete ich ratlos.
    Nein, wir haben die Zukunft gesehen!“
    Im hellen Licht ihrer Jugend wirft der Erste Weltkrieg einen finsteren Schatten auf eine verheißungsvolle Zukunft.
    „Ich scherzte, tröstete, warnte, pflichtete bei, lachte und beschwor, fühlte weder Hunger noch Durst, sondern nur den unstillbaren Drang, den Menschen das zu geben, was sie am meisten wollten: Lügen. Denn ich war Carl Friedländer, der Schneiderssohn, der alles erreichen konnte.“
    Carl ist die Erzählstimme dieses mitreißenden Romans. Anhand der Geschichte der drei Freunde wird Weltgeschichte lebendig. Izquierdo verpackt mit einer Leichtigkeit, schwungvoller Sprache und trotzdem großer Ernsthaftigkeit die Grausamkeit des Krieges, Schützengräben, Widerstand, militärische Propagandamaschinerie, Nationalismus, die Geringschätzung von Frauen, den aufkeimenden Sozialismus.
    „Isi hätte schreien können…..Männer wie ihr Vater regierten Thorn, sie regierten Preußen, das Deutsche Reich, die ganze Welt. Sie bestimmten die Regeln, die Religion, die Politik, verfälschten Tatsachen, machten Karriere, und wenn gar nichts mehr half, begannen sie Kriege und stürzten die Welt ins Chaos: Kaiser, General, Kanzler, Pfarrer, Vater. Doch was war mit ihr? Was war mit all den Frauen, die in ihren Schatten starben, so leise, dass man nicht mal wusste, dass sie überhaupt gelebt hatten? Zählten sie nicht? Nichts?“
    Diese Buch ist wie Kino, ein historisches Coing-of-Age mit viel Liebe zu den Protagonisten. Das Ende lässt Spielraum über. Aber wie wir wissen, hat sich bald ein neuer Schatten auf die Welt gelegt.

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  1. Ein spannendes Zeitbild

    „Damals erwachte in mir das unstillbare Verlangen, mir immer ein eigenes Bild zu machen. Ich wollte selbst beobachten, wollte wissen, wie sich die Dinge wirklich verhielten, und nicht von Beschreibungen anderer abhängig sein.“ (Zitat Pos. 551)

    Inhalt
    Sie sind Freunde und schon mit knapp vierzehn Jahren wissen sie, was sie nicht werden wollen: Carl Friedländer will Fotograf werden und nicht die väterliche Schneiderei übernehmen, Artur Burwitz will Erfolg haben und kein Wagner bleiben, wie sein Vater. Luise „Isi“ Beese will auf keinen Fall so werden, wie ihr strenger Vater Gottlieb Beese, Lehrer mit politischen Ambitionen. Sie haben kreative Geschäftsideen und können sie auch erfolgreich umsetzen, doch dann kommt das Jahr 1914 und damit der Krieg. Artur und Carl, beide achtzehn Jahre alt, werden sofort eingezogen. Die Jahre bis 1918 verlangen von jedem der drei jungen Menschen beinahe Unmögliches, und der Einfluss der mächtigen Gutsbesitzerfamilie Boysen, die feudal über ganz Thorn herrscht, reicht bis an die Front.

    Thema und Genre
    Im Mittelpunkt dieses historischen Romans, der gleichzeitig auch ein Abenteuer- und Entwicklungsroman ist, stehen drei mutige junge Menschen am Beginn des 20. Jahrhunderts, ihre Träume, Hoffnungen und die Realität. Wichtige Themen sind die Unterdrückung der Menschen im feudalen Ständesystem dieser Zeit, die schrecklichen Schlachten des Ersten Weltkrieges, Hunger, Schwarzhandel und der Kampf ums Überleben. Es geht aber auch um Familie, Tradition, Mut zum Neubeginn, Freundschaft, Vertrauen und Liebe.

    Charaktere
    Carl ist eher schmächtig, zurückhaltend und vorsichtig. Durch den draufgängerischen, ehrgeizigen Artur, der immer eine Idee hat, zu Geld und Erfolg zu kommen, oft am Rand der Gesetze, wird auch das Leben seines Freundes Carl abenteuerlich. Die unangepasste Isi entspricht absolut nicht den Vorstellungen dieser Zeit von einem wohlerzogenen Mädchen. Klug, keck und schauspielerisch begabt, nützt sie ihr gutes Aussehen für die Umsetzung ihrer Einfälle. Dazu kommen ihr Mut und ihre Willensstärke, sich nicht unterkriegen zu lassen.

    Handlung und Schreibstil
    Der Roman beginnt mit einer Vorstellung der drei Hauptfiguren: Carl, Artur und Isi. Die Handlung ist in fünf Abschnitte eingeteilt, diese wiederum in einzelne Kapitel. Die Ereignisse werden von Carl in der Ich-Form geschildert, chronologisch, ergänzt durch Rückblicke. Teilweise gleichzeitig an unterschiedlichen Orten stattfindende Episoden im Leben von Artur und Isi, von denen Carl nichts wissen kann, werden jedoch personal erzählt und stellen jeweils Artur oder Isi in den Mittelpunkt. Die Geschichte ist spannend und auch emotional fesselnd, da die einzelnen Figuren überzeugend und nachvollziehbar handeln. Die Sprache erzählt und beschreibt packend und einfühlsam und lässt auch den Humor nicht vermissen. „Es folgte eine lange Schimpfkanonade im breitesten Wiener Schmäh. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich fragte, wie ein Volk, das so melodisch fluchen konnte, einen solchen Krieg gewinnen wollte.“ (Zitat Pos. 4683).

    Fazit
    Ein spannender historischer Roman über die Hoffnungen und Träume einer Generation, die, kaum erwachsen, sich plötzlich in einem furchtbaren Krieg wiederfand. Jede der drei Hauptfiguren, die völlig unterschiedlich und doch durch eine tiefe Freundschaft verbunden sind, muss den eigenen Weg finden und aus Träumen werden Werte, für die es sich einzustehen lohnt, auch wenn der Einsatz das eigene Leben ist. Ein großartiges Leseerlebnis.

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  1. 5
    21. Jul 2020 

    Informativ, spannend, berührend und mitreißend...

    In Thorn, einer Militärstadt, gehen die Uhren 1910 noch anders. Nahe der Grenze zu Polen dauert es lange, bis Fortschrittliches oder auch weltpolitische Ereignisse ihren Weg in die abseits gelegene Stadt in Westpreußen finden. In einer Atmosphäre althergebrachter Strukturen wachsen die Jugendlichen Carl, Artur und Isi auf und nichts deutet darauf hin, dass sich daran so bald etwas ändern wird.

    Zu Beginn der Erzählung ist Carl 13 Jahre alt und lebt mit seinem alleinerziehenden Vater in einem winzigen Häuschen, das ihnen Wohn- und Arbeitsstätte zugleich ist. Dort gelangen allabendlich Kartoffeln auf den Küchentisch, gleichzeitig werden in der winzigen Stube Kunden empfangen, die sich vom Schneider Friedländer ein neues Gewand fertigen lassen wollen. Reich werden sie dabei nicht, zumal sie als Juden misstrauisch beäugt werden, aber irgendwie haben sie ihr Auskommen.

    Carl geht gerne zur Schule, doch schon in wenigen Wochen ist damit Schluss, denn das Realgymnasium kann sich der Vater nicht leisten. Mit ihm zur Schule geht Artur, der vierzehnjährige Sohn eines Wagners und bester Freund von Carl. Gegensätzlicher könnten die beiden nicht sein: Carl schmächtig und schüchtern, dabei gut in der Schule - Artur kräftig und voller Selbstbewusstsein, doch mit der Schule hat er kaum etwas am Hut.

    Als die beiden die Tochter des ortsansässigen Lehrers der Mädchenschule kennenlernen, ist gleich klar, dass Luise, genannt Isi, bestens zu ihnen passt. Dreist und unerschrocken trotzt sie den widrigen häuslichen Verhältnissen, ebenso wie Artur. Nur Carl hat zu seinem Vater ein liebevolles Verhältnis.

    "Männer wie ihr Vater regierten Thorn, sie regierten Preußen, das Deutsche Reich, die ganze Welt. Sie bestimmten die Regeln, die Religion, die Politik, verfälschten Tatsachen, machten Karriere, und wenn gar nichts mehr half, begannen sie Kriege und stürzten die Welt ins Chaos..." (S. 415)

    Artur und Isi überbieten sich in ihren verrückten Ideen, und Carl, eher erschrocken denn überzeugt, lässt sich ein ums andere Mal von den beiden mitziehen. Wichtig ist es den dreien, schnellstmöglich viel Geld zu verdienen, um eines Tages auf eigenen Füßen zu stehen.

    Die Ereignisse um das Erwachsenwerden der drei Jugendlichen wird aus der Ich-Perspektive von Carl erzählt. Dabei dominiert bereits in der vermeintlich schönen Jugendzeit ein oftmals melancholischer Ton. Die armseligen Lebensbedingungen, die Dominanz des Militärs im Stadtbild, die Vergeblichkeit von Lebensträumen, der Standesdünkel, der Judenhass, der selbstherrliche und willkürliche Umgang der Mächtigen (ob nun Gutsherr, Gendarmeriekommandant oder tyrannischer Vater) mit den Schwächeren oder schlechter Gestellten - all dies erlebt der Leser emotional dicht am Geschehen mit.

    Glücklicherweise retten schlitzohrige Aktionen und die freche Dreistigkeit der drei Hauptcharaktere die Erzählung vor zu viel Schwere. Mit Beginn des Krieges allerdings wird der Ton ernster, und fortan wird das Geschehen abwechselnd aus der Perspektive der drei nun getrennt lebenden Freunde erzählt. Jeder der drei kämpft mit schweren Verlusten und letztlich auch einem Gefühl der Schuld, was angesichts der Ereignisse wohl unvermeidlich ist. Eine harte, brutale Art, erwachsen zu werden.

    Ich habe bereits mehrere Bücher von Andreas Izquierdo gelesen, und so unterschiedlich die Themen auch waren, eines hat sie geeint: der Faktor 'Menschlichkeit'. Auch in diesem historischen Roman, dem eine akribische und detaillierte Recherche attestiert werden muss, stehen die Charaktere im Vordergrund. Durch seine einfühlsame Art zu schreiben, schafft Izquierdo einen emotional dichten Zugang zu seinen Figuren, so dass der Leser zwangsläufig mitdenkt, mitempfindet, mitleidet.

