Das Eis-Schloss: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Eis-Schloss: Roman' von Tarjei Vesaas

Inhaltsangabe zu "Das Eis-Schloss: Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:208
EAN:9783423148184
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Siegfried und Krimhild Die Nibelungen

Buchseite und Rezensionen zu 'Siegfried und Krimhild Die Nibelungen' von Jürgen Lodemann

Inhaltsangabe zu "Siegfried und Krimhild Die Nibelungen"

Format:Taschenbuch
Seiten:896
EAN:9783423133593
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Das Flüstern der Toten

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Flüstern der Toten' von Pascal Wokan

Inhaltsangabe zu "Das Flüstern der Toten"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:484
EAN:9783751916691
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Die Stimme der Toten: (Nekromanten-Zyklus III/III)

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Stimme der Toten: (Nekromanten-Zyklus III/III)' von Pascal Wokan

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Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:431
Verlag:
EAN:
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Marschlande: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Marschlande: Roman' von Jarka Kubsova
4.15
4.2 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Marschlande: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
Verlag: S. FISCHER
EAN:9783103974966
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Rezensionen zu "Marschlande: Roman"

  1. 5
    23. Mär 2024 

    Interessant, nachdenklich stimmend

    In dem Roman „Marschlande“ erzählt Jarka Kubsova über zwei Frauen aus dem Hamburger Marschland.
    Eine von ihnen ist die Hufnerin Abelke Bleken, die im 16. Jahrhundert einen großen Hof von ihren Eltern übernommen hatte. Sie liebte ihre Heimat und lebte für ihre Aufgaben als Bäuerin. Ihr florierender Bauernhof war dem anderen Dorfbauern ein Dorn im Auge, der Neid um ihren Erfolg und Besitz wuchs.
    Ein neues Zuhause findet im Marschland Britta Stöver, die mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Ochsenwerder zieht. Ihre Geschichte spielt in der Gegenwart. Britta, die ihren Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie aufgegeben hat, um sich der Familie zu widmen, ist zuerst mit dem neuen Zuhause und ihren Aufgaben als nur Hausfrau und Mutter unzufrieden. Doch dann entdeckt sie die Hinweise auf das Leben von Abelke Bleken. Die Geschichte der starken Frau, die sich gegen alle Widrigkeiten ihrer Epoche und dem Hass der Mitmenschen stellen musste, fasziniert Britta.

    Es gibt einige Parallelen in den Geschichten der beiden Frauen. Beide mussten um ihre Ziele und Überzeugungen kämpfen, beide zahlten einen hohen Preis dafür.
    Besonders interessant fand ich die Geschichte über die Hufnerin Abelke, die auf historischen Tatsachen beruht. Im Nachwort zum Buch schreibt die Autorin ausführlich darüber. Nicht nur das Schicksal der Bäuerin hat mich bewegt; auch viele historischen Fakten, wie das damalige Deichrecht oder die Enteignung der Bauern, weckten mein Interesse.
    Etwas mehr dagegen hätte ich von der Geschichte über Britta erwartet. Ich hätte viel mehr über ihr bisheriges Leben, über Beweggründe für ihre Entscheidungen erfahren wollen.

    Genossen habe ich die bildhafte Schreibweise der Autorin, die ausdrucksvoll über die Marschlandschaft schreibt:
    (ein) Stück Land, in dem Glück und Unglück sich abwechselten, wie die Gezeiten,
    wo Überfluss und Verderben kamen und gingen, wie Ebbe und Flut.“ (103)

    „Marschlande“ ist ein hochinteressanter, nachdenklich stimmender Roman, sehr zu empfehlen!

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  1. Hervorragender Vergangenheitsteil, schwache Gegenwart

    Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen, einmal in der Vergangenheit und einmal in der Gegenwart.
    Den Vergangenheitsteil finde ich unheimlich toll. Man bekommt gut die Gegebenheiten des Landstrichs vermittelt, wie die Leute ticken und wie hart des bäuerliche Leben zu dieser Zeit gewesen sein muss. Und es wird sehr deutlich, wie schwer es vor allem für eine alleinstehende Frau gewesen sein muss, die es schafft einen Hof selbst zu führen und das auch erfolgreich. Abelkes Geschichte hat mich sehr fasziniert und ihr Schicksal mich sehr berührt. Die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren, haben mich wütend gemacht und ich wäre am liebsten durch die Seiten gestiegen und hätte Abelke verteidigt.

    Mit dem Gegenwartsteil habe ich so ein wenig meine Probleme. Er ist mir zu sehr gespickt mit Klischees. Das kann funktionieren, aber es fühlt sich für mich an wie eine Auflistung der größten Frauen-/Familienklischees, die man derzeit so finden kann. Dadurch fällt es mir unheimlich schwer, mich in Brittas Probleme hineinzuversetzen. Ich finde den überwiegenden Teil einfach ziemlich belanglos. Erst am Ende wird für mich ein bisschen dessen sichtbar, wie Brittas Geschichte auch hätte erzählt werden können. Ohne Klischees und ohne Feminismus-Keule.

    Ich finde ja selten ein Nachwort wirklich spannend und meistens lese ich es auch tatsächlich nicht. Aber hier ist das Nachwort wirklich gut gemacht. Interessant und informativ, es hat mich wirklich sehr gelockt sich mit einem mir eher unbekannten Thema auseinanderzusetzen, tolle Anreize zur weiteren Lektüre.
    Aber der Gegenwartsteil - der ist mir einfach zu platt, zu plakativ, zu klischeehaft und auch nicht wirklich interessant. Er kann für mich absolut nicht mit der Geschichte um Abelke Bleken mithalten. Aber alleine für diesen Teil würde ich das Buch noch einmal lesen.

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  1. Frauenschicksale

    Die Geografin Britta Stoever hat mit ihrer Familie in Hamburg gelebt und der Kinder wegen beruflich zurückgesteckt. Doch nun zieht sie ihrem Mann zuliebe ins Marschland. Das Energieeffizienzhaus, für das er sich ohne Britta entschieden hat, gefällt ihr nicht und auch sonst kommt sie nicht an. Als sie die Gegend erkunden will, fällt ihr ein Straßenschild „Abelke-Bleken-Ring“ ins Auge. Sie will wissen, wer diese Frau war und stößt bei ihren Recherchen auf eine Hexenverbrennung im 16. Jahrhundert.

    Abelke war eine selbstbewusste und selbständige Frau, die sich von niemanden sagen lassen wollte, wie sie ihr Leben zu führen hat. Als Tochter eines reichen Bauern übernimmt sie den Hof nach seinem Tod und bewirtschaftet ihn ohne Ehemann. Das ist in jener Zeit ungewöhnlich und sie hat auch Neider, weil sie das erfolgreich macht. Doch dann schlägt die Natur zu und schnell ist eine Schuldige ausgemacht. Ein Scheiterhaufen wird aufgebaut und Abelke als Hexe verbrannt.

    Je mehr Britta in die Geschichte von Abelke eintaucht, umso mehr erkennt sie, was in ihrem Leben nicht richtig läuft. Die Differenzen zwischen den Ehepartnern werden immer offensichtlicher und schon bald läuft alles auf eine Trennung hinaus.

    Die Autorin Jarka Kubsova hat einen wunderbaren Roman geschrieben über zwei Frauen, die in unterschiedlichen Zeiten leben und beide ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Der Handlungsstrang um Abelke Bleken hat mir dabei viel besser gefallen als der um Britta Stoever. Abelke widersetzt sich den Gepflogenheiten ihrer Zeit und so kommt es, wie es damals kommen musste. Britta dagegen wollte Familie und Beruf unter einen Hut bringen, auch weil ihr Mann sie bedrängt hat, und hat sich dabei selbst vergessen. Beruflich hat sie durch ihre Auszeit keine Chance mehr in ihrem Job.

    Dieser Roman lässt sich sehr angenehm lesen und hat mir gut gefallen.

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  1. Unvorstellbares Leid einer starken Frau

    Zwei Frauen, die 500 Jahre voneinander trennen, doch beide leben in den Vier- und Marschlanden in Ochsenwerder. Britta versucht ihren eigenen Weg zu finden und stößt dabei auf die schicksalhafte Geschichte von Abelke Bleken, die als alleinstehende Hofbesitzerin keinen leichten Stand in einer Gesellschaft voller alter Bräuche und Vorurteile hatte.

    Jarka Kubsova hat einen unvergleichlichen Schreibstil. Besonders der Blick in die Vergangenheit nimmt einen gefangen und vermittelt ein Gefühl für das harte Leben auf dem Land. Man riecht förmlich den schweren Dunst in den Häusern, fühlt sich vom Nebel auf dem Land umfangen und empfindet die Last der Protagonisten. Was ein Brack ist, habe ich erst durch die anschauliche Beschreibung des von der Flut geschlagenen Wasserloches erfahren. Besonders aber die Frauen in Gegenwart und Vergangenheit spielen eine besondere Rolle.

    Das Nachwort zum Roman hätte ich mir am Anfang als Einleitung gewünscht, da hier viele Erklärungen gegeben werden, warum der Blick auf die handelnden Frauen so besonders ist.

    "Frauen erlitten im Zuge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus einen einzigartigen Prozess sozialer Degradierung, der für das Funktionieren des Kapitalismus bis heute grundlegend ist."
    1580 lebte Abelke Bleken als Hofbesitzerin in den Marschlanden. Zu dieser Zeit mehr als ungewöhnlich, dass eine unverheiratete Frau ein großes Hufnerhaus bewirtschaftete. Zudem war sie auch noch erfolgreich und durchaus den Männern in der Landwirtschaft qualitativ überlegen. Doch ihr Können in der Landwirtschaft und das Gespür für die Natur weckt auch Neider. Als eine große Flut viele Häuser und Ernten zerstört, kann Abelke ihr Getreide retten, weil sie rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hat. Um so grausamer ist es, dass sie die geschuldete Deichreparatur in dem gesetzten Zeitraum nicht bewerkstelligen kann. Die darauf folgenden Ereignisse wirken in der heutigen Zeit albtraumhaft und beschämend.

    In der Gegenwart zieht die Mittvierzigerin Britta mit ihrer Familie ins Vier- und Marschland nach Ochsenwerder. Die alten Geschichten vom Ort und die heimeligen historischen Häuser gefallen ihr sehr. Zufällig wird ihr Interesse für Abelke Bleken geweckt und sie beginnt mit eigenen Recherchen. Doch das vermeintlich wohltuende Landleben birgt auch negative Seiten. Immer öfter fühlt sich Britta allein in der fremden Umgebung. Ihre Bekannten aus Hamburg sind fern und ihr Mann zeigt wenig Verständnis für ihre Sorgen und Bedürfnisse. Anders als Abelke, die ihr Leben stets selbst in die Hand nehmen musste, wirkt Britta unselbstständig und hadert oft mit sich selbst.

    Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gelingt nur bedingt. Abelkes Leben ist beeindruckend und ihr Schicksal zeigt, wie sehr die Obrigkeit mit Menschenleben gespielt hat, um eigene Interessen durchzusetzen. Bei Britta hatte ich teilweise das Gefühl, dass hier stark mit Klischees gearbeitet wurde. Sie konnte ihre beruflichen Ziele nicht verfolgen, weil sie sich um ihre Kinder kümmern musste und ihr Ehemann rücksichtslos eigene Interessen in den Vordergrund gestellt hat. Hier wurde allerdings nur oberflächlich geschildert, warum sie in diese Situation geraten ist. Für die Kinder haben sich beide entschieden und es fehlt eine Erklärung, warum Britta sich nicht rigoroser positioniert hat.

