Zitronen

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Rezensionen zu "Zitronen"

  1. Kindesmissbrauch der subtilen Art

    Die tragische, schockierende Lebensgeschichte des Arnold Drach – in poetischen Bildern sprachgewaltig erzählt

    Ich bin schockiert. Zuerst dachte ich: Was soll das, zum Buch dazu zu schreiben: 'Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom'? Was soll das sein? Nachdem ich mich informiert habe, weiß ich, dass es das gibt und finde es unglaublich und erschütternd. Es ist eine subtile Art der Kindesmisshandlung: Krankheiten hervorzurufen, z.B. um sich als besonders fürsorgliche Mutter zu gebärden.

    Genau das ist für die Lebensgeschichte des kleinen August Drach prägend. Zuerst war er den Grausamkeiten des prügelnden Vaters ausgesetzt und als dieser plötzlich spurlos verschwand, 'übernahm' die Mutter, allerdings auf ganz andere Art und Weise. Die Autorin hat es sehr treffend so ausgedrückt: 'Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme'.

    August Drach ist schon ein junger Mann - 'mit unsichtbaren Beschädigungen' - als er durch einen Zufall endlich von seiner Mutter loskommt. Er findet in der Stadt sogar Arbeit und eine große Liebe, aber leider kommt das alles für ihn zu spät. Der langjährige Missbrauch hat zu irreparablen Schäden geführt. Am Ende kehrt er noch einmal in sein Heimatdorf zurück, wo den Leser ein überraschendes Ende erwartet. Oder vielleicht doch nicht?

    Natürlich ist das ein deprimierendes, ein trauriges Buch, aber die Autorin hat es auf so besondere Art und Weise geschrieben, dass ich begeistert bin: über ihre kreativ-innovative, bildhafte Sprache, über die Gedanken, die anregend wirken und über die kleinen Charakterstudien, die sie einfügt und die einen Blick auf unsere kranke Gesellschaft werfen: Menschen, die weggucken, Menschen mit Rachegedanken, Menschen, die Mitschuld auf sich laden.

    Man mag einwänden, dass die Lebensgeschichten ziemlich gerafft erzählt werden oder dass es manchmal zu viele Metaphern, Symbole und Bilder gibt, aber mir hat gerade die ungewöhnlich starke Sprache gefallen und ich gebe eine klare Leseempfehlung aus.

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  1. Entfremdung

    Kurzmeinung: Valerie Fritsch setzt sich mit diesem Roman ein literarisches Denkmal.

    Valerie Fritsch beschreibt in einem wirklich schmalen Büchlein einerseits die Kindheit und das junge Erwachsensein des Knaben August Drach, andererseits aber liefert sie in ihrem Roman auch gestochen scharfe Kurzcharakterisierungen und kleine Gesellschaftskritiken und zeichnet sich durch eine leuchtende Sprache aus. Den Süden beschreibt sie so: „Ein Licht herrschte als hätte man mit einem Mal andere Augen“.
    Die Lebensgeschichte Augusts ist schockierend, es ist eine Geschichte von Kindesmisshandlung, von Gewalt, sowie Vater wie Mutter vergehen sich an dem Kind und auch ein späterer erwachsener Freund kommt ihm nur zag- und mangelhaft zur Hilfe. „Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme“, vom Regen in die Traufe. Kann man es besser sagen? Und der Leser hält die Luft an.
    Valerie Fritschs blumig-fulminante Sprache steht in krassem Widerspruch zum äußeren Geschehen und gerade das macht den Roman aus; widersprüchlich wie das Leben selber ist der Roman, denn im Schönen ist auch das Schreckliche zu Hause und umgekehrt. Ich mag es, wie sie Substantive personalisiert, „die verlegene Freude“, „die betrunkene Nacht“ – ja, eigentlich ist dies falsch, aber man weiß sofort, was damit gemeint ist. Und ich mag es, wenn ein Autor etwas wagt. Manchmal ist es vielleicht ein wenig zu viel, zum Beispiel sind „blühende Satelittenschüsseln“ für mich zu viel. Aber auch hier stellte das Bild einen Gegensatz dar.
    Es passieren Valerie Fritsch auch Formulierungen, unter denen ich mir nichts vorstellen kann, aber das gehört zum experimentellen Schreiben dazu. Die Österreicherin ist auf alle Fälle keine konservative Erzählerin, aber eine charmante.
    August erlebt einiges, als er sein Dorf endlich hinter sich lässt und er schlussfolgert schließlich: „Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen, wenn man die Welt für eine schöne halten wollte.“

    Warum heißt der Roman „Zitronen“ und kommen diese leuchtend gelben Früchte immer wieder vor? Sie sind Symbole des Gegensatzes, leuchtend schön, prall und voller Leben und in ihrem unmittelbaren Gefolge das Schreckliche und die Auslöschung gesunden Empfindens. Es fällt einem auch sofort das Sprichwort ein "Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus". Wenn das mal so einfach wäre!