    Dies war für mich nicht immer leicht zu ertragen. Wer Ungerechtigkeiten, Willkür und Menschenverachtung nicht gut aushält, der sei hiermit gewarnt. Immer wieder musste ich das Buch zwischendurch zur Seite legen, um Wut und Rachegelüste runterkochen zu lassen, bevor ich weiterlesen konnte. Gleichzeitig ist es genau das, was den Roman zu etwas Besonderem macht. Kriegsgräuel sind furchtbar, schon allein, wenn man darüber liest. Wenn man aber wie hier, daran auch emotional beteiligt ist, stehen diese Gräuel in ihrer ganzen Entsetzlichkeit vor einem und lassen den Leser an den monströsen Geschehnissen geradezu teilhaben.

    "...und der Tod begegnete mir allenfalls als friedliches weißes Kruzifix auf einem sonnenbeschienenen Friedhof. Doch unter dieser Erde lagen das zerrissene Fleisch, die gebrochenen Knochen und zerstörten Seelen. Unter dem Heldenkreuz verfaulte eine ganze Generation, deren Hoffnungen und sprühender Optimismus von alten Männern zu Angst, Ekel und Entsetzen verwandelt worden waren." (S. 484)

    Der Blick auf die damaligen Ereignisse ist ungeschönt und detailliert, und die damit verbundenen Traumata geradezu greifbar. Das Ende - es kann kein Happy End sein, das würde nicht passen. Aber doch bietet es einen kleinen hoffnungsvollen Ausblick, eine Möglickeit des Weiterlebens, trotz alledem.

    Und wie der Autor verriet: es wird einen zweiten Teil geben, frühestens im Herbst 2021 - die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sehr schön. Denn Carl, Artur und Isi würde ich sehr gerne nocht einmal begegnen...

    © Parden

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  1. Eine Welt im Umbruch

    „Schatten der Welt“, der neue Roman von Andreas Izquierdo, führt ins westpreußische Thorn im Jahr 1910. Dort lebt Carl, ein gewitzter, ein wenig schüchterner Junge zusammen mit seinem Vater, einem jüdischem Schneider Friedländer. Sein bester Freund ist Arthur, das genaue Gegenteil von ihm: groß und bullig, keine Leuchte in der Schule, aber bauernschlau und furchtlos. Dann kommt noch Isi dazu, die Tochter des bigotten Lehrers Beese, der die Rebellion in den Knochen steckt. Sie lehnt sich gegen die Vater auf, begeht kleinere Gaunereien und wird bald der Kopf des ungleichen Trios.

    Das Erscheinen des Halleyschen Kometen steht bevor und sie nutzen den Aberglauben und die Furcht der Menschen und ziehen den Leuten mit harmlosen Pillen und Gasmasken das Geld aus der Tasche. Später soll dieses Geld für sie ein Startkapital werden, aber der Große Krieg steht vor der Tür und beendet ihre Jugend abrupt.

    Dieser großartige Roman umfasst den Zeitraum von 8 Jahren, die nicht nur die unmittelbare Geschichte des Trios radikal verändert, auch die Welt ist nicht mehr die gleiche. Die Wege der Freunde trennen sich und doch bleibt ein unverbrüchliches Band zwischen ihnen bestehen.

    Was für eine wortmächtige Geschichte! Farbig erzählt, spannend und wie ich finde, sehr akribisch recherchiert. Ich konnte mich kaum losreißen, der Roman fesselte mich von der ersten Seite. Da ist einerseits das Leben in einer kleinen westpreußischen Stadt, immer ein bisschen dem Weltgeschehen hinterher, mit einer festgefügten Ordnung. Auf ihren Gütern beherrschen die Junker ihre Leute und in der Stadt die kaisertreue Obrigkeit die Bürger. Arm und Reich trennen Welten und wer sich dagegen auflehnt, bekommt es hart zu spüren.

    Izquierdo vereint in seinem Buch eine einfühlsame Beschreibung des Erwachsenwerdens, samt Gauner-und Schelmenstücken drei Protagonisten, die mich immer wieder schmunzeln ließen, mit einem großen historischen Roman. Erzählt wird das im Rückblick von Carl. Dieses Stilmittel bringt eine leise Melancholie in den Roman, denn selbst die Erinnerung an ihre Jugendstreiche ist für Carl mit Wehmut verbunden.

    Dieses Buch hat mich berührt und beeindruckt.

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Das bittere Kraut: Eine kleine Chronik

Buchseite und Rezensionen zu 'Das bittere Kraut: Eine kleine Chronik' von Marga Minco

Inhaltsangabe zu "Das bittere Kraut: Eine kleine Chronik"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:96
Verlag:
EAN:9783965870208
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Wolfsegg: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Wolfsegg: Roman' von Keglevic, Peter
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Wolfsegg: Roman"

Ein enges Tal irgendwo in den Bergen: Die 15-jährige Agnes, die so gern ein »Autoschrauber« hätte werden wollen, muss erfahren, wie brutal das Leben sein kann. Wenn die eigene Familie verachtet wird. Wenn jeder jeden kennt und mit jedem eine Geschichte hat. Da stehen dem Missbrauch die Türen weit offen, da wird vertuscht und betrogen, denunziert und getötet, ohne dass der Himmel ein Einsehen hätte. Als der Vater totgeschlagen und die Mutter elendig verreckt ist, hat Agnes nur noch einen Gedanken: Sie muss die »Kleinen«, Bruder und Schwester, vor dem Heim retten, in dem sie einst gelitten hat. Peter Keglevics dramatischer Roman über Agnes und ein namenloses Tal in den Alpen ist eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht – so zärtlich und so brutal erzählt, wie das wohl nur ein Österreicher kann.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783328600985
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Rezensionen zu "Wolfsegg: Roman"

  1. Aufrecht gehen, nicht ducken

    Zu Beginn hat mich das Szenario in "Wolfsegg" des Filmregisseurs Peter Keglevic an Monika Helfers empfehlenswerte Frühjahrsnovität "Die Bagage" erinnert. Beide Romane spielen in den österreichischen Alpen und die im Zentrum stehenden armen Familien sind Außenseiter und als asozial Gebrandmarkte, die im hintersten Winkel eines Tals leben. Beide Autoren fangen die beklemmende Atmosphäre einer engstirnigen, missgünstigen, von Machos dominierten Dorfgemeinschaft inmitten einer übermächtigen Natur großartig ein. Allerdings enden damit die Gemeinsamkeiten, denn während Die Bagage autobiografisch geprägt ist und über vier Generationen reicht, ist das wesentlich brutalere, von Beginn an unheilschwangere Wolfsegg auf die ebenso beeindruckende wie schockierende 15-jährige Protagonistin zugeschnitten, die ich so schnell nicht wieder vergessen werde.

    Ein Mädchen ohne Kindheit
    In sehr jungen Jahren lastet auf Agnes Walder bereits eine ungeheure Verantwortung. Ihr Vater taucht immer wieder tagelang ab, ihre Mutter leidet an Nierenkrebs im Endstadium. So obliegt Agnes die Sorge für die beiden jüngeren Geschwister, den Garten und die wenigen Tiere auf dem bescheidenen Häuslerhof und die Überwachung der Chemotherapie-Termine der Mutter. Agnes liebt ihre Eltern trotz deren offensichtlicher Defizite. Meist verschwindet die Mutter im „Palast des Schweigens“, erst als ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, werden ihre Warnungen vor Agnes‘ neuem Chef konkreter:

    "Wie unterm Laub ein Fangeisen, hatte die Mutter gesagt, plötzlich schnappt es zu! Schlagartig verstand Agnes. Sie kannte die Wirkung des Fangeisens." (S. 53)

    Und im Hinblick auf die Dörfler rät sie Agnes:

    "Nichts wird sein, […], du allein bestimmst, wie sie sich verhalten. Wenn du aufrecht gehst, dann ducken sich die Leut‘, wenn du dich duckst, dann treten sie nach dir.“ (S. 156)

    Der Vater dagegen macht wenig Worte, führt die Tochter aber in sein Handwerk der Waffenkunde, des Schießens und des Weidwerks ein. Vor allem aber zeigt er ihr eine mit Lebensmitteln, Petroleum und einer Solaranlage ausgestattete Berghütte mit Namen Wolfsegg:

    „Niemand weiß, dass es die Hütte gibt, fuhr er fort. Es gibt keine Pläne von ihr, sie ist nirgendwo registriert und in keinem Kataster eingetragen. Auf keiner Karte verzeichnet, keine Wanderkarte führt hierher. Selbst der Name ist längst vergessen. Hier ist man unerreichbar. […] Du bist die Erste, die davon weiß.“ (S. 93)

    Bald wird die Hütte zum Zufluchtsort der Waldner-Kinder, denn so wenig sich Agnes zunächst an die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit erinnern kann, so wild entschlossen stemmt sie sich einer Einweisung ins Kinderheim Maria Hilf! entgegen, wo sie als Neunjährige ein knappes Jahr „Marienkind“ war.

    Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
    Von Beginn an liegt über der Geschichte ein düsteres Geheimnis, das erst mit Agnes‘ allmählich zurückkehrender Erinnerung stückweise gelüftet wird. Die Geschehnisse, nachvollziehbar trotz ihrer Ungeheuerlichkeit und in einer bildgewaltigen Sprache erzählt, sprengten schließlich mein Vorstellungsvermögen. Wer allerdings wie ich den vollen Lesegenuss haben möchte, sollte vorher weder Klappentext noch detaillierte Rezensionen lesen. Ich hatte das Glück, davor gewarnt worden zu sein, und konnte mir die Spannung bis zum dramatischen Ende vollständig erhalten. Auch Tage nach Beendigung lässt mich das Buch nicht los und gehört zu meinen Lesehighlights 2020.

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  1. Von Wolfsegg aus gesehen ist die Welt ein Abgrund.

