Der ehrliche Finder: Roman

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Rezensionen zu "Der ehrliche Finder: Roman"

  1. Freundschaft und vieles mehr

    Wie entsteht eine Freundschaft? Üblicherweise durch Gemeinsamkeiten! Und die haben der 9jährige Jimmy und der 11jährige Tristan im (fiktiven) Bovenmeer, Belgien – beide machen eine schwere Zeit durch. Deshalb setzte die Lehrerin auch beide vor gut einem Jahr zusammen, als Tristan neu in der Klasse dazukommt.
    Jimmys Vater hatte einen Monat vorher die Familie verlassen, mit ‚Dreck am Stecken‘, und er ruft auch nie an. Tristan hat eine Flucht aus dem Nordwesten des Kosovo hinter sich, mit viel Strapazen und dramatischen Szenen.

    Der große Unterschied bei den beiden: Tristan hat 7 Geschwister (das jüngste noch ein Säugling) – der starke Verbund der Familie ist intensiv zu spüren, am deutlichsten bei der Übernachtung bei ihnen! Jimmy ist Einzelkind und seine Mutter mit sich selbst beschäftigt. Er ist dadurch auch zum Eigenbrötler geworden und geht auf im Sammeln der Flippos (kleine bunte Plastikscheiben mit diversen Themen bedruckt, und in Chipstüten versteckt).

    Wir lesen, wie Jimmy sich in dieser Freundschaft engagiert, aber auch wie unterschiedlich die Dorfgemeinschaft auf die geflüchtete Kosovo-Familie reagiert. Als diese den Ausweisungsbescheid bekommt, hecken Tristan und seine 12jährige Schwester Jetmira einen Plan aus, in dem Jimmy eine wichtige Rolle spielt. Sogar eine Prüfung muss er dafür vor beiden ablegen.

    Von diesem Zeitpunkt konnte ich das Buch überhaupt nicht mehr aus der Hand legen, so spannend war es! Das Ende hat mich sehr aufgewühlt und es wird mich noch eine ganze Weile beschäftigen (noch dazu, weil dieser Roman von einer wahren Geschichte inspiriert wurde). Ich möchte dieses kurze, aber inhaltsschwere Werk – von Helga van Beuningen übersetzt - am liebsten allen ans Herz drücken. Ich kann es mir auch sehr gut als Schullektüre vorstellen, unsere Enkelkinder bekommen es auf jeden Fall bei nächster Gelegenheit als Geschenk. Wenn die Möglichkeit bestünde, würde ich auch gerne mehr als die möglichen 5 Rezensions-Sterne vergeben!

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  1. 5
    02. Apr 2024 

    Freundschaft vor dem Hintergrund großer Probleme

    Lize Spit „ Der ehrliche Finder“ ( 2023/2024)

    Lize Spit ist eine flämische Autorin, die mit ihren ersten beiden Romanen nicht nur in ihrer Heimat sehr erfolgreich war. Beide sind sehr umfangreich und düster. Ihr neuester Roman fällt aus der Reihe, ist er doch im Gegensatz sehr schmal und sehr warmherzig. Der geringe Umfang liegt daran, dass „ Der ehrliche Finder“ eine Auftragsarbeit war. Lize Spit sollte das Buch zur alljährlichen Bücherwoche 2023 schreiben. Das sog.„ Boekenweekgeschenk“ ( Bücherwochengeschenk) wird während dieser Woche jedes Jahr im März von niederländischen Buchhändlern an ihre Kunden verschenkt. Meist handelt es sich dabei um eine Novelle.
    Und diese Gattungsbezeichnung passt hier, auch wenn der Verlag dem Buch das Etikett „ Roman“ gegeben hat.
    Die Geschichte spielt in den 1990er Jahren in der fiktiven Ortschaft Bovenmeer in Belgien. Hier wohnt der neunjährige Jimmy, ein Einzelgänger und Außenseiter, allein mit seiner Mutter. Seine Familie hat einen schweren Stand im Dorf, denn der Vater, ein Steuerberater, hat einige Menschen hier mit dubiosen Geschäften um ihr Geld gebracht. Jimmy ist sensibel und klug, ein eifriger Sammler und Sachensucher. Sein ganzer Stolz ist seine Flippo-Sammlung. Flippos sind kleine Scheiben mit Sammelbildern, die in Chipstüten zu finden sind.
    Kurz nachdem nun sein Vater verschwunden ist, tritt Tristan Ibrahimi in Jimmys Leben. Der Elfjährige ist mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen und die Familie hat hier nun eine Unterkunft gefunden. Jimmy soll sich auf Wunsch der Lehrerin um den fremden Jungen kümmern; eine Aufgabe, die er gerne erfüllt. Endlich ist er nicht mehr allein. Er hilft Tristan nicht nur beim Erlernen der Sprache und den Hausaufgaben, sondern die beiden werden richtige Freunde. Als größten Freundschaftsbeweis legt Jimmy sogar ein eigenes Flippo-Sammelalbum für Tristan an. Das will er ihm feierlich überreichen, als er zum Übernachten bei Tristan eingeladen ist. Aber dann drängt sich ein anderes Ereignis in den Vordergrund. Die Ibrahimis sollen abgeschoben werden. Um das zu verhindern, schmieden Tristan und seine zwölfjährige Schwester Jetmira einen gewagten Plan, in dem Jimmy eine nicht unerhebliche, aber gefährliche Rolle zukommt. Das ist eine Herausforderung für ihn, doch um der Freundschaft willen bekämpft er seine inneren Zweifel und Ängste.
    Sehr einfühlsam und konsequent aus der Perspektive des neunjährigen Jimmy beschreibt die Autorin die Geschehnisse. Die Einsamkeit des Jungen ist deutlich spürbar. Auch, wie sehr ihn die Gemeinschaft dieser Großfamilie anzieht. Hier erlebt er einen Zusammenhalt und eine Wärme, wie er sie nicht kennt.
    Dafür bringt Jimmy viel Verständnis auf, wenn sein älterer Freund von „ inneren Erdbeben“ erschüttert wird. Wenn Tristan plötzlich Angst bekommt vor lauten Geräuschen, vor Uniformen, vor dem Meer, dann beruhigt Jimmy ihn, ohne nachzufragen. Schließlich weiß er, dass die Familie Schlimmes erlebt hat auf ihrer langen Flucht. Die Lehrerin hat, sobald Tristan sich verständlich machen konnte, der ganzen Klasse den Fluchtweg auf einer Landkarte aufgezeigt. „ Kosovo lag in Luftlinie ungefähr zweitausend Kilometer von Belgien entfernt, aber sie waren keine Vögel, sie hatten Grenzposten passieren müssen, zweimal kehrte der Zeigestock von Italien auf dem Landweg nach Albanien zurück, zweimal waren sie nach der lebensgefährlichen Überquerung des Meeres in einen Bus nach Albanien gesetzt worden. Beim dritten Mal hatten sie es geschafft, obwohl sie einen halben Kilometer vor der Küste aus dem Boot gestoßen worden waren. Sie waren auch keine Fische, ein Kind der Familie, mit der sie das kleine Boot teilten, hatte sich nicht bis ans Ufer retten können.“
    Die Familie aus dem Kosovo ist im Dorf freundlich aufgenommen worden. Freigebig wurden alle zum „ Ausmustern bestimmten Sachen -Matratzen, Elektrogeräte, Bettwäsche, Spielzeug, Bücher, Instrumente, Trampoline, Babysachen, Werkzeuge - lieber den Ibrahimis“ geschenkt, statt beim Recyclinghof abgeliefert. Die Wohnung dort ist ein Abenteuerspielplatz für die Kinder.
    Der Roman beschreibt eine Freundschaft zwischen Kindern vor dem Hintergrund großer Probleme. Dabei schafft es die Autorin, nicht in Klischees zu verfallen oder ins Sentimentale abzurutschen. Was Flucht und Integration bedeutet, wird an konkreten Figuren nachvollziehbar dargestellt.
    Eine packende und bewegende Lektüre, die auch für ältere Kinder und Jugendliche geeignet ist, ja, sich als aktuelle Schullektüre anbietet.
    Wie es im Nachwort heißt, wurde die Autorin von einer wahren Geschichte inspiriert. Eine zehnköpfige Familie aus dem Kosovo, die nach ihrer Flucht in einem belgischen Dorf unterkam, sollte wieder ausgewiesen werden. Doch nach massivem Protest des Dorfes erhielten sie Asyl.

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  1. Wer anderen eine Grube gräbt …

    Was ich zunächst nicht wusste: Dieses schmale Büchlein von Lize Spit wurde in den Niederlanden in der boekenweek (Buchwoche) als Buchgeschenk zu einem gekauften Buch dazu gegeben. De boekenweek dauert neun Tage und findet jedes Jahr im März statt. Beim Kauf von mindestens 15 Euro an niederländischsprachiger Lektüre erhält man also ein speziell für diese boekenweek geschriebenes Buch. Diese Ehre, dieses Buchgeschenk schreiben zu dürfen, wurde also in diesem Jahr Lize Spit zuteil.

    Beim Blauen Sofa in der Bertelsmann Repräsentanz in Berlin, Anfang März 2024, durfte ich nun diese bezaubernde und charmante Autorin persönlich kennenlernen und sie hat mir dieses Buch signiert. Mit einer ganz speziellen Widmung, die ich übersetzen muss. Ich verstehe das so, dass ich den Mansch vom Papri-Club unbedingt probieren soll. Und manchmal auch „Ja“ zu Dingen sagen soll, wo ich eigentlich „Nein“ sagen würde. Mal sehen …

    Im „ehrlichen Finder“ geht es um die Freundschaft zweier Jungen und auch um das (schändliche) Ausnutzen des anderen unter der Vorspiegelung der Freundschaft. Und es zeigt sich auch, dass bei verschiedenen Nationalitäten eben unterschiedliche Werte zählen. Der kluge und einsame Jimmy kümmert sich aufopferungsvoll um den Migranten Tristan, indem er ihm nicht nur die Sprache beizubringen versucht, sondern auch die üblichen Verhaltensweisen. Jimmy gefällt auch die riesengroße Familie von Tristan. Denn er selbst hat keine Geschwister und sein Vater verschwand spurlos, nachdem er das halbe Dorf finanziell betrogen hatte. Kein guter Start für den Sohn in der Schule.

    Was nun weiterhin geschieht, kann hier nicht verraten werden, nur so viel: Jimmys Gaben weiß man nicht zu schätzen und was man von ihm verlangt, ist viel, viel zu viel.

    Lize Spit hat es verstanden, den wenigen Seiten Leben einzuhauchen und eine Geschichte aufzubauen, die es in sich hat. Und ja, manchmal braucht es viel Mut, um ein Feigling zu sein. (Frei zitiert von S. 109.) Warum das Buch aber diesen Titel trägt, das hat sich mir leider nicht erschlossen.

    Das Cover bezieht sich auf Jimmys Flipposammlung. S. 32: „Von der Time-Serie und den Pop-up-Monstern hatte er noch am wenigsten. Diese beiden, die aus insgesamt lediglich vierzig Stück bestanden, erwischte man am schwersten.“ Deshalb also sind vierzig Kreise auf dem Cover. Und die Flippos findet man in Kartoffelchips-Tüten und natürlich soll damit der Verkauf der Ware angekurbelt werden. Gab es zuvor offensichtlich schon in Korea, Griechenland, England etc. aber in Deutschland (leider) nicht. Aus den Chips kann man einen wunderbaren Mansch herstellen, den Jimmy und Tristan im Geheimen genießen. In ihrem Papri-Club.

