Isländersagas: Die Neuübersetzung

Buchseite und Rezensionen zu 'Isländersagas: Die Neuübersetzung' von Klaus Böldl

Inhaltsangabe zu "Isländersagas: Die Neuübersetzung"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:752
EAN:9783596905874
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Der große Wind der Zeit: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der große Wind der Zeit: Roman' von Joshua Sobol

Inhaltsangabe zu "Der große Wind der Zeit: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:528
EAN:9783630875736
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Das Haus des Windes: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Haus des Windes: Roman' von Louise Erdrich
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Haus des Windes: Roman"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:379
EAN:
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Rezensionen zu "Das Haus des Windes: Roman"

  1. 4
    01. Jul 2017 

    Joe wird erwachsen

    Es ist der Sommer, in dem Joe, soeben 13 Jahre alt geworden, erwachsen wird. Seine Mutter wird Opfer eines brutalen Überfalls, doch aufgrund gesetzgeberischer Unstimmigkeiten fühlt sich keine Ermittlungsbehörde wirklich zuständig. Joe und seine drei Freunde machen sich gemeinsam auf die Suche...
    Das Verbrechen an Joes Mutter ereignet sich im Jahre 1988 in einem Reservat in den USA. Obwohl es sich bei dem Vorfall um die zentrale Geschichte des Buches handelt, ist es doch nur ein Part unter vielen. Joe und seine Freunde lernen die Liebe kennen, es geht um die alten Mythen der Indianer, um Familie, Liebe, Gerechtigkeit, Rassismus undundund.
    Erdrich ist nicht nur eine Könnerin darin, in beiläufigen Bemerkungen ganze Dramen aufzuzeigen wie beispielsweise die damals noch immer massive Diskriminierung der Indianer oder der Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Beirut. Ebenso grandios ist ihre Fähigkeit, daneben überaus witzige Dialoge oder Szenen wie die acht nackten Indianer, die aus der Schwitzhütte flüchten zu beschreiben, ohne dass es aufgesetzt oder gekünstelt wirkt. Auch die Figuren des Romans bringt sie einem nahe: Man leidet, fürchtet oder freut sich mit ihnen und kann deren überaus skeptische Haltung gegenüber den Menschen ausserhalb des Reservates mehr als nachvollziehen. Ja, da fragt man sich, wie Joes Vater trotz alledem so voller Vernunft bleiben kann.
    Weshalb dann nicht die volle Punktzahl? Weil ich kurz zuvor von Joe R. Lansdale 'Ein feiner dunkler Riss' gelesen habe, das ein sehr sehr ähnliches Thema behandelt: Ein ebenfalls 13jähriger macht sich im Sommer des Jahres 1958 gemeinsam mit Freunden auf, ein vor vielen Jahren begangenes Verbrechen aufzuklären. Und auch hier ist es ein Sommer des Erwachsenwerdens. Doch Lansdales Geschichte war (etwas) packender, was daran liegen mag, dass durch die vielen unterschiedlichen Teile Erdrichs Geschichte nicht so aus einem Guss wirkte. Etwas weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen.
    Nichtsdestotrotz: Voll und ganz empfehlenswert (und Lansdale natürlich erst recht ;-)).

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  1. 5
    30. Jun 2017 

    The Round House...

    Der englische Titel dieser Rezension ist gleichzeitig der Originaltitel des Buches und hätte mir wohl eher als der schmal gehaltene Klappentext verdeutlicht, dass dieser Roman in einem Indianerreservat spielt. So hat mich die Lektüre anfangs doch überrascht, aber auch schnell hineingezogen in das Geschehen.

    Der 13-jährige Joe Coutts steht im Mittelpunkt der Handlung, und das Geschehen wird allein aus seiner Sicht erzählt. Er lebt mit seinen Eltern in einem Indianerreservat in North Dakota, einem der am dünnsten besiedelten amerikanischen Bundesstaaten, und gehört wie seine Eltern dem Stamm der Ojibwe an. Joes Vater arbeitet als Richter im Reservat, seine Mutter arbeitet im Stammesbüro. In einem Safe, dessen Kode nur sie besitzt, bewahrt sie kompliziert verästelte Stammesregister auf. Sie kennt jedermanns Geheimnisse und weiß von Kindern, die durch Inzest, Vergewaltigung oder Ehebruch jenseits oder innerhalb der Grenzen des Reservats gezeugt wurden.

    Eines Tages kommt Geraldine, Joes Mutter, sehr verstört nach Hause. Sie bleibt hinter dem Steuer sitzen und macht die Tür ihres Autos nicht auf. Als Joes Vater die Autotür öffnet, sieht er das Blut auf dem Fahrersitz. Und ihr grün und blau geprügeltes Gesicht. So beginnt ein Kriminalfall, der viel komplizierter und komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Zum einen zieht sich Joes Mutter in ihr Schlafzimmer zurück, verweigert die Aussage und verfällt in ein dumpfes, brütendes Schweigen, das Joe und seinen Vater in Angst und Schrecken versetzt. Zum anderen gehört das Stück Land, auf dem das Verbrechen verübt wurde, weder zum Indianerresrvat noch zum amerikanischen Bundesgebiet - es handelt sich um rechtliches Niemandsland, und obgleich drei Behörden mit den Ermittlungen beginnen, kann letztlich keine Anklage erhoben werden. Auch Joes Vater als Stammesrichter sind die Hände gebunden.

    "Ich stand da und spürte die enorme Stille in unserem kleinen Haus wie die Folge einer gewaltigen Explosion. Alles war zum Stillstand gekommen. Selbst das Ticken der Uhr (...) Ich stand da und starrte auf die alte Uhr, deren Zeiger bedeutungslos auf 11:22 stehengeblieben waren. Sonnenlicht fiel in goldenen Pfützen auf den Küchenboden, aber es war ein unheimliches Leuchten, wie die blendenden Strahlen hinter einer Wolke am westlichen Horizont. Grauen packte mich wie ein Trancezustand, wie der Geschmack von Tod und saurer Milch." (S. 32)

    So beschließt der 13-jährige Joe, den Gewalttäter selbst zu finden. Mit seinen Freunden Cappy, Angus und Zack unternimmt er teils halsbrecherische, teils urkomische Ermittlungsversuche, beginnend bei dem Rundhaus, wo das Verbrechen geschah. Und steht schließlich vor einer schwerwiegenden Entscheidung...

    Was für ein Roman! Er liest sich streckenweise wie ein Krimi, doch die Coming-of-Age-Geschichte des Erzählers dominiert. Joe ist ein Junge, der begeistert Rad fährt, für „Star Trek – Die nächste Generation“ schwärmt (die Erzählung spielt im Jahr 1988) und seinen Kummer ansonsten sehr gut vor der Welt versteckt. Auch entdeckt er die Liebe und seine erwachende Sexualität. Wie Joe mit seinen Freunden der Wahrheit nachspürt, Verwandte besucht und tief in die mythische, übernatürliche Welt seiner indianischen Vorfahren eintaucht, ist wahrhaft anschaulich, der jugendlichen Perspektive entsprechend authentisch und oftmals hochkomisch beschrieben – so, wenn es um die Powwow-Montur von Großvater Randall geht: Die Federn an seinem Kopfputz wurden mit Autoantennen stabilisiert, und die Fußglöckchen hängen an einem mit Hirschleder bedeckten, elastischen Strumpfhalter irgendeiner Tante. Die amerikanische Ureinwohner sind keine hehren Gestalten, und die Alten erscheinen im Gegensatz zum gängigen Klischee nicht als Söhne der Weisheit und des Leidens, sondern als kräftige, zähe, sehr irdische Gestalten, die mit Vorliebe schmutzige Anekdoten erzählen. Die Indianer in diesem (fiktiven) Reservat lieben, sie haben Laster, sie suchen nach dem Sinn des Lebens und verlangen Gerechtigkeit.

    "Ich weiß, dass die Welt über dem Highway 5 und jenseits davon weitergeht, aber wenn man dort entlangfährt - vier Jungs, ein Auto, und alles ist so friedlich und Meile für Meile so leer, und der Radioempfang hört auf, und da sind nur noch Rauschen und der Klang der Stimmen und der Wind, wenn man den Arm zum Fenster rausstreckt -, dann fühlt man sich, als balancierte man auf dem Rand des Universums." (S. 377)

    'Das Haus des Windes' ist ein großartig erzähltes, realistisches, hochspannendes Buch über den indianischen Alltag im Reservat, über Identität, Traditionen und überlieferte Mythen. Es ist auch eine Coming-of-Age-Erzählung, ein Krimi, sowie eine politische Anklageschrift über die immer noch vorhandene Rechtlosigkeit der Ureinwohner Nordamerikas: Indianernationen haben keinerlei Souveränität über Nichtindianer, die sich in ihren Reservaten aufhalten, und können sie im Falle eines Verbrechens nicht belangen.

    Eine gelungene Mischung, die Louise Erdrich hier präsentiert und zu einer deftig-traurig-komisch-packenden Geschichte verwebt. Tief eingetaucht bin ich in die Erzählung und kann hier nur eine unbedingte Leseempfehlung geben. Dieser Roman, der mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, gehört in jedem Fall zu meinen Jahreshighlights.

    © Parden

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  1. 4
    29. Jan 2016 

    Windigo

    Joes Mutter ist noch einmal weggefahren, sie will eine Akte holen. Zunächst machen Joe und sein Vater sich keine Gedanken, weil die Mutter noch unterwegs ist, obwohl doch schon die Essenszeit da ist. Später jedoch beginnen sie nach ihr zu suchen. Sie sind heilfroh als ihnen Geraldine im Auto entgegen kommt. Die Freude schlägt jäh in Entsetzen um, denn Geraldine ist überfallen und brutal vergewaltigt worden. Völlig aus der Bahn geworfen zieht sie sich in sich selbst zurück. Joes Vater, der als Stammesrichter arbeitet, stellt selbst Nachforschungen an. Doch leider ist nicht genau feststellbar, wo Geraldine überfallen wurde und aus diesem Grund lässt sich auch die zuständige Behörde nicht ermitteln.