    Eisenstein irgendwo in einem Alpental. Dort lebt Agnes Walder mit den Eltern und ihren jüngeren Geschwistern. Der Vater hat den Job als Förster verloren. Gestohlen soll er haben, wird behauptet. Die Mutter hat Krebs und nicht mehr lange zu leben. Nach dem Schulabschluss will Agnes gerne etwas „mit Motoren“ lernen. Aber sie landet als Lehrling im örtlichen Lagerhaus und ist dort dem brutalen, besitzergreifenden Vorgesetzten ausgeliefert. Als dieser versucht Agnes zu vergewaltigen, lässt sie sich das nicht gefallen. Es beginnt eine Hetzjagd auf die Familie, bei der Vater umkommt. Als dann auch die Mutter ihrer Krankheit erliegt, flieht Agnes mit den Geschwistern in die Berge zu einer abgelegenen Hütte – Wolfsegg - die man auf keiner Karte findet.
    Peter Keglevic‘ Roman Wolfsegg ist ein zeitloser Roman voller Wucht über Gewalt, Missbrauch und Rache. Die Orte sind fiktiv. Wenn man die Anspielungen versteht, kann man das Geschehen jedoch genau verorten.
    „Eisenstein suchte den Schatten an den Ausläufern des Waldes, der zu beiden Seiten bis zur Baumgrenze hochstieg, dann war der Berg nur mehr Stein. Die Häuser des Städtchens lehnten aneinander wie Eidechsen mit ihren glänzenden Schieferschuppen auf den Dächern.“
    Es ist ein dunkles Durchbruchstal mit schroffen Kalkgipfeln. So schroff wie die Berge sind dort die Menschen und gleich einem Schatten hängt eine unheilvolle Bedrohung über der Geschichte. Es herrscht ein patriarchalisches und sexistisches System in dieser ländlichen Gemeinschaft, bei der Männer das Sagen und Frauen das Nachsehen haben. Ein enges Tal erzeugt engstirnige Menschen. Zwischen Stammtisch und Kirche haben Außenseiter wie die Walders keinen Platz. Mädchen passen allemal nur als Pin-Up in eine Werkstatt. Während Agnes immer mehr dem Dunstkreis der zotigen Aussprüche und der begehrlichen Ansprüche ihres Lehrherren ausgesetzt ist, umso mehr drängen sich ihr auch Erinnerungen an ihre Zeit in einem Kinderheim auf, wo sie einige Zeit untergebracht war.
    Der Vater, der die Zeichen der aufkommenden Gewaltbereitschaft richtig deutet, beginnt Agnes aufs Überleben vorzubereiten, bringt ihr bei zu jagen, schießen, töten und das Wild aufzubrechen. Er wappnet sie gegen das Böse, das jeden Tag näher auf die Familie eindringt.
    „Das Herz müsst‘ man ihm rausreißen, hatte er einmal gesagt, weil da drinnen das Böse wohnt. Und dann müsst‘ man’s einfrieren, damit es bei der Auferstehung nicht mehr in seine Brust passt!“
    Agnes‘ Träume von einer glücklichen Familie und einem guten Ausbildungsplatz werden brutal zerstört. Schock, Trauer und die Bürde der Verantwortung für ihre Geschwister katapultieren Agnes in eine Art Parallelwelt, aus der es kein Zurück mehr gibt.
    Von Wolfsegg aus gesehen ist die Welt ein Abgrund. Die Abgründe menschlicher Bösartigkeit lotet Peter Keglevic mit Präzision aus. Schwer wie ein bleiernes Lot wiegen die begangenen Verbrechen, das Versagen staatlicher Schutzinstitutionen, das Ende mit Schrecken.

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flüchtig: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'flüchtig: Roman' von Achleitner, Hubert
3.8
3.8 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "flüchtig: Roman"

Maria ist verschwunden. Seit Monaten hat Herwig, mit dem sie seit fast dreißig Jahren verheiratet ist, nichts von ihr gehört. Dass sie ihren Job gekündigt und seinen Volvo mitgenommen hat, lässt zumindest hoffen, dass sie noch am Leben ist. Doch was ist passiert, mit ihrer Ehe, ihrer Liebe, ihrem gemeinsamen Leben? Hubert Achleitner schickt seine Protagonisten auf eine abenteuerliche Reise, die sie von den österreichischen Bergen quer durch Europa bis nach Griechenland führt. Und die für beide doch in erster Linie eine hochemotionale Reise in ihr Inneres bedeutet. Ein weiser und sehr musikalischer Roman über Liebe und Sehnsucht, das Schicksal und das flüchtige Glück … „Flüchtig wie die angezupften Töne der Bouzouki waren die Begegnungen mit diesen Menschen. Dennoch hinterließ jeder von ihnen eine Melodie in meinem Herzen, die weiterschwingt.“

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
Verlag:
EAN:9783552059726
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Rezensionen zu "flüchtig: Roman"

  1. Wenig innovativ

    Dieses Buch fängt vielversprechend an. In einem sehr schönen Erzählstil, mit Humor und Raffinesse, erfährt man von Maria, die mit Mitte 50 ihr gesichertes Leben hinter sich gelassen hat und obendrein noch verschwunden ist. Man freut sich auf Originelles und Rätselhaftes und muss dann direkt im zweiten Kapitel die Vollbremsung einlegen. Da wird weit ausgeholt, Familie, Jugend, Eltern, Umfeld eines jeden Protagonisten, ob wichtig oder nicht, wird gründlich beleuchtet, bis man so gegen Seite 80 den Faden wiederfindet.

    Der Autor ergeht sich in ausführlichen Betrachtungen der Welt der 70er Jahre und hat sicherlich recht, genau so war es, aber wer möchte das wissen? Wer alt genug ist, dabei gewesen zu sein, der weiß es schon und wer jünger ist, den interessiert es nicht sehr und der hat auch wenig Lust zu googeln, wer Leonhard Coen wohl sein mag.
    Dann kommt Herwig daher, Lehrer, 60, sieht aber keinen Tag älter aus als 50, trägt die berühmten abgewetzten Cordhosen, die man einst so trug als Intellektueller, die alle kennen, die sie miterlebt haben, die aber seit 30 Jahren im Straßenbild nicht mehr auftauchen. Der Eindruck drängt sich auf, hier ist ein Autor doch sehr im vergangenen Jahrhundert verhaftet, auch wenn seine Protagonisten Smartphones bedienen.

    Ist das durchstanden, geht Maria endlich auf ihren Selbstfindungstrip und, man staunt, stolpert prompt über ein Hippiefestival. Ich möchte nicht behaupten, dass es die heute nicht mehr gibt, das mag sein, aber sie sind nachweislich rar. Fast möchte man Maria um ihr Glück beneiden, würde es sie in irgendeiner Form weiterbringen. Leider sieht sie es wohl eher touristisch. Haben wir das auch erlebt, abgehakt, Foto, weiter.

    Was eine Reise zu sich selbst sein sollte, wird hier zur Farce. Weitgehend unreflektiert hakt Maria alle Stationen ab, die gemeinhin zur Selbstfindung dienen, erlebt sie aber nicht. Stattdessen werden Lebensweisheiten zum Besten gegeben, hübsch formuliert, aber schon lange nicht mehr neu.

    Hier kann jemand schreiben, leider hat er nichts Besonderes zu erzählen.
    Im Verlauf des Buches schießt auch noch der eigentlich schöne Stil, immer öfter über das Ziel hinaus und wird blumig. „…der Segen des Mutterglücks verlieh ihr eine zeitlose Reife…. Sie war von exotischer Anmut und hatte das Leuchten eines blühenden Kirschbaums.“

    Mit diesem Buch liefert der Autor recht passabel seine Gedanken zum Thema Älterwerden, nur sind die weder neu noch innovativ. Es wird vermutlich sein Publikum finden, ich fand es eher altbacken und klischeehaft.

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  1. Ein faszinierendes Debüt

    MEINE MEINUNG
    Mit seinem Roman „flüchtig“ hat der der Österreicher Hubert Achleitner ein faszinierendes und tiefgründiges Debüt vorgelegt, das mich den berührenden und nachdenklich stimmenden Momenten aber auch seinem frischen Erzählstil sehr begeistern konnte. Hubert Achleitner ist den meisten eher als kreativer Musiker und Künstler Hubert von Goisern bekannt, hat einst den sogenannten „Alpenrock“ salonfähig gemacht erfunden und erfreut sich immer noch einer großen Fangemeinde im deutschsprachigen Raum.
    Der Autor nimmt uns in seiner beschwingten, mitreißenden und wundervoll warmherzig erzählten Geschichte mit auf einen ereignisreichen und abenteuerlichen Roadtrip, der die Figuren von den österreichischen Bergen über etliche Zwischenstopps wie einem friedvollen Hippiecamp in den Alpen bis nach Nordgriechenland führen wird.
    Die fesselnde Geschichte um die 55-jährige Hauptfigur Maria, die ihrem eingefahren Leben entflieht und von heute auf morgen in den Süden flüchtet, lässt Achleitner weitgehend von der Nebenfigur Lisa, einer Reisebekanntschaft und späteren Freundin Marias, rückblickend aber keineswegs chronologisch erzählen. Zudem streut er aber auch immer wieder weiterführende Passagen aus Sicht eines allwissenden Erzählers ein. So erfahren wir über Zufallsbekanntschaften und bedeutsame Begebenheiten während ihrer gemeinsamen Reise, lernen in verschiedenen Episoden Marias Ehemann Herwig und Auszüge aus ihren bewegenden Lebensgeschichten aber auch eine ganze Menge interessante, mal mehr und mal weniger wichtige Nebenfiguren kennen. Nach und nach erhalten wir immer mehr Einblicke in die Gründe für Marias plötzliche Flucht aus ihrer unglücklichen, festgefahrenen Ehe und einem unerfüllten Leben. Ihre Reise wird zu ihrer persönlichen Suche nach dem Sinn des Lebens, einem emotionalen Trip in ihr Seelenleben, und lässt sie schließlich sich selbst finden.
    Überhaupt scheinen sich in dieser berührenden Geschichte viele Figuren auf einer Art Flucht zu befinden – vor dem derzeitigen Leben, vor schmerzvollen Erfahrungen, vor Verantwortung, vor sich selbst. Alle sind sie auf der Suche nach ein bisschen Glück, Freiheit, Liebe und Anerkennung, angetrieben von hoffnungsvollen Träumen nach einem anderen, besseren, erfüllteren Leben. Immer wieder greift der Autor den Begriff „flüchtig“ als eine Art Leitmotiv in der Geschichte auf und zeigt spielerisch seine unterschiedlichen Bedeutungen auf.
    Die vielschichtige und sehr liebevolle Charakterisierung der interessanten, teilweise recht eigenwilligen Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ist dem Autor hervorragend gelungen. Sehr gut konnte ich mich in ihr Innenleben hineinversetzen und ihre Handlungen nachvollziehen. Schade ist nur, dass sich die Geschichte durch die Vielzahl an eingeführten Charakteren fast ein wenig von der Hauptfigur Maria abzuwenden scheint.
    Achleitner versteht es, besondere Stimmungen sehr feinfühlig einzufangen und immer wieder eine unnachahmliche Atmosphäre heraufzubeschwören. Insbesondere die Naturgewalten ziehen sich als roter Faden durch die Handlung und scheinen bisweilen, die Geschicke der Charaktere zu leiten. Und natürlich spielt auch die die Musik eine wichtige Rolle in diesem Roman. Die vielen musikalischen Verweise und die vielen eingestreuten Musiktitel, die als eine Art Playlist die Handlung durchziehen, sind sehr schön in die Geschichte eingewoben und verleihen dem Roman das gewisse Etwas.
    FAZIT
    Ein faszinierendes, sehr gelungenes Debüt mit einer bewegenden, tiefgründigen Geschichte über die Liebe, Sehnsucht, die Suche nach Glück und einem erfüllten Leben. Lesenswert!

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  1. Ich breche eine Lanze für den leisen Roman!

    Kurzmeinung: Sehr zärtlich und österreichisch. Love it!

    Hubert Achleitner ist meist unter seinem Pseudonym Hubert von Goisern unterwegs. Er ist Musiker, aber eigentlich ein Allroundkünstler. Nun hat er ein Buch geschrieben. Und dieses Buch ist gut.