    Fazit: Ich habe alle drei Bücher dieser fantastischen jungen Autorin gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. Ihre Themen sind sehr unterschiedlich, nichts ist aufgewärmt und sie weiß genau, wovon sie schreibt und fühlt sich extrem in ihre Figuren ein. ****

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  1. Aktuelle Freundschaftsgeschichte mit Tiefgang

    Jimmy geht in die dritte Klasse und ist ein einsamer, fantasiebegabter Junge. Seine Eltern haben sich gerade erst scheiden lassen. Der Vater ist auf und davon, die Mutter nimmt sich wenig Zeit für ihren Sohn. Jimmy hat sich eine eigene innere Welt geschaffen. Er sammelt mit leidenschaftlicher Hingabe Flippo Sammelbilder aus Chipstüten, imaginiert eigene Heldengeschichten, er ist überdurchschnittlich klug und dabei leider ein Außenseiter. Letzteres ändert sich, als Tristan Ibrahimi in seine Klasse kommt. Mit elf Jahren ist Tristan zwar einiges älter, doch hat er mit seiner Familie eine tragische Flucht aus dem Kosovo hinter sich und soll nun erst einmal zur Ruhe kommen sowie die Sprache erlernen. Zu diesem Zweck wird ihm Jimmy an die Seite gestellt, der sich dieser Aufgabe auch engagiert und ideenreich widmet. Die beiden ungleichen Jungen werden dicke Freunde. Jimmy genießt Zusammenhalt und Gemeinschaft in Tristans großer Familie, in der jeder seine Aufgaben hat und gebraucht wird. Er freut sich riesig, als er zum ersten Mal zu einer Übernachtung eingeladen wird, die eine spannende Entwicklung nimmt.

    Die Figuren werden mit großer Unmittelbarkeit vorgestellt, überwiegend aus der Perspektive Jimmys. Schnell sympathisiert man mit dem ruhigen Jungen, der fast verzweifelt auf einen Anruf seines Vaters wartet. Man gönnt ihm den neuen Freund von Herzen, der seine innere Vereinsamung durchbricht. Doch auch Tristan hat seine Geheimnisse, an denen man nicht rühren darf. Er wurde stark traumatisiert, so dass ihn plötzlich auftretende Ängste lähmen können und sein Verhalten nicht immer nachvollziehbar machen. Man liest den kleinen Roman über weite Strecken wie ein spannendes Jugendbuch, bis die reale Erwachsenenwelt ins Geschehen einbricht. Familie Ibrahimi ist nämlich von Abschiebung bedroht.

    Ohne belehrende Botschaften konstruiert Lize Spit einen bewegenden Plot, der aus völlig ruhigen Fahrwassern dramatische Spannung entwickelt. Anonyme Flüchtlinge bekommen ein Gesicht und eine Identität, die Autorin zeigt deren Schicksal exemplarisch ohne Dramatisierung oder Beschönigung. Tristan möchte seine Chance nutzen, er möchte unbedingt in Belgien bleiben und ist dafür bereit, auch Risiken einzugehen.

    Am Ende des Romans muss man zweifellos nachdenken. Über Familie, Freundschaft, über Asylpolitik, Integration - vor allem aber über den Ausgang dieser Geschichte, die einiges an Interpretationsspielraum offenlässt. Ich kann mir das Buch wunderbar als Schullektüre vorstellen, die schon aufgrund ihrer Kürze und der gezeigten kindlichen Lebensrealität bestimmt gern gelesen wird. Gut und Böse verschwimmen bewusst, der Bezug zum Titel hat eine Doppeldeutigkeit. Helga von Beuningen hat den Roman hervorragend aus dem Niederländischen übersetzt.

    All Age Leseempfehlung!

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Die Sommer der Porters

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Rezensionen zu "Die Sommer der Porters"

  1. Kein guter deutscher Titel!

    Die Sommer der Porters ist kein klassischer Familienroman, obwohl man dies aufgrund des deutschen Titels erwartet. Denn die Erzählung verläuft nicht stringent, das heißt, die Familiengeschichte muss der Leser wie ein Puzzle selbst zusammensetzen, dabei wird nicht ganz klar, ob man zu wenige oder zu viele Puzzleteilchen hat.

    Zunächst, im ersten Teil, lernt man Bea kennen, das schottische Kindermädchen, das mit Hingabe die jüngste Tochter der Familie, Jane, betreut. Einhundertfünfzig Seiten braucht man, bis man erfährt, Bea hätte auch einem anderen Lebensentwurf folgen können. Wer nicht? Wenn das die ganze Konklusio ist!

    Danach erfolgt der Auftritt Helens, der Hauptprotagonistin. Sie wird zunächst als unabhängiger, intellektueller Geist geschildert. Plötzlich aber ist die Figur gebrochen. Einerseits findet sie ihre wahre Bestimmung, andererseits fühlt sie sich ausserstande dieser zu folgen. Warum? Die ganze Familie leidet an psychischen Problemen, obwohl dafür kein trifftiger Grund bekannt wird. Im dritten Teil folgen wir Charlie, Helens Sohn auf seinen LSD-Trip und im vierten Teil kommen wir wieder auf Helen zurück.

    Was mir an diesem Roman grundsätzlich fehlt, ist erstens eine vernünftige Personenführung, zweitens eine einheitliche Erzählform, und drittens ein realer Handlungsort.

    Im einzelnen: Die meisten Personen des Romans erleiden Verluste, Depressionen, Identitätskrisen, jedoch ohne dass man deren Entwicklung hätte mitverfolgen können. Man bekommt nur Resultate geliefert. Zahlreiche Protagonisten sind irrelevant.Die Erzählform wechselt ohne einsichtigen Grund mehrmals. Das Ganze macht auf mich einen chaotischen Eindruck. Die Insel Ashaunt ist fiktiv. Als ob die USA nicht genug echte Inseln hätte, die man als Grundlage des Romans hätte verwenden können. Interessiert sich wirklich jemand für ausführlichste Schilderungen von Flora und Fauna eines Ortes, den es gar nicht gibt?

    Der absolute Knackpunkt, warum mir dieser Roman von vorne bis hinten nicht zusagte, liegt allerdings in der unseligen Angewohnheit der Verlage, englischsprachigen Titeln einfach einen anderen, scheinbar griffigeren deutschen Titel zu geben. Der englische Titel „The end of the point” deutet Melancholie, Zerrissenheit, Depression, Öde, Verlassenheit und Einsamkeit an. Unter seiner Prämisse bekommt der Roman eine deutlich andere, bessere, Schlagseite.

    Fazit: Selbst wenn man den englischen Titel wohlwollend in Betracht zieht, ist mir „Die Sommer der Porters“ in der Ausführung dennoch zu unausgewogen und handlungstechnisch zu unausgearbeitet, um nicht zu sagen, zu flach.

    Kategorie: Gute Unterhaltung
    Verlag: Mare Verlag, 2016

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  1. Familienroman, dem die Stringenz abhanden kommt

    Der Roman beginnt im Jahr 1942, als die wohlhabende Familie Porter wie jedes Jahr ihren Sommer auf Ashaunt verbringt, an der Ostküste New Jerseys gelegen. Mit von der Partie ist das Dienstpersonal. Hier kommt Kindermädchen Bea im ersten Abschnitt eine besondere Rolle zu: sie ist ihrem Schützling Jane, dem jüngsten Spross der Familie fast mütterlich zugetan. Als sich der Leutnant Smitty in sie verliebt, muss sie eine Entscheidung treffen...
    Bis dahin war Bea und ihre Gefühlslage der Mittelpunkt der Erzählung, die Sprache war sehr ruhig und einnehmend.

    Im nächsten Abschnitt völlige Veränderung des Stils und der Perspektive: 1947-1961 und wir lesen verschiedene Tagebucheinträge von Janes großer Schwester Helen (die bislang keine wichtige Rolle hatte). Diese scheint sehr unzufrieden mit ihrem Leben als Ehefrau und Mutter, möchte studieren, wird dann aber erneut schwanger,.... Lamento ohne Ende.

    Der nächste Abschnitt im Jahr 1970 handelt von Helens ältestem Sohn Charlie, der als Kind zunächst sehr begabt und der Stolz seiner Eltern war, dann aber psychisch ins Straucheln geriet. Diese Probleme wälzen sich durch einen weiten Teil des Buches. Im letzten Kapitel ist er auf einmal erfolgreicher Anwalt und Familienvater... Da hatte ich mit der Glaubwürdigkeit meine Probleme.
    Seine Passion gilt allerdings konsequent der Landzunge Ashaunt, für dessen Erhalt er sich massiv einsetzt...

    Die Großfamilie trifft sich immer wieder auf ihrem Landsitz. Dieser ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans und hätte vom Thema her viel Potential gehabt. Natürlich erfährt man am Ende auch, was aus Bea geworden ist, bekommt viel über die Beziehungen innerhalb der Familie mit.

    Aber wahre Freude ist beim Lesen nicht aufgekommen. Zu viele Sprünge und zu viele psychische Störungen und Probleme für meinen Geschmack.
    Kann man lesen, muss man aber nicht.

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ruh: Roman | Die literarische Neuentdeckung

Buchseite und Rezensionen zu 'ruh: Roman | Die literarische Neuentdeckung' von Şehnaz Dost
3
3 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "ruh: Roman | Die literarische Neuentdeckung"

Cemal ist Ende 30, Deutschlehrer an einer Grundschule und Vater der kleinen Ekin. Für sie möchte er ein stabiles Umfeld schaffen – was ihm aber zunehmend schwerfällt. Sein Alltag voller Herausforderungen der Diaspora wird nachts immer häufiger durch Träume von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde aufgebrochen. Sie zeigt ihm darin Szenen aus ihrem Leben, und versetzt ihn wie beiläufig an den Ort seiner Kindheit: Ein arabisches Dorf in der Südtürkei, wo Cemal bei den Großeltern gelebt hat, bis er als Achtjähriger seinen Eltern nach Deutschland gefolgt ist – zu einer Familie, die ihm fremd war, die er nun aber lieben sollte. Cemal watet immer tiefer in dunklen Gewässern, die ihn zunehmend auch im Wachzustand umgeben. In Georg hat er, nach seiner Exfrau Gül, zum ersten Mal einen Partner gefunden, der ihn in seinem Innersten erreicht. Doch Cemal bleibt verschlossen und somit ewiger Zuschauer seiner eigenen Geschichte – dabei muss er endlich lernen, auf sein Innerstes zu hören, um diese Geschichte selbst zu bestimmen. Ein sprachlich beeindruckender Roman, der sanfte Erschütterung hinterlässt und eine wichtige Erzählung aus der Realität unserer Gesellschaft. Ein Roman wie eine Familienfotografie.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
Verlag: Ecco Verlag
EAN:9783753001005
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Rezensionen zu "ruh: Roman | Die literarische Neuentdeckung"

  1. Die geerbte Sprachlosigkeit

    Cemal trifft Georg jetzt regelmäßiger. Für Cemal ist es ein überraschendes und stilles Begehren. Georg ist tiefenentspannt und selbstbewusst, Cemal nachdenklich und unsicher. Ihre Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Georg hat ein gutes Verhältnis zu seinem Stiefvater und nächert sich seinem Vater allmählich an. Cemal wuchs bei seinen Großeltern in der Türkei auf und kam mit acht nach Deutschland, zu Eltern, die ihm fremd waren. In Cemals Familie wurde nicht viel gesprochen. Es wurde ja so viel gearbeitet und man war müde wenn man nach Hause kam. Cemal fürchtete sich davor, diesem namenlosen Schweigen zu begegnen. Wechselten die Eltern mehr als zwei Sätze, dann um einen Streit auszufechten. Cemal konzentrierte sich auf sein größtes Hobby, die Musik.

    Vor einigen Jahren hatte er seine Königin geheiratet, Gül, immer aufrecht. Sie hatte ihm die kleine Ekin geschenkt. Cemal hatte sich mehr Kinder gewünscht aber Gül entschied sich dagegen. Auch sonst waren sie sehr unterschiedlich, deshalb zog Cemal aus. Jetzt zelebriert er die Wochenenden an denen ihn seine Prinzessin besucht so intensiv, wie er kann. Neulich hatte Georg ihm Fragen zu seiner Familie gestellt und Cemal damit so in Bedrängnis gebracht, dass der sich nicht mehr bei ihm meldet. Ganz langsam wird Cemal klar, dass sein Schweigen ihm zunehmend Probleme bereitet.