    Amerika Ende der 1980er, eine Vergangenheit, die doch noch nicht so fern ist. Und doch ist die Welt, in die dieser Roman einen entführt, fremd und scheint auch älter als die Jahre andeuten. Die Indianer leben vornehmlich in Reservaten, mit eigenen gesellschaftlichen Regeln und einer eigenen Rechtsprechung. Mit den Nachfahren der Einwanderer gibt es offensichtlich kaum Berührungspunkte. Es ersteht eine Welt der Trennung, die man schon überwunden wähnte. Ein Glaube, der sich vor den Nachrichten der heutigen Zeit durchaus als Irrtum erweisen könnte. Fremd zwar, aber doch nicht so fremd. Geraldine ist durch die Tat schwer gezeichnet und Joe und sein Vater versuchen alles, um sie wieder zur Teilhabe am Leben zu bringen. Zunächst gelingt das nicht und die Sorge wächst stetig. Für einen 13jährigen wie Joe ist das keine einfache Situation. Er und sein bester Freund Cappy versuchen sich abzulenken. Doch in Gedanken will Joe seiner Mutter helfen und den Täter seiner gerechten Strafe zuführen.

    Witzig und tragisch zugleich versteht es der Roman zu unterhalten. Der betagte Großvater trägt dabei sehr zur Unterhaltung bei. Gleichzeitig helfen seine Geschichten zum besseren Verständnis der indianischen Kultur, deren Sagen und Mythen. Der Überfall auf Geraldine und seine Auswirkungen auf die ganze Familie stimmen eher nachdenklich und machen betroffen. Wieso können Frauen so erniedrigt werden, wieso werden nicht alle Taten mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt. Ein stimmiger und lehrreicher Roman, der wärmstens weiterempfohlen werden kann.

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Nachtfrauen

Buchseite und Rezensionen zu 'Nachtfrauen' von Maja Haderlap
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Nachtfrauen"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:294
EAN:9783518431337
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Rezensionen zu "Nachtfrauen"

  1. Ein beeindruckendes Leseerlebnis

    „Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.“ (Zitat Seite 11)

    Inhalt
    Mira lebt seit ihrer Studienzeit in Wien, das sind nun schon mehr als dreißig Jahre. Aufgewachsen ist sie mit ihrer Mutter Anni und ihrem Bruder Stanko in Jaundorf, einem Ort in Südkärnten. Die alte Anni wohnt noch immer in dem kleinen, einfachen Haus, einem Nebengebäude auf dem Bauernhof ihres Bruders, in dem sie nach dem frühen Tod ihres Mannes die beiden Kinder großgezogen hat. „Weggehen kann jeder. Das Schwierige ist doch, zu bleiben, auch wenn die Mehrzahl der Bewohner das Weite gesucht hat.“ (Zitat Seite 14) Inzwischen hat Annis Neffe Franz das gesamte Anwesen geerbt und jetzt will er das Häuschen abreißen und dort eine Tischlerwerkstatt bauen. Mira muss nach Jaundorf fahren, sie soll Anni von der Notwendigkeit der Übersiedlung überzeugen und mit ihr Entscheidungen treffen, wie und wo Anni nun wohnen soll. Mira spricht mit ihrer Mutter immer noch slowenischen Dialekt, die Sprache ihrer Kindheit, und jede Reise nach Südkärnten ist für Mira auch eine Reise zurück in die Erinnerungen einer problematischen Vergangenheit.

    Thema und Genre
    In diesem Familien- und Generationenroman geht es um drei Frauen, Mira, ihre Mutter Anni und deren Mutter, Miras Großmutter Agnes. Themen sind Heimat, enges Dorfleben, Verluste, problematische Mutter-Tochter-Beziehungen, die vom Schweigen über die Vergangenheit und Verschweigen geprägt sind. Es geht auch um Schuldgefühle, die den Verlauf von Menschenleben beeinflussen, um Beziehungen und Liebe.

    Erzählform und Sprache
    Im ersten Teil des Romans steht Mira im personalen Mittelpunkt der Geschichte, wir sehen die Ereignisse aus ihrem Blickwinkel, tauchen in ihre Gefühle und Gedanken ein. Wir erfahren Details aus der Vergangenheit, an die sie sich während dieser aktuellen Tage mit ihrer Mutter erinnert. Durch Zufall trifft sie ihre Jugendliebe Jurij wieder, was dazu führt, dass sie über ihre Ehe mit dem Mittelschullehrer Martin nachdenkt. Im zweiten Teil der Geschichte steht dann Miras Mutter Anni im Mittelpunkt. Die bevorstehende Übersiedlung aus dem alten Häuschen, in dem sie einundvierzig Jahre ihres Lebens verbracht hat, nützt Anni, um ihre Erinnerungen zu sichten, Kartons mit alten Unterlagen, Briefen, Zeitungsausschnitten und Fotos, mit denen sie einzelne Ereignisse verbindet. So reisen ihre Gedanken zurück in ihre eigene Kindheit und als sie die Schachtel mit der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Agnes durchsieht, öffnet sich vor uns auch das Leben von Agnes und ihrer unangepassten Schwester, der Partisanin Dragica. Es sind von Entbehrungen, harter Arbeit und dem Druck auf die slowenische Minderheitsbevölkerung im südlichen Kärnten geprägte Frauenschicksale. Sowohl die eindrucksvolle Geschichte selbst, als auch die intensive Sprache ziehen uns sofort in ihren Bann.

    Fazit
    Eine packende, vielschichtige Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen, Großmutter, Mutter, Tochter, stehen. Dieser Roman war für den Österreichischen Buchpreis 2023 nominiert und ist ein überzeugendes Leseerlebnis.

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  1. 4
    09. Feb 2024 

    All die ungesagten Dinge...

    Als Mira ins Auto steigt, um sich auf den Weg nach Südkärnten zu machen, weiß sie, dass ihr schwierige Tage bevorstehen: Ihre alte Mutter muss auf den Auszug aus dem Haus vorbereitet werden, in dem sie vor Jahrzehnten als ungelernte Arbeiterin mit den damals noch kleinen Kindern Obdach gefunden hat. Tatsächlich verdichten sich im Lauf der folgenden Wochen die Erinnerungen an eine als traumatisch erlebte Kindheit, die vom frühen Tod des Vaters genauso belastet war wie von der rigiden patriarchalen Ordnung und den Dogmen der katholischen Kirche. Die alten, unaufgelösten Konflikte verschaffen sich neuen Raum, und Mira beginnt zu verstehen, dass sie von den lang beschwiegenen Lebensgeschichten ihrer Ahninnen befeuert werden: Tagelöhnerin die eine, die unter dramatischen Umständen ums Leben kam, Partisanin die andere, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr nach Kärnten zurückkehrte. (Verlagsbeschreibung)

    Dieser Roman stand auf der Shortlist des letztjährigen Österreichischen Buchpreises, konnte sich zuletzt aber nicht gegen den Gewinnertitel durchsetzen. Mich machte der Klappentext neugierig, und eine Leseprobe verstärkte die Neugierde noch. Tatsächlich habe ich dann aber lange für den Roman gebraucht, zum einen weil er so vielschichtig ist und bedeutsame Themen miteinander verwebt, zum anderen aber auch, weil es in der Mitte durch einen Perspektivwechsel einen deutlichen Bruch gab, auf den ich mich zunächst nur schwer einstellen konnte.

    Der erste Teil wird aus der Perspektive der Mittfünfzigerin Mira erzählt, die ihren Mann für eine Weile in Wien zurücklässt, um in ihr Heimatdorf in Südkärnten zurückzukehren. Dort lebt ihre alte Mutter, der sie schonend erklären muss, dass sie nicht länger in dem alten Haus wohnen bleiben kann - nicht nur wegen ihrer zunehmenden Hilflosigkeit, sondern auch deshalb, weil der Neffe mit dem Hof andere Pläne hat und das Haus dafür abgerissen werden soll. Rasch wird deutlich, dass es zwischen den beiden Frauen viele offene Themen gibt, die nie angesprochen wurden und die auch jetzt noch totgeschwiegen werden. Mira stößt im Haus auf viele Erinnerungsstücke, und Fetzen der Vergangenheit holen sie ein. Begegnungen im Dorf verstärken die Erinnerungsreise noch.

    In der Mitte des Romans wechselt die Perspektive dann plötzlich zu Miras Mutter Anni, was für mich den benannten Bruch ergab. Doch wird schließlich deutlich, dass sich bestimmte Themen wie eine traumatische Kindheit, der frühe Verlust des Vaters, die erlebte Härte und Lieblosigkeit der Mutter, Schuldgefühle, das Alleinbleiben mit schweren Themen, weil alle schwiegen, aber auch gesellschaftliche Aspekte wie festgelegte Frauenrollen in einem extrem patriarchalen System, die schwierige Rolle der Slowenen im österreichischen Südkärnten als ewige Außenseiter, die eigene Identitätssuche angesichts aufgezwungener und verinnerlichter Leitbilder, die Rolle der dogmatischen katholischen Kirche u.a.m., durch die Generationen ziehen.

    Viele Themen also für den nur vordergründig ruhigen Roman, der, wenn man sich darauf einlässt, beim Lesen stellenweise für eine Enge in der Brust sorgt, weil das einschnürende Korsett des Lebens in dem Kärntner Dorf geradezu spürbar wird. Kein angenehmens Leseerlebnis, aber ein eindrucksvolles. Und wieder einmal bin ich froh, ein Kind meiner Generation zu sein und mich bewusst gegen das Totschweigen brisanter Themen entscheiden zu können, anders noch als meine eigenen Eltern. Ich habe mich Mira daher tatsächlich nahe gefühlt, auch wenn die Erzählung selbst eher auf Distanz blieb.

    Ein Roman, der das Leben dreier Generationen von Frauen beleuchtet, denen die Autonomie verwehrt blieb bzw. die schwer daraum ringen mussten. Verluste, Schweigen und Schuld, dazu eingewebt gesellschafts- und sozialkritische Aspekte - keine leichte Lektüre, aber eine nachhallende.

    © Parden

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Goldener Boden

Buchseite und Rezensionen zu 'Goldener Boden' von Ulrike Dotzer

Inhaltsangabe zu "Goldener Boden"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:608
Verlag: Europa Verlag
EAN:9783958905122
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Der späte Ruhm der Mrs. Quinn

Buchseite und Rezensionen zu 'Der späte Ruhm der Mrs. Quinn' von Olivia Ford
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der späte Ruhm der Mrs. Quinn"

Jennifer Quinn hätte nie gedacht, dass in ihrem Leben noch etwas Aufregendes passiert. Seit fast sechzig Jahren ist sie glücklich mit Bernard verheiratet, und die beiden genießen ihre beschaulichen Tage in einem kleinen englischen Dorf. Mrs. Quinns Leidenschaft ist das Backen, die vielen Familienrezepte gehören zu ihren wertvollsten Erinnerungen, und sie liebt es, Freunde und Familie mit ihren Köstlichkeiten zu verwöhnen. Doch kurz vor dem großen Hochzeitstag mit Bernard ist auf einmal alles anders.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:400
EAN:9783423283823
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Rezensionen zu "Der späte Ruhm der Mrs. Quinn"

  1. Berührende Geschichte, die Appetit macht

    Cover:
    -----------------
    Das Titelbild hätte man auch gut für ein Backbuch verwenden können. Es vermittelt das zentrale Thema Liebe zum Backen. Und dennoch geht es hier um noch mehr: Liebe allgemein, Familiengeheimnisse und die oft schwere Position alleinstehender Frauen in den 1970er Jahren.