    Die Handlung ist zwar einfach. Maria, fünfundfünzig, leitende Bankangestellte, ist mit Wig verheiratet, einem tollen, kiffenden Lehrer. Pscht, das darf keiner wissen, sonst fliegt er. Eines Tages, aus Gründen, leert sie das gemeinsame Bankkonto, wirft ihrem Chef die Kündigung vor die Füße und verschwindet. Wortlos. Spurlos.

    „flüchtig“ ist ein leises Buch. Ein Buch, das mit Zärtlichkeit geschrieben ist und mit solcher gelesen gehört. Es passiert nicht allzuviel, wenngleich der Leser sowohl aus dem Leben wie auch die Handlungsmotive einiger Menschen erfährt. Manches wird ausgeleuchtet, manches nur angerissen.

    „flüchtig“ ist eine Alltagsgeschichte. Eine, die Widerhall findet im Herzen derer, die auch gern mal alles hinschmeißen wollen. Und es ist eine Geschichte für Langverheiratete oder Langverpaarte, die wissen, dass der Alltag einfach sein muss, aber seine monotonen Tücken hat. Wie das Leben selber halt.

    Was an „flüchtig“ bezaubert, ist sein Stil und seine Klugheit. Wie gut, dass das Lektorat nicht alle sprachlichen Österreichereien herausgestrichen hat, das macht den Roman authentisch und eigen Es ist sicher ein Roman, der heimatverbunden ist, obwohl er nach Griechenland reist.

    „Eintausend Jahre waren für die fünfundzwanzige Lisa nur unwesentlich weniger entfernt als der Urknall“. Für solche Sätze liebt die geneigte Leserin den Roman.

    Fazit: Eine Alltagsgeschichte oder eine Ausbruchsgeschichte, so charmant geschrieben, in einfühlsamen Sprachbildern und treffenden Lebensbeobachtungen und Lebensbemerkungen, leise, mit unspektakulärem Ende, was dann aber doch passt.
    (Phrasen, Floskeln: keine. Es geht völlig ohne jeden Luftschnapper!).

    Kategorie: Belletristik
    Verlag: Paul Zsolnay, 2020

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  1. Ein Glas voll Murmeln

    Maria und Herwig, seit mehr als dreißig Jahren sind sie verheiratet. Sie hat einen guten Job bei der Bank und hält sich mit Sport fit. Er ist Lehrer, progressiv, Musikliebhaber, raucht heimlich den einen oder anderen Joint und ist verliebt in eine junge Kollegin Nora. Doch eines Tages kündigt Maria ihren Job, nimmt ihre Ersparnisse, das Auto und verlässt Herwig. Ohne Worte des Abschieds und ohne Hinweise auf ihren Verbleib.
    Hubert Achleitner schreibt in „flüchtig“ über die Löslichkeit langjähriger Beziehungen. Besser bekannt ist der Autor als Hubert von Goisern, stilübergreifender Musiker und großartiger Liedermacher. Seine musikalische Affinität spiegelt sich in seinem Debütroman wieder. „Heast as net“ war einer seiner größten Erfolge, wo ganz wenige Worten ganz große Stimmung erzeugen. Mit diesem Buch ging es mir ganz anders. Die Protagonistin ist Mitte fünfzig, steht am Wendepunkt ihres Lebens, trifft die Entscheidung für einen Neuanfang. Diese Frau könnte mir so nahestehen, doch ich konnte nicht hören, was sie zu sagen hatte.
    Eva Maria Magdalena, wie die Protagonistin mit vollem Namen heißt - diese religiöse Dreifaltigkeit des Namens ist nicht zufällig - macht sich auf die Suche. Weg aus dem Alltag, der belanglosen Gewohnheit, weg von einem Mann, der einer anderen seine Liebe gesteht. Ihre Reise führt sie bis nach Griechenland, wo sie Ioannis kennenlernt, letztlich wieder bei einem Mann landet.
    „…inzwischen habe ich die Wohnung schon zweimal aufgeräumt, gekehrt, gewischt, die Terrasse und die Fenster geputzt, die ganze Wäsche gewaschen, gebügelt…Ich habe alles repariert, was kaputt war…..und alles entsorgt, was sich nicht mehr reparieren ließ. Aber Ordnung ist flüchtig. Ich muss mich also beeilen mit dem Schreiben, bevor sich von neuem Staub über die Dinge legt und sie nach mir zu rufen beginnen.“
    Es ist nicht nur Maria, die sich in diesem Roman auf die Suche macht. Da sind Nora, die Tramperin Lisa (die auch einleitende als Ich-Erzählerin fungiert, bis der Autor später zu einer neutralen Erzählform wechselt), der Grieche Ioannis mit seinem Großvater, der Mönch, Hereigs Vater. Und natürlich Herwig, der in meinen Augen das Abziehbild eines „man after midlife“ schlechthin ist.
    Die Personen, die direkt oder indirekt Marias Weg kreuzen, sind alle von etwas getrieben, haben Wünsche und Sehnsüchte. Haben ihre eigene Geschichte und hier gerät Hubert Achleitner beim Erzählen sehr gerne vom Hundertsten ins Tausende. Er ergeht sich in geschichtliche, religiöse, mystische, musikalische Betrachtungen. Vom zweiten Weltkrieg, verschollenen Großvätern, griechischem Widerstand, dem Schicksal sudetendeutscher Flüchtlinge. Von einer Geburt in einer Gondel bei Talfahrt und dem Berg Athos als Ende einer Reise. Von samischen Klängen über Leonard Cohen, André Heller bis zu Mikis Theodorakis. Und immer wieder Glaube, göttlicher Ruf und Berufung.
    Ein Wunsch und eine Sehnsucht war es lange Zeit für den Musiker auch einen Roman zu verfassen. Diesen Wunsch hat sich Hubert Achleitner mit dem Roman „flüchtig“, erfüllen können. Musikalisch ist Hubert von Goisern einer, der innovativ Grenzen überschreitet. Hubert Achleitner hat auch literarisch sehr viele gute Ideen. Doch wenn gute Ideen wie Murmeln sind in einem Glas, das umfällt: Sie rollen in alle Richtungen davon und lassen sich nur mühsam wieder aufklauben.

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  1. Verschwunden

    Was ich bis jetzt nicht wusste - bei dem Autor handelt es sich um Hubert von Goisern. Das macht für mich das Buch noch einmal mehr zu etwas besonderem und ich muss sagen, ich bin insbesondere auf Grund des emotionalen Tiefgangs sehr überrascht.

    Wo ist Maria? Job gekündigt und Auto weg - das würde zumindest darauf hindeuten, dass sie am Leben ist und einen Plan hat. Dennoch hat sie ohne ein Wort ihren Ehemann zurück gelassen. Warum? Was ist passiert?
    Kann ihr Mann die Freiheit nutzen?
    Monate später bekommt er einen Brief von Maria, in dem sie versucht zu erklären und erzählt, was passiert ist.
    Man verfolgt die Reise bis nach Griechenland und wird auf ein kleines Abenteuer mit emotionalem Tiefgang mitgenommen.

    Der Schreibstil ist der Wahnsinn - die Sätze haben so einen Tiefgang, und die Charakterisierung der Protagonisten ist absolut gelungen. Selten bekommt man so rundum vollendete Charaktere in einem Roman.

    Von mir gibt es eine absolute Empfehlung.

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Hotel du Lac

Buchseite und Rezensionen zu 'Hotel du Lac' von Brookner, Anita
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Hotel du Lac"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
Verlag:
EAN:9783961610792
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Rezensionen zu "Hotel du Lac"

  1. Fast-Moderne trifft Konservatismus.

    Kurzmeinung: Eine einzige Figur trägt durch das Buch. Ein bisschen Zauberberg am See, m.a.W. Mannsche Atmosphäre.

    Hotelromane sind das Schmanckerl in der Unterhaltungsliteratur. Auch im TV und im Film und wahrscheinlich bei Netflix und Co ist das Genre angesagt. Hotelgeschichten sind fast so beliebt wie „Lädchenbücher“. (Was sind Lädchenbücher, fragt sich mancher. Romane mit solchen Titeln wie „Die kleine Bäckerei an der Seine“ oder „Die Strandbücherei hinter den Rosenbüschen.“ )

    Anita Brookner (1928 bis 2016) ist gerade noch so eine Zeitgenossin Vicki Baums (1888 bis 1960), beides Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Beide Schriftstellerinnen haben auch sonst einiges gemeinsam. Vergleicht man „Hotel du Lac“von Anita Brookner mit Vicki Baums Roman „Hotel Shanghai“ (oder auch mit Baums Buch „Menschen im Hotel“), dann, ja, dann, fallen die beiden Romane und Autorinnen in fast jeder Hinsicht weit auseinander. Ganz sicher zählt der erwähnte Roman „Hotel Shanghai“ von Vicki Baum, den ich übrigens für ihren besten halte, noch besser als „Menschen im Hotel“ nur zur Unterhaltungsliteratur und Anita Brookner kann sich zur Weltliteratur zählen lassen. Interessant ist auch, dass Anita Brookner erst um die Fünfzig anfing, zu schreiben. Die reifere Lebenserfahrung führt entsprechend zu einer anderen Schreibweise.

    Doch als ich „Menschen im Hotel“ seinerzeit und noch einmal einige Jahre später las, wurde ich wirklich wunderbar unterhalten und ich habe die Figur der Ruth sowie den Handlungsort Shanghai noch sehr gut im Gedächtnis. Während die Heldin von „Hotel du Lac“, Edith Hope, wahrscheinlich nicht sehr lange irgendwelche Spuren in meinen Gehirnzellen hinterlassen wird.

    Hotel du Lac hat 1984 den Man Booker-Preis abgeräumt, ist jetzt neu aufgelegt, der Roman war mir bis dato unbekannt. Anita Brookner ebenso. Brookner ist eine Autorin der leisen Töne und des leisen Humors, ihre Art zu schreiben nahm mich sofort für das Buch ein. Es ist die alte, feine Art des Erzählens, da spielt Landschaft eine enorme Rolle und eine düstere, fast morbide Atmosphäre von gepflegter Langeweile taucht aus dem Nebel auf, der sich nur allmählich lichtet und sich über den See zurückzieht. Diese Atmosphäre ist durchdrungen von Snobismus und Selbstbeweihräucherung und innerem Verfall. Fast meint man, man sei bei Thomas Manns Personal angekommen. Allerdings verlangt Anita Brookner dem Leser keine Geduld für ellenlange Bandwurmsätze ab. Danke, Anita.