    Sein Sprechen scheint sich einfach aus seinem Epigenom herausgeschrieben zu haben. Wo doch bereits seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und deren Eltern nicht zum Sprechen erzogen worden waren. S. 171

    Und als der äußere Druck zunimmt erscheint ihm seine Urgroßmutter Süveyde im Schlaf, schaut in sein Bewusstsein und schickt ihm die Erinnerungsbilder, die er braucht, um zu verstehen.

    Fazit: Die Geschichte dreht sich um Sprachlosigkeit und Trennung.

    Wortlos gehen und in der Wortlosigkeit zu bleiben. S. 171

    Um Rollenbilder und traditionelle Vorstellungen, die sich nicht erweichen lassen. Sehnaz Dost zeigt, wie Generationen miteinander verflochten sind und die Schwierigkeiten, trotz dieses Erbes, integer und selbstbestimmt zu werden. Ich mochte das Erzählen von Cemals Alltag und habe seinen Umgang mit seiner Tochter geliebt. Mit welcher Sensibilität er ihre Launen erkannt hat. Die Autorin benutzt einige schöne Sprachbilder, dennoch habe ich die orientalische Melodie, die ich aus anderen gelungenen Geschichten, speziell über das Türkischsein gelesen habe, vermisst.

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BOOTH: Longlisted for the Booker Prize 2022

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Rezensionen zu "BOOTH: Longlisted for the Booker Prize 2022"

  1. Lesehighlight 2024

    Kurzmeinung: Die Geschichte der Familie Booth!

    Karen Joy Fowler erzählt in ihrem Roman "Booth" in beeindruckender Weise die Geschichte der Familie Booth. Es ist die Geschichte eine Familie, die auf traurige und tragische Weise berühmt wurde. Im Nachspann geht die Autorin auf die natürliche Neugier des Lesers ein, der wissen möchte, was ist denn nun „echt“ an der Geschichte und was ist erfunden? Besonders die Figur der Rosemarie, der ältesten überlebenden Tochter der Boothens ist eine fiktive Rolle, das sage ich mal vorab. Denn über sie ist sehr wenig bekannt, doch gerade diese Figur war meinem Herzen besonders nahe. Ansonsten recherchierte die Autorin gründlichst. Das Material zu den Boothens und zur Geschichte der Vereinigten Staaten in der fraglichen Zeit ist allerdings umfangreich und sie muss auswählen.
    Aus Rosemarys Sicht werden die ersten Jahre der Geschwister Booth erzählt sowie die ersten Ehejahre der Eltern. Julius Booth (1796 –1852) ist ein begnadeter und begabter Shakespeare-Darsteller gewesen, der sehr gut verdiente und seine Familie trotzdem nicht gut genug versorgte, weil er ein gewalttätiger Alkoholiker war und das meiste davon versoff oder verspielte. Zudem war er ein Patriarch alter Schule, sein Wort war Gesetz. Neun Monate war er auf Tour, dann kam er zurück auf sein Gut in Baltimore und zeugte Kinder, zehn an der Zahl. Mutter war gefühlt 20 Jahre lang schwanger. Julian Booth war alles Mögliche, genial, seiner Zeit voraus, seiner Zeit hinterher, ein Liebhaber, ein liebender Vater, ein Tyrann, ein gewissenloser Schuft, überspannt, ein Schaumschläger, ein Womanizer, ein Bigamist, ein Tierschützer und Vegetarier, ein inkonsequenter Antirassist, ein brillanter Darsteller, ein von Shakespeare Besessener, kurz, von Depressionn geplagt, ein schillernde Figur, einer, der seine Familie zutiefst prägte und von allen unkritisch über alles geliebt wurde.

    Der Kommentar und der Leseeindruck:
    Ich bin vom ersten Moment an begeistert von diesem Roman! Die Autorin hat eine unnachahmliche Art einem die Menschen vor Augen zu malen, man vergisst komplett, dass es sich um die Familie des Lincoln-Attentäters handelt. Der Vater dominiert die Familie, doch eigentlich verachtet er Schauspieler, besonders aber weibliche! Sie stehen kaum über den Huren! Die Boothens sind zwar Schauspieler, aber keine klassische Schauspielerfamilie. Die männlichen Boothens treten zwangsläufig in die Fußstapfen des Vaters. Zunächst mehr aus Zwang denn aus Liebe zum Beruf.
    Ein Großteil des frühen Familienlebens spielt sich auf dem Land ab, in Baltimore, auf einem abgelegenen Gut, wo der große Julius seine Zweitfamilie versteckt hat. Man weiß nicht, warum er sich nicht hat scheiden lassen, er ist nämlich in England bereits mit einer Adelaide verheiratet, aber er liebt sie nicht und verlässt sie ohne ein Wort. Gerüchte besagen, er habe weitere außereheliche Kinder. Julius heiratete jung, er ist Brite, dann wanderte er aus und wurde Amerikaner. Sein Vater, der ihm folgt und die Familie, die Julius mit Mary Ann Holmes gründete und die er als seine eigentliche Familie betrachtet, unterstützen soll, bechert mit Julius, wenn dieser Zuhause ist und auch sonst spielt Alkohol eine große Rolle im Leben der Männer. Julius Vater wird nie richtig warm mit den Staaten.
    Sämtliche Protagonisten sind einem so nahe und man fühlt mit ihnen allen. Das Leben ist hart und spart nicht mit Leid. Damals ist die Kindersterblichkeit noch hoch und einige der Boothzöglinge schaffen es nicht. Die Familie ist untröstlich. Julius und seine Frau Mary sind am Boden zerstört. Und was macht das alles mit Rosalie? Der Roman macht die prägende Rolle des Elternhauses noch einmal besonders deutlich: wie leicht wird einem Kind die Kindheit geraubt.
    Karen Joy Fowler schreibt einen Südstaatenroman per excellence, sogar einen politischen Roman. Es ist etwas Besonderes, einen Südstaatenroman in moderner Sprache zu haben! Der Norden Amerikas will die Sklaverei abschaffen, der Süden will sich vom Norden trennen, langsam betritt Abe Lincoln die Bühne. Auch er hat den Tod eines Sohnes zu betrauern. Auch seine Ehe scheint schwierig zu sein. Seine Karriere, sein politisches Lavieren, die Widerstände, seine Erfolge. Fowler lässt uns seine Reden anhören, seine Beweggründe erläutern; auch Abe Lincoln ist ein Kind seiner Zeit und nicht so konsequent wie es scheint. Inzwischen sind die Booth in die Stadt gezogen. Julius baut Tudor Hall, Bel Air, Harford County, es wird freilich nicht das letzte Domizil der Boothens bleiben. Ihr Leben ist unstet.
    Diese wahre Familiengeschichte hat einfach alles, was ein Roman braucht. Historischer Hintergrund, wunderschön erzählt und gründlich recherchiert, spannende Themen: Sezessionskrieg, Familie, Rassismus, Sippenhaft, Patriarchat, Liebe und Hass. Karen Joy Fowler gehört zu meinen Lieblingsautorinnen. Im englischen Hörbuch liest January Lavoy einen ganz phantastischen Job, besonders die ShakespeareZitate zu hören, sind eine Freude!

    Fazit: Rundum gelungen! Ich gebe ein Leseempfehlung!

    Kategorie: Historischer Roman
    Verlag: Hachette Audio UK, 2022
    Als TB: Serpent's Tail, 2023

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Murder in the Family

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Rezensionen zu "Murder in the Family"

  1. Ein völlig anderes Erzählkonzept

    Das Konzept dieses Buches ist anders. Man muss es mögen, da es keine wirkliche Erzählperspektive gibt. Jede Information wird durch Berichte , Ausschnitte, oder die Recherchen des Fernsehteams beschrieben.
    Das ist sehr spannend als Konzept, hat allerdings den Nachteil, dass keine der beteiligten Personen in irgendeiner Art und Weise charakterisiert wird. Dadurch bleiben sämtliche Protagonisten in dem Buch blass und dimensionslos. Wobei, und das ist das Besondere an diesem Buch, man nicht so recht von Protagonisten sprechen kann, da jede Einzelheit nur von außen, oder anderen Personen beleuchtet wird.
    Auch untereinander im Team kommen einige Besonderheiten zum Vorschein, die für Spannung und falsche Fährten sorgen. Für mich waren es zeitweise zu viele Personen, da das gesamte Team im Wechsel berichtet. Auch ist das Buch als E-Book im Kindle Format streckenweise schlecht lesbar, da die Berichte nicht richtig angezeigt werden und der Zeilenumbruch nicht stimmt.
    Der Fall an sich ist ein Cold Case. Nicht spektakulär, aber gut ausgearbeitet und spannend beschrieben. Geübte Krimileser werden das Rätsel tatsächlich vor dem Team lösen können, aber das Buch ist spannend genug um den Leser weiterlesen zu lassen.
    Fazit: Ich fand das Konzept genial, hatte allerdings Probleme mit der Vielzahl der Personen, die im Buch herumwuseln und recherchieren, und mir fehlte ein wenig die beschreibende Perspektive.
    Vier wundervolle Sterne für ein genial anderes Buch.

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  1. 4
    16. Feb 2024 

    Ein alter Fall

    Im Rahmen seiner True Crime Serie „Infamous“ will der Regisseur Guy Howard einen alten Mordfall wieder aufrollen. Sein Stiefvater Luke Ryder wurde vor zwanzig Jahren brutal ermordet. Gemeinsam mit dem Produzenten Nick Vincent wurde ein Expertenteam zusammengestellt. Gemeinsam wollen sie jedem Hinweis nachgehen. Wegen Guys Verbindung zu dem Toten haben sie auch Zugang zu dem damaligen Tatort. Und auch eine der beiden älteren Schwestern des Regisseurs gibt ein paar Auskünfte. Obwohl die Polizei vor zwanzig Jahren gründlich ermittelt hat, schafft das neue Team es, neue Ansätze zu finden und sogar Verbindungen aufzudecken, die vorher nicht bekannt waren.

    Ein Buch wie eine TV-Serie. Ein ehemaliger Polizeibeamter, ein Journalist, ein Anwalt, eine Psychologin, ein Forensiker und ein Privatdetektiv, der einmal bei der New Yorker Polizei tätig war.
    Sie bilden die Gruppe von Experten, die sich noch einmal mit dem Mord an Luke Ryder beschäftigen wollen. Erstaunlich, dass es nach so langer Zeit noch Neuigkeiten gibt. Doch tatsächlich entdecken die Ermittler überraschende Einzelheiten. Das macht die Serie zu einem Erfolg beim TV-Publikum. Es entsteht eine rege Diskussion. Schnell findet das zusammengewürfelte Team zueinander und an den Ergebnissen ist die fruchtbare Zusammenarbeit zu sehen.

    In diesem Roman ist viel hineingepackt. True Crime als Roman, die Aufhellung eines Mordfalls als Fernsehserie, die persönliche Betroffenheit des Regisseurs. Zum Glück ist das so geschickt zusammengefasst, dass man gefesselt ist und selbst anfängt zu rätseln. Vielleicht hat man mal eine Ahnung, vieles kommt jedoch völlig überraschend. Die Beschreibung als True Crime Serie ist dabei ungewöhnlich und erfrischend. Die Szenen sind bildhaft beschrieben, do dass sie beinahe wirklichkeitsgetreu vor den Augen erstehen. Auch die Ermittler, die durch die direkten Dialoge sprechen, wirken sehr authentisch. Eigentlich könnte man das Buch sofort verfilmen, das Drehbuch ist schon da. Die filmische Darstellung des Geschehens ist ungewöhnlich und sie fesselt durch die schnörkellosen Dialoge und die Szenenwechsel, die Beschreibungen der Foto- oder Filmeinblendungen. Die immer wieder unerwarteten Wendungen tun ein Übriges, um zu überzeugen.

    Insbesondere die haptische Gestaltung des Cover aber auch die Farbgebung geben dem Titelbild etwas besonders.