    Inhalt:
    -----------------
    Jennifer Quinn ist seit über 60 Jahren glücklich mit ihrem Ehemann Bernhard verheiratet. Die Ehe blieb leider kinderlos, doch sie haben ein enges Verhältnis zu ihrer Nichte Poppy und deren Eltern. Jennifers Leidenschaft ist das Backen, das sie ihr Leben lang begleitet. Während sich ihr Mann gut im Alter eingerichtet hat, möchte sie sich noch einmal einen Traum verwirklichen und bewirbt sich in einem TV-Backwettbewerb. Als sie angenommen wird, gewinnt sie neue Freunde und neue Möglichkeiten. Doch auch ein lang gehegtes Geheimnis dringt dadurch immer mehr an die Oberfläche. Wird es ihr neues Leben und sogar ihre Ehe zerstören?

    Mein Eindruck:
    -----------------

    "Es ist schon seltsam, dachte Jennifer bei sich, wie Rezepte die Menschen überleben, die sie aufgeschrieben haben, und wie sie dabei diese Menschen in gewisser Weise wieder zum Leben erwecken, als würde ein winziges Stück ihrer Seele in den Anweisungen weiter bestehen."

    Die Handlung ist abwechselnd in zwei Zeitebenen geschrieben: Gegenwart und Vergangenheit. Dadurch fiebert der Leser zum einen beim Backwettbewerb mit, zum anderen löst sich das Geheimnis von Jennifer Quinn, aus deren Perspektive alles beschrieben wird, nur stückweise. Das war ein Aspekt, weswegen ich das Buch schwer aus der Hand legen konnte. Ich wollte wissen, was hinter dem Geheimnis steckt und ertappte mich gleichzeitig beim Daumendrücken im Wettbewerb.
    Des Weiteren gefiel mir der Schreibstil sehr gut. Die Autorin konnte treffend die Umstände und Gefühle der jeweiligen Zeit widerspiegeln. Ich habe mir einige Zitate notiert, die mir sehr gut gefielen.

    "Als sie hinauf in den dunkler werdenden Himmel blickte, vermisste sie Bernard schmerzlich. Sie hatte einmal gelesen, dass das Tragische an der Monogamie die Tatsache war, dass man sich nie wieder verlieben konnte, aber das stimmte nicht. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sie sich immer und immer wieder neu in den Mann an ihrer Seite verliebt."

    Zudem hat mich die Liebe zwischen Jennifer und Bernhard sehr berührt. Das gegenseitige Vertrauen und die Hingabe zueinander sowie die Fähigkeit des Vergebens haben mir sehr imponiert. An einigen Stellen hatte ich auch Tränen in den Augen.

    Anfangs dachte ich, dass die Geschichte sehr vorhersehbar sei, doch sie überraschte mich mit einigen Wendungen und driftete trotz einiger gefühlvoller Momente für meinen Geschmack nie ins Kitschige ab. Das Ende fühlte sich rund an. Man sollte diesen Roman jedoch mit gefülltem Magen lesen, denn die detailreichen Beschreibungen der gebackenen Leckereien lassen einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Schade, dass es keine Rezepte zum Nachbacken gab. Die hätte ich mir am Ende des Buches gewünscht!

    Fazit:
    -----------------
    Warmherzig und klug geschriebener Debütroman über das Backen, die Liebe und dass man auch im Alter sein Leben noch positiv verändern kann.

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  1. Großartig

    Das Buch war eine Empfehlung meiner Lieblingsbuchhändlerin, als ich auf der Suche nach einer schön erzählten Geschichte für die grauen Januartage war. Und es war ein absoluter Volltreffer! Ich habe dieses Buch so gerne gelesen. Es ist warmherzig, liebevoll und vor allem charmant geschrieben. Wie eine schöne, warme kuschelige Decke in Buchform.

    Jenny und Bernie habe ich sofort ins Herz geschlossen. Zwei Protagonisten, die man einfach gern haben muss und von denen man sich ein bisschen wünscht, sie wären die eigenen Großeltern. Mit hat die Idee, dass Jenny sich mit ihren 77 Jahren zu einer TV-Backshow anmeldet sofort gefallen. Ich schaue solche Sendungen selbst sehr gerne und wie vor dem heimischen TV habe ich auf Jennys Weg durch die Sendung mit gefiebert.
    Mit hat vor allem sehr gefallen, mit welchem Verständnis und Fingerspitzengefühl die Autorin Jennys Leben erzählt. Nicht nur die guten und heiteren Momente, sondern auch die dunklen und verzweifelten Zeiten. Es fiel mir sehr leicht mich in ihre Gefühlswelt hineinzuversetzen. Und so habe ich durchaus das ein oder andere Tränchen verdrückt, mich sehr für sie freuen können und habe im Geiste all die gebackenen Leckereien verputzt.

    Ein für mich richtig gut gelungenes Buch und ein erstes Highlight in diesem Jahr.

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  1. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

    Jenny Quinn ist bereits 77 Jahre alt und lebt gemeinsam mit ihrem Mann Bernard in einem Häuschen, nicht weit von London entfernt.
    Gemeinsam genießen sie ihren Lebensabend und kümmern sich liebevoll um ihre Nichte sowie deren Familie. Eigene Kinder waren dem Ehepaar leider nicht vergönnt gewesen.
    Dennoch könnte die ältere Dame mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden sein. Wäre da nur nicht die nagende Unzufriedenheit nichts Bedeutendes im Leben erreicht zu haben. Wenn sie einmal stirbt, möchte Jenny allerdings der Welt etwas Bleibendes hinterlassen können. Etwas, das nur von ihr ist. Schließlich hat sie eine Chance dafür im Leben bereits verwirkt…
    Aber vielleicht könnte ja Jennys größtes Talent, das Backen, dazu beitragen noch etwas „Großes“ zu bewirken. Die berühmte Fernsehshow „Das Backduell- Backen auf der Insel“ sucht nämlich für seine neue Staffel noch Kandidaten. Sollte also Jenny all ihren Mut zusammen nehmen und sich für die Sendung bewerben?
    Doch wie so oft im Leben, kommt alles anders als geplant und als dann auch noch Bernard schwer erkrankt, weiß Jenny wo ihr Platz im Leben zu sein hat, oder?

    Die Autorin Olivia Ford war lange Zeit im Unterhaltungsfernsehen tätig, bevor sie sich dem Schreiben von Büchern widmete. In ihrem Debütroman sieht man genau diese Erfahrungen in der Medienbranche „durchblitzen“. Dadurch wirken die jeweiligen Szenen natürlich noch anschaulicher und überzeugender. Olivia Ford lässt durch die Beschreibung dieser Abschnitte eine ganz eigene Atmosphäre entstehen. So fiebert man wie ein Zuschauer vor dem Fernsehen mit, wenn es darum geht wer den goldenen „Kochlöffel“ als nächstes gewinnen wird.
    Zu der Backatmosphäre im Buch passen auch die Überschriften der einzelnen Kapitel. Diese sind nach Backwerken, wie z.B. Quiche Lorraine, Gestürzter Ananaskuchen oder Treacle Tart benannt.
    Die Geschichte wird aus Jennys Perspektive heraus erzählt. Dabei vermischt sich die Gegenwart mit, vergangenen Erlebnissen, deren Auswirkungen bis in das aktuelle Geschehen hineinreichen.
    Die einzelnen Stränge verbinden sich zum Ende hin somit, zu einem großen Ganzen. Das ist Frau Ford wirklich gut gelungen.
    Zudem beschreibt die Autorin ihre Protagonisten sowohl ausführlich als auch anschaulich. Schnell hat man bestimmte Vorstellungen der einzelnen Personen im Kopf, die persönlichen Favoriten sind schnell gewählt.
    Nur Jenny, die Hauptprotagonistin, konnte ich ganz schwer einschätzen. Auch ihr Verhalten blieb mir
    bisweilen ein Rätsel. Weshalb immer diese Geheimniskrämerei?

    Fazit:
    Ein unterhaltsamer Debütroman, mit einigen Überraschungsmomenten.

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Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt

Buchseite und Rezensionen zu 'Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt' von Anne Stern
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt"

Berlin, 1929: Hulda Gold arbeitet als Hebamme in einer Mütterberatungsstelle in Schöneberg. Für ihre Schützlinge tut sie alles. Aber sie muss auch für sich und ihre kleine Tochter Meta kämpfen, denn das Leben als alleinerziehende, ledige Mutter ist selbst in ihrem Heimatkiez alles andere als leicht. Als sie eine junge Schauspielerin am berühmten Theater am Nollendorfplatz betreut, lernt sie eine neue Facette ihres Viertels kennen: die faszinierende Welt der Künstlerinnen und Bühnenstars, in der nichts ist, wie es scheint. Doch mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise kämpft auch das Theater ums nackte Überleben. Als es zu einer seltsamen Einbruchsserie im Viertel kommt, ist Hulda alarmiert, denn nicht nur einer ihrer Freunde ist von der Gefahr direkt betroffen. Sie beginnt, Nachforschungen anzustellen, und muss all ihren Mut und ihren unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn unter Beweis stellen – nicht nur für sich selbst, sondern auch für Meta.

Autor:
Format:Broschiert
Seiten:464
EAN:9783499009181
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Rezensionen zu "Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt"

  1. Jeder ist sich selbst der Nächste...

    Wahrscheinlich bin ich nur wie viele andere Leser, denn das Erscheinen eines jeden Hulda Gold Bandes sehne ich regelrecht herbei und dann ist er in wenigen Tagen ausgelesen.

    In der Geschichte geht es dieses Mal um eine mysteriöse Einbruchsserie im Viertel. Auch der liebe Kioskbesitzer Bert ist betroffen. Was geht da nur vor? Doch eines Abends macht Hulda eine Entdeckung. Kann eine Bekannte von ihr in dem Fall verwickelt sein? Würden Frauen so etwas überhaupt tun?