    Den Ansatz der Autorin, Frauenschicksale aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, finde ich sehr gelungen, um das Interesse an feministischen Themen zu wecken und zur Diskussion anzuregen. In diesem Roman hätte mir Abelkes Geschichte ausgereicht, die von einer Erzählerin begleitet und Vergleiche zur heutigen Zeit ziehen könnte.

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  1. Frauen in Landschaft

    Kurzmeinung: Misogynie durch alle Zeiten hindurch

    In dem Roman „Marschlande“ zeichnet die Autorin wie schon in ihrem Debütroman „Bergland,“ zwei, chronologisch versetzte Frauenschicksale in eine bestimmte Landschaft.
    In dem Roman „Marschlande“ wendet sich Jarka Kubsova diesmal dem Deichland zu, irgendwo hinter Hamburg,. Die Landschaft ist karg, der Boden ist es nicht. Die Höfe hinter den Deichen, in den Marschen sind jedoch von Wind, Wetter und vor allem den Sturmfluten der Nordsee bedroht. Mensch und Natur. Wessen Interessen behalten die Oberhand?

    Der Kommentar:
    Während in dem Roman „Bergland“ die Belegschaft des zu bewirtschaftenden Innerleithofs quasi dieselbe bleibt in Vergangenheit und Gegenwart und nur die Generationen wechseln, gibt es in den Marschlanden keine organische Weiterführung eines Marschhofes.
    Abelke Bleken, eine selbständige Bäuerin aus dem 16. Jahrhundert, hat keine Nachkommen. Sie führt ihren Hof alleine und vor allem erfolgreich und wird mittels der schändlichen Praxis von Aberglauben und Verleumdung der Hexerei angeklagt, enteignet, gefoltert, verbrannt. Ihr Land geht an die Deichgrafen. Missgunst, Misogynie und Neid führten zu ihrem Untergang, sowie eine Rechtsprechung, die mit Gerechtigkeit nichts am Hut hat.
    Dass wirtschaftliche Interessen sowie die übliche Misogynie aller Zeiten die treibende Kraft waren an der tragischen Ermordung der Abelke Bleken, ist im Nachwort von „Marschlande“ sehr schön nachzulesen

    „Frauen erlitten im Zuge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus einen einzigartigen Prozeß sozialer Degradierung, der für das Funktionieren des Kapitalismus bis heute grundlegend ist. Sie wurden zunehmend auf Reproduktionsarbeit – also auf Kindererziehung, Kochen, Haushaltsführung – festgelegt. Und das geschah parallel zu einer vollständigen Abwertung dieser Tätigkeiten.“

    Während der Roman „Bergland“ mich von vorne bis hinten faszinierte, konnte mich „Marschlande“ nicht völlig abholen. Zum einen finde ich Romane über Hexenverfolgung zutiefst anstrengend, problematisch und kaum zu ertragen, zum anderen ist der Gegenwartsstrang etwas blass. Die Stoevers, die in die Marschlande zugezogen sind, vertragen sich nicht mehr so richtig. Britta Stoever tut sich schwer mit dem Ankommen, tut sich schwer in ihrer Ehe, tut sich schwer in der Konfrontation mit ihrem zum Macho mutierenden Ehemann etc. Im Zuge ihrer Emanzipierung verfolgt sie die Geschichte der Abelke Bleken. Das ist der Zusammenhang. Das ist nicht schlecht gewählt, nur Britta selbst lässt sich erstaunlicherweise lange Zeit so ziemlich alles gefallen.

    Weil die Gemeinheiten im 16. Jahrhundert und seine Brutalität schwer zu ertragen sind, ist der zweite gegenwärtige Erzählstrang durchaus auch ein Mittel, die Leser durchatmen zu lassen und ihnen eine Pause zu gönnen, aber eigenartiger Weise gehen die Themen der Zeit, - Klima, Migration, Wokeismus, etc. etc. - an den Marschländern völlig vorbei; sie beschäftigen sich immer noch mit den gängigen Rollen der Geschlechter und arbeiten sich daran ab. Leben die Marschländer hinter dem Deich oder hinter dem Mond?

    Doch sowohl in dem einen wie in dem anderen Erzählstrang geht es um Misogynie, das eine Mal ganz unverholen, das zweite Mal etwas abgefedert, aber immer noch gesellschaftlich gebilligt.

    Im Prinzip habe ich außer der Genderei des Nachworts kaum etwas zu kritisieren, grundsätzlich mag ich die Marschlande, ich frage mich freilich, ob diese Doppelchroniken von „Frau/en in Landschaft“ das Genre ist, auf das sich die Autorin spezialisiert. Sie macht das sehr gut, ohne Frage, doch ich würde gerne mal noch etwas anders von ihr lesen.

    Fazit: Gut. Aber schwer zu ertragen. Das genderte Nachwort gibt Punktabzug. Wieder die Frage: wer gendert hier, die Autorin oder die Lektorin?

    Kategorie: Historischer Roman
    Verlag: S. Fischer

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  1. 5
    26. Aug 2023 

    Zwei starke Frauen - damals und heute

    Jarka Kubsova gelang mit ihrem Debut „ Bergland“ ein fulminanter Erfolg. Ich war von diesem Buch ebenfalls sehr begeistert, dementsprechend hoch waren meine Erwartungen und sie sind nicht enttäuscht worden.
    Auch im neuen Roman stehen wieder zwei starke Frauen im Zentrum der Geschichte, doch dieses Mal trennen sie Jahrhunderte.
    Britta, eine Frau Mitte Vierzig, ist gerade mit ihrem Mann Philipp und den beiden Kindern in die Marschlande vor den Toren Hamburgs gezogen. Obwohl mit dem eigenen Haus auf dem Land eigentlich ein Traum in Erfüllung gegangen ist, fühlt sich Britta nicht wohl hier. Sie hat Schwierigkeiten im Dorf anzukommen und ihre Arbeit als Teilzeitkraft füllt sie nicht aus. Ziellos beginnt sie die Umgebung zu erkunden. Dabei stößt sie auf das Schicksal von Abelke Bleken, die im selben Ort lebte und im Jahr 1583 als Hexe verurteilt und verbrannt wurde. Britta beginnt zu recherchieren und entdeckt dabei Parallelen zu ihrem eigenen Leben.
    Kapitelweise wechselt Jarka Kubsova von der Gegenwart in die Vergangenheit. Schon die Eingangsszene, in der der Aufbau des Scheiterhaufens beschrieben wird, erschüttert und packt gleichermaßen.
    Abelke war eine stolze und eigensinnige Frau, die ohne einen Mann ihren großen Hof bewirtschaftete. Neidisch und voller Misstrauen wird ihr Erfolg von der männlichen Nachbarschaft beäugt. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Intrigen sorgen dafür, dass Abelke ihren Hof verliert, doch sie will sich davon nicht unterkriegen lassen. Aber ihre Gegner geben nicht auf und denunzieren sie als Hexe. Damit ist Abelkes Untergang besiegelt.
    Die Autorin hat für diesen Roman intensiv recherchiert. So gelingen ihr nun eindrucksvolle Bilder und Szenen vom Alltagsleben und den dörflichen Strukturen zu jener Zeit. Die Bauern hier hatten es nicht leicht. Überschwemmungen, Hagel und Frost machten oft ihre ganze Arbeit wieder zunichte. Doch für eine Frau war es noch ungleich härter. Sie musste zwar genauso zupacken wie mancher Mann, doch dabei sollte sie brav und geduldig im Hintergrund bleiben. „ Die Sache ist die: Man kann Frauen viel wegnehmen, man kann ihnen sehr viel antun, aber solange sie das mit sich machen lassen, bleibt es dabei.“ heißt es im Roman. Und weiter: „ Der gefährliche Moment für Frauen ist oft erst der, wenn sie anfangen, sich zu wehren.“
    Die Lebenssituation von damals kann man nicht mit der von heute vergleichen. Aber Britta stellt durch die „ Bekanntschaft“ mit Abelke ihr eigenes Leben zusehends in Frage. Hat sie nicht für die Familie ihre eigene Hochschulkarriere als Geographin geopfert? Und wird das überhaupt von ihrer Umgebung gewürdigt? Ungleichheit und Benachteiligungen erleben Frauen auch heute noch. Und sie stoßen oft auf Unverständnis, wenn sie aus ihrer Rolle fallen und Neues wagen möchten.
    Mit diesem feministischen Ansatz verknüpft die Autorin die beiden Lebensläufe.
    Die Geschehnisse in der Vergangenheit haben mich dabei stärker berührt. Es ist erschreckend zu lesen, was Abelke ertragen musste. Dabei spielen Neid und Missgunst der Nachbarn sowie der damalige Aberglaube eine große Rolle. Die tiefer liegende Motivation war aber die Gier der Oberen nach Landbesitz.
    Die Figur der Abelke Bleken ist historisch verbürgt; mehr zum historischen Hintergrund erfährt der Leser im äußerst informativen Nachwort der Autorin.
    Der Roman liest sich leicht, plastische Szenen und eindrucksvolle Landschaftsbeschreibungen sorgen für Atmosphäre.
    „ Marschlande“ ist ein spannender und bewegender Roman über zwei selbstbewusste Frauen, dem ich viele Leser wünsche.

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  1. 4
    13. Aug 2023 

    Sehr guter Stoff

    Das Buch ist sehr geschmackvoll gestaltet. Der Titel ist gut gewählt und das Titelfoto passt ausgesprochen gut zum behandelten Stoff. Das Thema des Buches ist meines Erachtens sehr aktuell und sehr wichtig.

    Britta ist eine moderne, gut qualifizierte Frau Mitte Vierzig und durchlebt ein typisches Frauenschicksal unserer Zeit: Sie heiratet, bekommt Kinder und damit beginnt die berufliche Gefährdung sowie in gewisser Weise auch ein sozialer Abstieg, die zeitliche und finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann im repräsentativen Job. Der Umzug heraus aus Hamburg in die Marschlande verschärft diese Situation. Am neuen Wohnort entdeckt sie zunehmend die Geschichte der Frauen in diesem Landstrich, allen voran von Abelke, die im 16. Jahrhundert als Hexe verbrannt wurde.

    Die Autorin erzählt abwechselnd aus Brittas und Abelkes Perspektive und die zwei erzählten Zeiten entfalten immer mehr Parallelen. Inhaltlich ist die Entwicklung der Geschichte sehr überzeugend und leider auch sehr realistisch. Eine sehr deutliche Herausarbeitung der Tatsache, dass Frauen seit Beginn der frühen Neuzeit, teils wie selbstverständlich und teils bewusst, in existenzgefährdenden Situationen hineingetrieben werden. Es wird auch deutlich, dass trotz gewisser Errungenschaften, sich am grundsätzlichen Problem nicht viel geändert hat. Aus der Erzählung, wie auch aus dem sehr ausführlichen und sehr guten Nachwort, geht hervor, dass die Frauensolidarität historisch schon immer da gewesen ist, nur bewusst unterbunden worden bzw. durch Anpassungsverhalten und erst Recht in unseren individualistischen Zeiten wieder verloren gegangen ist. Sie ist jedoch wichtig, um an der grundsätzlichen Wahrnehmung und Stellung von Frauen - sowohl historisch betrachtet als auch für die Gegenwart - etwas verändern zu können.