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Leuchtfeuer: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Leuchtfeuer: Roman' von Dani Shapiro

Inhaltsangabe zu "Leuchtfeuer: Roman"

Eine Sommernacht 1985: In einem Vorort von New York steigen drei betrunkene Teenager in ein Auto – und nichts ist mehr wie zuvor. Die Geschwister Sarah und Theo zerbrechen fast an der Last des Geheimnisses, das sie seitdem teilen, und selbst 20 Jahre später bestimmt es ihr Leben. Auch ihr Vater Ben, ein pensionierter Arzt, hadert mit seiner Rolle in jener denkwürdigen Nacht. Doch als Bens Begegnung mit dem zehnjährigen Nachbarsjungen Waldo eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, droht das Geheimnis zu platzen und ihrer aller Leben in ungeahnte Bahnen zu lenken.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:288
Verlag: hanserblau
EAN:9783446279353
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Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor

Buchseite und Rezensionen zu 'Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor' von Steffen Schroeder

Inhaltsangabe zu "Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783737101561
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Reise durch ein fremdes Land: Roman

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Rezensionen zu "Reise durch ein fremdes Land: Roman"

  1. Schmerzhaftes Loslassen

    Der nordirische Schriftsteller David Park hat eine äußerst intensive, emotional bewegende und atmosphärische Erzählung geschaffen. Kurz vor Weihnachten macht sich Fotograf Tom auf den Weg, seinen kranken Sohn Luke nach Hause zu holen. Es herrscht Schneechaos, vor unnötigen Reisen wird gewarnt, sämtliche Flüge wurden gestrichen. Nichts ist aber für die Familie wichtiger als Luke sicher zuhause zu wissen und so macht sich Tom mit dem Auto auf den Weg ins mehrere hundert Kilometer entfernte Sunderland, um seinen Sohn aus seinem Studentenzimmer abzuholen. Während der Fahrt durch die monochrome Schneelandschaft blitzen bei Tom Erinnerungen auf: Bilder und Szenen aus vergangenen Tagen - erste Begegnungen mit seiner Frau, die Geburt seines ersten Kindes Daniel, Augenblicke aus dem Familienleben, berufliche Episoden als Fotograf. Seine Gedanken fließen und werden nur durch kurze Zwischenstopps, die Stimme des Navigationsgeräts und Telefonate mit seiner Frau Lorna, seiner Tochter Lilly und Luke unterbrochen. Immer wieder glaubt Tom Daniel, seinen ältesten Sohn, zu sehen. Kaum meint er ihn lokalisiert zu haben, entgleitet er ihm jedoch wieder. Bald drehen sich Toms Gedanken überwiegend um Daniel und kreisen um seine Schuldgefühle. Er glaubt als Vater und Ehemann versagt zu haben. Während der Fahrt wird deutlich, was mit Daniel geschehen ist und warum die Familie daran zu zerbrechen droht.

    David Park schreibt wunderbar poetisch. Er erschafft starke Bilder und eine große Nähe zum Ich-Erzähler Tom, dessen Schmerz, Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung sich unmittelbar mitteilen. Doch es geht auch um Zusammenhalt, die Hoffnung auf Vergebung und die fast unmenschliche Aufgabe loszulassen und Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Immer wieder richtet sich der Fokus auch auf Fotografien, ihre Ausdruckskraft, die Komposition und die Essenz eines Bildes. Tom sagt über sein Bedürfnis zu fotografieren: „(…) ich glaube, es ist der Moment dicht unter der Oberfläche oder der Blick auf das Vertraute aus einer anderen Perspektive“, was ich fotografieren will.

    Ergänzt wird das Buch durch einen Link zu einer Playlist mit Songs, die Tom auf seiner Fahrt hört: Nick Cave, The National, R.E.M., The Smiths treffen genau meinen Musikgeschmack und sind in der Literatur nicht so häufig anzutreffen. Dafür gibt es von mir einen sechsten Zusatzstern. Wer ein tief emotionales Leseerlebnis mit wenig Handlung, aber starken inneren und äußeren Bildern sucht, ist auf dieser Fahrt durch ein fremdes Land genau richtig.

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    27. Feb 2022 

    Eine ungewöhnliche Reise

    Es ist kurz vor Weihnachten, das Land steckt in Klauen des Winters fest. Alle Flüge sind abgesagt worden, die verschneiten Straßen kaum passierbar. Luke, der in einer entfernten Stadt studiert, kann nicht zum Weihnachtsfest nach Hause kommen. Tom macht sich mit dem Auto auf den Weg, um seinen Sohn nach Hause zu bringen. Denn weder er noch seine Frau Lorna können sich diesjährige Weihnachten ohne Luke vorstellen. Tom leidet besonders unter den Gedanken, dass er sich bisher nicht genug über seine Familie und den ältesten Sohn Daniel gekümmert hat.

    Während der langen, beschwerlichen Autofahrt wurde Tom von Gedanken an seine Familie und sein bisheriges Leben übermannt. Die Reise zu seinem Sohn ist gleichzeitig eine Reise durch seine Gedankenwelt; eine Reise, die tief emotional verläuft. Tom, der von Beruf Fotograf ist, hat ein ausgeprägtes fotografisches Gedächtnis. Seine Erinnerungen nehmen die Gestalt von Fotos an, die er selbst so oft gemacht hat. Es sind die Erinnerungen an bestimmte bedeutende Ereignisse, die sein Gedächtnis gespeichert hat und die jetzt vor seinem inneren Auge erscheinen.

    Nach und nach setzten sich diese Momentaufnahmen zu einem Puzzle zusammen und das Geheimnis um das tragische Ereignis in Toms Leben wurde gelüftet. Plausibel und nachvollziehbar erscheinen dann seine Selbstvorwürfe und Sorgen um seine Familie.

    Der Roman ist zwar kurz, dafür seine Handlung sehr intensiv und eindrucksvoll. Der sympathischer Protagonist Tom, der an seinem Schicksal fast zu zerbrechen droht, überzeugt sowohl als ein fürsorglicher Familienvater und Ehemann, wie auch als ein hilfsbereiter und einfühlsamer Mensch. Die tragische Geschichte um seinen älteren Sohn, feinfühlig erzählt, erzeugt enorme Spannung, berührt und bewegt.

    Der Roman bleibt lange in meiner Erinnerung. Eine klare Leseempfehlung!

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  1. Intensive Auseinandersetzung mit einem verlorenen Sohn

    Nordirland ist im Schnee versunken, der Flugverkehr wurde eingestellt. Trotz widriger Wetterverhältnisse beschließt Ich-Erzähler Tom, seinen im rund 400 km entfernten Sunderland (an der Ostküste Englands) studierenden Sohn Luke mit dem Auto an Weihnachten nach Hause zu holen. Mutter Lorna sorgt sich, weil sich Luke offenbar eine schwere Grippe zugezogen hat. Fast heroisch bricht der Vater auf. Als Leser spürt man sehr schnell die tiefere Bedeutung dieser Unternehmung. Tom nimmt bewusst Gefahren auf sich, um den Sohn zu „retten“. Was zunächst vollkommen übertrieben erscheint, bekommt im Verlauf der Geschichte einen tieferen Sinn. Neben der 10-jährigen Tochter Lilly hat das Ehepaar nämlich noch ein weiteres Kind, den ältesten Sohn Daniel. Um ihn kreisen Toms Gedanken auf der Reise, der Leser wird lange im Unklaren darüber gelassen, was konkret die Ursachen für Toms offensichtliche Schuldgefühle sowie für sein Bedürfnis mit dieser Reise etwas wieder gutmachen zu wollen, sind. Daniel ist das beherrschende Thema in Toms Gedankenstrom:

    „Manchmal blitzt er beim Autofahren im Augenwinkel auf, und manchmal ist er kurz vor dem Einschlafen da, aber immer ein Stück entfernt, und ich frage mich, soll ich aufstehen und nachsehen, ob die Tür auch wirklich nicht verriegelt ist, damit er nach Hause kommen kann, wenn er will.“ (S.24)

    Der Roman hat mehrere Ebenen. Neben den beiden Erzählebenen, die einerseits aus den Erlebnissen und Begegnungen Toms auf der beschwerlichen Reise und andererseits aus seinen erwähnten Reflexionen bestehen, ergibt sich eine tiefere Metaphorik. Der Schnee, die Gefahren durch Eis und Glätte, die Suche nach dem richtigen Weg – in vielem steckt hier Mehrdeutigkeit. Die Reise zum Sohn wird zur Reise ins eigene Selbst.

    Tom berichtet über wesentliche Ereignisse aus seinem Familien- und Berufsleben als Fotograf, der immer durch eine Linse schaut und nur einen eingeschränkten Blick auf die Welt hat. Seine Erinnerungen springen durch die Zeit und wirken tatsächlich wie eingefangene Momentaufnahmen. Nach und nach komplettiert sich aber das Gesamtbild, zeigt sich Ursache und Wirkung.

    „Die Leute verstehen nicht, was ein Foto ist. Sie glauben, es würde den Augenblick einfrieren, dabei befreit es ihn aus der Zeit. Was die Kamera erfasst hat, tritt für immer heraus aus dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Es wird immer da sein, immer genau so leben, wie es exakt in dieser einen Sekunde war, mit demselben Lächeln oder Stirnrunzeln, derselben Himmelsfärbung, demselben Licht- und Schattenfall, demselben Gedanken und Herzschlag.“ (S. 175)

    Tom reflektiert auch seine eigene Person kritisch. Er hat wenig Heldenhaftes an sich, beschreibt sich als schwach, zu Depressionen neigend, oft den Weg des geringsten Widerstands gehend. Er möchte ein guter Vater und Ehemann sein, der Schaden von seiner Familie fernhält. In diesem Bewusstsein ist er unterwegs, das ist sein Mantra. Wenn es ihm gelingt, Luke rechtzeitig zum Weihnachtsfest nach Hause zu holen, kann er Vergebung finden. Aber was ist konkret geschehen, von dem außer ihm niemand weiß und das sein Gewissen enorm belastet?

    „Ich kann die Schuld, die er mir zuschreibt, nicht mehr auf mich nehmen, denn sie würde mich so tief runterziehen, dass ich nie wieder auf die Beine käme.“ (S. 44)

    David Park führt den Leser sehr langsam und in Umwegen an den Kern seiner Geschichte heran. Man braucht etwas Geduld. Es passiert nicht viel, dennoch entwickelt sich ein starker Sog. Die Sprache ist ein Genuss, ich würde sie als extrem bildlich, ausdrucksstark, intensiv und fast lyrisch bezeichnen. Die Beschreibungen der verschneiten Landschaft, die Fragmente seiner Erinnerung, die aktuellen Erlebnisse während der Reise – alles wird in vielfältigen Details ausgeleuchtet, die die Vorstellungskraft des Lesers befeuern. Das in diesem Maße zu beherrschen, ist große Schreibkunst. Der Autor hat eine phänomenale Beobachtungsgabe, man findet unzählige tiefgründige, nachdenkenswerte Sätze. An dieser Stelle sei die gelungene Übersetzung von Michaela Grabinger, die gewiss keine leichte Aufgabe war, ausdrücklich hervorgehoben.

    Das Buch erfordert einen aufmerksamen Leser und passt wunderbar in die dunkle, winterliche Jahreszeit. Ich habe mich völlig in dieser ruhigen, melancholischen Erzählung verlieren können, die aus meiner Sicht ein kleines Meisterwerk ist und gewiss noch Literaturpreise gewinnen wird. Hoffentlich macht der DuMont Verlag dem deutschen Publikum noch weitere Werke von David Park zugänglich.

    Riesengroße Lese-Empfehlung an alle Leser, die das Besondere schätzen und sich gerne mit einer intensiven, vielschichtigen und sehr atmosphärischen Geschichte auseinandersetzen wollen.

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  1. Eingefrorene Kameralinse

    Klappentext:

    „Von Beruf Fotograf sieht Tom die durch den Winter zum Erliegen gekommene Welt um sich herum wie durch die Linse seiner Kamera. Schon immer hat er sein Leben auf diese Art betrachtet, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er es anhand von Fotografien erzählen kann. All diese Bilder kommen ihm nun in den Sinn: das erste Foto, das er von seiner Frau geschossen hat, die Aufnahmen von Familienfeiern, die ihm seinen Lebensunterhalt sichern, und diejenigen, die er stets zu machen geträumt hat, Fotos jenseits der gängigen Sehgewohnheiten.