    Mir hat an diesem Band gefallen, dass der eigentliche, kleine Kriminalfall sehr im Hintergrund ist und es mehr um das Berlin Ende der 20er, die politischen Entwicklungen und Huldas Leben und das ihrer Freunde geht. Zudem mochte ich, dass zwar das Muttersein mit all seinen Mühen beschrieben ist, aber auf eine liebevolle, schöne Art und nicht als ekelhafte Last. Es ist jedem klar, dass alleine ein Kind großzuziehen kein Zuckerschlecken ist.

    Ich habe mich beim Lesen wieder sehr wohl gefühlt, da mir die Straßennamen durchaus etwas sagen und ich an einigen beschriebenen Plätzen auch schon war. Manches Mal wünscht man sich als Leser schon so eine kleine Zeitreise, um da nochmal persönlich hin stöbern zu können.

    Was ich auch richtig klasse fand, dass die Paarbeziehungen eben nicht kitschig verklärt dargestellt werden, sondern mit echten Problemen, die es heute auch oft noch gibt. Das ist so schön, wenn Realität sich in Büchern wiederfindet und man sich mit den Akteuren identifizieren kann.

    Bewegend war zudem, dass man die politischen Veränderungen mit all seinen Schrecken, denn wir als Leser wissen ja bereits was da noch kommen wird, auf jeder Seite spürt.

    Einzig gestört hat mich folgendes: auf jeder zweiten Seite wird Kaffee gekocht oder getrunken.

    Fazit: Weiterhin unterhaltsam und macht nach wie vor Lust auf weitere Geschichten rund um die Berliner Hebamme. Einfach toll.

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Sapphira und das Sklavenmädchen: Roman -

Buchseite und Rezensionen zu 'Sapphira und das Sklavenmädchen: Roman -' von Willa Cather

Inhaltsangabe zu "Sapphira und das Sklavenmädchen: Roman -"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:256
Verlag: btb Verlag
EAN:9783442743049
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Unsereins

Buchseite und Rezensionen zu 'Unsereins' von Inger-Maria Mahlke
3.9
3.9 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Unsereins"

Eine Lübecker Familie, protestantisch, konservativ, kaisertreu: die Lindhorsts. 1890 kommt Marthe in dem weitläufigen Patrizierhaus in der Königstraße zur Welt. Um sie eine Schar älterer Brüder, deren Freiheiten nicht ihre sein werden. Und doch ist es ein Leben mit glänzenden Aussichten. Bis ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Bekannten, den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer «die Jüdischen» sind. Unsereins ist der Roman einer Stadt und ihrer Gesellschaft, ihrer Bürger und Lohndiener, der Handwerker und, vor allem, ihrer Frauen. Ob Dienstmädchen, Hausfrau, Weißnäherin oder Schriftstellerin, ob manisch-depressiv wie Marthes Mutter, durchlässig wie Marthe selbst, die mit eigenen und fremden Erwartungen ringt. Inger-Maria Mahlke erzählt von Identität und Zugehörigkeit, von Geschlecht und Klasse, von Macht- und Liebesverhältnissen – von allem, was nicht nur den vormals «kleinsten Staat des deutschen Reichs» formte und zusammenhielt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:496
EAN:9783498001810
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Rezensionen zu "Unsereins"

  1. Komplexes Gesellschaftsbild um 1900 in Lübeck

    REZENSION – Schon ihrem mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichneten Roman „Archipel“, der Geschichte mehrerer Familien über fünf Generationen hinweg auf Teneriffa, wurde damals eine Nähe zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ nachgesagt. Einen direkten, diesmal von Inger-Maria Mahlke (46) sogar gewollten Bezug erkennt man nun in ihrem im November beim Rowohlt Verlag erschienenen Roman „Unsereins“. Darin beschreibt die in Lübeck aufgewachsene Schriftstellerin nicht nur das gesellschaftliche Leben des hanseatischen Großbürgertums sowie deren Hauspersonals, der Lohndiener und Handwerker in den Jahren zwischen 1890 und 1906 in Lübeck, dem „kleinsten Staat“ des deutschen Kaiserreichs. Ganz konkret erscheint in ihrem Roman sogar der junge Thomas Mann als Autor eines damals in der Lübecker Gesellschaft Aufsehen erregenden Familienromans. Dennoch sollte man „Unsereins“ völlig losgelöst und frei von dieser literarischen Bürde lesen – als eine Familiengeschichte, die mir in ihrem modernen Stil sowie in ihrer historischen Authenzität und Komplexität der Handlung ebenfalls preiswürdig erscheint.
    Im Vordergrund dieses inhaltlich üppigen Gesellschaftsromans steht vor allem das Leben der kinderreichen Familie von Friedrich Lindhorst - „protestantisch, konservativ, kaisertreu“ - und dessen Ehefrau Marie, Tochter des „berühmtesten Dichters aller Zeiten“, deren jüngste Tochter Marthe als deren achtes Kind im Jahr 1890 im großen Patrizierhaus in der Königstraße geboren wird. Schon Friedrich Lindhorst ist als Rechtsanwalt in gewisser Weise ein Außenseiter seiner Kaufmannsfamilie, folgten doch seine Brüder, der Senator Achim und der Konsul Heinrich Lindhorst, noch der beruflichen Familientradition. Doch der gesellschaftliche Umbruch jener Zeit wird weitere Veränderungen bringen.
    Der Patrizierfamilie gegenüber stellt Mahlke die Handwerker und Lohndiener wie Charlie Helms oder Ratsdiener Isenhagen und das Hauspersonal der Lindhorst-Familie, allen voran deren Dienstmädchen Ida. Wir begleiten Ida von ihrem Dienstbeginn im Hause Lindhorst, erleben mit ihr die schrittweisen Veränderungen jener Jahre, die auch an der Familie Lindhorst ihre deutlichen Spuren hinterlassen bis hin zum Tod des an Syphilis erkrankten Sohnes Cord und der manischen Depression seiner Mutter Marie. Es braucht Jahre bis sich Ida aus ihrem Dienstmädchen-Leben zu befreien versucht, heimlich Steno und Schreibmaschine lernt, um ein selbstbestimmtes Leben führen und als Büroschreibkraft arbeiten zu können. „Ich werde nicht in Diensten sterben“, hämmert sie immer wieder in Großbuchstaben als Mahnung an sich selbst in die Maschine.
    Mahlke beschreibt in „Unsereins“ ein beeindruckend komplexes Gesellschaftsbild um die Wende ins 20. Jahrhundert, die auch vor der konservativen Hansestadt nicht Halt macht. Wir erfahren, wie festgefügte Rollen und damit verbundene konservative Erwartungen an Politik und gesellschaftlichen Stand aufbrechen und Hoffnungen auf Veränderung zu keimen beginnen.
    Zwar zwingt die Vielzahl von Mahlkes Protagonisten anfangs mehrmals zum Zurückblättern auf die im Vorspann zum Glück eingefügte Liste handelnder Personen, zumal verschiedene Handlungsstränge sich erst später zum komplexen Gesellschaftsbild fügen, doch bald gewinnt man dann doch den Überblick, kann die Figuren jeweils zuordnen und vollends in die Geschichte und ihre Zeit eintauchen. Man lebt mit Mahlkes Figuren und bedauert schließlich das Ende der Geschichte, die sich auch gut verfilmen ließe. „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang“, lautet Mahlkes letzter Satz im Buch. Damit kann das weitere Leben ihrer Protagonisten gemeint sein. Der Satz kann aber auch Mahlkes doppeldeutiger Hinweis auf eine Fortsetzung ihres Romans „Unsereins“ sein.

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  1. Der Versuch einer Neuauflage von „Buddenbrooks“ ist gescheitert.

    Kurzmeinung: BruchstückTechnik: zu oberflächlich für mich.

    Auf fast 500 Seiten entwickelt die Autorin die Familiengeschichte der Lindhorsts, die so viele Kinder produzieren, dass Marie, die Mutter meint, es seien zu viele, um alle so zu lieben, wie es sich gehöre. Man schnappt nach Luft. Marie hat nämlich nichts zu tun und zwar so rein gar nichts. Es wäre nicht zu viel verlangt gewesen, die Kinderschar angemessen zu betreuen. Aber die feine Gesellschaft hat sich noch in dem Zeitraum der Romanhandlung, circa 1890 bis 1906, kaum um die Nachkommenschaft gekümmert. Das haben andere getan, Dienstboten. Selber trank man Tee, rümpfte die Nase über andere, verreiste, wobei andere die Koffer packten, machte Musik und die Männer konkurrierten um Rang und Ansehen und gingen fremd. Ja, sorry, so wars. Diese Schiene der feinen Lübecker Gesellschaft hat Inger-Maria Mahlke vortrefflich zu Papier gebracht. In ihrer Erzählung reitet sie freilich xmal zu oft auf dem Begriff des kleinsten Staats des deutschen Reiches herum und nervt damit.

    Der Kommentar:
    Die Erzählung mäandert umher: der die Leser anfangs in Beschlag nehmende Junge Georg, der vom Großvater abgeschoben in ein Jungsinternat unter der unkreativen „Anstalt“ leidet, bekommt erst am Ende, nun als Erwachsener, einen weiteren Auftritt, wobei er resümiert, was aus ihnen allen, nämlich seinen Altersgenossen und den übrigen Zöglingen der Anstalt geworden ist. Einer wurde Schriftsteller und veröffentlichte ein berühmt-berüchtigtes Buch über seine Heimatstadt „Die Buddenbrooks“.
    Die Passagen, wie sich die Bürger Lübecks über „Die Buddenbrooks“ aufregen und skandalträchtig sich gegenseitig im Beschriebenen wiederzufinden suchen, sind allerdings nur mäßig interessant. Viel mehr hätte interessiert, was aus Isenhagen, dem Ratsdiener, mit seiner unglücklichen Liebe zu einer mit einem Schwulen verheirateten jungen Frau geworden sein mag und wie Ida, die Dienstmagd mit ihren mannigfaltigen Versuchen eines sozialen Aufstiegs und ihrem Scheitern fertig geworden ist. Warum ist sie keine Sozialdemokratin geworden zum Beispiel?
    Und warum hat die Autorin, Georg so völlig links liegen lassen, nachdem sie so viel Zeit darauf verwendet hat, ihn uns ans Herz zu legen, unsere Sympathie zu wecken, denn Georg ist so ziemlich die einzige Figur, mit der man sich hätte solidarisieren können. Zuerst trösten wir uns mit ihm jede Woche eine halbe Stunde lang im warmen Bad in einer öffentlichen Badestube, wo er seine Striemen behandelt, dann lässt ihn die Autorin fallen wie eine heiße Kartoffel. Leider ist das nicht die einzige Figur, die uns die Autorin nahe bringt und dann fallen lässt. Sie strickt und strickt und es könnte ein hübsches Muster entstehen, aber dann lässt sie absichtlich die Maschen fallen. Man kann diese Technik "Kunst" nennen, oder auch "Loch im Strumpf". Ich bevorzuge neue Strümpfe ohne Löcher.
    Allenfalls bei der Verfolgung der Familie Lindhorst lässt die Autorin so etwas Ähnliches wie einen roten Faden erkennen. Freilich ist die Problematik Judentum vollkommen ausgespart. Dass es sich um eine jüdische Familie handelt, ist im Roman kaum erkennbar, sie leben kein jüdisches Leben. Und sie reden auch nicht darüber, dass sie Juden sind. Oder gewesen sind. Die Männer reden sowie so wenig, wenn sie nicht in fremden Betten turnen, kommandieren sie herum. Der ekligen Schilderung der Syphilis wird dann wieder reichlich Raum gegeben.