    Jarka Kubsova hat ein wichtiges Buch geschrieben mit einem sehr guten Ansatz. Lediglich die stilistische Umsetzung hat mich mit voranschreitendem Lesen nicht fesseln können. Sie schafft über detaillierte Beschreibungen einerseits eine sehr dichte und sensible Atmosphäre. Andererseits fehlte mir etwas die Abwechslung in der Schreibweise. Sehr angenehm finde ich, dass es kein militant-feministisches Buch geworden ist. Die genaue Beschreibung dessen, was war bzw. ist, reicht schon aus, um zu berühren und sich auch evtl. wiederzufinden. Sehr gute Idee, das Thema im Nachwort noch außerhalb der Erzählung zu erläutern. Insgesamt eine Leseempfehlung meinerseits.

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Ivanhoe: Roman (Fischer Klassik)

Buchseite und Rezensionen zu 'Ivanhoe: Roman (Fischer Klassik)' von Sir Walter Scott

Inhaltsangabe zu "Ivanhoe: Roman (Fischer Klassik)"

Format:Taschenbuch
Seiten:560
EAN:9783596900497
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Das Bildnis des Dorian Gray

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Bildnis des Dorian Gray' von Oscar Wilde
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Bildnis des Dorian Gray"

Bei diesem Werk handelt es sich um eine urheberrechtsfreie Ausgabe.
Der Kauf dieser Kindle-Edition beinhaltet die kostenlose, drahtlose Lieferung auf Ihren Kindle oder Ihre Kindle-Apps.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:256
Verlag: Nikol
EAN:9783868206302
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Rezensionen zu "Das Bildnis des Dorian Gray"

  1. Sind wir nicht alle ein bisschen Dorian?

    England, im späten 19. Jahrhundert: Für den Maler Basil Hallward ist der junge Dorian Gray nicht einfach nur ein Modell, das sich von ihm porträtieren lässt. Vielmehr erkennt Basil in ihm eine Art Muse, die ihn zu ungekannten Höchstleistungen antreibt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Bildnis seine wohl beste Arbeit aller Zeiten wird. Und auch Dorian ist verliebt in sein Porträt und seine eigene Schönheit. In einem beseelten Moment äußert er den Wunsch, dass seine Schönheit und Jugend doch für alle Zeiten existieren und stattdessen das Bild altern möge. Ein faustgleicher Pakt ganz ohne Mephistopheles, aber mit ähnlich fatalen Folgen. Denn Dorian hat in diesem Moment offenbar seine Seele verkauft. Während sich nach einer unglücklich endenden Liebesbeziehung erste Falten im Porträt zeigen, erstrahlt Dorian im alten, jungen Glanz...

    Oscar Wildes einziger Roman aus dem Jahre 1891 sorgte seinerzeit nicht nur wegen der zahlreichen homoerotischen Anspielungen für einen Skandal. Der Ire wurde 1895 wegen "homosexueller Unzucht" zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Verarmt und gebrochen starb er 1900 im Alter von nur 46 Jahren in Paris.

    "Das Bildnis des Dorian Gray" gilt als Klassiker der Weltliteratur. Seit 1901 wurde er über zwei Dutzend Mal ins Deutsche übertragen und vielfach neu aufgelegt. Braucht es also eine weitere Neuausgabe, noch dazu zu einem recht stattlichen Preis von 28 Euro? Unbedingt, wenn sie so kunstvoll illustriert ist, wie die jüngst bei Reclam erschienene Ausgabe in der Übersetzung von Ingrid Rein. Denn die Illustrationen der italienischen Zwillingsschwestern Anna und Elena Balbusso machen aus dem Buch fast schon ein eigenes Kunstwerk. Nur dass sich auf ihren Bildern glücklicherweise keine Spuren des Verfalls zeigen. Bereits das Cover deutet die Detailverliebtheit der erstmals auf dem deutschen Buchmarkt erscheinenden Künstlerinnen an. Für die Leserschaft lohnt es sich, den Blick schweifen zu lassen. Da blickt beispielsweise Edvard Munchs "Madonna" im Hintergrund gemeinsam mit Basil und seinem Freund Lord Henry Wotton, einer der wohl schillerndsten Figuren der Literaturgeschichte, auf Dorians Porträt. So kühn wie überraschend, wenn man bedenkt, dass die "Madonna" erst 1894/95 entstand - und damit vier Jahre jünger ist als Oscar Wildes Roman. Später bekommen die Bilder passend zur Geschichte nicht nur in den Farbtönen eine düsterere Note. Insgesamt entfalten die Bilder in Verbindung mit der Lektüre eine erstaunlich intensive Wirkung.

    Nun ist eine Buchrezension, die sich lediglich auf die Bilder aber nicht auf den Text bezieht, wohl keine vollständige. Deshalb der Hinweis, dass sich die Lektüre des Buches selbstverständlich auch seinetwegen lohnt. Wilde fabuliert so ausschweifend und manieriert, wie seine Figuren leben. Diese Ansammlung dekadenter Dandys, die ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer oder auf Verluste, in der Regel nichts tut und sich täglichen Vergnügungen hingibt, ist schon ein ganz spezielles Ensemble. Und während der Titel-"Held" Dorian Gray auf immer dunklere Pfade gerät, scheint die Wurzel allen Übels doch seine Freundschaft zu dem oben bereits kurz erwähnten Lord Henry Wotton zu sein. Tatsächlich bleibt Wotton dadurch als eigentlicher Antiheld in Erinnerung - und als interessanteste Figur eines insgesamt schillernden Casts. Zudem weist "Das Bildnis des Dorian Gray", anders als bei Klassikern manchmal üblich, einen veritablen Spannungsbogen auf, der bisweilen an klassische Schauergeschichten erinnert. Und letztlich weist Reclam im Klappentext nicht zu Unrecht auf die Aktualität des Werks hin. In Zeiten zahlreicher Selbstdarstellungen und dem Streben nach Jugend und Schönheit, sind wir nicht vielleicht selbst eine Gesellschaft vieler kleiner Dorians?

    Die neue Reclam-Ausgabe von "Das Bildnis des Dorian Gray" ist eine hinreißend gelungene, die ich jedem ans Herz legen kann. Dem bibliophilen Bücherfreund, weil er mit ihr ein wirklich besonderes Kunstwerk seiner Sammlung hinzufügen kann. Dem Liebhaber des Romans, weil er mit den Illustrationen eine ganz neue Perspektive erhält. Und dem Erstleser ohnehin, weil es in naher Zukunft wohl keine annähernd so schöne Ausgabe wie diese geben wird.

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Sinkende Sterne: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Sinkende Sterne: Roman' von Thomas Hettche
3.8
3.8 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Sinkende Sterne: Roman"

Ein einsames Haus in den Bergen und eine Naturkatastrophe, nach der ein Schweizer Kanton sich plötzlich lossagt von unserer Gegenwart: »Sinkende Sterne« ist ein virtuoser, schwebend-abgründiger Roman, in dem eine scheinbare Idylle zur Bedrohung wird und der uns tief hineinführt in die Welt der Literatur selbst. Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt und das Wallis zurück in eine mittelalterliche, bedrohliche Welt. Sindbad und Odysseus haben ihren Auftritt, Sagen vom Zug der Toten Seelen über die Gipfel, eine unheimliche Bischöfin und Fragen nach Gender und Sexus, Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers. Grandios schildert Hettche die alpine Natur und vergessene Lebensformen ihrer Bewohner, denen in unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Gegenwart neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist die musikalische Prosa dieses großen Erzählers um die Fragen, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen unserer Zeit zu verteidigen gilt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
EAN:9783462050806
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Rezensionen zu "Sinkende Sterne: Roman"

  1. Sehr geehrter Herr Hettche,

    in Leserunden bin ich manchmal experimentierfreudig; lasse mich auf Bücher ein, die ich ansonsten allein im stillen Kämmerlein nicht lesen würde. Man kann ja von Eindrücken Anderer sehr profitieren und überraschende Seiten an einem Werk entdecken, die einem selbst sonst verborgen blieben. Um ehrlich zu sein: Ihr neuer Roman "Sinkende Sterne" ist ein solches Buch, das ich für mich privat nicht gelesen hätte. Leider muss ich auch sagen, dass die Lektüre selbst durch die Mithilfe und Unterstützung eines hoch engagierten Lesekreises für mich eine Herausforderung blieb. Ich korrigiere, da dies meine Leseerfahrung noch nicht hinreichend widerspriegelt: Ich habe mir an "Sinkende Sterne" die Zähne ausgebissen, habe mich von Seite zu Seite durchgerungen, um am Ende doch zu erkennen, dass mir der Zugang zu Ihrem Universum versagt blieb. Ich hätte diese Welt so gerne besser kennengelernt, Streifzüge darin unternommen, Sie genossen, wie die Natur- und Landschaftsbeschreibungen, auf die Sie selbst Lobeshymnen anstimmen. Nun habe ich das Gefühl, versagt zu haben. Ich habe mich in die mir fremde Hettche-Welt irgendwie hineinbegeben, bin darin quasi wie blind herumgetorkelt, habe mich verlaufen und komplett die Orientierung verloren. Soll es so ein? Kommen nur die ganz Hartgesottenen ans Ziel und dürfen Einblicke in Ihre Rätsel erhaschen? Ich bin frustriert, fühle mich ausgeschlossen.

    Ich dachte, ich begebe mich mit Ihnen auf die Spurensuche nach Ihrer verlorenen Kindheit, verpassten Chancen im Verhältnis zu den Eltern, begleite Sie bei Ihrer Verarbeitung all dessen, um von gewonnenen Erkenntnissen profitieren zu können. Ich habe zwar im Unterschied zu Ihnen noch meine sichere Dozentenstelle, denn ich habe meine Lehrtätigkeit nur für diese Lese-Experiment pausiert, aber nach meiner literarischen Reise fühle ich mich seltsam leer, grüble über dies und das Ihrer Geschichte und komme zu keinem Ergebnis. Nun gut, Ihr Rüstzeug, Ihre Technik sind hochentwickelt, daran ist die Reise nicht gescheitert. Auch für kluge Gedankenstöße war gesorgt. Ich bin nicht gänzlich literarisch ausgehungert zurück geblieben. Aber ich wurde fortgerissen vom reißenden Fluss einer allenorts bewunderten Schreibkunst und wäre darin fast ertrunken; nur mit größter Anstrengung rettete ich mich am Ende in mein eigenes Leben zurück und erfreue mich seitdem an der Sicherheit meines Dozentendaseins, das mir in der Regel auch mehr interessierte Teilnehmer beschert als nur einen.

    Die Antworten auf all meine drängenden Fragen muss ich mir nun wohl selbst geben; ebenso bleibt es mir überlassen, mein zum Teil ebenfalls vulnerables Verhältnis zu meinen Eltern, meine Sehnsucht nach Geborgenheit und meine nostalgische Flucht zurück in die eigene Kindheit zu bearbeiten. Wenn mir all dies zu müsam wird, kann ich mich immerhin in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm flüchten, in deren sicherer Bubble ich weit mehr verstehe als im Hettche-Universum, das mich immerhin nicht gänzlich verschlang. Ich existiere weiter, erfreue mich angesichts der allgemeinen Beschleunigung des Lebenstempos an entschleunigenden Freizeitaktivitäten wie Lesen, Musik, anderen schönen Künsten.