    Der Roman lebt von dem Gegensatz des Aufeinandertreffens einer beginnenden Moderne mit dem Konservatismus der besseren, neureichen und snobistischen Kreise. Denn die unverheiratete englische Autorin Edith Hope kann finanziell durchaus selbst für sich sorgen. Denn eigentlich ist sie, so wie sie lebt, eine moderne Frau und braucht niemanden, aber sie hält sich aus unerfindlichen Gründen meist in Kreisen auf, in denen die Moderne nicht zählt und eine Frau nur dann etwas wert ist, wenn sie einen Mann in gesicherter Position an ihrer Seite hat. Degoutante Kreise also. Ekelhaft. Das Fokusieren der Thematik auf „Mann, Mann, Mann, wie kriegt man einen, braucht man einen, eine Frau ist nur etwas durch ihn“, führt dazu, dass der Roman eben nicht mehr so sehr modern ist und heute keinen Bookerpreis mehr gewinnen würde!

    Es macht einen als Leserin verrückt, wie lange Edith braucht, um sich wenigstens ein bisschen aus den Stricken der Konventionen zu lösen, sie zieht sich nicht einmal nach ihrem eigenen Geschmack an (ja gibt es denn so etwas damals noch), aber wenigstens führt ihre innere Distanz irgendwie doch zu einem Ablösungsvorgang. Irgendwie löst sie sich, ja irgendwie, so ganz überzeugend ist es nicht, da sie immer noch nicht mit ihrem Lover bricht, der nicht im Traum daran denkt, seine Ehefrau für sie zu verlassen - und erst ganz zum Schluss, wobei der Roman sogar offen endet. Hosen trägt im ganzen Roman kein weibliches Wesen. Schon die Beschreibung der weiblichen Kleidung tut weh. Ein Manko ist auch die fehlende Zeitangabe. Irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg spielts bis 1984 spätestens. Ort ist ein aus der Mode gekommenes teures Hotel am Genfer See. Hotel du Lac eben.

    Was ist jetzt gut an dem Roman?

    Immerhin erhält er alle fünf Sterne von der geneigten Leserin, die bisher doch nur gemosert hat. Der Rest. Und. Gerade die Schilderung der morbiden Atmosphäre. Dass die Autorin Edith eine geheime amour fou hat, dass sie eine Schnulzenschreiberin ist, die vermutlich Lädchenbücher verfasst, und dass sie keine Menschenkenntnis hat (angeblich) und dass sie sich fremdbestimmen lässt. Plus Schreibweise. Denoch: immer alles ganz leise mit ganz viel Innerlichkeit. Und trotz vorgennanter (Schein-)handlung täusche man sich nicht, es passiert nichts. Und doch hat die Autorin die Leserin bei der Stange gehalten. Vielleicht nach dem Motto: die Hoffnung stirbt zuletzt. Nein, Scherz beiseite, der Roman lebt von seiner Figur. Von Edith Hope, die Virginia Woolf ähnelt. Wegen der Nase. Edith Hope trägt mit ihrer vornehmen Zurückhaltung, ihrer ganz leisen Kritik, ihrer Magerkeit und Fremdbestimmtheit durch den Roman. Obwohl sie einem auch mächtig auf den Geist geht. Eine einzige Figur macht die Qualität dieses Romans aus. Vicki Baum braucht(e) eine Herde.

    Auf das kluge, dennoch überflüssige Vorwort, von Elke Heidenreich hätte ich gerne verzichtet. Ich mags nicht, wenn man mir aufdrängt, wie ich einen Roman zu verstehen habe.

    Fazit: Ein Roman, den man mögen kann, aber nicht muss. Wenn man Thomas Mann las, mag man ihn vermutlich. Und solchgeartete, morbide Atmosphären muss man auch goutieren. „Hotel du Lac“ ist auch der Roman einer leisen Emanzipation. Aber um die zaghaften Emanzipationsbestrebungen der Edith Hope zu entdecken, muss man erstens genau hinschauen und zweites, ganz schön lange ausharren.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman. Belletristik.
    Verlag. Eisele, 2020

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  1. 5
    02. Jun 2020 

    Ein must read! Und ein Buch, das im Klassikerregal stehen muss.

    „Hotel du Lac“ ist die Neuauflage eines Romans, der bereits 1984 erschienen ist und mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde.

    September. Nachsaison.
    Eine kleine verschlafene Stadt in der Schweiz.
    Ein elegantes, aber unprätentiöses Hotel am Ufer des Genfer Sees.

    Die 39-jährige Romanschriftstellerin Edith Hope will bzw. soll ihre „unglückliche Entgleisung“, „diese anscheinend schreckliche Sache“, hier an diesem Ort vergessen.

    An diesem Ort der Verbannung, der ihr von ihren Bekannten nahegelegt wurde.
    An diesem Ort der Verbannung, von dem sie eines Tages „älter, klüger und gehörig um Verzeihung bittend“ zurückkommen soll.
    An diesem Ort der Verbannung, der ihr einen Besserungsaufenthalt ermöglichen soll.

    Wir erfahren erst weit nach der Hälfte, um was es sich bei dieser Entgleisung handelt. Die Neugierde zieht sich bis dahin wie ein roter Faden im Hintergrund durch. Sie ist immer da, aber man wird vom interessanten und kurzweilig erzählten Vordergrund so abgelenkt und in Bann gezogen, dass Neugierde und Spannung erträglich sind. Nichtsdestotrotz ist man umso erfreuter, wenn das Geheimnis endlich gelüftet wird.

    Ich finde es sehr bedauerlich und sogar ärgerlich, dass in manchen Buchvorstellungen, Ankündigungen und Rezensionen erwähnt wird, um welche Entgleisung es sich handelt. Dadurch wird einem als Leser etwas genommen.
    Und natürlich werde ich es deshalb nicht verraten ;-)

    Es ist der Tag der Ankunft im „Hotel du Lac“, einem abgeschiedenen und gleichermaßen bescheidenen, wie vornehmen Zufluchtsort für Erholungsuchende.

    Edith, eine eher verschlossene und zurückhaltende Frau, erinnert sich an das letzte Mittagessen mit ihrem Agenten vor der Abreise und daran, wie ihre Freundin Penelope sie wie eine Abzuschiebende zum Flughafen Heathrow brachte.
    Sie arbeitet an ihrem neuen Roman weiter, schreibt an ihren geliebten David und geht zum ersten „Auftritt im Speisesaal“, wo ihr erstmals der Gedanke kommt, dass der Aufenthalt ihr nicht nur Ruhe, sondern auch Eintönigkeit und Langeweile bescheren würde.

    Man spürt Ediths Einsamkeit und Melancholie. Sie vermisst ihren Liebhaber David, beginnt, die anderen Gäste zu beobachten und sich mit ihrer lebhaften Phantasie ihre Lebensgeschichten auszumalen.

    Ihre Gedanken nachzuvollziehen ist interessant, ihren Beobachtungen zu folgen ist vergnüglich, unterhaltsam, inspirierend, und z. T. witzig.

    Wir lernen die oberflächliche, konsumfreudige, wählerische, anspruchsvolle und mitteilsame Mrs. Pusey mit ihrer pummeligen Tochter Jennifer kennen, die im Schatten ihrer Mutter steht und für Höheres bestimmt ist.

    Wir treffen auf die schöne, schlanke und große Lady Monica, „ein Mitglied der herrschenden Klasse“, eine „träge Luxusfrau“, die ihr Hündchen Kiki gnadenlos verwöhnt.

    Wir begegnen der von Sohn und Schwiegertochter ausrangierten, schwerhörigen und ständig Zeitung lesenden Mme. de Bonneuil mit dem „Bulldoggengesicht“.

    Und dann weckt ein Mann im grauen Anzug Ediths Interesse: Philip Neville, der in ihr die Schriftstellerin Vanessa Wilde erkennt.

    Es ist ein äußerlich ruhiger und gleichzeitig innerlich bewegter und dichter Roman.
    Handlung und Aktion stehen im Hintergrund. Es geht vor allem um das Innenleben Ediths: ihre Gefühle, Empfindungen, Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen.

    Man hat den Eindruck, als bewege sich Edith, eine Frau mit schlechter Menschenkenntnis und viel Fantasie, in einer Parallelwelt.
    Entweder verliert sie sich in ihrer Innenwelt, in ihren Tagträumen und Fantasien oder sie taucht tief in die Handlung ihres neuen Romans ein. Eine gute Methode, um „die allzu realen Umstände, über die sie keine Kontrolle hatte, fernzuhalten“ (Kindle Position 846)

    In dem faszinierenden Roman stecken viele kleine Schätze, zum Beispiel die schöne Bemerkung: „Literatur, die altbewährte Trösterin der sich unbehaglich Fühlenden…“ (Kindle Position 846)

    Die bildhafte und anschauliche Sprache macht es zum Genuss, sich all das vorzustellen, was Edith erlebt und beobachtet.
    Letztlich hat man das Gefühl, mit dieser elitären Luxusgesellschaft im Speisesaal zu essen oder im Salon Tee zu trinken, weil Anita Brookner sowohl Charaktere als auch Ambiente und Atmosphäre so bravourös beschreibt.

    Es ist eine sowohl eindrucksvolle und tiefgründige, als auch unterhaltsame und vergnügliche Lektüre, die immer wieder amüsant ist und zum Schmunzeln anregt.

    Dieses Buch mit dem schönen und ausführlichen Vorwort von Elke Heidenreich werde ich sicher ein zweites Mal lesen.
    Bisher habe ich es nur als eBook, aber ich werde es mir noch als Printausgabe gönnen.

    „Hotel du Lac“ ist ein Roman, der in meinem Klassikerregal stehen muss, weil ich ihn unglaublich gut finde.

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Der Mörder (Die großen Romane)

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Mörder (Die großen Romane)' von Simenon, Georges
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Mörder (Die großen Romane)"

Format:Taschenbuch
Seiten:192
Verlag:
EAN:9783455007947
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Rezensionen zu "Der Mörder (Die großen Romane)"

  1. 5
    30. Mai 2020 

    Ein spannender und schlüssiger Pageturner mit Tiefgang!

    Erneut haben wir es mit einem ganz besonderen Krimi aus der Feder des bekannten und erfolgreichen belgischen Schriftstellers Simenon (1903 - 1989) zu tun.
    Mit einem Krimi, der die Genregrenze sprengt. Warum?
    Weil schon nach kürzester Zeit Mörder und Motiv klar sind und weil es im weiteren Verlauf weniger um die offiziellen Ermittlungen geht, als um die inneren Entwicklungen und Veränderungen der Protagonisten und ihrer Beziehungen.

    Der 1937 erstmals erschienene Kriminalroman spielt in einem Winter in den Niederlanden.
    Der 45-jährige Doktor Hans Kuperus, Hausarzt in Sneek (Stadt in Friesland), ist, wie jeden 1. Dienstag im Monat in Amsterdam.
    Aber heute schwänzt er zum ersten Mal die Versammlung der biologischen Gesellschaft und er besucht auch nicht wie üblich seine Schwägerin.