    Tom hat sich längst damit abgefunden, dass er kein großer Künstler ist. Doch wie soll er damit leben, dass er kein perfekter Ehemann ist? Und dass er vor allem seinem anderen, seinem ältesten Sohn Daniel kein guter Vater war? Tief in seiner Kamera versteckt, gibt es ein Foto von Daniel, das Toms ganze Schuld und ganzes Leid zeigt. Je intensiver Toms innere Zwiegespräche mit Daniel auf dieser Reise werden, desto mehr hofft er, Erlösung und Vergebung zu finden.“

    Autor David Park hat mit „Reise durch ein fremdes Land“ eine äußerst lesenswerte und intensive Geschichte verfasst. Seinen Protagonisten Tom lernen wir deutlicher kennen als er es selbst tut. Tom sieht alles durch seine Linse der Kamera und genau dies wird beim erlesen eine sehr intensive Erfahrung für den Leser. Tom hat ein besonderes Sichtfeld zu allen Dingen, so auch zu seiner Familie und seiner Umgebung. Er hält Dinge fest und auf dem Foto sind dann dieser eine Moment mit dem entsprechenden Hauptakteur verewigt. Man kann es als Metapher ansehen oder als den eigentlichen Beruf von Tom aber erschreckender ist es, als wir Leser feststellen müssen, das Tom‘s Blick darauf hin ein anderer geworden ist. Wir reden hier nicht von Betriebsblindheit sondern vom „hinsehen“ auf das Leben und seine Akteuere umzu. Ohne diesen Blick, ohne diese Beobachtungsgabe verlieren Menschen die Realität aus den Augen und genau darauf will Park hier hinaus. Hier geht es um die Suche nach dem Blick hinter die Kamera, auf den Blick ganz tief in den Bildern, auf die Situation die da festgehalten wurde, denn sie läuft weiter, auch ohne das ein Bild gemacht wurde…Wir Leser merken schnell, dass Tom einen gewissen „Film nicht entwickelt“ hat, weil er es einfach nicht kann….Es gibt hier eben Dinge, die Tom gern verdrängt, ausblendet, überbelichtet, retuschiert, unterbelichtet…um in der Fachsprache der Fotografie zu sprechen.

    Tom‘s Erinnerungen scheinen unter dem Schnee, der in diesem Buch genau wie auf dem Cover allgegenwärtig ist, begraben zu sein. Das er seinen kranken Sohn an Weihnachten bei sich haben will, ist dies verständlich und auch noch so viel mehr. Der Schnee wird hier zum Schutzmantel der Geschichte und zeigt mit jeder Flocke wie vergänglich alles ist - das kann man nicht in Bildern festhalten, genau wie das Leben an einem vorbei zieht und alles vergänglich ist…“Bilder sagen mehr als tausend Worte“ aber sie können nur den Moment festhalten und nicht den Weitergang zeigen…

    David Park hat hier einen kühlen, feinstimmigen und äußerst intensiven Roman verfasst, der sehr nachhallt und zum nachdenken viele Anregungen gibt. Für mich jedenfalls eine ganz tolle Leseerfahrung und genau deshalb gibt es sehr gute 4 von 5 Sterne!

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  1. 5
    27. Sep 2021 

    Sprachgewaltig und von emotionaler Wucht - eine Entdeckung!

    Von Beruf Fotograf sieht Tom die durch den Winter zum Erliegen gekommene Welt um sich herum wie durch die Linse seiner Kamera. Schon immer hat er sein Leben auf diese Art betrachtet, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er es anhand von Fotografien erzählen kann. All diese Bilder kommen ihm nun in den Sinn: das erste Foto, das er von seiner Frau geschossen hat, die Aufnahmen von Familienfeiern, die ihm seinen Lebensunterhalt sichern, und diejenigen, die er stets zu machen geträumt hat, Fotos jenseits der gängigen Sehgewohnheiten. Tom hat sich längst damit abgefunden, dass er kein großer Künstler ist. Doch wie soll er damit leben, dass er kein perfekter Ehemann ist? Und dass er vor allem seinem anderen, seinem ältesten Sohn Daniel kein guter Vater war? Tief in seiner Kamera versteckt, gibt es ein Foto von Daniel, das Toms ganze Schuld und ganzes Leid zeigt. Je intensiver Toms innere Zwiegespräche mit Daniel auf dieser Reise werden, desto mehr hofft er, Erlösung und Vergebung zu finden. (Klappentext)

    Erster Satz: "ich betrete das vereiste Land, ohne zu wissen, welchem Teil der Welt es angehört."

    Zu Beginn des Romans hatte ich kurz das Gefühl von übervorsorglichen Eltern, als Tom und seine Frau die letzten Vorbereitungen trafen, damit der Familienvater in aller Frühe endlich starten konnte, um einmal quer durch England zu fahren zu seinem grippeerkrankten Sohn. Ziel der Reise ist es, Luke trotz des heftigen Wintereinbruchs und der abgesagten Flüge rechtzeitig vor Weihnachten nach Hause zu holen und dort gesund zu pflegen.

    "Wir müssen ihn nach Hause bringen." Der Satz kann in dem vereisten Wagen nirgendwohin, hängt in der Luft und erstarrt zu Schweigen...

    Doch kaum hatte Tom die Wagentür zugeschlagen und nach anfänglich etwas unbeholfenen Versuchen endlich die Fahrt aufgenommen, tauchte ich wie mit einem Sog ein in die Erzählung, die, obschon im Grunde ein Kammerspiel, mich nicht mehr loslassen wollte. Abgesehen von wenigen zufälligen Begegnungen und Telefonaten mit seiner Frau und seinen Kindern ist Tom die ganze Zeit über alleine und fährt Kilometer um Kilometer durch ein schneebedecktes England, das ein so ganz anderes Bild bietet als sonst.

    Leise ist die Welt plötzlich, zusammengeschrumpft auf ein endloses Weiß, die Straße, deren Richtung die Stimme des Navis vorgibt, und Toms Gedanken. Die Gedanken springen von der Gegenwart und der gestellten Aufgabe, Luke zu erreichen und gemeinsam mit ihm heimzukehren, immer wieder in die Vergangenheit, und so entspinnt sich vor den Augen des Lesers ein Leben voller Bilder, denn Tom ist Fotograf und betrachtet die Welt meistens durch eine Linse. Aber es entpuppt sich nach und nach auch ein ganzes Leben, und was anfangs nur andeutungsweise auftaucht, wird letztlich zu dem alles beherrschenden Thema: Daniel, Toms älterster Sohn.

    "Ich stolpere schneeblind dahin, voller Angst, ich könnte jeden Augenblick in eine offene Spalte stürzen oder an der Felskante in die plötzliche Leere treten und mit rudernden Armen etwas zu fassen suchen, woran ich mich festhalten kann, um den unaufhörlichen Fall zu beenden."

    Was im Alltag gelingt - das Verdrängen von Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen - schafft Tom nun auf seiner langen einsamen Fahrt durch die weiße Kälte nicht mehr. Anfangs versucht er noch, aufkommende Bilder durch laute Musik zu übertönen, doch schließlich überlässt er sich einzelnen Szenen der Vergangenheit, Bildschnipseln eines Familienlebens, das irgendwann in eine Schieflage geriet, eigenen Gefühlen von Trauer, Mutlosigkeit und Schuld, nur schwer zu ertragen.

    Sprachgewaltig, voller Metaphern und Bilder, poetisch und von emotionaler Wucht - so schickt David Park den Leser mit Tom gemeinsam auf die Reise zu dessen innersten Dämonen, bis auch das letzte versteckte Bild zutage tritt. Ein sehr leiser Roman, der jedoch die innere Dynamik einer Lawine entfaltet und den Leser ohne Gnade mitreißt, literarisch ganz große Kunst.

    "Dort am anderen Ufer steht ein Haus. Ein Haus, in dem Licht brennt. (...) Doch wie soll ich hinkommen? Es geht nur über den zugefrorenen See. Wer nimmt mich bei der Hand? Wer leitet mich jetzt? Ich blicke hinter mich, aber es ist nur der brausende Wind in den Bäumen zu hören, der den Schnee verstäubt und die ganze Welt frösteln lässt."

    Äußerlich geschieht nicht viel, innerlich bebt die Erde - die Spannung zieht sich durch, was war mit Daniel, was ist geschehen, und wird Tom die erhoffte Erlösung endlich finden? Selten, dass ich derart empathisch bei einer Romanfigur war, die Melancholie und Trauer mich so berührte, und der Funke Hoffnung am Ende mich derart erleichterte. Der Weg ist nicht zuende, der Schnee beginnt zu schmelzen...

    Für mich eine großartige Entdeckung, und ich hoffe, dass künftig noch mehr Romane von David Park ins Deutsche übersetzt werden...

    © Parden

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  1. Gedanken eines Vaters

    „Die Reise durch ein fremdes Land“ ist ein sehr zurückgenommes, ja melancholisches Buch. Auch mich hat diese Stimmung beim Lesen erfasst. Wir begleiten einen Vater auf eine Autofahrt durch Schottland in den Süden. Extreme Schneefälle haben fast alles lahmgelegt und er macht sich auf die Reise seinen Sohn Luke aus der Universitätsstadt über die Weihnachtstage nach Hause zu holen.

    Während der Reise schweifen seine Gedanken immer wieder in die Vergangenheit. Er wollte einmal ein berühmter Fotograf werden, aber nun sind seine Aufträge Hochzeiten, Familienfeiern und ab und zu ein Werbeauftrag. Er denkt an die Bilder seiner Kinder und immer wieder kommt Daniel in seine Gedanken. Den Sohn, den er verloren hat, den er nicht beschützen konnte. Wie eine schwere Last liegt da sein Versagen auf den Schultern. Immer näher kommen wir dem Protagonisten.

    Durch die eindrückliche Sprache und die Reduzierung auf einige Stunden im Auto bekommt der Roman eine ganz besondere Intensität. Er dringt tief in die Seelen seiner Figuren und dem konnte ich mich als Leserin auch nicht entziehen.

    Eine sehr genaue Beobachtungsgabe und eine makellose Sprache machen dieses Buch besonders.

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Nochmal von vorne: Roman

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Rezensionen zu "Nochmal von vorne: Roman"

  1. Wenn viel geredet, aber wenig gesagt wird

    „Nochmal von vorne“ möchte ich der Autorin zurufen – mach es bitte noch einmal, aber ohne Exkurse, Schachtelsätze und Nichtigkeiten, stattdessen mit einem fließenden roten Faden, der diesem Roman leider so sehr fehlt. Das sieht man schon daran, dass es sehr schwerfallen würde, eine inhaltliche Zusammenfassung des Romans zu geben, selbst einzelne Kapitel direkt nach der Lektüre zu umreißen, würde kaum gelingen. Dies liegt an dem plätschernden Stil, der sich in allgemeinen und belanglosen Details verliert, vom Hölzchen aufs Stöckchen gerät und dies dann noch in endlos langen Sätzen verpackt. So hat man am Ende des Kapitels nicht nur vergessen, worum es anfänglich und überhaupt eigentlich mal ging, auch am Ende der Sätze weiß man kaum noch, wo einem der Kopf steht. Immer wieder musste sich mein Bewusstsein an irgendeiner interessanteren Begebenheit festklammern, um einigermaßen die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten.