    Ich will nicht sagen, dass Ihr Universum nicht schön sei oder es der Reise nicht lohnt, aber man muss offenbar eine größere Ausdauer und einen längeren Atem dafür mitbringen, als dies mir gegeben ist. Ich nehme an, dass Sie diese Hartgesottenen dann auch mit weitreichenden Erkenntnissen belohnen? Da mir auch dies nicht garantiert scheint, werbe ich vorsichtig: Betreten des Hettche-Universums auf eigene Gefahr! Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie vorab die Fangemeinde. Spätere Haftung ist ausgeschlossen.

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  1. 2
    13. Nov 2023 

    Ein Relikt der Vergangenheit

    Thomas Hettches Ruf als deutschsprachiger Autor ist überragend. Seine Karriere als Schriftsteller begann Ende der 80er Jahre, seitdem sind seine Werke mit den unterschiedlichsten Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Seine Romane sind in hübscher Regelmäßigkeit beim Deutschen Buchpreis vertreten, wenn auch nicht als Gewinner, so doch bereits dreimal als Short List Vertreter, zuletzt 2020 mit seinem Roman „Herzfaden“. In diesem Jahr ist sein aktueller Roman erschienen: „Sinkende Sterne“, auf den viele in Anbetracht des literarischen Rufes, den Herr Hettche hat, sehnsüchtig gewartet haben.

    Thomas Hettche erzählt in „Sinkende Sterne“, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus, in dem seine Eltern bis zuletzt gewohnt haben und in dem er viele Jahre seiner Kindheit verbracht hat, zu verkaufen. Das ist zumindest der Plan. Mit Eintreffen an diesem, für ihn besonderen Ort, der mit vielen Erinnerungen verbunden ist, zögert er jedoch mit der Umsetzung dieses Plans. Während der Tage, die er dort verbringt, erkennt er, dass dieses Haus eine besondere Bedeutung für ihn hat, so dass er seine Entscheidung, das Haus zu verkaufen, überdenken wird.

    Eine große Rolle spielt in diesem Roman der Schauplatz. Das Ferienhaus von Hettches Eltern stand im Wallis, in den Schweizer Alpen. Das muss man Herrn Hettche lassen: Seine Schilderungen der Natur sind atemberaubend. Seine Beschreibungen haben wenig mit einem Touristenidyll gemeinsam, sondern stellen die Naturgewalt in den Vordergrund, die bedrohlich sein kann, aber gleichzeitig überwältigend. Hettches Bergwelt übt einen unwiderstehlichen Zauber aus und somit einen perfekten Hintergrund zu seiner Nähe zum Magischen Realismus. Denn wie in manch einem seiner Romane, finden sich in „Sinkende Sterne“ Elemente dieses Genres. Nur, dass es der Autor diesmal übertreibt. Dem einen mag es gefallen, mir war es stellenweise zu plump und zu gewollt. Denn Hettche driftet in diesem Roman immer wieder ins übertrieben Groteske ab, als ob er den Leser bewusst schockieren will.

    Der Protagonist dieses Romans (Hettche?) entpuppt sich als Relikt der Vergangenheit, das sich mit der Gegenwart arrangiert hat, aber sich nicht wirklich gut dort aufgehoben fühlt. Die modernen technischen Errungenschaften unserer heutigen Zeit bereiten ihm Schwierigkeiten, Veränderungen in der Gesellschaft machen ihm zu schaffen. Vielleicht ist hier der Bezug zu dem Titel des Romans zu sehen: „Sinkende Sterne“ – ein alternder Schriftsteller, der seinen Zenit überschritten hat und sich nicht mehr in der modernen Gesellschaft zurechtfindet. Doch das ist Spekulation, denn leider ist Hettche mit seinem Text und seiner Intention nicht zu mir durchgedrungen.

    Der Protagonist ist also ein Mensch, der sich an seiner Vergangenheit festklammert. Immer wieder verliert er sich in essayistischen Gedanken, schwadroniert zu ausufernd über die Helden von Damals, wobei es ihm insbesondere die schriftstellerischen Helden angetan haben.

    Aus dieser Vergangenheitsblase heraus, unternimmt der Protagonist immer wieder Vorstöße in die Gegenwart, indem er wie aus einem Geistesblitz heraus, mal eben ein aktuelles gesellschaftsrelevantes Thema ankratzt, „Diversität“ wäre ein Beispiel. Vielleicht ist dies ein Versuch des Autors, dem Zeitgeist gerecht zu werden? Leider wirken diese Versuche seltsam deplatziert.

    Hettches Roman „Sinkende Sterne“ ist ein autofiktionaler Roman, in dem der Autor scheinbar autobiografische Elemente einbaut, die sich aber im Verlauf der Handlung in Frage stellen lassen. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen mit der Zeit, was aber für diesen Roman nicht relevant ist. Denn eine Geschichte wird nicht besser oder schlechter, bloß weil sie vom Autor selbst erlebt wurde. Wichtig sollte sein, was ein Autor erzählt und wie er es erzählt, unabhängig vom Realitätsgehalt. Und bei dem „Was ein Autor erzählt“ hatte ich mit diesem Roman meine Schwierigkeiten. Denn in Summe ist mir der Roman zu fragmentarisch. Leider wirkt nichts ausgegoren und ergibt kein komplettes Ganzes, so dass der Autor mir mit seinem Roman nicht begreiflich machen konnte, worum es eigentlich ging.

    Trotz aller Kritik gab es dennoch für mich zwei Lichtblicke in diesem Roman. Zum einen gibt der Autor einen Einblick in sein Verständnis von Literatur und der Kunst des Schreibens. Seine Denkansätze sind hochinteressant. Zum anderen ist Hettches Fähigkeit, Stimmungen zu transportieren, bemerkenswert. Wie zu Beginn bereits erwähnt, sind seine Naturbeschreibungen kraft seines Erzählstils ein Genuss. Doch in Summe reicht dies nicht aus, um diesen Roman weiterzuempfehlen. Schade!

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  1. Viele (ungelöste) Fragezeichen ansprechend verpackt

    Manchmal sollte man einfach seiner (ersten) Intuition folgen und eine Pause machen. So war ich fest gewillt, mich nicht zur Leserunde von Thomas Hettche´s neuen Roman „Sinkende Sterne“ (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) anzumelden. Nun, diese Rezension zeugt von meiner Inkonsequenz *g*.

    Herr Hettche macht es seinen Leser:innen aber auch von vornherein nicht gerade leicht „Nein“ zu sagen – weiß er doch sowohl sprachlich als auch bildlich sein „Publikum“ von Beginn an zu erreichen und abtauchen zu lassen in die ganz eigene Welt des Ich-Erzählers Thomas Hettche. Dabei konnte ich nicht unterscheiden, ob der Roman-Thomas von dem Real-Thomas „abweicht“ oder ob Hettche hier wirklich „seine“ schwierige Vater-/Sohn-Geschichte aufarbeitet und sie mit dystopischen und phantastischen Elementen zu einem in weiten Teilen berührenden Text verbindet. Letztlich spielt es auch keine Rolle.

    Der Ich-Erzähler Thomas fährt in das Dorf seiner Jugend, um nach dem Tod des Vaters das Haus zu verkaufen. Malerisch gelegen im schweizerischen Kanton Wallis oberhalb des Rhonetals, dass durch einen katastrophalen Bergsturz nun unter der Wasseroberfläche eines Sees liegt. Doch wie es oft im Leben spielt: meistens kommt es anders als man denkt. Denn Thomas will bleiben – warum auch nicht, hat er doch gerade seinen Job als Dozent an der Uni Berlin verloren. Dass er bleiben will, sorgt nicht überall für Wohlwollen…

    Soweit die Ausgangslage. Hier entspinnt sich nun mit fortschreitender Lektüre eine Geschichte, bei der sich „Wirklichkeit“ und Phantasie die Klinke fließend die Hand geben. So kommt es zu außergewöhnlichen Szenen, die mich als Leser ziemlich ratlos zurück gelassen haben; manche Kommentare und Interpretationen meiner Leserundenpartner:innen konnten zwar den ein oder anderen „Knoten“ auflösen und doch hatte ich selten so viele Fragezeichen nach dem Ende eines Buches wie hier. So wird mir wohl nichts Anderes übrigbleiben als dem Roman, hinter dem sich (wahrscheinlich) so viel verbirgt, dass man ganze Aufsätze darüber schreiben könnte, irgendwann eine zweite Chance zu geben, um dann hoffentlich (nicht nur) die von Thomas Hettche teils fantastischen Sprachbilder wertschätzen zu können, sondern evtl. auch die Metaebene des Romans erreiche. Denn eins habe ich trotz Fragezeichen und Knoten im Kopf herausfiltern können: schreiben kann er, der Herr Hettche.

    Und so komme ich denn auch auf 4* und gebe all jenen eine Leseempfehlung, die mehr als Oberflächlichkeit und 08/15-Literatur lieben und zu schätzen wissen.

    ©kingofmusic

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  1. Konnte den meisten Gedankengängen leider nicht folgen

    Ich kannte vor der Lektüre dieses Romans vom Autor Thomas Hettche nur "Herzfaden". Es hat mir sehr gut gefallen, der Stil des Autors konnte mich damals vollends überzeugen. Anders hier, denn leider wurde ich mit diesem Roman überhaupt nicht warm. Das erste Viertel war gut, es gab zwar auch dort bereits ein oder zwei Entgleisungen ins surreale, doch sie konnten meine Leselust noch nicht ernsthaft dämpfen, zu schön waren die Beschreibungen über den Großvater und dessen Leben im Wallis, in das es den Ich-Erzähler Hettche verschlägt.

    Hettche kommt nach vielen Jahren das erste mal wieder in das alte Chalet seiner Eltern, die mittlerweile beide verstorben sind. Der Vater verstarb erst kürzlich, doch die zwei verband nichts mehr, oder besser gesagt, es hat sie wohl auch nie etwas verbunden. Dass er seinen Posten als Hochschullehrer verloren hat, wird ihm den Entschluss leicht gemacht haben zurückzukehren, auch wenn er als Deutscher dort nicht willkommen ist.Dies spürt man direkt auf den ersten Seiten, den Leser beschleicht umgehend ein ungutes Gefühl. Mehr noch, man möchte ihn enteignen, er soll das Haus abtreten, doch will er das überhaupt?!
    Eine alte Freundin von früher, Marietta, und deren Tochter Serafine, sind nach einem Erdrutsch, der einige Dörfer mitgerissen hat, geblieben. Sie erhellen Hettches Alltag, die alte Liebe entflammt kurz wieder und Serafine erzählt ihm viel von früher. Diese Passagen empfand ich als unheimlich gelungen, die Landschaft und die Atmosphäre wirkten enorm lebendig dabei.
    Das Dorf wirkte derweil oft wie aus der Zeit gefallen auf mich. Das allein wäre nicht das Problem gewesen, mich hat vielmehr gestört, dass es bald nur noch um Hettches Innenleben geht. Es soll wohl die Zerrissenheit eines Schriftstellers widerspiegeln, für mich allerdings wenig nachvollziehbar, da mir solche abstrusen Gedankengänge noch nie gekommen sind. Die angeführte Literatur kenne ich ebenfalls nicht, so dass ich befürchte, dass mir viele wichtige Details zum Verständnis schlichtweg fehlten.