    Die Autorin kann schreiben und vorzüglich mit Sprache umgehen, keine Frage. Was indes fehlt ist Zusammenhang, zu viel bleibt liegen, zu viel Gewicht liegt auf den „gnädigen Herrschaften“ und auf den sexuellen Praktiken der jungen Herren. Statt das Problem der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung vertiefend zu behandeln, verliert sich die Autorin in der Ausfeilung völlig unwichtiger Details. Details können Atmosphäre schaffen, aber in „Unsereins“ verschleppen sie den Roman; Innenansichten fehlen vollständig, man schaut drauf und fühlt: nichts.

    Anmerkung zum Hörbuch: Normalerweise liest ein Hörbuch einen Roman nach oben. Trotz der wunderbar eingelesenen Interpretation von Julia Nachtmann ist es diesem Roman dennoch nicht gelungen, mir mehr Sterne abzuringen: dies spricht für sich. Dem Hörbuch fehlt zudem das Verlesen des Personenverzeichnisses, was bei einem so sprunghaften Roman aber nicht unwichtig gewesen wäre. Was wirklich positiv zu Buche schlägt, ist die Hörbuchsprecherin selbst. Sie macht alles richtig.

    Fazit: Dasselbe hat man schon oft gelesen. Auch wenn der Roman mit schönen Formulierungen glänzt und mit dem Erscheinen des Romans „Buddenbrooks“ von Thomas Mann jongliert, reicht dieser Spielzug meiner Meinung nicht aus, um literarische Bedeutung zu kreieren.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Für das Hörbuch: Argon, 2023
    Sonst: Rowohlt, 2023

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  1. Ein Gesellschaftsroman aus der Perspektive einer Drohne

    Mein Hör-Eindruck:

    „Und wäre dies das Ende eines Films, so würde die letzte Einstellung aus der Perspektive einer Drohne gedreht“, heißt es am Ende des Romans. Und genau so beginnt auch der Roman: mit der Perspektive einer Drohne. Da wird der Weg eines Regentropfens verfolgt, der sich von oben her dem „kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs“ nähert und seinen Weg sucht und findet, nämlich das Haus des Rechtsanwaltes Lindhorst und seiner Familie. Und auch wie von oben werden weitere Figuren anvisiert und dann herangezoomt, die in einer Verbindung zu dieser Familie stehen. Mit diesen Nebenfiguren – sind es wirklich Nebenfiguren? – entfaltet die Autorin die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Problemfelder der Zeit um die Jahrhundertwende: Sozialdemokratie, Antisemitismus, Homosexualität, Pauperismus, merkantile Krisen, Nationalismus, gesellschaftliche Umbrüche.

    Zugleich zoomt sie sich bis in das Innerste der Figuren hinein.

    Da ist z. B. Georg, Sohn eines Bankrotteurs, von den Klassenkameraden verachtet und isoliert. Hier erfährt der Leser etwas über die gesellschaftliche Rangordnung der Zeit: oben stehen die ostelbischen Großgrundbesitzer, dann das Patriziat der Hansestadt, und hinter jedem Schülernamen wird die Position des Vaters aufgeführt: Senator, Konsul oder doch zum mindesten Bürgerschaftsmitglied. Da ist für einen Jungen wie Georg kein Platz vorgesehen.

    Oder Ida, eine der weiblichen Figuren. Sie will ihrem Schicksal des Dienstmädchens entfliehen und zum Bürofräulein aufsteigen. In vielen Abendstunden lernt sie mühsam das Stenografieren, um dann zu erkennen, dass sie auch die Schreibmaschine beherrschen muss. Und als sie sich diese Kenntnisse angeeignet hat, wird sie ausgebremst durch ihre arthritischen Hände. Sie bleibt gefangen in ihrer Schicht, jeder Aus- und Aufstieg bleibt ihr verwehrt.

    Die Parallelen zu den „Buddenbrooks“ sind unübersehbar. Die Autorin ahmt den Ton sehr geschickt nach, und sie spielt mit dem bekannten Personal, das sie ausweitet auf die unteren Schichten. Sie spielt auch mit dem Roman „Buddenbrooks“ selber, der als eine Art gesellschaftliches Ratespiel in der Lübecker Bürgerschaft mit Häme und Schadenfreude entschlüsselt wird. Und hier macht die Autorin eine einfach überzeugende und sehr witzige Volte: denn genau dieses Entschlüsselungsspiel spielt auch der Leser mit ihrem Roman.

    Das Hörbuch wurde eingelesen von Julia Nachtmann. Von einer verwirrend falschen Betonung abgesehen ( Monàco statt Mònaco): eine rundum angenehme Stimme, ihr interpretierendes Vorlesen ist gut durchdacht.

    5/5*

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  1. Der intime Blick auf eine deutsche Stadt

    Dieser fast 500 Seiten starke Roman spielt während der vorigen Jahrhundertwende im "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", in Lübeck. Auch wenn die Stadt nie bei ihrem Namen genannt wird. Zu dieser Zeit wirkt ein großer Schriftsteller in Lübeck: Thomas Mann. In seinen Romanfiguren bei den Buddenbrooks, meint sich die bürgerliche Familie Lindhorst wiederzuerkennen und fühlt sich schließlich einen latenten Antisemitismus ausgesetzt.

    Die Sprache von Inger - Maria Mahlke ist einfach phantastisch detailgetreu, verliert sich aber nicht. Die verschiedenen Figuren breiten ihr Innenleben vor einen aus, ohne das sie viel sagen müssen. Das Buch ist im Präsens geschrieben, was einen das Geschehen sehr intensiv erleben lässt. Sehr gut finde ich, dass am Anfang eine Auflistung der handelnden Figuren erfolgt, so kann man hier immer mal wieder nachschlagen.

    Das einzige Manko für mich war, dass ich die Buddenbrooks nicht gelesen habe und mir wahrscheinlich so einige kluge Verbindungen entgangen sind.

    Aber auch ohne dem Wissen konnte ich in die bürgerliche Welt um 1900 eintauchen, die sich wie ein Panorama vor einen entfaltet.

    Das Buch ist keine einfache Lektüre, aber wenn man sich ganz darauf einlässt, kann es ein richtiges Lesevergnügen werden.

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  1. Eine besondere Geschichte!

    Klappentext:

    „Eine Lübecker Familie, protestantisch, konservativ, kaisertreu: die Lindhorsts. 1890 kommt Marthe in dem weitläufigen Patrizierhaus in der Königstraße zur Welt. Um sie eine Schar älterer Brüder, deren Freiheiten nicht ihre sein werden. Und doch ist es ein Leben mit glänzenden Aussichten. Bis ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Bekannten, den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer «die Jüdischen» sind.“

    Inger-Maria Mahlke hat ihrem aktuellen Roman den Titel „Unsereins“ gegeben - ein Titel der eigentlich bereits alles sagt! Gehört man dazu oder ist man doch ausgegrenzt? Alles Ansichtssache! Drehort der Geschichte Lindhorst ist die wunderschöne Stadt Lübeck. Wir erlesen die Familiengeschichte mit all ihren positiven und negativen Lichtern. Aber wir erlesen auch die Menschen die um diese Familie herum sind und die die Stadt ausmachen. Die vielen tiefgründigen Beschreibungen über die all die vielen Menschen überfordert hier und da den Leser, ja, aber es ergibt sich dadurch ein äußerst stimmiges Gesamtbild, welches sich wunderbar analysieren lässt! Jeder trägt seine Geschichte mit sich herum, jeder hat seine Meinung nur sind wir alle dadurch eine Art Gemeinschaft? Auch die Lindhorst‘s erleben dies am eigenen Leib und genau da will Mahlke mit uns Lesern hin: Wo kommen wir her? Wo gehören wir hin? Wer sind wir auf Grund einer bestimmten Religion?

    Mahlkes Schreibstil ist trotz der Vielzahl an Personen verständlich und sehr eindringlich. Ihre Wortwahl ist bewusst gewählt und fängt den Leser immer und immer wieder ein und dieser darf dann selbst seine Gedanken zu dem erlesenen walten lassen. Hier geht es explizit um Vorurteile und wie damit umgehen. Die Autorin wählt immer wieder zur Situation den passenden Ausdruck und dadurch bleibt die Geschichte lebendig und als Leser bleibt man aufmerksam am Ball. Einerseits erleben wir Leser die Stadt Lübeck zu einer besonderen Zeit aber auch ein Sittenbild dieser. Vieles steckt auch hier wieder zwischen den Zeilen und es darf gern der Kern im Detail gesucht und gefunden werden - es lohnt sich definitiv! In vielen Dialogen oder auch nur einfachen Sätzen der Figuren ist es dann immer wieder zu entdecken - der Buchtitel zeigt seine Wirkung und es gibt dabei Situationen des Erschreckens, des Zuckens, des Fremdschämens. Ist das negativ für das Buch? Keineswegs! Im Gegenteil! Mahlke zeigt nur die damalige Zeit gekonnt auf bohrt in vielen kleinen und großen Wunden unserer Gesellschaft. Diese Geschichte hier wird oft mit denen der Buddenbrooks von Thomas Mann verglichen. Ist das korrekt? Einerseits ja aber es ist eine Geschichte von Inger-Maria Mahlke mit recht ähnlichen Parts aber dennoch einem anderen Stil.

    4 sehr gute Sterne hierfür!