    Stattdessen kauft er einen Revolver und gönnt er sich, ganz entgegen seiner üblichen Gewohnheiten, ein üppiges französisches Menü in einem exklusiven Restaurant.

    Aber warum braucht er eine Waffe? Das hängt mit einer anonymen Nachricht zusammen, die er vor einem Jahr bekommen hat.
    Da schrieb ihm jemand kurz und knapp, dass seine Frau Alice ihn immer mit dem stadtbekannten Frauenheld Schutter betrüge, wenn er unterwegs sei.

    Tja... und dann erschießt Kuperus genau mit dieser Waffe seine Frau und ihren Liebhaber, als die beiden einen Spaziergang im Mondschein machen. Die Leichen schmeißt er in einen Kanal, der günstigerweise bald zufriert...

    Man könnte sich jetzt fragen, ob der Autor nicht schon auf den ersten Seiten sein ganzes Pulver verschossen hat.
    Wir kennen den Mörder und wir kennen das Motiv.
    Und nun?

    Nun tauchen auf einmal viele Fragen auf.
    Was hat es mit dem fremden Mann auf sich, der unerkannt seit Monaten unter Kuperus’ Dach schläft?
    Warum schnüffelt eine blonde Frau seit neuem in Sneek herum?
    Wer hat den anonymen Brief geschrieben?
    Welche Rolle spielt das Dienstmädchen Neel?
    Wird man Kuperus entlarven?

    So viel sei verraten:
    Simenon hat sein Pulver bei Weitem nicht verschossen. Es bleibt bzw. wird fesselnd und spannend bis zur letzten Seite.

    Wie in all seinen Kriminalromanen, die ich bisher (mit großem Vergnügen!) gelesen habe, erfreue ich mich an Simenons eleganter und altertümlicher Sprache, seiner unaufgeregten und bedachten Ausdrucksweise und an der Charakterzeichnung sowie der zunehmenden Offenbarung des Innenlebens seiner Hauptfiguren Doktor Kuperus und seiner Dienstmagd Neel.
    Beides sind interessante Personen, die vor dem geistigen Auge zum Leben erwachen.
    Während Kuperus immer unsympathischer wird, staunt man immer mehr über Neels kühle Souveränität und Unnahbarkeit.
    Die Veränderungen, die mit Kuperus vor sich gehen, sind gleichermaßen faszinierend wie abschreckend und Simenon seziert dies detailliert und beeindruckend.

    Mit diesem Kriminalroman hat uns Simenon einen schlüssigen und fesselnden Pageturner mit Tiefgang vorgelegt.

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Der Mörder (Die großen Romane)

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Mörder (Die großen Romane)' von Simenon, Georges
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Mörder (Die großen Romane)"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:192
EAN:9783455005240
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Rezensionen zu "Der Mörder (Die großen Romane)"

  1. 5
    30. Mai 2020 

    Ein spannender und schlüssiger Pageturner mit Tiefgang!

    Erneut haben wir es mit einem ganz besonderen Krimi aus der Feder des bekannten und erfolgreichen belgischen Schriftstellers Simenon (1903 - 1989) zu tun.
    Mit einem Krimi, der die Genregrenze sprengt. Warum?
    Weil schon nach kürzester Zeit Mörder und Motiv klar sind und weil es im weiteren Verlauf weniger um die offiziellen Ermittlungen geht, als um die inneren Entwicklungen und Veränderungen der Protagonisten und ihrer Beziehungen.

    Der 1937 erstmals erschienene Kriminalroman spielt in einem Winter in den Niederlanden.
    Der 45-jährige Doktor Hans Kuperus, Hausarzt in Sneek (Stadt in Friesland), ist, wie jeden 1. Dienstag im Monat in Amsterdam.
    Aber heute schwänzt er zum ersten Mal die Versammlung der biologischen Gesellschaft und er besucht auch nicht wie üblich seine Schwägerin.

    Stattdessen kauft er einen Revolver und gönnt er sich, ganz entgegen seiner üblichen Gewohnheiten, ein üppiges französisches Menü in einem exklusiven Restaurant.

    Aber warum braucht er eine Waffe? Das hängt mit einer anonymen Nachricht zusammen, die er vor einem Jahr bekommen hat.
    Da schrieb ihm jemand kurz und knapp, dass seine Frau Alice ihn immer mit dem stadtbekannten Frauenheld Schutter betrüge, wenn er unterwegs sei.

    Tja... und dann erschießt Kuperus genau mit dieser Waffe seine Frau und ihren Liebhaber, als die beiden einen Spaziergang im Mondschein machen. Die Leichen schmeißt er in einen Kanal, der günstigerweise bald zufriert...

    Man könnte sich jetzt fragen, ob der Autor nicht schon auf den ersten Seiten sein ganzes Pulver verschossen hat.
    Wir kennen den Mörder und wir kennen das Motiv.
    Und nun?

    Nun tauchen auf einmal viele Fragen auf.
    Was hat es mit dem fremden Mann auf sich, der unerkannt seit Monaten unter Kuperus’ Dach schläft?
    Warum schnüffelt eine blonde Frau seit neuem in Sneek herum?
    Wer hat den anonymen Brief geschrieben?
    Welche Rolle spielt das Dienstmädchen Neel?
    Wird man Kuperus entlarven?

    So viel sei verraten:
    Simenon hat sein Pulver bei Weitem nicht verschossen. Es bleibt bzw. wird fesselnd und spannend bis zur letzten Seite.

    Wie in all seinen Kriminalromanen, die ich bisher (mit großem Vergnügen!) gelesen habe, erfreue ich mich an Simenons eleganter und altertümlicher Sprache, seiner unaufgeregten und bedachten Ausdrucksweise und an der Charakterzeichnung sowie der zunehmenden Offenbarung des Innenlebens seiner Hauptfiguren Doktor Kuperus und seiner Dienstmagd Neel.
    Beides sind interessante Personen, die vor dem geistigen Auge zum Leben erwachen.
    Während Kuperus immer unsympathischer wird, staunt man immer mehr über Neels kühle Souveränität und Unnahbarkeit.
    Die Veränderungen, die mit Kuperus vor sich gehen, sind gleichermaßen faszinierend wie abschreckend und Simenon seziert dies detailliert und beeindruckend.

    Mit diesem Kriminalroman hat uns Simenon einen schlüssigen und fesselnden Pageturner mit Tiefgang vorgelegt.

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Die Bagage

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Bagage' von Helfer, Monika
4.35
4.4 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Bagage"

Format:Audio CD
Seiten:0
Verlag:
EAN:9783844537987
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Rezensionen zu "Die Bagage"

  1. Die Bagage

    Klappentext:
    „Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin. Mit großer Wucht erzählt Monika Helfer die Geschichte ihrer eigenen Herkunft.“

    Autorin Monika Helfer hat sich selbst mit diesem Buch verewigt, denn sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter und ihrer Großeltern. An sich eigentlich spannend und faszinierend, aber Helfer schafft es für mich so gut wie nie emotional oder feinfühlig ihre Geschichte rüberzubringen. Man merkt schnell das Liebe und Romantik in der Familie Moosbrugger nicht an oberster Stelle stehen, denn sie sind die Aussätzigen, die Bagage des Dorfes. Ich kann Helfer da schon mit ihrem Schreib-Stil verstehen aber es wirkte für mich als Leser stumpf und tröge. Es ist ein biografischer Roman ihrer Mutter und nicht ihrer, dennoch fehlt das Gefühl was Monikas Mutter Grete gut getan hätte. Es wird schnell klar das die Fänge des Ersten Weltkrieges mehr fordern als Soldaten....hier gehen auch Lieben auseinander, auch wenn beide Partner noch leben. Die Liebe und das Gefühl von Sehnsucht ist groß, man stumpft ab, wenn man diese nicht erhält und da taucht dann ein Fremder auf, der die schöne Maria besucht. Helfer lässt dann zum Teil Realität und zum Teil ihre eigenem Gedanken zusammen verschmelzen. Gut, das ist machbar, aber bitte nicht so harsch und emotionslos erzählt. Es wirkt alles wie das herunterrasseln eines Einkaufszettels oder einer abschätzigen Aufzählung. Helfers Schreibstil ist dabei ja ganz passend aber traf nicht meinen Geschmack. 2 von 5 Sterne.

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  1. 4
    23. Mai 2020 

    Ein Dorfleben abseits der Idylle...

    Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin. Mit großer Wucht erzählt Monika Helfer die Geschichte ihrer eigenen Herkunft.

    Das Buch bekam ich geschenkt, das Hörbuch hatte ich mir kurz zuvor gekauft. Daher habe ich beschlossen, hier parallel zu fahren, d.h. erst zu lesen und die Erzählung anschließend auch noch zu hören, falls es mir gefallen sollte. Es gefiel...

    Ein Puzzle breitet Monika Helfer hier aus, das Ergebnis der Spurensuche nach ihren eigenen Familienwurzeln. Die Autorin hat hierfür mit den zahlreichen Geschwistern ihrer Mutter gesprochen, um das Bild zusammensetzen zu können, die verschiedenen Versionen abgeglichen und eingefügt. Und man erhält hier ein sprödes, unprätentiöses Bild von dem Leben der armen Familie am Rande eines kleinen Bergdorfes.

    Die Erzählung beginnt zeitlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Eltern Maria und Josef werden ebenso skizziert wie ihre einzelnen Kinder mit ihren verschiedenen Eigenschaften. Der Leser erhält einen Eindruck, wie es war, in bitterer Armut abseits der Dorfgemeinschaft zu leben, jedes Familienmitglied mit einer eigenen Aufgabe betraut, als Gesamtgefüge eine funktionierende Gemeinschaft, wenig spürbare Herzlichkeit, aber eine unbedingte Zugehörigkeit.

    Schwierig wird es, als Josef zum Kriegsdienst verpflichtet wird und Maria mit den Kindern alleine zurückbleibt. Dem befreundeten Bürgermeister trägt Josef daher auf, auf seine Familie zu achten und vor allem Maria gut im Auge zu behalten, damit mögliche Gefahren abgewendet werden können. An einem Markttag lernt Maria dann einen jungen Mann aus Hannover kennen, der sie einige Tage später auch auf ihrem Hof besucht.

    Das ist schließlich das Startsignal für das soziale Aus. Eh schon eher toleriert denn geachtet, gehen nun im Dorf Gerüchte über den liederlichen Lebenswandel der Maria um. Schwanger ist sie außerdem, doch dass dieses ungeborene Kind - die spätere Mutter der Autorin - von Josef stammen könnte, der immerhin einige Tage auf Heimaturlaub da war, schließen die bösen Zungen aus.

    Tatsächlich muss sich Maria gegen Übergriffe wehren - allerdings gegen die des Bürgermeisters, der immer zudringlich zu werden beginnt. Schließlich wendet er sich ab, unterstützt die Familie aber auch nicht länger mit Lebensmitteln und anderen dringend benötigten Dingen. Der Pfarrer wettert von der Kanzel und gießt damit Gallonen von Öl ins Feuer - die Familie steht im Abseits. Bittere Not erfordert schließlich besondere Maßnahmen, und einer der Söhne nimmt das Heft schließlich in die Hand...