    Ich hätte mir einen Roman gewünscht, der allen zugänglich ist, so vermute ich, wird er zwar einigen gefallen, doch die meisten werden wahrscheinlich resignieren wie ich.
    Schade, denn auch hier beweist der Autor, dass er durchaus fesselnd schreiben kann, doch leider verliert er sich in der restlichen Hälfte in meinen Augen komplett.

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  1. Poetisch & sprachgewaltig über die Kraft der Literatur

    Der Ich-Erzähler (namentlich Hettche selbst) wird in die Schweiz gerufen. Er bekommt Post aus dem Schweizer Kanton Wallis, wo etwa 40 Jahre zuvor seine Eltern ein Haus gekauft haben und wo der Erzähler aufgewachsen ist. Das Haus befindet sich oberhalb eines Tals, welches durch einen katastrophalen Bergsturz vor kurzer Zeit vollkommen überflutet worden ist. Dort hinein in dieses Katastrophengebiet also, abgeschnitten vom Rest der Welt aufgrund von blockierten und zerstörten Straßen, begibt sich der Erzähler. Er entdeckt nach jahrelangem Fernbleiben sein einstiges Elternhaus neu, gleichermaßen die berauschend schöne Umgebung in den Schweizer Alpen. Das Elternhaus soll verkauft werden - dies ist der Auftrag, den er erhält. Weshalb er nun dort ist.

    "Ich starrte auf das gleichmütige Wasser. Nicht, um all das hinter mir zu lassen, war ich hier, sondern um es wiederzufinden." (S.132)

    Der Erzähler beschließt eine Weile zu bleiben. Da er kurz zuvor seinen Job an der Uni in Berlin verloren hat, kann er sich die Zeit nehmen. Er entdeckt verlassene Häuser, begegnet einer alten Freundin mit Tochter und so einigen zwielichtigen Gestalten. Schnell werde ich als Leserin in seinen Gedankenfluss hineingesogen, weiß irgendwann nicht mehr genau, was real ist und was nicht. Alte Sagen aus der Schweizer Bergwelt geben dem ganzen eine mystisch-faszinierende Würze.

    "Und so, wie jede Reise ein Sprung in eine Erzählung ist, ist jener Moment, wenn wir als Leser in einen Text abtauchen, der Beginn einer Reise." [...] Seine größte Angst ist dieselbe wie die des Lesers, das Ziel nicht zu erreichen, während die meergleiche Erzählung mit ihren Strudeln und Untiefen, willkürlichen Stürmen und Flauten, in der beide sich bewegen, zu Bildern des Weiblichen gerinnt, [...]" (S.148)

    Die Erzählung, in die wir als Leser*innen hier hereingezogen werden, ist unstet, unglaublich vielschichtig, nicht immer verständlich, aber faszinierend zugleich. Wenn Hettche sich in Erinnerungen verliert, und beispielsweise über eigene Schuldfragen in Zusammenhang mit einem Studenten sinniert, und dies in Verbindung bringt mit Rilke und seinem Ziehsohn Balthus, dann macht er dies so informativ, poetisch und bildgewaltig, dass es mir völlig egal ist, was am Ende des Erzählens eigentlich für ein Ziel anvisiert wird. Der Weg ist hier definitiv das Ziel. Und so trifft es auf vieles im Roman zu: Hettche verliert sich in Gedanken über das Weltgeschehen, die Veränderungen der Zeit, über Altes und Neues, über die Kraft von Kunst und Literatur und über das Erzählen an sich. Häufig bringt er eigene Erlebnisse mit ein in seine Gedanken, wie z.Bsp. die Verarbeitung vom Tod seines Vaters. Immer wieder nimmt Hettche Bezug auf die Geschichten des Abenteurers Sindbad und des Odysseus, was für mich spannend gewesen ist und zusammen mit den alten Schweizer Sagen vieles noch lebendiger gemacht hat.

    Unbedingt zu erwähnen ist die Poesie, mit der Hettche die Natur so wahrhaftig widergibt, dass ich mich mitten in den Bergen wähne:

    "Wie ein Fanal leuchteten unter ihm die feuerroten Blätter der Wildkirschen, das sanft glimmende Gelb der Lärchen, Felder von Weidenröschen schossen nun hoch, deren tuffig weiße Gespinste sie wie Zuckerwatte umwaberten." (S.160)

    Fazit: Der Roman "Sinkende Sterne" ist ein sehr vielschichtiger Roman, der zum Teil sehr kryptisch daherkommt, der mir aber große Freude gemacht hat bei der Entschlüsselung. Ein Roman über das sich stets in Veränderung befindende Leben, über Trauerbewältigung, Vergänglichkeit, über die Kraft von Kunst und Literatur im Kampf gegen Hass und Dogmen, über das Erzählen als Solches. Große poetische und sprachliche Strahlkraft tröstet über so manches Fragezeichen bei der Interpretation hinweg. Die Naturbeschreibungen sind traumhaft. Ich habe diesen Roman sehr gern gelesen.

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  1. Überwindung der Vergänglichkeit

    Mein Lese-Eindruck:

    Eine Naturkatastrophe größeren Ausmaßes steht am Beginn dieses Buches: ein Bergsturz im unteren Wallis hat das Tal verschüttet, die Rhone wurde zurückgestaut und bildet nun einen gewaltigen See, der die Dörfer des Tals in sich begräbt. Der Autor hält sich nicht auf mit Erläuterungen oder Hinweisen zu den vermutlichen Ursachen des Bergsturzes. Kein Wort über Dauerregen, Gletscherschmelzen, Klima und dergleichen, sondern er kommt sofort zu seinen eigentlichen Themen.

    Der Protagonist, namensidentisch mit dem Autor, ein alternder und beruflich gestrandeter Literat, reist nun in das Tal, um nach dem Tod seiner Eltern sein Elternhaus zu verkaufen. Und da beginnt schon das Irritierende: er kommt in seine Heimat und ist dort ein unerwünschter Fremder.

    Der gewaltige Erdrutsch hat nicht nur die Dörfer zerstört, sondern hat auch die bisherigen gesellschaftlichen Strukturen, die Zivilisation, die Neuzeit im Element Wasser begraben. Ein gewaltiges Totenreich ist hier entstanden, eingerahmt von den mächtigen und unzugänglichen Bergen der Hochalpen. Die überlebende Bevölkerung schließt sich ab und installiert eine restriktive feudale Ordnung. Hier kann sich der Autor einige diskrete Seitenhiebe auf das rückwärtsgewandte bürokratische Selbstverständnis der Schweizer und ihren ausgeprägten Geschäftssinn nicht verkneifen.
    Der unheimlich dunkle See kann mit einer Fähre überquert werden, und hier gelingen dem Auto sehr eindringliche und archaische Bilder, die an griechische Mythen erinnern und die Motive der Vergänglichkeit und des Todes noch verstärken.

    Durch den Untergang des Jetzigen tauchen die alten, vorschriftlichen Mythen und Sagen wieder aus der Versenkung auf, und der Leser lauscht mit dem Protagonisten den Sagen von Hungersnöten, von Totenwanderungen über die Gebirgskämme, von todbringenden Schneewehen, von den heimatlos umherirrenden Armen Seelen und ihren gefährlich verlockenden Lichtern. Der Autor schafft hier eine düstere und unheimliche Atmosphäre, der sich der Leser nicht entziehen kann – und die verstärkt und gleichzeitig verschönt wird durch die einfach nur grandiosen Beschreibungen des unwirtlichen, stürmischen Wetters und der Natur.

    An diesem Punkt zweigen sich Hettches andere Themen ab. In breit angelegten Reflexionssträngen sinniert sein Protagonist über die vielschichtigen und existenziellen Themen Tod und Vergänglichkeit und vor allem um die Möglichkeiten, beides zu überwinden. Hier zeigt sich ein Walliser Mythos als Hoffnungsschimmer: weit oben im Gletscher befinde sich eine blühende Landschaft, in der die Sonne scheine, in der Kirsch- und Zwetschgenbäume wachsen und in der jeder Irrende und Suchende seine Heimat finden könne. Wo ist dieses Paradies, das den Tod überwindet? Die Antwort auf diese Frage hebt sich den Autor für den Schluss auf...

    Hier schließt sich ein poetologischer Diskurs an, in dem Hettche gedankenreich und durchaus spannend Homers Ilias und die Sagen um Sindbad, den Seefahrer, bemüht. Was für ein schöner Gedanke: Morgenland und Abendland treffen sich in ihrer phantasievollen Erzählfreude! Beiden Helden fühlt sich der Protagonist verbunden: sie sind vaterlos und heimatlos wie er, Suchende und Irrende auf dem Wasser. Und es geht um das Erzählen, um die Macht des Erzählens, das Konstrukt einer fiktiven Realität und das Verhältnis von Realität/Wahrheit und Fiktion.

    Homer konnte seine Welt, also die Welt des Odysses, noch als Sinnganzes begreifen, und so begreift sie auch Odysseus: er glaubt "an die Welt, so wie sie ist".

    Das geht heute nicht mehr, sinniert der Protagonist. Unsere Wirklichkeit ist dekonstruiert, d. h. sie ist in Einzelwahrnehmungen zersplittert, und das Sinnganze existiert nicht mehr bzw. kann nicht mehr gesehen werden. Dichter und Leser sind nicht mehr durch ein gemeinsames Weltverständnis miteinander verbunden.
    Und das verändert auch das Erzählen. Die Dichtung, meint der Protagonist, führt den Dichter und den Leser aus seiner Welt heraus, anders als bei Homer. Dichtung versucht, die Welt zu erreichen, aber es bleibt bei dem Versuch; Dichtung ist immer eine Konstruktion in dem Sinn, dass sie die subjektive Wahrheit des Dichters wiedergibt, aber nicht wie bei Homer die der Welt.

    Die Folge ist, dass Literatur und Sprache eine eigene Dynamik entfalten, die Figuren werden quasi selbstständig und bestimmen selber ihr Leben. Die Begriffe Realität und Wahrheit sind nicht mehr fest umrissen, sondern taumeln wie „sinkende Sterne“, ihrer festen Konturen beraubt.

    Am Schluss des Romans wird die Frage nach dem Paradies beantwortet, und hier schließen sich alle Themen des Buches nahtlos und ungemein elegant zusammen.
    Das Paradies ist die Überwindung der Zeit und der Vergänglichkeit, und die gelingt in der Kunst. Und die Kunst kann eine Wahrheit bieten, die die tatsächliche Wirklichkeit nicht bieten kann.

    Fazit: ein vielschichtiges Buch über Dichtung und Wahrheit und über existenzielle Fragen wie Vergänglichkeit und Tod und v. a. die Frage nach der Überwindung der Vergänglichkeit, sprachlich beeindruckend schön und mit grandiosen Beschreibungen der Natur.

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  1. Ärgerlich, oder genial?

    Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen See verwandelt, Dörfer überflutet und den schweizerischen Kanton Wallis fast vom Rest der Welt abgeschnitten. Thomas Hettche nimmt uns mit auf seine Reise zum elterlichen Ferienhaus, das nun im schwer zugänglichen Gebiet liegt. Er wurde von den Behörden nach der Katastrophe aufgefordert, dort vorstellig zu werden. Thomas hat Zeit, hat er doch gerade seinen Job in der Uni verloren. Er hatte nur noch einen Studenten in seinen nicht mehr zeitgemäßen Vorlesungen über Sindbad und Odysseus und sein Sprachduktus sei mit seinen überholten Qualitätsvorstellungen zudem sexzistisch, so der Entlassungsgrund.

    Durch Kontrollen und Sperrungen endlich an dem Haus angekommen, erinnert er sich an seine Kindheit in den Bergen, an das Altern und Sterben seiner Eltern und schließlich an Dschamil, seinem letzten Schüler den er noch beim Abschied zu einer Übersetzung von Sindbads Abenteuern überreden versuchte. Das verlassene Dorf beherbergt nur noch seine alte Jugendfreundin Marietta mit ihrer Tochter Serafine.

    Beim Termin mit dem Kastlan bei der Fremdenpolizei wird Hettche aufgefordert, das Haus zu räumen. Er soll enteignet werden, man dulde ab sofort nur noch Einheimische. Hettche ist fassungslos, doch bietet der Notar von Werra ihm Hilfe an. Er will für ihn eine Audienz bei der Bischöfin erwirken.

    Aber hier fängt es auch an, ziemlich verrückt zu werden. Der Autor versteht es, den Leser mit atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen willig zu machen, einzulullen, ja zu betäuben, so dass die Szene im Schloss des Notars sich widerspruchslos im dystopischen Zerfall der Gegenwart einreiht. Die Vorfahren des Schlossherren erscheinen Thomas beim Tanz mit seinem Rechtsbeistand im putzbröckelnden Saal des maroden Gebäudes. Darf hier noch eine Mischung aus Ausnahmezustand (Hettche ist dabei, alles zu verlieren) und Einbildungskraft die Realität bereichern, so ist spätestens beim Treffen mit der Bischöfin (zumindest bei mir) der Ofen auf Sparflamme gegangen. Hier kollidiert der angedeutete Rückfall ins Mittelalter mit modernster Liberalität, nur um es gleich mit alten Ritualen ad absurdum zu führen... etwas, über das Hettche in seinem Arbeitsleben vor Kurzem noch gestolpert ist.

    Zahlreiche Erwähnungen literarischer Werke, u.a. die Odyssee und Sindbads Abenteuer aus Tausendundeine Nacht fordern zum Detektivspiel in diesem Roman geradezu heraus. Parallelen wollen gefunden, Szenen, oder sogar das ganze Buch unter diesem Licht gesehen werden. Doch war es mir mit meinem Vorwissen nicht immer möglich, den Text zu analysieren. Ich beschränkte mich auf die bemerkenswerte Gabe Hettches, Worte zu etwas Großartigem zusammenzubauen, dem man gerne folgt, auch wenn das Ziel sich nicht mit meiner Reisebeschreibung deckte.

    Es scheint mir ein sehr persönliches Anliegen Hettches gewesen zu sein, dieses Werk zu schreiben. Spürte er doch den Sinkenden Sternen nach, die seiner Meinung nach alle Männer umfasst (S.179) und reklamieren wir hier den heraufbeschworenen Konservatismus. So bleibt mir dann noch die Interpretation, ob es Wunsch, oder Warnung ist, das uns da mit so geistreichen Worten schmackhaft gemacht wurde.

    Der Verlag Kiepenheuer und Witsch jedenfalls gestaltete die Sinkenden Sterne als langhaarige Frauengestalten die vor einer Bergkulisse auf dem Umschlag schlafend schweben, klärt mit einer detaillierten Karte des Rhonetals im Vorsatzblatt auf und bettete das Ganze in grobes Leinen, eine Wertschätzung der Literatur, die selten wird, aber wohltuend beeindruckt. Hettche beeindruckt auch, jedesmal, aber diesesmal mit viel Verwirrung.

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  1. Eine vieldeutige Reise ins Schweizer Wallis

    Der 1964 geborene deutsche Schriftsteller Thomas Hettche ist ein Ausnahme-Romancier, der es versteht, völlig unterschiedliche Stoffe zu verarbeiten. Sein Repertoire reicht vom Kriminalroman über historische Inhalte bis hin zu zeitgenössischen Themen. Gern würzt er sein Schreiben mit etwas Skurrilität oder einem Hang ins Fantastische. So auch hier, in seinem neuesten Roman, der mit der Reise eines Sohnes (der Ich-Erzähler nennt sich bezeichnenderweise auch Thomas Hettche) zum Haus seiner verstorbenen Eltern ins Wallis beginnt. „Wie der Wind losbrach und an mir zerrte, als ich aus dem Auto stieg. Wütend fuhr er mir ins Gesicht, dass mir die Luft wegblieb, beißend kalt tobte er um mich her wie eine Hundemeute, die etwas bewachte, von dem ich nicht wusste, was es war.“ (Erster Satz) Welch ein Einstieg! Wie treffend er für den weiteren Verlauf des Romans sein wird, weiß man freilich erst am Ende. Man darf davon ausgehen, dass bei Hettche jeder Satz sitzt. Nichts ist dem Zufall überlassen. Der Text ist sinnesfreudig, fordernd und hochintelligent – manchmal von Letzterem etwas Zuviel für die geneigte Rezensentin. Doch der Reihe nach.

    Thomas fährt also ins Wallis an den Ort seiner Kindheit, er war seit Jahren nicht dort. Aufgrund einer Naturkatastrophe stellt sich bereits die Anreise völlig anders dar, als er es aus früherer Zeit gewohnt ist. Männer in Uniform reglementieren die Einreise. Im unteren Teil des Wallis stehen Dörfer unter Wasser, weil ein Bergsturz die Rhone zu einem dunklen See gestaut hat. „Alles war wie immer, und doch hatte sich offensichtlich etwas grundlegend verändert. Die Soldaten mit den Maschinenpistolen, der Stahlkäfig, der Landsknecht mit dem roten Barrett unter der Waliser Fahne. Der See. Mein Telefon hatte keinen Empfang.“ (S. 14) Bereits auf den ersten Seiten kreiert Hettche eine eigentümliche Welt, die einem Sprung in eine archaisch anmutende Vergangenheit gleichkommt. Dazu passt, dass der Protagonist enteignet werden soll. Die Eidgenossen bleiben offenbar gern unter sich, stehen allem Fremden ablehnend gegenüber. Thomas stellt sich der drohenden Enteignung entgegen, nimmt das Haus, das er seit Jahren nicht betreten hat, in Besitz. Danach beauftragt er den höchst bizarren Anwalt Sulpice von Werra mit der Wahrnehmung seiner Interessen und erbittet sogar eine Audienz bei der geheimnisvollen Bischöfin von Sion, einer höchst exotischen Figur. Diese Begegnung dürfte Anlass für umfangreiche Interpretationsansätze geben.

    Die Hinterlassenschaften seiner Eltern führen den Schriftsteller darüber hinaus zu einer intensiven und sehr nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit den Themen Heimkommen, Vergänglichkeit und Tod, sie konfrontieren ihn mit Kindheitserinnerungen wie auch mit dem komplizierten Eltern-Sohn-Verhältnis. Seine Jugendfreundin Marietta nebst Tochter Serafine sind Thomas´ einzige Bezugspersonen. Mit ihnen erkundet er nicht nur die alpine Bergwelt, sondern lernt auch die mythische Legenden- und Sagenwelt der Schweizer Berge kennen. Natürlich wird diese wieder kunstfertig mit der Gegenwartshandlung verknüpft. Der Autor flechtet überhaupt zahlreiche literarische Bezüge in den Roman ein: die Bibel, Sindbad, Homers Odysseus, Dantes Höllenkreise, Kafka, Rilke und viele andere Verbindungen darf man entdecken. Je höher der diesbezügliche Kenntnisstand des Lesers ist, umso vielseitigeren Verbindungen und Ebenen dürfte er auf die Spur kommen. Wie gesagt, hier sitzt jeder Satz. Die Liebe des Autors zum Erzählen und zur Literatur schwebt über allem, sie ist sein flammendes Bekenntnis. Gleichzeitig geht Hettche, teilweise verschlüsselt, auf moderne gesellschaftliche Strömungen ein. So wurde sein Alter Ego gezwungen, seine Literaturprofessur ruhen zu lassen, weil er offensichtlich dem woken Zeitgeist nicht mehr entsprach – Details bleiben offen.

    Man muss bei Thomas Hettche unbedingt tiefer schürfen, man darf sich nie mit dem Offensichtlichen zufrieden geben. Es gibt stets eine Ebene darunter. Dieses Spiel mit literarischen Bezügen, mit Symbolen, Metaphern und Rätseln muss einem liegen. Ohne Freude an der Interpretation wird man manche Szene möglicherweise nicht entschlüsseln können. Wie sehr das für den Einzelnen ins Gewicht fällt, ist wohl Typsache. Die virtuose Sprache des Erzählers entschädigt jedoch für Vieles. Es ist beispiellos, mit wieviel Verve und Begeisterung Hettche die idyllische Schönheit der Berge, ihre Gefahren und wechselhaften Naturphänomene schildern kann. Die Natur mutiert dabei zu einer Hauptfigur, die sich wiederum perfekt in den Rest der Handlung eingliedert.

    Ich gebe zu, dass mich der Roman stellenweise überfordert hat, dass er mir partiell zu didaktisch konzipiert daherkam. Doch ich hatte das Glück, dieses Buch mit einem ambitionierten Lesekreis kennenzulernen, dessen Mitstreiter mir manch wertvollen Schlüssel zum Verständnis an die Hand gaben. In diesem Buch steckt weit mehr, als man auf den ersten Blick erkennt, es lohnt definitiv eine vertiefende Lektüre. Hettches Roman ist große Literatur mit zahlreichen aktuellen Bezügen und in einer meisterhaften Sprache verfasst. Ein Buch zur gegenwärtigen Debatte rund um Wokeness, Gender, Rassismus, Rückwärtsgewandtheit und Abschottung. Darüber hinaus ein Buch über das Leben an sich und die Bedeutung der Literatur. Ganz bestimmt wird es nicht jedem Leser gefallen. Aber seine Qualität kann man ihm auf gar keinen Fall absprechen!

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  1. German Angst in den Schweizer Bergen

    Ein kleiner Ort im Schweizer Kanton Wallis. Ein Bergsturz hat zu einer Katastrophe geführt, ein ganzes Tal wurde überflutet. Straßen sind blockiert, gewisse Orte lassen sich nicht mehr erreichen. Mitten in diese Unruhe hinein gerät Ich-Erzähler Thomas Hettche, der eine amtliche Vorladung erhalten hat. Es geht um den Nachlass seiner verstorbenen Eltern, das Haus in den Schweizer Bergen direkt oberhalb des überfluteten Tals. Seltsame Begegnungen bringen Hettche dazu, an seinem Verstand zu zweifeln. Wer ist dieser merkwürdige Notar, der sich um die Angelegenheiten seiner Eltern kümmerte? Und was verbindet ihn noch mit Marietta, seiner Jugendliebe?