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  1. Schön erzählt

    Das Cover ist grau in grau gehalten, fast alles symmetrisch angeordnet. Das einzige "aufständische" ist die fehlende Symmetrie beim Porzellan.
    Sofort denkt man an das Klischee des Bürgerlichen. Dazu passt auch der Titel. Man kann sofort im Kopf den Satz vervollständigen, das macht unsereins nicht.
    Diese Gesellschaftsschicht fühlt sich sicher in ihren Vorschriften, Zwängen und ungeschriebenen Gesetzen. Wenn man die Regeln befolgt, gehört man dazu und es kann einem nichts passieren.
    Voran steht eine Art Register der handelnden Personen. Etwas gewöhnungsbedürftig sind Zusätze wie kein Bäckermeister oder eine Bulldogge wird namentlich erwähnt.
    Vorne und hinten befindet sich eine Karte, aus jeweils unterschiedlichen Zeiten. Leider grau in grau und nicht so gut strukturiert, dass man sie während des Lesens leicht nutzen kann.
    Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Ein durchgehender Lesefluss stellte sich bei mir nicht ein. Es wird zwar ganz die Atmosphäre und die Zeit dargestellt, aber es ist schon sehr gewöhnungsbedürftig und mühsam bis sich man in die einzelnen Personen und Orte eingelesen hat.

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  1. 3
    19. Nov 2023 

    Porträt einer längst vergangenen Epoche

    Inger-Maria Mahlkes neuer Roman “Unsereins“ spielt überwiegend in Lübeck in der wilhelminischen Zeit von 1890-1906. Im Mittelpunkt steht Rechtsanwalt Lindhorst mit seiner Frau Marie und den sechs Söhnen und zwei Töchtern. Anfangs geht es der Mittelschichtfamilie mit jüdischen Wurzeln finanziell gut, später müssen sie immer mehr zurückstecken, zumal sich Lindhorsts Pläne, in der Politik Karriere zu machen, nicht verwirklichen lassen. Es geht aber auch um viele andere Familien und ihr Personal und Figuren wie Ratsdiener Isenhagen, den schwulen Lohndiener Charlie Helms oder Lindhorsts Dienstmädchen Ida, deren Schicksal zeigt, wie rechtlos und schlecht bezahlt die unteren Schichten in einer hierarchisch geordneten Gesellschaft ihr Leben fristen mussten. Um die Chancen von Frauen, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, stand es generell schlecht. Da waren auch die von acht Geburten überforderte manisch-depressive Marie Lindhorst und ihre Töchter Alma und Marthe keine Ausnahme. So muss auch Alma Lindhorst schon mal die Aufgaben eines Dienstmädchens übernehmen. Bei Eheschließungen ging es sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern nicht um Liebe, sondern um finanziell lohnende Verbindungen mit Vorteilen in Bezug auf das gesellschaftliche Ansehen.
    Die in epischer Breite ungeheuer detailreich erzählte, dennoch relativ handlungsarme Geschichte enthält zahlreiche Anspielungen auf real existierende und fiktive Personen, z.B. auf Thomas Mann und Figuren aus seinen Romanen. Da brauchte man zum Verständnis eigentlich umfangreiche Vorkenntnisse. Die ungeheure Personenvielfalt macht die Lektüre nicht leichter. Ich musste immer wieder im längst nicht vollständigen Personenverzeichnis zu Beginn des Romans nachschauen und war dennoch oft ratlos, um wen es sich nun eigentlich handelte und wie die erwähnten Figuren zu einander standen. So richtig warm geworden bin ich mit der Geschichte und ihren Figuren nicht. Schade.

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  1. 4
    15. Nov 2023 

    Anspruchsvolle Lektüre

    Ein Roman, der in Lübeck Ende des 19. Jahrhunderts spielt, lässt unwillkürlich an „ Die Buddenbrooks“ denken. Mit dieser Assoziation liegt man nicht falsch, hat Inger- Maria Mahlke doch eine Art Gegenentwurf zu Thomas Manns weltberühmten Roman geschrieben.
    Allerdings beschränkt sich die in Lübeck aufgewachsene Autorin nicht nur auf das gehobene Bürgertum der Stadt, sondern nimmt auch die Bediensteten in ihren Blick.
    Die Erzählung setzt ein im Jahr 1890 und führt bis ins Jahr 1906. Im Zentrum steht die wohlhabende Familie Lindhorst, kinderreich, konservativ und kaisertreu. Friedrich Lindhorst ist Rechtsanwalt; mit seiner Frau Marie hat er sechs Söhne und zwei Töchter. Als Anwalt hat Lindhorst nicht den Stand, den ein reicher Kaufmann einnimmt und ein Hindernis für eine politische Karriere ist auch seine jüdische Herkunft . Diese Tatsache steht aber nicht so im Vordergrund, wie der Klappentext vermuten ließe, sondern wird von Inger- Maria Mahlke nur ganz subtil angedeutet. Marie Lindhorst ist von ihrer Aufgabe als Haushaltsvorstand und Mutter ( „ Irgendwann waren es zu viele, um alle zu lieben, wie man soll.“) überfordert; monatelang ist sie wegen psychischer Probleme in Sanatorien. Auch die Kinder weichen zum Teil vom vorgezeichneten Lebensweg ab, dabei fehlt es nicht an Tragik .
    Die Autorin blickt mit einem leicht spöttischen Blick auf die Lübecker Gesellschaft. So ist Marie Lindhorst die „ Tochter des berühmtesten Dichters aller Zeiten“. Das Denkmal von ihm ragt hoch über den nach ihm benannten Platz in der Stadt. Stolz ist man hier auf den berühmten Sohn, auch wenn man sich außerhalb Lübecks über ihn nur lustig machen sollte. „ Millionen mit Keitels Worten bestickte Geschirrhandtücher können nicht irren.“ Tatsächlich ist dieser Dichter, im Roman heißt er Keitel, bei Thomas Mann Hoffstede, Emmanuel Geibel, den man heute lediglich als Verfasser des Liedes „ Der Mai ist gekommen“ kennt.
    Noch weitere Familien und deren Lebenswege verfolgt die Autorin in ihrem Buch. Dabei zeigt sich das enge gesellschaftliche Korsett, in das letztendlich alle gezwängt sind. Frauen betrifft das allerdings in größerem Maße, auch das zeigt die Autorin . Vereinzelt gelingen Ausbruchsversuche, so z.B. einer jungen Frau, die nach dem Tod ihres Vaters über ein Erbe verfügt, das sie unabhängig sein lässt. Sie veröffentlicht kleine Geschichten aus dem Alltag einer Kurstadt, allerdings unter männlichen Pseudonym.
    Der Roman erzählt auch von den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen. So vom Bau des Kaiser - Wilhelm - Kanals, der die Nordsee und die Ostsee miteinander verbindet, was anfangs zu Widerstand in Lübecks Senat führt. Bekommt doch dadurch Hamburg einen direkten Zugang zur Ostsee. Auch wird die Einführung von Wasserclosetts in den Haushalten kontrovers diskutiert. Wenn, dann sollte nur die gehobene Bürgerschicht in den Genuss kommen, die Bedürfnisse der Arbeiterschaft kümmern die Herren Senatoren nicht.
    Die aber haben ihre Fürsprecher in der aufkommenden Sozialdemokratie. Im Buch ist deren Vertreter ein ehemaliger Metallarbeiter, „ Unser aller Unheil“, wie Lindhorst seinem Sohn erklärt.
    Inger - Maria Mahlke gibt dieser gesellschaftlichen Gruppe den gebührenden Raum. Hier treten Bedienstete nicht nur als Nebenfiguren auf. Das Dienstmädchen Ida im Hause Lindhorst begleitet uns die ganze Zeit. Ausführlich wird deren tägliche mühselige Arbeit beschrieben, Tag und Nacht muss sie bereit stehen für ihre Herrschaft. Verständlich, dass sie davon träumt, diesen Verhältnissen zu entkommen. Im Arbeiterbildungsverein lernt sie heimlich Tippen und Stenografie und hofft auf eine Anstellung als Tippmamsell.
    Oder der Lohndiener Charlie Helms, der mit seiner Liste der für den gesellschaftlichen Verkehr in Frage kommenden Familien eine wichtige Rolle spielt. Doch er stürzt über seine homosexuellen Neigungen.
    Auch der Ratsdiener Isenhagen bekommt neben seiner Arbeit ein aufregendes Privatleben bei Inger- Maria Mahlke.
    Thomas Mann darf im Roman natürlich nicht fehlen. Als eitler und arroganter Schüler , Pfau“ genannt, hat er seinen Auftritt; im Schlepptau immer einen Mitschüler, seinen „Schatten“. Jahre später kehrt er als erfolgreicher Jungschriftsteller in seine Heimatstadt zurück und liest aus seinem Werk. Der Roman „ Die Buddenbrooks“ sorgt für Unruhe in Lübeck, da einige sich darin wiedererkennen. „ Es ist das Spiel der Saison. Bei jedem Dinner werden nach dem Dessert Papier und Stifte ausgeteilt. Wer- ist- wer im Roman.“ In Buchhandlungen gibt es sogar „ sogenannte Lektürehilfen“ zu kaufen.
    Die Erzählweise ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Sprachlich orientiert sich die Autorin an dem Stil von Thomas Mann, auch an dessen Ironie, unterbricht dabei immer wieder den altertümlichen Duktus mit modernen Wendungen. Die Vielstimmigkeit vermittelt zwar ein breites Panorama, erschwert es dem Leser aber, den Überblick zu behalten.
    Hat Inger- Maria Mahlke in ihrem 2018 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „ Archipel“ eine ungewöhnliche Struktur gewählt, die Geschichte wurde rückwärts aufgerollt, so folgt sie hier ganz traditionell der Chronologie. Dabei gibt es immer wieder Sprünge innerhalb des Erzählten.
    Von einer intensiven Recherche zeugt der Detailreichtums des Romans. So entsteht ein plastisches Bild jener Zeit und von den verschiedenen Gesellschaftsschichten.
    Dem Roman vorangestellt ist ein ausführliches Personenverzeichnis, auf das man während der Lektüre immer wieder zurückgreifen muss.
    Zu loben ist der Verlag für die Buchgestaltung. Das Vorsatzpapier zeigt zwei alte Stadtpläne von Lübeck.
    Trotz kleiner Kritikpunkte ist der Autorin mit „ Unsereins“ ein umfassendes Porträt der Lübecker Gesellschaft zur Kaiserzeit gelungen , eine anspruchsvolle Lektüre, die einen aufmerksamen Leser erfordert.