    Dabei fand ich die Erzählerin und ihren Erzählstil zu Beginn der Lektüre noch sehr begeisternd. Der Gedanken- und Gefühlsstrom war mir sehr nah, authentisch und überzeugend erhält man treffsichere Einblicke in den Charakter und die Seele der Protagonistin. Leider, leider nutzt sich die elaborierte Syntax aber zunehmend ab, ermüdet und zermürbt den Leser zunehmend, sodass man sich bald schon fast zur Lektüre zwingen muss, zumal auch immer so wenig hängenbleibt, denn unglücklicherweise verfügt der Roman über keine erzählenswerte Geschichte. Mit viel Aufwand und nur wenn man als Leser willens ist, den kaum ausformulierten und sehr vage konstruierten Zusammenhang zwischen Shoah und Familiengeschichte zentral zu setzen, gibt es überhaupt ansatzweise einen tieferen Sinn in dem Roman. Da diese Wahrnehmung aber schon äußerst viel Kreativität und Arbeit seitens des Lesers erfordert, würde ich den Roman als in dieser Hinsicht gescheitert bezeichnen. Er funktioniert einfach nicht. Und da ohne diesen künstlich generierten Bezug lediglich eine etwas eigenwillige, aber sehr alltägliche, Familiengeschichte bleibt, kann ich für „Nochmal von vorne“ leider keine Leseempfehlung aussprechen. Dem Roman und der Story fehlt leider das gewisse Etwas, der Anreiz, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, die nächste Seite umblättern zu wollen. Hier wird einfach zu viel geredet und zu wenig gesagt.

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  1. 3
    21. Apr 2024 

    Alte Wunden...

    Dana von Suffrin erzählt in diesem Roman die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie, und es ist die jüngste Tochter Rosa, die diese Geschichte erzählt. Der Leser / die Leserin folgt dem Gedankenstrom der Frau, der es obliegt, die Wohnung ihres gerade verstorbenen Vaters aufzulösen. Tief taucht die Erzählung ein in die Vergangenheit, in Rosas Erinnerungen, nicht chronologisch sondern assoziativ und damit wild in den Zeiten sowie in den Orten hin und her springend. Dies ist verbunden mit einem herausfordernden Schreibstil mit teilweise ellenlangen Schachtelsätzen, die Wesentliches mit Nebensächlichkeiten zu knäuelartigen, unübersichtlichen Gebilden verzwirbeln, schon ein anstrengendes Leseerlebnis.

    "Sie ist auch eine dieser Personen, die nie fragen würden, wie es einem geht, denn sie wüsste selbst einfach keine Antwort darauf, und sie würde minutenlang nachdenken und schließlich seufzen, dass sie dazu leider nichts sagen könne, denn um zu wissen, wie es einem geht, muss man ihrer Meinung nach nicht nur die individuelle Stimmungslage und den gesundheitlichen Zustand berücksichtigen, sondern auch die eigene und die globale sozioökonomische Situation und weitere Parameter, die mir nicht einfallen wollen, und plötzlich werde ich fast wütend, weil ich denke, dass Nadja mich wieder einmal mit allem alleinlässt, denn während sie immer so tut, als würde alles, womit wir nichts zu tun haben, sie etwas angehen, zum Beispiel irgendwelche destabilisierten politischen Systeme in Südmittelamerika oder der Krieg zwischen Palästinensern und Israelis, den wirklich niemand begreifen kann; aber unser kleiner, grotesker, sicherlich einer Vielzahl psychoanalytischer Studien würdiger Familienkosmos hingegen, der aus nichts weiter als ein paar neurotischen, höchst bedürftigen Individuen bestand, ist für sie schon immer die größte Zumutung gewesen." (S. 14)

    Viel Einsamkeit gab es in der Familie Jeruscher, niemand stand für den anderen ein, niemand hörte dem anderen zu, jede:r hatte eigene Macken. Der Vater Mordechai als Sprössling einer letztlich entwurzelten Familie (vertrieben aus Rumänien, später Ungarn hin nach Israel), dazu mit seinen eigenen traumatisierenden Kriegserfahrungen, über die er nie sprach und mit einem Sonnyboy als Bruder, aus dessen Schatten er nie heraustreten konnte. Er kam nach Deutschland, um dort Geld zu verdienen, doch seine Ausbildung als Chemiker war nicht ausreichend, um die gewünschte Professorenstelle zu erhalten, stattdessen arbeitete er in einem Labor und überprüfte Wasserproben. Stur, depressiv, oftmals sprachlos - das einzige vor sich selbst zugelassene Gefühl war Wut, für alles andere fehlten ihm die Worte.

    Die Mutter, die eigentlich in den Bruder Mordechais in Israel verliebt war als sie dort als junge Frau ein Jahr lang arbeitete, dann aber bei der Wiederbegegnung in Deutschland offenbar mit "dem Spatz in der Hand" vorlieb nahm, Mordechai heiratete und statt ihr Studium zu beenden fortan Mutter und Hausfrau war. Keine Erfüllung für sie, was sie ihren Mann ständig spüren ließ. Die Eltern ließen gegenseitig kein gutes Haar am anderen, gestritten wurde täglich, lediglich mit kurzen Atempausen zum Verschnaufen.

    Die Schwestern Rosa und Nadja teilten sich ein gemeinsames Zimmer, die Jüngere schaute zur Älteren auf, die aber kaum ein Interesse an ihr zeigte. Rosa wirkte als Kind/Jugendliche verträumt, malte in der Schule vor sich hin statt zuzuhören, oftmals Familienmitglieder als Motiv. Die Gedanken kreisten offenbar damals schon oft um ihre Familie, aber es blieb wohl keine andere Art des Audrucks als die Bilder - mit wem sollte sie darüber sprechen? Rosa als die Jüngste konnte immer nur beobachten, hatte keinen großen Einfluss auf das Handeln der anderen Familienmitglieder. Und sie erwähnt, dass sie mittlerweile nicht mehr zu ihrem Therapeuten geht - offenbar gab es viel aufzuarbeiten, was die oftmals larmoyant wirkende Aufzählung der negativen Erinnerungen eindrücklich demonstriert.

    Es ist schwierig, den Inhalt zusammenzufassen, denn hier zerfasert zu viel. Und auch die Aussage, die Intention hinter dem Roman wollte sich von mir nicht wirklich greifen lassen. Was sollte hier erzählt werden? Über mögliche Andeutungen geht es hier nie hinaus.

    Eine Familiengeschichte in Kontrasten? Der jüdisch-entwurzelte Vater mit dem familiären Hintergrund der Shoa und der Drangsalierungen durch die rumänische Diktatur, sowie mit den eigenen Kriegserfahrungen in Israel im Gepäck - und dagegen die katholisch-bayrische Mutter, deren Eltern offenbar während der Regierungszeit der Nationalsozialisten keine Gegner des Holocaust waren, die durch ihre Ehe mit einem jüdischen Mann womöglich etwas wieder "gutmachen" wollte? Die Darstellung der Auswirkugen von generationenübergriefenden Traumata innerhalb einer Familie? Eine Identitätsfindung von Rosa? Der Konflikt zwischen Rosa und ihrer Schwester Nadja, der letztlich zu etlichen Kontaktabbrüchen führte - und nun ein neuer Versuch? Die literarische Verarbeitung eines toxischen Familiengefüges, geprägt womöglich von eigenen Erfahrungen der Autorin? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.

    Trotz einiger schöner Formulierungen und eindringlicher Schilderungen beklemmender Szenen lässt mich der Roman in erster Linie ratlos und achselzuckend zurück. Vieles bleibt mir zu vage, das Herauslesen zwischen den Zeilen ist mir offenbar nicht gelungen. Schade eigentlich, denn irgendwie mochte ich den Roman auch.

    Ein Kandidat für den kommenden Deutschen Buchpreis? Ich bin gespannt...

    © Parden

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  1. Die Botschaft kam leider nicht an

    Als Rosas Vater, Mordechai Jeruscher, seinem Krebsleiden erliegt, fällt es Rosa, seiner jüngsten Tochter, zu die Wohnung aufzulösen und sich um alles weitere zu kümmern. Eigentlich gibt es da ja noch ihre ältere Schwester Nadja, zu der sie aber nur sporadisch Kontakt hat, und die aktuelle Telefonnummer sucht sie vergebens in der Wohnung ihres Vaters.
    Rosa organisiert, räumt aus, wirft weg, und erinnert sich an ihre Kindheit. Eine Kindheit, geprägt von den Streitigkeiten der Eltern. Der Vater war Jude, die Mutter Katholikin, dass, was am Anfang schön war, wurde schnell zu einem Drama. Und mittendrin die beiden Mädchen…..

    Nadja war immer die rebellische der beiden Kinder. Sie hielt meist zur Mutter, die ebenfalls oft mit ihrem Verhalten provozierte. Rosa hielt hingegen eher zum Vater, sie war die stillere, und sie konnte es nicht ertragen wenn alle auf dem. Aber herumhackten, so dass sie sich eher auf seine Seite schlug. Es ist schlimm, wenn die Eltern nicht in der Lage sind ihre Differenzen ohne die Kinder auszutragen. Ebenso tragisch ist es, wenn Kinder sich gezwungen sehen Partei ergreifen zu müssen, was in dieser Familie leider an der Tagesordnung stand.

    Die Handlung verläuft nicht chronologisch. Mal erzählt Rosa von den Ereignissen kurz vorm Tod des Vaters, mal aus der Kindheit. Sie erzählt von Besuchen in Israel, bei der Großmutter, die mittlerweile im Heim lebt, weil Arie, der Onkel der Mädchen, sie dorthin abgeschoben hat. Mordechai hat starre Grundsätze, nicht nur was seine Religion angeht, es wirkt so, als erdrücke er die Familie mit seinen Grundsätzen.
    Er hatte große Pläne, als er nach Deutschland kam, doch seine Abschlüsse als Chemiker wurden nicht anerkannt, so dass er nun als einfacher Laborant arbeiten muss.
    Seine Frau verliert ihnen Job, weil sie sich daneben benimmt, provokant ist. Nun muss ein Gehalt der Kaufsucht der Mutter trotzen. Neuer Brennstoff für die eh schon gereizte Stimmung. Und dann irgendwann ging die Mutter……

    Für mich war es sehr anstrengend diesen Roman zu lesen. Die Dispute standen im Vordergrund, die schwierige Beziehung zwischen Nadja und Rosa, und der Tod des Vaters, der dieses Gedankenkarussel bei Rosa in Gang bringt.
    Durch eine Leserunde an der ich teilgenommen habe, kam die These auf, dass die Autorin mit dem Buch die jüdische Geschichte am Beispiel der Jeruschers aufarbeiten möchte. Für mich ließ sich dies allerdings nur am Rande erahnen und auch nur, weil ich quasi mit der Nase drauf gestoßen wurde. Schade, so war es lediglich eine Aneinanderreihung von unterschiedlichen Kränkungen, die sich die Familienmitglieder über die Jahre angetan haben.