    "Sinkende Sterne" ist der neue Roman von Thomas Hettche, der kürzlich bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Er ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung, verlangt er seinen Leser:innen nicht nur intellektuell vieles ab, sondern führt sie auch an die Grenzen des guten Geschmacks und darüber hinaus. Es ist ein Werk, das provozieren möchte und provoziert. Es ist aber auch ein Roman, der sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens und der Vergänglichkeit beschäftigt.

    Auffällig ist auf den ersten Blick die Namensgleichheit zwischen Ich-Erzähler und Autor. Der Erzähler heißt nicht nur Thomas Hettche, er ist es auch. Zumindest sind es wohl seine Gedanken, es sind seine Bücher, auf die er sich während des Erzählens beruft. Trotzdem ist "Sinkende Sterne" nicht wirklich im Bereich der Autofiktion anzusiedeln, denn die Erlebnisse des Ich-Erzählers Hettche sind im Gegensatz zu vergleichbaren Autor:innen wie beispielsweise Monika Helfer eindeutig fiktiv. Ebenfalls sofort ins Auge sticht die sprachliche Kraft, mit der Hettche erzählen kann. Seine Naturbeschreibungen sind schlicht großartig. Die Darstellung der Gebirgswelt, der Wetterphänomene, aber auch die Empfindungen, die Hettche schildert, als er das Haus seiner Eltern betritt, seine Kindheitserinnerungen - das alles ist große Klasse und rechtfertigt allein schon die Lektüre des Romans.

    Hätte er es doch nur dabei belassen, möchte man Hettche jedoch zurufen. Denn der Autor möchte mit "Sinkende Sterne" viel mehr erreichen, als die Dystopie einer Schweizer Gesellschaft zu erzählen, die nach der Umweltkatastrophe politisch an der Grenze zu einer Diktatur steht. Denn Ich-Erzähler Hettche, so erfährt man recht früh, wurde in den Kanton Wallis gerufen, weil er enteignet werden soll. Ein Schicksal, das offenbar allen Nicht-Schweizer:innen droht. So weit, so gut und nicht uninteressant. Allerdings spielt diese geplante Enteignung im Rest des Romans fast keine Rolle mehr, außer dass sie ein Teil der großen Angst ist, die Hettche überfällt angesichts der gesellschaftlichen Unwägbarkeiten, mit denen er nicht zurechtzukommen scheint. Zumindest der Ich-Erzähler Hettche, falls man hier zwischen Figur und Autor noch immer trennen möchte.

    Diese Angst überlagert im Grunde das gesamte Buch. Sie erinnert frappierend an die "German Angst" und macht aus "Sinkende Sterne" einen rückwärtsgewandten, lamentierenden Roman. Der Ich-Erzähler fürchtet vor allem die Vergänglichkeit, die wohl das Grundthema des Buches ist. Doch nicht nur die Vergänglichkeit des Lebens plagt ihn, auch die Vergänglichkeit von Traditionen, von Altbewährtem. Früher war alles besser. Das ist nicht nur quälend langweilig, sondern bisweilen ein echtes Ärgernis. Der Ich-Erzähler Hettche hat seinen Lehrauftrag an einer deutschen Universität verloren, weil seine angebotenen Vorlesungen nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen. "Meine Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons, mein Beharren auf überholten Qualitätsvorstellungen und mein sexistischer Sprachgebrauch" verunmöglichte eine weitere Anstellung, heißt es auf Seite 16. Ja, Thomas hat es nicht leicht. Doch immerhin gibt es den syrischen Flüchtling Dschamil, dem Hettche mit der Subtilität eines Holzhammers die Begriffe von Fremdheit und Moral in der Literatur erklären möchte.

    In diesem Duktus geht es weiter. Der größte Tiefpunkt, sowohl inhaltlich, als auch sprachlich, befindet sich in der Mitte des Romans. Hettche trifft auf die Bischöfin (!) von Sion. Diese trägt eine FFP2-Maske (!!), ist schwarz (!!!) und wird den Erzähler und die Leserschaft noch weitere Male überraschen. Die Bischöfin verkörpert auf geradezu groteske Weise all das, wovor sich Hettche fürchtet. Die zunehmende Feminisierung der Gesellschaft, Diversität in jeder Hinsicht, die "sinkenden Sterne" der Männlichkeit, denen der Roman allen Ernstes seinen Titel zu verdanken hat. Hettche ist sich in dieser Szene sogar nicht zu schade, seine eigentlich doch vorhandene Sprachkunst in dem völlig missglückten Wortspiel "Sie war wunderschön und groß, und sie war schwarz. 'Ich weiß', sagte sie...." münden zu lassen. Die gesamte Bischöfin-Szene ist eine einzige Provokation, die ihr Ziel zwar erreicht, im Grunde aber für die Handlung des Romans völlig überflüssig ist. Dabei hatte ich eigentlich schon 20 Seiten vorher geglaubt, den Tiefpunkt des Romans gelesen zu haben. Sollte Rainer Moritz auf Seite 95 nämlich Hettches Ausführungen über die Verschmelzung und Befruchtung von Keimzellen gelesen haben, ist eine Neuauflage seines 2015 erschienenen Werks "Wer hat den schlechtesten Sex?" eigentlich unabdingbar. "Eine einzigartige Geschichte von Wahnsinns-Höhepunkten in der Literatur - zum Totlachen, Fremdschämen, Mitzittern und Genießen", heißt es in der Produktbeschreibung vielsagend.

    Ein weiterer Kritikpunkt ist das Abschweifen Hettches in Bezug auf seine Bildung, seine übergroße Intellektualität, die der Ich-Erzähler hinreichend betont. Heidegger, Nietzsche, Pasolini, Rilke - ja, Thomas Hettche hat sie alle gelesen und weiß sie ausführlich zu zitieren. Der Autor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig sagte einmal bezüglich seines hervorragenden Debütromans "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts", er wolle damit die Literatur von der Geschwätzigkeit befreien. Sollte er sich Hettches Werk anschauen, könnte er vermutlich 50 Seiten des ohnehin nur 220 Seiten zählenden Werkes besten Gewissens streichen.

    "Sinkende Sterne" ist ein Roman, der nicht gefällig ist und der in jeder Hinsicht polarisieren möchte und polarisieren wird. Ein absolut legitimes Mittel der Literatur, das in diesem Fall aber nicht überzeugt, weil sich Hettche selbst in seinen Fallstricken verliert und die wahrlich vorhandene Qualität seiner Sprache darunter leidet. Dennoch wird das Buch sicherlich seine begeisterten Leser:innen finden. Im Vergleich zu seinem berührenden Vorgänger "Herzfaden" präsentiert sich Hettche hier aber eher selbst als "sinkender Stern".

    2,5/5

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  1. Ein Stern kann nicht sinken, nur sterben.

    Kurzmeinung: Eine Hommage an die berauschende Bergwelt des Wallis - und noch viel mehr!

    Der neueste Roman "Sinkende Sterne" (2023) von Thomas Hettche könnte den geneigten Leser in die Irre führen oder aufs Glatteis, je nach Gusto. Es ist wahrscheinlich ein Roman, den der Autor in allererster Linie für sich selbst geschrieben hat. Diese Hinwendung auf sich und Wegwendung von der Galerie ist nicht das schlechteste, was einem Roman passieren kann, jedoch kann man davon ausgehen, dass es sich bei solchen Werken nicht um gefällige Werke handelt. Und so liegt mit „Sinkende Sterne“ ein Roman vor, der vordergründig verschlossen bis provokant ist, für den Tieferschürfenden durchaus Metaebene bietet. Mit anderen Worten, dieser Roman ist interpretationsbedürftig. Auf alle Fälle ist er weit weg von bloßer Unterhaltungsliteratur.

    Vordergründig begibt sich der Autor himself, also eine Person namens Thomas Hettche, auf eine Reise. Der Vater hat tief in den Bergen des Wallis (Schweiz) ein Häuschen hinterlassen. Dies soll er verkaufen, wie ihm die Verwaltung des Wallis schriftlich mitteilt. Und genau das will Thomas Hettche tun. Er will das Haus verkaufen, aber als er ankommt, brechen alte Erinnerungen auf, denn Thomas Hettche hat seine Kindheit im Wallis verbracht.

    Der Kommentar:
    Die Naturschilderungen Hettches, der vom Frühling bis zum Winter die Jahreszeiten in der walliser Landschaft beschreibt, suchen ihresgleichen, sie sind grandios. Die Landschaft, die Ortschaft, das sind die eigentlichen Protagonisten. Der Autor setzt sowohl der Schönheit wie auch der Eigenart des Wallis ein Denkmal. Die Landschaft ist überwältigend, zuweilen bedrohlich; die Bergwelt ist von Sagen und Mythen durchwirkt, zum Beispiel vom Durchzug der armen Seelen, einer Totenwanderung, der man am besten nicht begegnet, weil sie genau das ist, todbringend. Thomas Hettches Roman ist eine Erzählung vom Heimkommen und vom Sterben und dem, was dazwischenliegt, dem Erzählen.
    Dem Erzählen per se, seinem Entstehungsprozeß, dem Sinn der Erzählens, widmet der Autor sich in vielen mehr oder weniger klugen Gedanken, es werden frühere Denker zitiert, reflexiv angerissen und zueinander in Beziehung gesetzt. Für einen Erzähler ist es legitim, dass er über das Erzählen nachdenkt, es ist schließlich sein Metier. Er darf freilich nicht davon ausgehen, dass seine Gedanken dazu die Leserschaft in den gleichen Taumel der Begeisterung versetzt. Man möge es mir/uns verzeihen, dass uns manches von Hettches Philosophierereien einfach langweilt. Möglicherweise verraten wir uns hier als Kulturbanausen. Mit Dantes Göttlicher Komödie und seinen Höllenkreisen kann ich jedenfalls nicht viel anfangen, bzw. ich kann dem nicht viel abgewinnen.
    Trotzdem bleiben viele lohnenswerte Sätze übrig, selbst wenn sich Hettche für meine Begriffe etwas zu viel in die Sage des Odysseus und in die Sindbad des Seefahrers vertieft und auch Sheheredzade aus TausendundeineNacht hat ihren Auftritt. Aber hat der Autor nicht Recht, wenn er meint: „Jeder, der liest, ist Opfer eines Sirenengesangs?“ oder wenn gesagt wird „nie ist die Macht des Erzählens größer als wenn es abbricht“. Das Erzählen, also im weitesten Sinne die Literatur, ist das, was zwischen Geburt und Tod liegt, das Erzählen ist ein Mittel, das den Tod aufhalten soll. An Sheheredzade wird dies natürlich überdeutlichst sichtbar; sie lebt nur dann weiter, wenn der sie missbrauchende König neugierig auf eine weitere Geschiche ist, die sie am nächsten Abend erzählt. So hält Sheheredzade den Tod auf Abstand!