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Vatermal

Buchseite und Rezensionen zu 'Vatermal' von  Necati Öziri
4
4 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Vatermal"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
EAN:
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Rezensionen zu "Vatermal"

  1. 3
    13. Nov 2023 

    Suche nach dem verlorenen Vater

    Ich bin auf diesen Roman durch die Leseprobe anläßlich der Longlist zum diesjährigen Deutschen Buchpreis aufmerksam geworden. Die Leseprobe hat mir gefallen. Die anschließende Lektüre des ganzen Romans hat mich dann enttäuscht.

    Geschildert wird das Schicksal des jungen Arda. Er und seine Schwester wachsen mit ihrer Mutter in einer Stadt im Ruhrgebiet auf. Seinen Vater lernt Arda nie kennen, denn er hat die Familie verlassen und ist allein in sein Heimatland, die Türkei, zurückgekehrt. Arda wächst in prekären Verhältnissen auf. Die Mutter ist überfordert, die Schwester haut ab und wächst bei Pflegeeltern auf, mit seinen Freunden lungert Arda bekifft und ziellos auf dem Bahnhofsvorplatz herum. Arda schafft es, aus diesem Milieu auszubrechen und studiert Literatur um Schriftsteller zu werden, landet schließlich wegen einer Autoimmunerkrankung auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses. Von hieraus reflektiert er sein Leben und schreibt einen Brief an seinen unbekannten Vater.

    Der Leser erfährt u.a. wie die Mutter anfangs nach einem verheerenden Erdbeben in der Türkei nach Deutschland kam, und nach und nach die gesamte Familiengeschichte. Die Zeitsprünge von der der direkten brieflichen Ansprache des imaginären, unbekannten Vaters zur Vergangenheit Ardas, zur Vergangenheit seiner Familie und dann wieder zur Gegenwart auf der Intensivstation, fand ich verwirrend. Genauso verwirrend waren die die Verwandschafts- und Bekanntschaftsverhältnisse, die einzelnen Charaktere nicht immer leicht auseinanderzuhalten.

    Dennoch liest sich der Roman flüssig, kommt aber m. E. nicht recht in Fahrt. Er mäandert quasi von Fragen an den Vater, warum dieser nun die Familie verlassen hat, zu Schilderungen des Schicksals der Mutter, zurück zu den Freunden, die am Bahnhof abhängen, dann wieder zur Schwester, die es nicht mehr bei der verlassenen Mutter aushält und abhaut. Mich hat das gelangweilt, umso mehr, als mich die Schicksale der Protagonisten nicht berühren konnten. Dabei ist das, was Arda, seine Familie und seine Freunde erlebt haben, zweifellos hart, man wünscht derartige Erfahrungen niemandem. Ich konnte die Geschichte jedoch nicht wirklich nachempfinden, merkwürdig emotionslos erschienen mir die Figuren. M. E. kratzt der Autor nur an der Oberfläche, ohne die Erlebnisse tiefgründig auszuleuchten.

    Ich vergebe 3 Sterne.

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  1. 3
    13. Nov 2023 

    Suche nach dem verlorenen Vater

    Ich bin auf diesen Roman durch die Leseprobe anläßlich der Longlist zum diesjährigen Deutschen Buchpreis aufmerksam geworden. Die Leseprobe hat mir gefallen. Die anschließende Lektüre des ganzen Romans hat mich dann enttäuscht.

    Geschildert wird das Schicksal des jungen Arda. Er und seine Schwester wachsen mit ihrer Mutter in einer Stadt im Ruhrgebiet auf. Seinen Vater lernt Arda nie kennen, denn er hat die Familie verlassen und ist allein in sein Heimatland, die Türkei, zurückgekehrt. Arda wächst in prekären Verhältnissen auf. Die Mutter ist überfordert, die Schwester haut ab und wächst bei Pflegeeltern auf, mit seinen Freunden lungert Arda bekifft und ziellos auf dem Bahnhofsvorplatz herum. Arda schafft es, aus diesem Milieu auszubrechen und studiert Literatur um Schriftsteller zu werden, landet schließlich wegen einer Autoimmunerkrankung auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses. Von hieraus reflektiert er sein Leben und schreibt einen Brief an seinen unbekannten Vater.

    Der Leser erfährt u.a. wie die Mutter anfangs nach einem verheerenden Erdbeben in der Türkei nach Deutschland kam, und nach und nach die gesamte Familiengeschichte. Die Zeitsprünge von der der direkten brieflichen Ansprache des imaginären, unbekannten Vaters zur Vergangenheit Ardas, zur Vergangenheit seiner Familie und dann wieder zur Gegenwart auf der Intensivstation, fand ich verwirrend. Genauso verwirrend waren die die Verwandschafts- und Bekanntschaftsverhältnisse, die einzelnen Charaktere nicht immer leicht auseinanderzuhalten.

    Dennoch liest sich der Roman flüssig, kommt aber m. E. nicht recht in Fahrt. Er mäandert quasi von Fragen an den Vater, warum dieser nun die Familie verlassen hat, zu Schilderungen des Schicksals der Mutter, zurück zu den Freunden, die am Bahnhof abhängen, dann wieder zur Schwester, die es nicht mehr bei der verlassenen Mutter aushält und abhaut. Mich hat das gelangweilt, umso mehr, als mich die Schicksale der Protagonisten nicht berühren konnten. Dabei ist das, was Arda, seine Familie und seine Freunde erlebt haben, zweifellos hart, man wünscht derartige Erfahrungen niemandem. Ich konnte die Geschichte jedoch nicht wirklich nachempfinden, merkwürdig emotionslos erschienen mir die Figuren. M. E. kratzt der Autor nur an der Oberfläche, ohne die Erlebnisse tiefgründig auszuleuchten.

    Ich vergebe 3 Sterne.

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  1. 5
    14. Okt 2023 

    Grandioses Debüt...

    "Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie der letzte Sommer meiner Jugend war, bevor fast alle meine Freunde verschwunden sind. Du sollst wissen, wie es war, als deine alten Freunde mir auf die Schulter klopften und sagten, ich würde irgendwann werden wie du: Held einer gescheiterten Revolution. Ich werde diese Geschichten aufschreiben."

    Der Student Arda liegt im Krankenhaus, die Lage ist ernst. Wenn die Therapie nicht anschlägt, wird er sterben, niemand weiß, wie lange ihm noch bleibt. In dieser Phase der Ungewissheit denkt Arda nach über sein Leben, seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie und seiner Freunde. Und über seinen Vater, den er nie kennengelernt hat, weil dieser vor seiner Geburt zurückging in die Türkei. Arda wächst bei seiner Mutter und seiner älteren Schwester im Ruhrgebiet auf, passlos bis zu seinem 18. Lebensjahr. Arda beschließt, im Krankenhaus einen Brief an seinen Vater zu schreiben, nicht wissend, ob dieser ihn jemals lesen wird, aber notwendig, um mit sich ins Reine zu kommen.

    Der Ich-Erzähler Arda beleuchtet viele Aspekte - sein eigenes Aufwachsen im grauen Ruhrgebiet, sein enges Verhältnis zu seiner Schwester, die jedoch, als der Streit mit ihrer Mutter eskalierte, eines Tages einfach ging und nicht wiederkehrte. Die Geschichte seiner Großeltern, seiner Eltern, seiner Freunde. Die Zeit als Jugendlicher, wo sowieso alles unsicher ist, wo vielleicht die Freunde den Halt bieten, den man braucht, Gewalterfahrungen, verstörende Erlebnisse, Vorurteile, Verluste, fehlende Perspektiven. Arda reiht Erinnerungen aneinander - die eigenen ebenso wie die Versatzstücke, die ihm seine Mutter und seine Schwester erzählen, die ihn nun regelmäßig im Krankenhaus besuchen.

    "Aber wenn es eine Sache gibt, die ich (...) begriffen habe, dann, dass wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind. Und das Einzige, was du tun kannst, ist aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst."

    Die Aneinanderreihung von Erinnerungen wirkt dabei nicht konstruiert oder störend, sondern stimmig, auch wenn es immer wieder Themensprünge gibt und wechselnde Perspektiven. Ein Roman, der deutschtürkische Realitäten abbildet, ohne dass sie das zentrale Thema wären, vermeintlich leicht in der Sprache, dabei meist eher nüchtern und distanziert und trotzdem gefühlvoll und ja, auch berührend, dann wieder urkomisch.

    Eray von Egilmez liest die ungekürzte Hörbuchfassung (6 Stunden und 24 Minuten) dem Schreibstil entsprechend unaufgeregt und lässt dem Erzählfluss den notwendigen Raum. Mich hat die Lesung überzeugt.

    Ein Roman über Fremdsein und Identitätssuche, über die Geschichte einer Familie, über Ereignisse und Entscheidungen, die generationenübergreifende Folgen nach sich ziehen, über Sinnsuche und Freundschaft, über Männlichkeit und Rollenerwartungen. Am Ende - ein offenes Ende, alles andere wäre unpassend - dann das Gefühl, dass Arda mit sich selbst im Reinen ist. Komme, was da wolle...

    Ob der Roman den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewinnt? Vermutlich nicht, er lässt sich zu gefällig lesen, ist wohl nicht überspannt genug. Aber die Herzen der Leser:innen kann er offenbar erobern. Meines auf jeden Fall...

    © Parden

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  1. Herumlungern auf dem Bahnhofsvorplatz

    Kurzmeinung: Langweilig.

    Vier Freunde wachsen gemeinsam auf, Arda, der Erzähler, Savaş, Danny und Bojan. Jeder hat auf seine Weise mit einem verkümmerten Vaterbild zu tun. Ardas Vater, Metin, ist nicht vorhanden. Arda hat bis zum 18. Lebensjahr zwar eine Aufenthaltserlaubnis, aber keine Staatsangehörigkeit; sein Vater hat seine Mutter kurz nach seiner Geburt verlassen und ist in die Türkei zurückgekehrt, wo er eine Zweitfamilie gründete. Savaş Vater ist von Haus aus Ingenieur, seine Zeugnisse, in Deutschland nicht anerkannt, hängen in der Dönerbude, die er betreibt. Dass er keine Chance hatte, ein seiner Ausblidung angemessenes Leben zu führen, hat ihn hart werden lassen. Savaş Vater ist für Arda zwar wie ein Onkel, er hat ein Herz für die heranwachsenden Jungs, schlägt aber seinen Sohn wegen schlechter Schulnoten grün und blau und misshandelt seine Frau. Danny nennt sich Danielo und ist auch vaterlos, genau so wie Bojan, der sieben Pässe hat, aber keine Identität und ausserdem immer wieder epileptische Anfälle hat.