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  1. 2
    25. Mär 2024 

    Sinn- und farbloses Terrazzo- Muster

    Ein Elternteil stirbt und eines der Kinder beginnt das Elternhaus zu räumen und sich zu erinnern. Das ist ein beliebter Ausgangspunkt für unzählige Romane, gelungene und missratene.
    Auch hier bei Dana von Suffrin steht der Tod des Vaters am Beginn und Rosa, die jüngere Tochter und Ich- Erzählerin, geht in Gedanken zurück und blättert nach und nach die Geschichte der Familie Jeruscher auf.
    Die Großeltern väterlicherseits sind von Rumänien nach Israel ausgewandert. Sie haben zwei Söhne, Arie und Mordechai. Letzterer geht nach Deutschland, stolpert über die Beine einer jungen Frau und heiratet kurz darauf deren Freundin. Die beiden bekommen zwei Töchter, Nadja und Rosa.
    Leider entwickelt sich daraus nicht eine vorbildliche Liebesgeschichte zwischen einem jungen Israeli und einer bayrischen Christin. Das Ehepaar streitet unablässig.
    „ Unsere Eltern …passten überhaupt nicht zueinander, und die Widersprüche zwischen beiden ließen sie beinahe jeden Tag aneinandergeraten. Sie versöhnten sich fast nie, sie sammelten nur in den kurzen Pausen, in denen sie nicht stritten oder schimpften, Kraft, um dann wieder übereinander herzufallen.“ Man fragt sich, warum die beiden zueinander fanden? War es die Schwangerschaft? Oder wollte die Mutter mit ihrer Obsession für den Holocaust mit ihrem jüdischen Ehemann ein Zeichen setzen? Ihr spießiges Nazi- Elternhaus schockieren? Man weiß es nicht. Tatsache ist, dass beide Elternteile zutiefst unzufrieden waren mit ihrem Leben. Die Mutter hat, nachdem sie durch eine Prüfung fiel, das Studium abgebrochen, um fortan mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu hadern. Als die Töchter älter sind, verlässt sie alle und findet auf ihrem Ego-Trip in Thailand ( vermutlich) den Tod. Aber auch der Vater, zusätzlich traumatisiert von seinen Erlebnissen im Jom Kippur Krieg, ist vom Leben enttäuscht . Seine beruflichen Träume muss er begraben; stattdessen arbeitet er jahrzehntelang als Laborant bei den Stadtwerken. Die ständigen Zwistigkeiten zwischen den Eltern führen aber nicht dazu, dass die Schwestern sich verbünden. Nein, auch hier gekränkte Gefühle. Rosa fühlt sich von der rebellischen Schwester im Stich gelassen. Und auch die Mutter Zsazsa in Israel lässt kein gutes Haar an ihrer deutschen Schwiegertochter , die umgekehrt über ihre Schwiegermutter lästert. Eine dysfunktionale Familie wie aus dem Bilderbuch.
    So weit, so gut. Was die Lektüre dieses Romans so quälend macht ist weniger der Inhalt, sondern vor allem die Erzählweise. Die Autorin berichtet nicht chronologisch, sondern springt zwischen den Zeitebenen hin und her. Das ist noch kein Problem, so etwas kennt man als Leser zeitgenössischer Literatur. Rosa erinnert sich assoziativ, aber auch ein solcher Gedankenstrom kann fesseln. Doch Dana von Suffrin verpackt ihre Erinnerungen in ellenlange Sätze, sie kommt vom Hölzchen auf Stöckchen und am Ende dieser endlosen Monologe kann man sich kaum erinnern, was einem hier erzählt werden soll. So viel Banales wird ausgebreitet, manche Dinge einfach mehrmals wieder aufgegriffen. Und man fragt sich ziemlich ratlos, was hier die Aussage sein soll. Auch dass in dieser Familie „ ein ganzes Jahrhundert voller Gewalt und Vertreibung nachwirkt“ -wie der Klappentext behauptet- wird kaum deutlich.
    Die Autorin, eine promovierte Historikerin, setzt an den Anfang und das Ende des Romans, sowie irgendwo dazwischen, kurze historische Exkurse. Lässt sich die Bedeutung dahinter zu Beginn noch erschließen, so lässt sich das später nur mit sehr viel gutem Willen. Allerdings hat sich bis dahin der gute Wille des Lesers längst aufgebraucht.
    Sicher, es gibt einige schöne Formulierungen, doch die können das Buch auch nicht retten. So z.B. „… und der Boden war wie überall in Israel aus Terrazzo, und genauso wie er bestand Zsazsas Erinnerung nur aus braunen, roten und weißen Steinchen, die man in neuen Formationen sortieren konnte, die aber letztlich nie einen Sinn ergaben.“ So besteht der ganze Roman aus vielen Steinchen, nur selten aus farbigen, sondern aus vielen farblosen und sie ergeben auch keinen Boden.
    Schade! Mein Erwartungen an den zweiten Roman von Dana von Suffrin waren hoch, hat mir doch ihr Debut „ Otto“ sehr gut gefallen. Auch dort haben wir es mit einem Vater und zwei Töchtern zu tun, allerdings wird jene Geschichte originell und witzig erzählt.
    Meine Empfehlung: lesen Sie „ Otto“ !

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  1. Zerstückelte Familiengeschichte

    Ich hatte etwas Probleme in diese Geschichte hineinzufinden, da die Zeitebenen hin- und herspringen. Der Roman beginnt recht humorvoll mit dem Treffen verschiedener Außenminister im Jahr 1940, die über die Region Siebenbürgen entscheiden - ein Treffen, das tatsächlich stattgefunden hat.
    Die Region, in der die Großeltern der Protagonistin leben, wird Ungarn zugesprochen.
    Im 1.Kapitel erfährt Rosa in ihrem Viererbüro, dass ihr Vater im Krankenhaus gestorben ist. Danach ist sie "in dem Zustand (...), den (sie sich) mir immer gewünscht ha(t): an gar nichts denkend, vollkommen leer." (S.13)

    Während sie an ihre ältere Schwester Nadja denkt, wird sie wütend, da diese sich der Familie regelrecht entzogen hat, sie sei verantwortungslos, aber nicht abgestumpft. Nachdem sie im Krankenhaus war, fährt Rosa in die Wohnung ihres Vaters, der in einem Mietshaus gewohnt hat, in dem auch viele Studenten leben, und offensichtlich ein komischer Kauz gewesen ist:
    "Mein Vater muss den Nachbarn als Sonderling gegolten haben, als alter, dürrer Typ, der kein >>ch<< ansprechen konnte (und der, wenn er in Wut geriet, ständig alle Buchstaben verwechselte, worüber wir früher in einer grenzenlose, unsinnige Heiterkeit verfallen waren)" (S.22); "Er lebte wie ein Schatten" (S.23).

    Insgesamt entsteht der Eindruck einer dysfunktionalen Familie, die rebellische Schwester Nadja, der schwermütige Vater und die Mutter, die ihre Familie verlassen hat, und irgendwo dazwischen steht Rosa.
    Ihr jüdischer Vater, der in Israel groß geworden ist, ist zwar Chemiker, seine Abschlüsse wurden in Deutschland jedoch nicht anerkannt, so dass er als Laborant arbeiten muss und die Familie nur wenig Geld zur Verfügung hat. Sein Bruder Arie ist in Israel geblieben, Rosas Oma Zsazsa ist in einem Altenheim in Tel Aviv untergebracht.
    Die Erinnerungen Rosas sind sehr assoziativ - erzählt wird im inneren Monolog, teilweise mit langen, verschachtelten Sätzen. Ausgehend vom Tod denkt Rosa an alles Mögliche zurück. Wie ihre Eltern sich kennengelernt haben, wie chaotisch das Familienleben verlaufen ist. In ihrer Erinnerung streiten immer alle miteinander. Die Mutter, die aus Bayern stammt und ihr Studium nicht abgeschlossen hat, ist unzufrieden mit ihrem Leben als Mutter und Hausfrau. Es bleibt die Frage, warum die Eltern geheiratet haben, wenn sie sich doch offenkundig nicht mögen. Konsequenterweise verlässt Veronika die Familie, kurz bevor auch Nadja auszieht und Rosa mit dem Vater allein lässt. Obwohl Rosa positive Kindheitserinnerungen an ihre Schwester hat, denkt sie in der Gegenwart stets negativ an Nadja.
    Nebenbei werden auch geschichtliche Ereignisse eingeflochten - der Jom Kippur Krieg in Israel und das Ende der deutschen Besatzung in Siebenbürgen, das den jüdischen Großeltern die Freiheit zurückgebracht hat.
    Im Versuch den Inhalt zusammenzufassen, wird wieder deutlich, wie zerstückelt alles erzählt wird und wie es zunehmend schwieriger wird, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen. Hinzu kommt, dass vorwiegend Banales erzählt wird, Nebensächlichkeiten, die in jeder Familie vorkommen können. Das einzig Besondere scheint zu sein, dass Rosa in einer halbjüdischen Familie aufgewachsen, einer Familie, deren jüdischer Teil von der Shoa geprägt ist. Es gelingt der Autorin jedoch nicht, die Bedeutung der Shoa auch für die kommenden Generationen greifbar zu machen.
    Trotz der teilweise recht ansprechenden Sprache hat mich der Roman v.a. im Mittelteil gelangweilt, im letzten Teil steigert er sich dadurch wieder, dass die Schwestern sich erneut begegnen und einige Fragen geklärt werden.
    Insgesamt hat mich der Roman jedoch nicht überzeugt, so dass ich ihn auch nicht weiter empfehlen kann.

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  1. Nochmal von vorne?

    Lieber nicht! Denn die im Klappentext angekündigten Streitereien, versuchten und gelungenen Fluchten, Sehnsüchte und enttäuschten Hoffnungen sind durchaus als buchfüllend ernstzunehmen.
    Frau von Suffrin nimmt uns mit in die Familie Jeruscher, oder vielmehr stellt sie uns Rosa Jeruscher vor, die vor der Aufgabe steht, die Wohnung ihres verstorbenen Vaters aufzulösen. Die Mutter ist schon ein paar Jahre tot, allerdings verließ sie vorher ihre Familie für einen neuen Lebensentwurf. Rosa hat noch eine ältere Schwester, Nadja. Sie scheint sich auch diesesmal vor aller Verantwortung zu drücken. Außerdem kennt Rosa ihr Telefonnummer nicht. Auf der Suche nach einer Nummer in der Münchner Wohnung des Vaters, hängt Rosa ihren Gedanken nach und rekonstruiert nach und nach ihre Familiengeschichte für uns Leser.
    Die deutsch-jüdische Ehe stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Mordechais Eltern stammten ursprünglich aus einem Dorf in Rumänien, dass im 2.WK mit einem Strich auf der Landkarte Ungarn zugesprochen wurde. Die Shoah vertrieb sie nach Israel, der jüngere Sohn Mordechai wanderte als junger Mann dann nach Deutschland aus. Die erhoffte Berufskarriere begrub er bald, heiratete dafür die christliche Bayerin Veronika, die wiederum den älteren Bruder Arie bei einem Kibbuzaufenthalt in Israel kennengelernt hatte. Zsazsa Jeruscher, die Mutter Mordechais und Aries bombardiert diese Verbindung mit herablassenden Sprüchen und Verachtung.
    Aber auch innerhalb der Münchner Familie läuft es nicht. Nadja ist mit ihrer Volljährigkeit regelrecht geflohen, Rosa fühlte sich daraufhin im Stich gelassen. Die Mutter haut ab und der Vater ist unzufrieden mit seinem Beruf, seiner Familie und seinem Leben.
    Wir erfahren von zänkischen Auseinandersetzungen, aber auch von den kleinen schönen Momenten. Das Problem sind die geschichtlichen Einschübe der Shoah und das Schlusskapitel einer rumänischen Aufarbeitung. Sie stehen mahnend, aber völlig isoliert im Raum. Eine Zusammenführung der Ereignisse, eine Erklärung für den durchblitzenden Hass bekommt der Leser nicht. Es fällt schwer, diese Arbeit selbst zu leisten, eine Hilfestellung seitens der Autorin wäre schön gewesen. Der Text selbst hat auffällig viele Fehler, sodass der Eindruck entsteht, dass er nicht der Mühe wert war. Schade, denn ein Verständnis für jüdisches Empfinden wird so nicht gefördert.

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  1. 2
    18. Mär 2024 

    Wirrer Gedankenstrom, langweilig, ohne erkennbare Aussage

    Wirre Erinnerungen einer Tochter an die unglückliche Ehe der deutschen Mutter mit einem israelischen Vater, dazu Schwestern-Probleme

    Selten hat mich ein Buch so gelangweilt, selten empfand ich ein Buch als so nichtssagend wie dieses. Und daran ist nicht die karge Handlung Schuld, die schnell erzählt ist:

    Der aus Israel stammende Vater der Ich-Erzählerin Rosa ist nach schwerer Krankheit gestorben. Die Tochter muss sich um Begräbnis und Wohnungsauflösung alleine kümmern, obwohl es noch eine Schwester gibt, die Rosa später besucht.

    Was ist es dann, das mich das Buch so negativ sehen lässt? Während Rosa sich nach dem Tod des einsamen unglücklichen Vaters um einige Formalitäten kümmert – die Mutter scheint in Thailand ums Leben gekommen zu sein - gehen ihr '1000 Gedanken' durch den Kopf und der Leser erfährt - verstreut in den Text, in ihrem Gedankenfluss - einiges über sie und ihre Familie, 'den kleinen, grotesken Familienkosmos, der psychologischer Studien würdig wäre' (14).