    Hettche ist ein Meister der Verkürzung, auch ein Meister der Provokation. Es gibt cirka in der Mitte des Romans eine verstörende, obszöne Szene mit einer Genderfrau, einer Bischöfin. Hier versagt beinahe die Interpretation. In einer Szene verdichet ein Säbelhieb gegen die ganze zeitgenössische Aufgeregtheit! Antirassismusdebatte, Genderdebatte, Diversitätsgerangel, Kirchenfrömmigkeit, Mittelalter. Oder doch latente Homosexualität? Don’t know. Aber diese Szene ist die Aufregung nicht wert, letztlich geht es um das Eigentliche in Hettches Roman, um das Sterben, denn wir enden im Winter, im Kalten, im Fieber und im Schmerz (des Abschieds), der im Herbst (des Lebens) schon zutiefst spürbar ist: „der stechende Schmerz des Herbstes“. Wunderschön auch diese Abschiedsformel „Der Himmel war jetzt meist von einem so tiefen Blau und so klar, als sollte man sich alles noch einmal für den Winter einprägen“.

    Nostalgie, die Sehnsucht nach dem Alten, dem Fortwährenden, also dem Ewigen ist ebenso in dem Buch zu finden. Vom Friedhof, auf dem der Dichter Rilke liegt (der Dichter besucht den Dichter, was für ein Bild!) wird gesagt, dort herrscht „die alte Ordnung aus Holz und Marmor“. Das Alte mit seinem nur langsamen Voranschreiten, dem Tempo, bei dem die Seele noch mitkam, war vielleicht gar nicht so schlecht. Jedenfalls setzt der Fährmann über den See. Und wenn das kein Sinnbild für den Tod ist, dann reiche man mir einen Besen zum Fressen. So viele Bilder weisen auf den Tod, auf ausgelebtes Leben hin: Eine Seilbahn beginnt sich zu bewegen, was ist das Leben anderes? Aber die Gondeln sind leer. Denn das Leben ist ausgelebt, es bringt nichts Neues. Dann steht die Seilbahn folgerichtig still!
    Die Serafine(n) verweisen weiter auf Rilke, in dessen Duineser Elegien sie eine Rolle spielen. Sie haben eine dienende Funktion, geben göttliche Hinweise oder sind Hinweise auf das Vorhandensein des Göttlichen. Ein junges Mädchen mit Namen Serafine hat mehrere Auftritte. Nach anfänglicher Irritation denke ich, es ist nicht Serafine als Person gemeint, sondern es sind die Serafinen, also Engel. Mehrmaliger Auftritt gleich Mehrzahl. Auch die anderen surrealen Szenen sind bloße Imagination des Dichters, der unter seiner Arve sitzend, nachdenkt – und dann zu seinem Stift greift. Hier unter der Arve, im Erinnerungshaus des Vates, fließen nun Dichter und Dichter zusammen, der, der den Roman schreibt (aber weiterlebt) mit dem wesensgleichen Dichter, der im Roman stirbt. Die Tatsache, dass ein Stern nicht sinkt, sondern stirbt, mag meine Interpretation betonen.

    Fazit: Thomas Hettches Roman ist eine Erzählung vom Heimkommen und vom Sterben und dem, was dazwischenliegt, dem Erzählen. Es ist kein gefälliger, aber ein vielschichtiger Roman. Ein Roman, der provoziert und sicherlich kontrovers diskutiert werden wird. Ich mag seine Vielschichtigkeit, würde mir aber als nächstes wieder einen leichter zugänglicheren Roman von Thomas Hettche wünschen.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Kiepenheuer und Witsch, 2023

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Märchenland für alle

Buchseite und Rezensionen zu 'Märchenland für alle' von Lilla Bölecz
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Märchenland für alle"

Format:CD-ROM
Seiten:0
EAN:9783742428219
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Rezensionen zu "Märchenland für alle"

  1. "Spieglein, Spieglein an der Wand..."

    Die Audio-CD „Märchenland für alle“ wartet mit 17 ungarischen Märchen auf, die neu interpretiert wurden. Prinzessinnen, die lieber im Dreck herum hüpfen und selbst gegen Drachen kämpfen wollen, Prinzen, die nach dem Mann ihres Lebens suchen oder Frauen mit besonderen Fähigkeiten, die über ihr verstorbenes Kind trauern und sich wieder nach einer eigenen Familie sehnen. Märchen, in denen das Handeln der Figuren nicht durch bestehende Rollenerwartungen bereits von Anfang an festgelegt ist.

    Als ich angefangen habe die CD zu hören, war ich mir der Botschaft der Märchen eigentlich gar nicht richtig bewusst. Natürlich ist mir aufgefallen, dass es Märchen sind, die diesmal etwas anders erzählt werden. Gleichgeschlechtliche Paare oder Mädchen, die auf eigene Faust Abenteuer bestehen. Die hier erzählten Märchen sind bisweilen etwas brutal, traurig, schön anzuhören und manchmal auch lustig. Wie Märchen eben so sind. Und sollte es in der Wirklichkeit nicht genau so sein wie in diesen Märchen dargestellt? Jede Person kann ihren Traum leben und das Leben, das sie sich wünscht, nach eigenen Vorstellung, führen? Und das ist einfach ganz normal.

    Vertont werden die Märchen von namhaften Künstlern wie Jasmin Shaudeen, Julian Horeyseck, Annette Frier oder Phenix Kühnert. Dies tun sie, meiner Meinung nach, ganz wunderbar und sehr gekonnt. Jede Sprecherin, jeder Sprecher vertont das jeweilige Märchen nach ihrem bzw. seinem eigenen Stil. Gemeinsam erschaffen sie im „Märchenland für alle“ eine ganz eigene Atmosphäre.

    Fazit:
    Bekannte Märchen zeitgemäß interpretiert und einmalig vertont.

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  1. Eine neue Form von Märchen

    Cover und Gestaltung:
    -----------------------------
    Das Titelbild ist passend für Märchen und die Illustrationen finde ich wunderschön. Die CD ist nicht in einer Kunststoffhülle, sondern aus Karton. Das gefällt mir, da es viel weniger Platz im Regal einnimmt und nachhaltiger ist. Leider wurde an einer Tracklist und einem Booklet gespart. So weiß man nicht, welche Märchen zu hören sind, wie lange diese Märchen gehen und wer sie spricht.
    Im Innenteil habe ich zufällig einen Link gefunden, durch den man auf ein PDF mit diesen Informationen stößt und die man dann selber ausdrucken kann. Leider ist diese Info schwer zu finden, das auszudruckende Format nicht in Bookletform, sondern DIN A-Format und somit nicht kompatibel zur CD-Hülle. Das hätte man besser machen können.

    Inhalt:
    -----------------------------
    Auf dieser CD befinden sich insgesamt 17 Märchen, die teilweise neu sind, teilweise alte Märchen in anderem Gewand darstellen. Ziel war es, die alten Märchenklischees auf den Kopf zu stellen und die Märchenwelt dadurch zu modernisieren und mit anderen Geschlechterrollen zu versehen.

    Mein Eindruck:
    -----------------------------
    Ich mag Märchen sehr gerne. Sie verbinden Rollenverständnisse, Erziehungsmethoden und Wertevermittlung mit Fantasie und Unterhaltung und sind stets ein Spiegel der Zeit, in der sie entstanden sind. Viele Märchen vertreten entsprechend ein veraltetes Rollenverständnis. Es sind stets Prinz und Prinzessin, die sich ineinander verlieben und dann natürlich auch heiraten und am besten am Ende noch Kinder bekommen. Und die Bösen erkennt man daran, dass sie entsprechend hässlich aussehen. Soweit so klar.
    Aber was wäre, wenn es nicht Aschenputtel, sondern der Waise Batbajan wäre, der mithilfe eines männlichen Urahns auf den Ball des Prinzen ginge? Oder wenn die Lebkuchenhexe eigentlich nur die verirrten und von deren Eltern im Stich gelassenen Kinder verwöhnen will, weil die Hexe einsam ist und die Kinder ihr leidtun? Oder was wäre, wenn Prinz und Prinzessin einfach nur so als Freunde zusammensein wollen, ohne Heirat?
    Dies und vieles mehr erfährt man in dieser besonderen Märchensammlung. Der Großteil dieser Märchen gefiel mir sehr gut, er bringt frischen Wind in alte Märchen, hat mich zum Nachdenken gebracht und gut unterhalten. Ein paar wenige Märchen waren nicht ganz mein Fall. Ich habe offen gesagt ihren Sinn nicht ganz verstanden, weil sie mir zu abstrakt waren. Aber das betraf nur die Minderheit dieser Sammlung.
    Die Sprecher machen fast alle (bis auf einen) einen sehr guten Job und lassen die Geschichten durch ihre Art des Vortrags lebendig werden. Meine Highlights sind dabei Christoph Maria Herbst und Annette Frier, weil ich einfach Fan von ihnen bin.

    Fazit:
    -----------------------------
    Märchen in modernem Gewand, die alte Klischees aufbrechen und zum nachdenken anregen. Tolle Sprecher! CD-Ausstattung könnte besser sein.

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Power: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Power: Roman' von Verena Güntner
3
3 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Power: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:254
EAN:9783832183691
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Rezensionen zu "Power: Roman"

  1. 3
    19. Apr 2020 

    Die Suche

    Power, der Hund von Hitschke, ist verschwunden. Hitschke, die zu den älteren Bewohnern des Dorfes gehört, ist untröstlich. Das kann die 11jährige Kerze nicht mit ansehen. Sie verspricht der Nachbarin, den Hund zu suchen und nicht aufzugeben bis sie ihn gefunden hat. Es ist Ferienzeit und was kann in den Ferien besser sein, als eine so ehrenvolle Aufgabe zu haben. Nach und nach beteiligen sich immer mehr der Dorfkinder an der Suche. Doch Hitschke hat Kerze nicht alles erzählt. Und als die Kinder sich immer mehr in die Suche hineinsteigern, droht die Situation zu entgleisen.

    Dieses Hörbuch wird von der Autorin selbst gelesen und ihre Stimme passt sehr gut zum Buch. Bei der Hauptprotagonistin handelt es sich um die 11jährige Kerze, die ihren Spitznamen von der Oma hat. Sie ist zwar erst 11 Jahre, aber sie weiß schon einiges besser als die Erwachsenen und sie lässt sich nicht mehr alles sagen. Ihr ist die Suche nach dem Hund so wichtig, dass sie die anderen Kinder dazu verführen kann, sich ganz in Power hineinzuversetzen. Der Gedanke, dass die Eltern sauer auf Hitschke werden könnten, die das Ganze vermeintlich angezettelt hat, kommt Kerze allerdings nicht. Dafür ist sie dann doch noch zu jung.

    Der Beginn dieses (Hör)Buches ist ganz hinreißend. Es kommt sehr gut rüber, wie Kerze der Nachbarin helfen will den Hund zu finden. Doch je weiter es geht, desto mehr fragt man sich, wieso Kerze doch auf einige sehr eigene Ideen kommt, wieso die anderen Kinder mitmachen, wieso die Eltern nicht eingreifen und wieso dann der Einfachheit halber die Schuld Hitschke in die Schuhe geschoben wird. Aus der sympathischen Detektivin vom Beginn wird eine herrische Anführerin. Aus der netten Nachbarin, die allerdings auch hätte ehrlicher sein können, wird der Sündenbock, aus normalen Eltern werden Rächer. Aus einem kleinen Dorf wird ein sehr eigenartiger Ort, der nicht sehr einladend wirkt. Und so löst das Buch zwar Einiges aus, lenkt ab, stellt aber nicht sonderlich zufrieden. Sicher braucht man keine ideale Welt, kein Märchen, aber so einen Ausraster braucht man auch nicht.

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