    Der Kommentar:
    Nachdem ich nun mehrere Romane über Migrantenschicksale gelesen habe, zähle ich den Roman “Vatermal” zu den schwächeren unter ihnen. Beinahe möchte ich sagen, er hat sein selbst gesetztes Thema verfehlt. Vater, wo bist du, könnte man den Roman von Necati Öziri ebenso gut betiteln, weil Arda, an einer schweren Immunkrankheit leidend dem abwesenden Vater aus dem Krankenhaus heraus, einen Brief schreibt, nämlich den vorliegenden Roman. In diesem Brief geht es freilich kaum um den Vater, vielmehr nimmt das Leben von Mutter Ümran den meisten Raum ein.
    Der Roman schwenkt seinen Scheinwerfer zuckelnd abwechselnd auf die Mutter Ümram, auf die Schwester Aylin – dann wieder zurück auf die auf einem öffentlichen Platz herumlungernden Jungs. Nur einer von ihnen schafft es, sich von diesem Mileu zu lösen und das ist unser Arda. Er studiert Literatur und schreibt unser Buch.
    Sicher, der Roman erzählt von Fremdheit und von fehlenden Vorbildern und von einer verfehlten Jugend, aber eigentlich ist es nur ein coming-of-age Roman mit Migrationshintergrund. Eine Sinnsuche, eine Vatersuche kommt nicht vor. Gefühle sucht man vergeblich. Ja, der erzählende Arda schreibt, eigentlich sei er doch viel besser dran, ohne Metin. Das mag sein, aber warum haben wir dann einen Roman vor uns namens "Vatermal"?
    Was ich von dem Roman erwartet habe, entweder eine intensive, gerne auch innere, Vatersuche oder eine Auseinandersetzung mit dem Patriarchat oder eine Schilderung von Zerrissenheit zwischen den Kulturen, all das, erwartete ich vergebens.
    Nun ist die Schilderung der herumlungendern Jungs auf der Bahnhofsvorbank gar nicht schlecht geschrieben, aber etwas Neues ist das ganz und gar nicht, im Gegenteil, es ist so alltäglich, dass mir vor Langeweile der Kopf auf die Tischplatte knallt, denn das ist die stärkste Emotion, die der Roman bei mir auslöst: bohrende Langeweile.
    Und das darf Literatur nicht, sie darf aufregen und zornig machen, sie darf fremd sein und unverständlich, provokativ und offen anklagend, aber eines darf sie nicht, mich langweilen. Mit viel good will gibt es noch drei Sterne – aber der dritte Stern ist ein geschenkter, dem Umstand geschuldet, dass der Roman, aus welchem Grund auch immer, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 steht. Vielleicht ist es tatsächlich ein Roman für junge Leute, die sich mit herumlungernden Jungs und nagellackigen Mädels identifizieren können.

    Kategorie: Migrationsliteratur. Coming of Age
    Verlag: Claassen, 2023

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  1. Intensiv und beeindruckend

    „Ich dokumentiere mein Verschwinden, und wenn ich mir abends die bunten Graphen anschaue, weil ich vor Angst nicht schlafen kann, bilde ich mir ein, zu verstehen, worauf es hinausläuft.“ (Zitat Pos. 175)

    Inhalt
    Arda Kaya studiert in Berlin. Doch dann, nach einem Zusammenbruch, die Diagnose lautet Organversagen. Er fährt noch nach Hause, in seine Heimatstadt irgendwo im Ruhrgebiet, damit ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin im Krankenhaus besuchen können. Sein Vater Metin hat die Familie verlassen, bevor er geboren wurde. In den langen Stunden im Krankenzimmer schreibt Arda die Geschichte seines bisherigen Leben auf, als Brief an seinen unbekannten Vater. „Ich werde diese Geschichte aufschreiben, dir und meinen beiden Halbbrüdern. Damit sie wissen, dass sie noch einen Bruder und eine Schwester hatten, damit sie erfahren, wem ihr Vater wie ein Vater war, damit sie schätzen lernen, wie viel Zeit und Liebe sie von dir bekommen.“ (Zitat Pos. 208)

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um die Geschichte einer deutsch-türkischen Familie, die Mutter Ümran ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen, ihre Kinder Arda und seine ältere Schwester Aylin sind in Deutschland geboren. Es geht um Söhne, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Väter als Vorbild aufwachsen und die als Heranwachsende versuchen, die Rolle der abwesenden Väter einzunehmen, weil es von ihnen erwartet wird. Doch auch die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern ist ein Thema. Weitere Themen sind Freundschaft, Identität, die Suche nach Zugehörigkeit und den Platz im eigenen Leben.

    Charaktere
    Wie Arda aussieht, wissen wir aus seiner eigenen Beschreibung, sein Leben, seine Gedanken, Erfahrungen und Zweifel erfahren wir, als er seine Geschichte niederschreibt. Doch er erzählt nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch die seiner Mutter Ümran, die nie wirklich gefragt worden war, was sie selbst wollte, die dennoch versucht, ihr Leben irgendwie zu meistern und die Geschichte seiner Schwester Aylin, die sich immer um den kleinen Bruder kümmert, bis sie ihren eigenen Weg gehen muss.

    Erzählform und Sprache
    Arda ist der Ich-Erzähler seiner Geschichte. Chronologisch, jedoch mit Zeitsprüngen, schildert er sein Leben und das seiner Schwester Aylin. Dort, wo Ümran und später auch Aylin ihm jene Ereignisse und Erlebnisse erzählen, die er nicht wissen kann, wird die Erzählform personal. Diese Abwechslung macht die Erzählform interessant, packend und lebhaft. Sie zieht uns als Leser mitten in die Ereignisse, in eine Welt am Rande einer Stadt im Ruhegebiet, deren ehrliche Schilderung durch ihre zornige, manchmal humorvolle Direktheit überzeugt. Auch die Sprache passt sich in den entsprechenden Episoden der Welt der Heranwachsenden an.

    Fazit
    „Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“ (Zitat Pos. 784) Dieser eindrückliche Roman mit dem ganzen Spektrum menschlicher Gefühle, Hoffnungen und Schicksale hat den Weg zu uns Lesern gefunden.

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  1. 5
    17. Aug 2023 

    Über Deutschwerden, Rassismus und Mannsein

    Arda, Mitte Zwanzig, leidet unter einer tödlichen Autoimmunerkrankung und wartet im Krankenhaus auf das Ergebnis des ultimativ letzten Behandlungsversuchs. Währenddessen schreibt er einen fiktiven Brief an seinen Vater, der die Familie vor langer Zeit verlassen und in der Türkei eine neue Familie gegründet hat. Arda erzählt vom Aufwachsen in einer Sozialsiedlung im Ruhrgebiet, von Armut, Ausgrenzung, Rassismus und Ausgeliefertsein. Und davon, dass Vaterlosigkeit auch befreiend sein kann.

    "Ich hab mich nicht nur glücklich geschätzt, sondern ich war sogar stolz darauf, ausschließlich von Frauen großgezogen worden zu sein.“ Denn: "Wäre ich bei dir aufgewachsen, hätte ich genau zwei Möglichkeiten gehabt", schreibt er an seinen Vater, "Nachahmung oder Abgrenzung. Du wärst der Maßstab gewesen, an dem ich und alle anderen mich gemessen hätten, und vermutlich wäre ich dann nie ich geworden, sondern würde jetzt irgendeine Ingenieursscheiße studieren, würde in Fußballtrikot und Sonnenbrille in tiefergelegten Autos flexen".

    Auch die alkoholkranke Mutter Ümran und die große Schwester bekommen eine Stimme. Die Sicht der Frauen nimmt großen Raum ein in diesem Roman, der qua Titel den Vater zum Thema hat. Klar wird, dass Ümran nicht etwa unglücklich ist, weil ihr Mann sie verlassen hat, sondern weil absolut jedes Glücksversprechen in ihrem Leben unerfüllt blieb, seitdem sie aus ihrem vom Erdbeben zerstörten Heimatdorf nach Deutschland ging.

    Ardas Briefe an den Vater sind nicht nur Abrechnung mit einem türkischen Macho, sondern entstehen auch aus der Hoffnung, ihm verzeihen zu können. Metin, „Held einer gescheiterten Revolution“, von Beruf Architekt und als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen, konnte sein Leben als Gastarbeiter und den erniedrigenden Job im Schlachthof nicht mehr ertragen.

    Halt geben Arda seine Freunde, aus migrantischen Familien wie er, nachdem auch seine Schwester abgehauen und er mit seiner innerlich abwesenden Mutter allein zurückgeblieben ist. Gemeinsam ist der allgegenwärtige Rassismus besser zu ertragen. "In der Schule nennen sie mich Asylanten-Arda und Savaş nennen sie einfach nur Sucuk. Sie rufen, dass wir stinken und behaupten, wir wohnen im Müll. Sie fragen, warum wir hässlich sind, obwohl Döner schöner macht. Sie erzählen, wir hätten Läuse und weigern sich uns zu berühren. Das einzige Gute an unseren Mitschülern ist, dass sie Savaş und mich zwingen, immer ein Team zu sein.“

    Auch über die Ohnmacht gegenüber den Behörden schreibt er, die seinen Aufenthaltsstatus immer wieder bestätigen müssen, obwohl Arda in Deutschland geboren wurde; die Familie verbringt absurd viele Tage wartend in Amtsfluren. Als Arda volljährig ist und die Einbürgerung beantragen kann, macht er sich Luft ausgerechnet in dem Text, den er zum Beweis seiner Deutschkenntnisse liefern muss:

    „Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von eurem Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.“

    Aber auch nach Erhalt eines deutschen Passes gehört Arda nicht wirklich dazu: „Aber dann fallen mir … [die] Worte [meines Sachbearbeiters] wieder ein. Dass, wer eingebürgert wurde, auch wieder ausgebürgert werden kann. Scheiß drauf, denke ich. Das ist doch genau, was die wollen. Dass man sich nie zu sicher fühlt.“

    Öziri ist jederzeit ganz nah dran an seinem Figuren. Seine Sprache hat einen ganz eigenen Sound und vollbringt das Kunststück, völlig hinter dem Gefühl zurückzutreten, das sie vermittelt – und das ist vor allem der Schmerz, der daraus entsteht, nirgendwo dazu zu gehören. Der Gedanke drängt sich auf, dass Ardas Erkrankung aus somatisiertem Schmerz entstanden ist.

    Ein sehr lesbarer, vielschichtiger und intensiver Roman

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