    Nach Kriegsende kehrt Josef heim, und die Gerüchte ereilen ihn schon bevor er das Dorf betritt. Das Mädchen, Grete, ist inzwischen geboren - und sie wird erleben, dass der Vater (denn tatsächlich kommt niemand anderer in Frage als Josef) Zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal das Wort an sie richtet...

    Die Familiengeschichte wird nicht linear erzählt, sie springt in den Zeiten, beleuchtet das damalige Geschehen, aber auch die Spurensuche der Autorin selbst und die Gesprächen mit den noch lebenden Geschwistern der Mutter. Spröde ist der Schreibstil, wenig emotional wie das damalige Dorfleben, und wirkt darum unglaublich authentisch. Dabei klagt die Autorin nicht an, sie scheint sich als Chronistin der Ereignisse zu sehen, was zuweilen zwar ein wenig Melancholie durchschimmern lässt, ansonsten aber eher distanziert wirkt.

    Eine leise, ruhige Erzählung, ein Teppich gewebt aus vielen Fäden der Vergangenheit, auf dem die Mitglieder der Familie bis heute schreiten. Deutlich wird hier eben auch, dass die Erlebnisse voriger Generationen ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart zeitigen. Und dies ist vielleicht das Allgemeingültige an dieser Erzählung.

    Mir hat der Einblick in diese sehr persönliche Familiengeschichte jedenfalls gefallen...

    © Parden

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  1. Herkunft

    Der Roman beginnt fast idyllisch mit einer Frau, die Wäsche zwischen zwei Kirschbäumen aufhängt, wäre da nicht der Schatten, der auf das Haus fällt. Die Frau ist Maria Moosburger, Großmutter der österreichischen Autorin Monika Helfer, das Haus liegt im hintersten Bregenzerwald und die Familie mit vier Kindern lebt ganz hinten im Tal, abgeschieden und bitterarm:

    "Sie wohnten dort, weil ihre Vorfahren später gekommen waren als die anderen und der Boden am billigsten war, und am billigsten war der Boden, weil die Arbeit auf ihm so hart war. Am letzten Ende hinten oben wohnten Maria und Josef mit ihrer Familie. Man nannte sie „die Bagage“. Das stand damals noch lange Zeit für „das Aufgeladene“, weil der Vater und der Großvater von Josef Träger gewesen waren, […] und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechts."

    Verhängnisvolle Schönheit
    Nur um eines wird Maria beneidet: ihre legendäre Schönheit. Doch genau die wird ihr zum Verhängnis, als ihr Mann Josef, mit seinen zweifelhaften Geschäften Ernährer der Familie, im September 1914 eingezogen wird. Angesichts der gierigen Blicke der Männer bittet er seinen Geschäftspartner und Bürgermeister, auf Maria aufzupassen, macht damit jedoch den Bock zum Gärtner. Tatsächlich verliebt sich Maria bei einem Jahrmarktsbesuch in Georg aus Hannover, der sie und die Kinder auf dem Hof sogar besucht, aber mehr als ein Kuss ist nicht überliefert. Der Bürgermeister jedoch sieht spätestens jetzt seine Chance gekommen und Maria muss ihre Kinder als Schutzschilde einsetzen. Wer der Vater der kleinen Grete ist, die einige Monate später zur Welt kommt, wird nie geklärt: Georg, der Bürgermeister oder doch Josef, der zweimal im Fronturlaub zuhause war? Das Dorf, allen voran der Pfarrer und der Lehrer, ist sich jedenfalls sicher: Maria ist eine Hure, die „Bagage“ Abschaum. Auch Josef zweifelt trotz Marias Schwüren. Nie richtet er das Wort an Grete, vor der er sich ekelt, nie verprügelt er sie, um sie nicht zu berühren. Seinen anderen sechs Kindern dagegen, zwei davon nach dem Krieg geboren, ist er ein liebevoller Vater.

    Eine große Erzählerin
    Maria Moosburger starb mit 32 Jahren, Josef nur ein Jahr später, und auch Monika Helfers zeitlebens ein wenig seltsame und zurückgezogene Mutter Grete verstarb jung. Fortan kümmerte sich die strenge Tante Kathe, die älteste Schwester Gretes, um ihre drei verwaisten Nichten. Im hohen Alter erzählte sie von der „Bagage“ und die 1947 in Au im Bregenzerwald geborene Monika Helfer brachte die Geschichte ihrer Familie nun in Romanform zu Papier. Kaum 160 Seiten umfasst dieser zwischen vier Generationen pendelnde Roman, unglaublich bei der Fülle an Figuren und Schicksalen. Wie Skizzen wirken die Figurenzeichnungen, ohne Wertung, sprachlich äußerst knapp und doch ungeheuer lebendig. Wie jede und jeder von ihnen mit der Last seiner Herkunft auf eigene Art und Weise durchs Leben ging und geht, erzählt Monika Helfer ohne Dramatik und vor allem ohne Pathos und Kitsch. Eine ganz große Erzählerin und ein Highlight in diesem Literaturfrühling 2020.

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  1. Die Familie vom Ende der Straße...

    Ehrlich gesagt hat mich der sonderbare Titel auf das Buch aufmerksam gemacht, denn von der Autorin hatte ich bisher noch nichts gelesen.

    In der Geschichte geht es um Maria und Josef, die in den Bergen weit ab vom Schuss leben. Im Haus haben sie weder Strom noch Wasser und dennoch klappt es ganz gut mit den Kindern und allem. Doch dann muss der Vater in den Krieg ziehen, was das Leben der Familie enorm ändert. Wird er den Krieg überleben? Wird sich etwas verändern?

    Das Besondere an dem Buch ist, dass die Autorin als Ich- Erzählerin agiert und uns an ihrer Familiengeschichte teilhaben lässt, in der sie noch nicht lebte und ihre Mutter teils ebenfalls noch nicht auf der Welt war. So etwas hatte ich bis dato noch nicht in den Händen und man bekam beim Lesen direkt Lust selbst Nachforschungen bezüglich der eigenen Familie anzustellen.

    Für meinen Geschmack zeichnet die Autorin die Zeit des ersten Weltkrieges sehr authentisch und es liest sich so als würde man der Freundin der eigenen Großmutter lauschen.

    Ich mochte vor allem wie sehr die Familie auch in Krisenzeiten zusammenhält und sich für den anderen einsetzt. Vor allem sind gerade die Kinder ohne den Vater über sich hinausgewachsen.

    Etwas traurig gemacht hat mich, dass der Tratsch dazu geführt hat, dass Josef seiner Frau misstraut, obwohl er es eigentlich besser hätte wissen müssen. Da sorgte wohl eher der Neid der Bewohner dafür, dass man Maria etwas angedichtet hat, was nie stattgefunden hat und zum tiefen Schnitt in der Familie führte. Ich kann mir nur schwer vorstellen wie sehr es schmerzen muss, wenn der eigene Vater einen komplett ignoriert.

    Ich habe mich beim Lesen sehr wohl gefühlt und hätte die Mitglieder der Bagage gern selbst kennengelernt.

    Fazit: Berührende Familiengeschichte, die mich nicht kalt gelassen hat und die ich gern empfehle. Die ideale Lektüre für Zwischendurch.

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  1. Die Feinheit liegt in der Kleinheit

    1914. Es ist der Beginn des Ersten Weltkrieges, als Josef Moosbrugger einberufen wird. Seine Frau Maria bleibt mit den vier Kindern zurück, am Rande des kleinen Vorarlberger Bergdorfes. Die Familie lebt für sich, es sind die Abseitigen, die „Bagage“, wie die Moosbruggers verächtlich von den Dorfbewohnern genannt werden. Abhängig vom Schutz und der Mildtätigkeit des Bürgermeisters meistert Maria den schweren und entbehrungsreichen Alltag. Bis sie auf Georg, einen jungen Deutschen trifft und sie sich für sehr kurze ein anderes Leben erträumt. Und auch wenn Josef zweimal Urlaub von der Front bei Frau und Familie verbringt, als Marias Bauch wächst, kommt sie umso mehr ins Gerede.
    Das Kind, mit dem Maria schwanger ist, ist Grete, die Mutter der Autorin. Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Familie, ihrer Herkunft. Maria und Josef, das ist keine „heilige Familie“. Monika Helfer erzählt vom Großvater, der nie ein Wort mit Grete gesprochen hat, weil er sich seiner Vaterschaft nie sicher war. Sie erzählt vom Bürgermeister, der aufpassen sollte, und nicht Mann genug war, auf sich selbst aufzupassen, sie erzählt von den Onkeln Hermann, Lorenz, Walter und Sepp. Der aufrechten und aufrichtigen Tante Kathe, dem Leben und Sterben der Mutter. Von den eigenen Kindern, dem Sohn dem Maler und der Tochter, die viel zu früh ihr Leben verlor.
    Und von der Großmutter erzählt Monika Helfer. Von der schönen Maria, von deren Träumen, die Autorin und Enkeltochter nicht kennt und aufgrund ihrer „Nachforschungen“ wie ein Mosaik zusammensetzt. Es sind eigene Erinnerungen an die Verwandten, erzählte Erinnerungen an die Großmutter und das Leben abseits am Rande des Dorfes. Wie es so ist wenn, man nachdenkt, die Gedanken zu springen vom „Heute“ zum „Damals“ und „Wie es gewesen sein könnte“. So viele Menschen, so viele Jahre. Monika Helfer fasst und erfasst so viel Leben in diesen Roman. Die Feinheit dieses Buches liegt in seiner Kleinheit.

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  1. Klein, aber sehr fein

    Ja, genau so geht das. So, und nicht anders, sollte man Familiengeschichten schreiben. Monika Helfer erzählt von ihrer Familie, der Bagage oben auf dem Berg, die nichts zu essen aber viele Kinder hatte. Über die man gerne tratschte, weil die Maria zu schön war und alle Männer von ihr träumten.

    Die schöne Maria Moosbrugger war die Großmutter der Autorin und musste daheim die Stellung halten, als Josef, ihr Mann, in den Ersten Weltkrieg zog.

    Davon, und von noch viel mehr, erfährt man hier in kleinen Portionen, ein Schnipsel hier und einer da, dann noch ein Schlenker, durch drei Generationen.
    Der Erzählstil ist so eigen wie genial. Hier spricht eine Österreicherin beinahe so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, nach der Schrift natürlich, trotzdem mit einem lokalen Einschlag, viel Intuition, Einfühlungsvermögen und Sinn für Poesie. Man muss sich daran gewöhnen, aber hat man sich eingelebt, fegt es einen weg.