    Der Vater leidet möglicherweise an einem Kriegstrauma (Jom-Kippur-Krieg) und an der Tatsache, dass er als ausgebildeter Chemiker lediglich im Labor Arbeit findet; die Mutter hat zwar ihr Studium nach Schwierigkeiten doch noch beendet, sich dann aber der Erziehung der beiden Töchter gewidmet und ist damit überaus unzufrieden. Rosa beschreibt ihre Mutter als 'giftig, melancholisch' und 'in einer einer traurigen Gedankenwelt' lebend. Die ältere Schwester Nadja verlässt die Familie mit 18 Jahren, zwei Monate später geht auch die Mutter. Bis dahin haben sich die Eltern täglich gestritten und der Leser fragt sich, warum sie überhaupt geheiratet haben. Es sind Bösartigkeiten, die sie sich gegenseitig an den Kopf werfen, z.b. der Vater: Rosa habe 'von der Mutter die Dummheit geerbt' (60), die Mutter: Vater sei 'emotional verkrüppelt' (71). Aber auch die beiden Schwestern haben kein gutes Verhältnis zueinander und Rosa bricht den Kontakt mehrfach ab.

    Es ist sehr schwierig, im Wirrwarr dieser familiären Erinnerungen und Banalitäten nachzuvollziehen, warum Personen so und nicht anders handeln oder beschrieben werden. Für mich als Leser ergeben sich keine einleuchtenden Erklärungen. So ist überhaupt nicht klar, warum Rosa ihre Großmutter in Israel so negativ darstellt (Brüste wie Kürbisse, etc.) und vieles andere wird auch nicht geklärt. Es gibt inhaltliche Unstimmigkeiten und Klischeesätze und -vorstellungen: 'Vom Tod aus betrachtet, ist das Leben eine Aneinanderreihung letzter Male' (99) oder die reichen Senioren mit Alfa Romeos (139). Bei einigen Kapiteln ist die Funktion völlig unklar, z.B. eines über Trumpeldor oder das Ende.

    Fazit

    Wie man unschwer erkennen kann, hat mir das Buch überhaupt nicht zugesagt. Daran ist noch nicht mal der Gedankenstrom mit seinen Erinnerungsfetzen und Gedankensprüngen Schuld. Ich kann keine Aussage erkennen, nichts, was das Buch mir gegeben hätte, keine Anregungen zum Nachdenken, keine Sprache, die mir gefällt, einfach nichts, nur endlose Berichte von Streitereien und Banalitäten. Gelesen und schon wieder alles vergessen, ohne einen Eindruck hinterlassen zu haben außer Ärger und Widerwillen. Ein Satz hat mir gefallen und der passt zum Buch: 'Zsazsas Erinnerung bestand aus braunen, roten und weißen Steinchen, die man in neuen Formationen sortieren konnte, die aber letztlich nie einen Sinn ergaben.' (176)

    Für mich ergibt das ganze Buch keinen Sinn.

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  1. Nachwirkungen

    Kurzmeinung: Kein großer Roman - aber ein wichtiger.

    „Noch mal von vorne, aber bitte ganz anders“, so könnte Rosa denken, die Erzählerin dieses Romans von Dana von Suffrin. Sie kommt gerade aus dem Krankenhaus, ihr Vater ist vor einigen Stunden verstorben. In dessen Wohnung überkommen sie die Erinnerungen an ihre dysfunktionale Familie. Oder ist ihre Familie gar nicht dysfunktional gewesen, sondern einfach nur „normal unglücklich?“

    DER KOMEMNTAR UND DAS LESERLEBNIS:
    Um den Roman „Nochmal von vorne“ entweder zu entschlüsseln oder ihm einen Sinn zuzuschreiben, muss man zwischen den Zeilen lesen und ihn interpretieren. Macht man das nicht, bleibt er verschlossen und leider auch langweilig.
    Vordergründig erinnert sich Rosa wahllos in einem endlosen breiförmigen Bewusstseinsstrom an ihre unfrohe Kindheit. Es reiht sich Erinnerung an Erinnerung, beziehungsweise ihre Erinnerungen reihen sich nicht, sie purzeln durcheinander. Das allerbanalste Geschehen ist für Rosa erinnerungswürdig. Oder war es gar nicht so banal, letztendlich?
    Hintergründig ist die Familie Jeruscher nämlich durch die wie ein Nebel über der Familie hängende Depression des Vaters eine beschädigte Familie. Der Vater ist Jude, zweite Generation nach der Shoah, Mutter und Großvater wurden aus Rumänien vertrieben; haben unter dem dortigen Regime gelitten und der Großvater wurde gefoltert. Die Familie wanderte nach Israel aus. Der Vater Rosas, der gerade verstorbene Mordechai Jeruscher, kam zum Studium nach Deutschland und blieb dort hängen, heiratete eine Nichtjüdin, nämlich die lebensfrohe Bayerin Veronika, bekam 2 Töchter, eine davon ist die Erzählerin Rosa. Die Familie reist von München aus in größeren Abständen nach Israel, um die Großmutter und den Vaterbruder zu besuchen. So weit. So gut.

    Der unreflektierte Bewusstseinsstrom Rosas ist anstrengend, das soll nicht verhehlt werden. Die Einzelheiten, die sie erzählt, sind an sich unbedeutend, Ausflüge, gemeinsames Fernsehen, Abende mit der Familie, der Vater bringt sie zur Schule und ist peinlich, die Schwester ist unnahbar schon von Kind an. In einem ständigen larmoyanten Gedankenfluss gehen wichtige Informationen unter: Rosa arbeitet sich an dem Benehmen ihrer älteren Schwester ab, die sich der Familie frühzeitig entzog, und Rosa im Stich ließ, der Vater hat nie gelernt, Gefühle auszudrücken, daran scheitert die Ehe, obwohl Rosa die Schuld der Mutter gibt. Die Mutter argwöhnt, dass ihre eigenen Eltern NaziSympathisanten waren und hält ihre Ehe für eine Fehlentscheidung, sie ist eine unbeholfene Israelsympathisantin, kann sich aber mit niemandem adäquat austauschen über die Shoah, die sie nicht loslässt. Manchmal verhält sich die Mutter inadäquat. Da hat Rosa ganz recht, trotzdem ist sie noch die sympathischste in der Familie.
    Die Autorin macht es der Leserschaft mit ihrer quengeligen Protagonistin Rosa schwer, Sympathie für die Familie Jeruscher, für Rosa, für die Story selbst aufzubringen. Ganz willkürlich werden da und dort Unterkapitel eingeschoben, was im Zweiten Weltkrieg so passiert ist, Geschehnisse, die auf den ersten Blick gar nichts mit den Jeruschers zu tun haben, aber es ist immer ungerechtfertigtes Leid, das Juden zugefügt wurde. Nur dadurch wird es klar, dass wir es mit dem Trauma der Shoah zu tun haben. Ihren Nachwirkungen. Weder Rosa noch die Familie thematisieren, dass sie die dritte Generation der Überlebenden sind. Oder realisieren die Schatten der Shoah. Aber wir wissen es. Und die Autorin weiß es.

    Fazit: Die Auswirkungen der Shoah sind nicht zu unterschätzen. Sie wirken bis heute nach. Meistens unbewusst.
    Niemals vergessen, das ist unsere Aufgabe. Dass sich die Autorin in Andeutungen erschöpft und niemals ganz deutlich sagt, was Sache ist, ist ein guten Kniff. Mir hat er gefallen.

    Kategorie: anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Kiwi, 2024

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The Rabbit Hutch

Buchseite und Rezensionen zu 'The Rabbit Hutch' von Tess Gunty
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "The Rabbit Hutch"

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:338
EAN:9780861545803
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Rezensionen zu "The Rabbit Hutch"

  1. Leben im Wohnsilo

    Kurzmeinung: Es hat gedauert, bis ich uneingeschränkten Zugang fand.

    Die nicht allzu große, aber auch nicht allzu kleine Stadt Vacca Vale, im Chastity Valley, Indiana gelegen, ist heruntergekommen. Die meisten Stadtviertel sind trostlos, manche noch trostloser. In einem dieser abgehängten Viertel steht ein Wohnklotz, heruntergekommen auch dieser, Wohnkomfort gering, Mieten günstig und/oder vom Amt bezahlt. Man nennt ihn im Volksmund den Kaninchenstall, weil er vor Leben wimmelt. Ein Ausdruck, der viel zu positiv besetzt ist, also noch einmal anders, weil dort, wie in einem Kaninchenstall, die Bewohner auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Die Wände sind dünn, die Isolierung marode, alles ist marode. Hier wohnen die absolut Abgehängten, die Asozialen und welche, die noch nicht asozial sind, es aber voraussichtlich bald werden, die Verzweifelten, die zu kurz Gekommenen, diejenigen, die von der Gesellschaft geächtet werden.
    Das einzig hübsche, was Vacca Vale zu bieten hat, ist ein großer, wild wuchernder Grüngürtel, eine Mischung aus verwildertem Park und Wald. Dieser Grüngürtel ist einer der wenigen Freuden die Tiffany Joan Wilkes genießen kann. Sie ist eine siebzehnjährige Waise, die in einer Wohngruppe im Kaninchenstall lebt. Tiffany ist eine Naturliebhaberin, Vegetarierin und Tierfreundin. Sie hat Ideale, aber keine Zukunft. Jedenfalls sieht sie das so. Weil Vacca Vale keine Zukunft hat. Denn die Stadträte haben zur wirtschaftlichen Rettung Vacca Vales, zur sogenannte Revitalisierung, einen teuflischen Plan aufgelegt: Die Gentrifizierung des Kaninchenstalls und die dortige Ansiedlung von Industrie, wofür der breite Grünstreifen geopfert werden soll. Tiffany ist deprimiert, die Anwohner sollen verschwinden und Tiere und Pflanzen sollen zerstört werden. Als ob das nicht genug wäre an desolaten Lebensumständen, erliegt Tiffany der toxischen Beziehung zu einem älteren Mann.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Das LeseErlebnis kann ich nur als „reichlich strange“ bezeichnen. Die Bewohner des Romans leben nicht alle im Kaninchenstall, sie sind aber alle reichlich durchgedreht. Keiner tickt so richtig rund. Im Zentrum aber steht Tiffany, die blitzgescheit, jedoch emotional nicht stabil, zwar durchschaut, was mit ihr passiert, und sogar verbalisiert, dass ihr Verführer sie physisch wie psychisch ausnutzt, aber trotzdem nichts dagegen machen kann. Tiffany muss man lieb gewinnen, die Autorin führt alle Handlungsstränge am Ende zusammen, aber dennoch habe ich den Roman als ein wenig zerfasert erlebt. Hier ein Stückchen Puzzle und dort ein Puzzleteilchen und diese abgefahrenen Typen immer mittendrin, die alle irgendwelchen Obsessionen frönen, das ist, salopp gesagt, einfach nicht mein Ding gewesen, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Lektüre im englischen Original war mühsam; die Buchstaben in meiner Ausgabe so klein wie Mäuseköttel. Beides führte nicht zu einem ungeschmälerten Lesegenuß; aber man lebte sich ein, so wie sich die Bewohner des Kaninchenstalls einlebten: wohl oder übel.

    Fazit: Die Ausführung des Romans ist im Prinzip gut gelungen, die ersten 100 Seiten empfinde ich jedoch als holprig, es dauert, bis ich mich zurechtfinde, die Ideen sind frisch. Der Roman hat einen Preis gewonnen, den National Book Award, 2022. Was will man mehr? Man sollte freilich etwas übrig haben für ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Gedanken und Hobbies, zum Beispiel Tiere quälen oder Hildegard von Bingen oder Verführung Minderjähriger. Ok, das ist zynisch. Den vierten Stern rücke ich etwas widerwillig heraus.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman mit hohem Unterhaltungswert
    Verlag: Oneworld Publications, 2023 /gelesen im englischen Original
    Kiepenheuer & Witsch, 2023
    National Book Award, Winner, 2022

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