    Dieses Buch ist klein, aber sein fein, unterhaltsam und mitreißend, aufwühlend. Es lässt uns mitfühlen, wie es ist mitten im Krieg zu leben, zu überleben, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht.

    Ich bin sehr beeindruckt und erwarte, diesen Titel auf der nächsten Buchpreisliste zu sehen.

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  1. Ein sehr persönliches Buch

    Die Geschichte ihrer Familie erzählt Monika Helfer in ihrem knapp 160-seitigen Roman „Die Bagage“, erschienen im Februar 2020 im Carl Hanser Verlag.
    Sie lebt abgeschieden, die Familie Moosbrugger – am Rande eines kleinen Dorfes, am Rande der Gesellschaft. Weitgehend Selbstversorger, hat sie kaum genug, um über die Runden zu kommen. Als dann der Erste Weltkrieg ausbricht, wird Josef, der Ernährer, eingezogen. Zurück lässt er seine schöne Frau Maria und seine Kinder, die von nun an mehr oder weniger auf sich gestellt sind – unterstützt allein vom Bürgermeister des Dorfes, der sich allerdings immer wieder an Maria heranmacht. Und dann ist da noch der hübsche Hannoveraner Kaufmann Georg, der ebenfalls seinen Weg zu Maria findet. Kurze Fronturlaube entfremden die Familie eher, als dass sie sie zusammenschweißen. Als Maria schwanger wird und Grete gebiert, keimt in Josef der Verdacht, dass seine Frau ihm ein Kuckuckskind ins Nest gesetzt hat … und er wird zeitlebens nie ein Wort mit diesem Mädchen, der Mutter der Autorin, wechseln.
    Ich muss gestehen, dass ich mit anderen Erwartungen an das Buch herangegangen bin, als das Buch schließlich erfüllte. Ich dachte, mehr über Gretes Leben und Entwicklung zu lesen – wie schrecklich muss es sein, vom eigenen Vater ignoriert zu werden. Stattdessen erzählt Helfer die Geschichte sämtlicher Familienmitglieder, von 1914 bis hinein in die Gegenwart. Grete spielt dabei eher eine untergeordnete Rolle, im Zentrum stehen Josef und Maria Moosbrugger.
    Das Buch beginnt mit einem Idyll: Ein Bild soll gemalt werden, von einem kleinen Haus in einer heilen Welt. Leserinnen und Leser werden dabei direkt von der Autorin angesprochen, zum Stift zu greifen und loszulegen. Doch dann ein Bruch: „Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild, kalt und ohne Erbarmen.“ (S. 7) Der Vater zieht in den Krieg, die Familie kämpft ums Überleben. Durch Vorgriffe in die spätere Geschichte zeigt Monika Helfer immer wieder auf, wie insbesondere die Kriegsjahre mit ihren Folgen das weitere Schicksal ihrer Familie geprägt haben. Besonders beeindruckt hat mich dabei, wie treffend sie am Beispiel ihres Großvaters Josef aufzeigt, wie der Krieg den einst selbstbewussten Mann und seine Beziehung zu seinen Lieben verändert hat.
    Aber auch die Schwierigkeiten, die ihre Großmutter als schönste Frau des Dorfes, von Männern begehrt, von Frauen verachtet, hatte, wird plastisch insbesondere anhand des Bürgermeisters beschrieben. Dieser wankt immer wieder zwischen seinem Versprechen, sich um Maria zu kümmern, und seinem Begehren nach ihr. Wie geächtet die Familie Moosbrugger in ihrer Gemeinde ist, wird sehr anschaulich, wenn sie in der Kirche in der hintersten Bank knien und beten muss – auch hier, wo die Gemeinde sich am nächsten sein sollte, ist also kein Platz für die „Bagage“.
    Vieles bleibt in diesem Buch unklar, die Familiengeschichte ist, wie wohl jede, von Legenden umwoben: Ist die im Krieg geborene Grete Josefs Tochter? Er bezweifelt es, die Familie glaubt es. Doch, wie oben schon beschrieben, hätte mich gerade Gretes Schicksal noch mehr interessiert, als es in diesem Buch erörtert wird.
    Monika Helfers Sprache ist eher einfach, dem Inhalt der Geschichte dadurch jedoch umso angemessener. Auch hatte ich während des Lesens oftmals das Gefühl, mit der Autorin zusammen über das Leben ihrer Familie zu philosophieren, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass sie immer wieder Stichpunkte aufgreift, um auf spätere Schicksale zu schreiben zu kommen. Dieses hilft beim Lesen, tief in die Geschichte einzutauchen sowie mit der Familie mitzuleben und mitzuleiden.
    Auch wenn das Buch nicht die Geschichte erzählt, die ich im Vorfeld erwartete, habe ich es nicht bereut, es zu lesen. Eindrücklich und mitreißend erzählt Monika Helfer hier eine, nämlich ihre (Familien-)Geschichte des 20. Jahrhunderts – jenseits von Ruhm und Geld, sondern eine Geschichte einer einfachen Familie fast am Rande der Gesellschaft, die zu lesen sich auf jeden Fall lohnt.

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  1. Muss man eigentlich gelesen haben.

    Kurzmeinung: Auf wenigen Seiten viel Familiengeschichte. Unsentimental, tiefgehend.

    Der Erste Weltkrieg reißt den Ernährer der Kleinfamilie Moosbrugger weg. Das ist eine Katastrophe, denn sie haben sowie so schon wenig und wie sollen sie ohne Josef über die Runden kommen? Moosburgers Frau Maria ist die schönste Frau in der bäuerlichen Umgebung. Doch Schönheit ist ein Fluch in diesen Zeiten. Die einfachen Mannsleute haben sie immer schon begehrt. Josef, ihr Mann, weiß das und beauftragt einen Aufpasser.

    Maria, die Mutter, kämpft während der Abwesenheit des Mannes zusammen mit ihren heranwachsenden Kindern ums Überleben und gegen die Nachstellungen des Bürgermeisters, der eigentlich geschworen hat, sie zu beschützen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg ist die Familie von mancherlei Kalamitäten verfolgt. Denn wenn der Krieg vorbei ist, ist er nicht vorbei. Es dauert einige Generationen bis er ausgewaschen ist. Die psychischen Schäden betreffen noch die nachfolgenden Kinder und deren Kinder.

    Die vorliegende, ziemlich düstere, Familiengeschichte ist über den Zweiten Weltkrieg hinaus geschrieben und aus Sicht der erwachsenen Enkelin erzählt, die ebenfalls einige Schicksalsschläge hinnehmen musste. Dadurch ist man manchmal ganz nah dran, aber manchmal auch ganz weit weg und muss gut aufpassen, um mitzukriegen, von wem in jeder Zeile die Rede ist. Denn der Roman ist kurz.

    Monika Helfer schreibt in gewohnter fesselnder und natürlicher Weise. Man ist sofort drin in der Geschichte und weiß, so war das. Ja. So war das wirklich, früher. So wenig hat man seine Onkel und seine Tanten gekannt, nur einen Bruchteil ihres Lebens gewusst. Es waren andere Zeiten. Schlimme Zeiten. Und es brauchte einige Generationen, daraus herauszuwachsen. Manches war schön, manches war hart, die Menschen, die diese Zeiten erlebt haben, sind spröde geworden und schweigsam geblieben. Vor allem die Männer. Unter den Spätfolgen leiden allerdings alle.

    Fazit: Es ist eine Kunst, so viel Familiengeschichte in nur 160 Seiten zu packen. Da sind natürlich Lücken. Dennoch vermisst man nichts. Das Buch ist anrührend. Aber völlig unpathetisch. Wunderbare Sprache. Einfach gehalten, um nachzuzeichnen, wie die Charaktere gewesen sind. Trotzdem keine leichte Kost. Sehr viel Schicksal.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag, Hanser, 2020

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  1. Die Last der Vergangenheit

    Monika Helfer erzählt in ihrem gerade mal 160 Seiten langen Roman „Die Bagage“ von der Last der Vergangenheit über mehrere Generationen hinweg, von der Zähigkeit des dörflichen Lebens, vom Fluch der Schönheit und von der Mühsal des Überlebens.
    Vom Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht das schmale Buch, das trotz der Knappheit eine Familiengeschichte dreier Generationen enthält, die die eigene der Schriftstellerin ist.
    Maria und Josef leben am Rand des österreichischen Bergdorfes, haben viele Kinder, aber an allem anderen herrscht Knappheit. Als Josef eingezogen wird als Soldat im Ersten Weltkrieg verschlimmert sich die Situation für die Familie Moosbrugger. Maria ist eine Schönheit, seit langem von den Männern begehrt und von den Frauen verachtet. Der Bürgermeister des Dorfes, den Josef um Schutz für seine Frau bat, macht sich gewaltsam an Maria heran. Die Vorführung männlicher Potenz, die Eifersucht und Missgunst der Frauen treten immer mehr zutage, dazu der Krieg, der auch die abgegrenzte Dorfwelt berührt.
    Maria wird schwanger, und es ist unwahrscheinlich, dass das Kind vom sehr selten gesehenen Josef ist. Fragen kommen auf, ob der Bürgermeister oder Georg, ein Mann aus Hannover, in den sich Maria verliebte, der Vater sein könnten. Das Kind, Grete, ist die Mutter der Autorin, von dem letztlich sogar Josef glaubt, daß ihm ein Kuckucksei ins Nest gelegt wurde. Nach dem Krieg ist die Tochter Grete für ihn nicht existent, er spricht sein ganzes Leben kein Wort mit ihr.
    Die Bagage sind arme Menschen und gleichzeitig Lasten, die man mit sich herumträgt. Zeitlebens gemobbt von Josef, was die Autorin äußerst naturalistisch darzustellen vermag, wächst Grete in armen Verhältnissen und umgeben von Geheimnissen und Missgunst auf, trägt die Last ihrer armen Herkunft und den Makel ihrer Geburt.
    Das Buch „Die Bagage“ ist dicht erzählt, und durch die Nähe zur Familiengeschichte der Autorin ist man beim Lesen ganz nahe am Geschehen, auch wenn große Zeitsprünge und Vielstimmigkeit höchste Konzentration verlangen. Der emotionale Ballast wird weitergereicht von einer Generation zur nächsten, und alle erzählen davon.
    Liebevoll und zugleich schonungslos, ohne Schnörkel, betrachtet Monika Helfer ihre Figuren, die sich auf oft krummen Wegen im Abseits bewegen müssen. Dass es sich dabei um ihre eigene Geschichten handelt, macht das Buch für mich umso eindrucksvoller.
    Stilistisches das Buch nur scheinbar einfach verfasst, entsprechend der dörflich-hinterwäldlerischen Redeweise, denn es steckt voller hintersinnigem Witz. Man merkt dem Text an, dass die österreichische Schriftstellerin schon mehrere Romane veröffentlicht hat, von dem einerseits zwei Jahren für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

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