    Der Roman ist in seinem depressiven Grundton gesellschaftskritisch in sich. Die wegsehenden Nachbarn, die Folgen der Misshandlungen, die Autorin beschreibt es mehr so nebenbei. So nebenbei wie diese Dinge in der Gesellschaft ja auch geschehen. Auch der Mob findet Eingang in den Roman, die Reaktion der Menge. Die Autorin beschreibt eben nicht nur Augusts Leiden, wie es manche Rezensentinnen bemängeln werden, die Autorin verliere den Fokus, nein, ihr Fokus ist die Gesellschaft. Und da ist August nur ein Teil davon.

    Letztendlich geht es um Entfremdung. Entfremdung vom Leben. Valerie Fritsch erweist sich mit „Zitronen“ als waschechte Existenzialistin als eine moderne Autorin. Vater und Mutter sind sich selbst entfremdet, „Sie (die Mutter) lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablaufs“, auch der Vater ist sich fremd. Und August, eigentlich ein ganz normales, aufgewecktes Kind wird ein Erwachsener, der sich selbst und dem Leben ohnmächtig und hilflos gegenübersteht, unfähig zur Eigeninitiative, ein ratloser Reagierender. Seine Erziehung wird sich rächen, das Muster sich wiederholen.

    Fazit: Dieser Roman hat alle meine Erwartungen übertroffen. Es ist in gewisser Weise ein experimenteller, existentialistischer Roman. Ein echter Deutscher Buchpreisanwärter und auf seine Weise ein kleines Meisterwerk.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Suhrkamp Verlag 2024

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Der Lärm des Lebens

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Der ehrliche Finder: Roman

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Rezensionen zu "Der ehrliche Finder: Roman"

  1. Freundschaft und vieles mehr

    Wie entsteht eine Freundschaft? Üblicherweise durch Gemeinsamkeiten! Und die haben der 9jährige Jimmy und der 11jährige Tristan im (fiktiven) Bovenmeer, Belgien – beide machen eine schwere Zeit durch. Deshalb setzte die Lehrerin auch beide vor gut einem Jahr zusammen, als Tristan neu in der Klasse dazukommt.
    Jimmys Vater hatte einen Monat vorher die Familie verlassen, mit ‚Dreck am Stecken‘, und er ruft auch nie an. Tristan hat eine Flucht aus dem Nordwesten des Kosovo hinter sich, mit viel Strapazen und dramatischen Szenen.

    Der große Unterschied bei den beiden: Tristan hat 7 Geschwister (das jüngste noch ein Säugling) – der starke Verbund der Familie ist intensiv zu spüren, am deutlichsten bei der Übernachtung bei ihnen! Jimmy ist Einzelkind und seine Mutter mit sich selbst beschäftigt. Er ist dadurch auch zum Eigenbrötler geworden und geht auf im Sammeln der Flippos (kleine bunte Plastikscheiben mit diversen Themen bedruckt, und in Chipstüten versteckt).

    Wir lesen, wie Jimmy sich in dieser Freundschaft engagiert, aber auch wie unterschiedlich die Dorfgemeinschaft auf die geflüchtete Kosovo-Familie reagiert. Als diese den Ausweisungsbescheid bekommt, hecken Tristan und seine 12jährige Schwester Jetmira einen Plan aus, in dem Jimmy eine wichtige Rolle spielt. Sogar eine Prüfung muss er dafür vor beiden ablegen.

    Von diesem Zeitpunkt konnte ich das Buch überhaupt nicht mehr aus der Hand legen, so spannend war es! Das Ende hat mich sehr aufgewühlt und es wird mich noch eine ganze Weile beschäftigen (noch dazu, weil dieser Roman von einer wahren Geschichte inspiriert wurde). Ich möchte dieses kurze, aber inhaltsschwere Werk – von Helga van Beuningen übersetzt - am liebsten allen ans Herz drücken. Ich kann es mir auch sehr gut als Schullektüre vorstellen, unsere Enkelkinder bekommen es auf jeden Fall bei nächster Gelegenheit als Geschenk. Wenn die Möglichkeit bestünde, würde ich auch gerne mehr als die möglichen 5 Rezensions-Sterne vergeben!

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  1. 5
    02. Apr 2024 

    Freundschaft vor dem Hintergrund großer Probleme

    Lize Spit „ Der ehrliche Finder“ ( 2023/2024)

    Lize Spit ist eine flämische Autorin, die mit ihren ersten beiden Romanen nicht nur in ihrer Heimat sehr erfolgreich war. Beide sind sehr umfangreich und düster. Ihr neuester Roman fällt aus der Reihe, ist er doch im Gegensatz sehr schmal und sehr warmherzig. Der geringe Umfang liegt daran, dass „ Der ehrliche Finder“ eine Auftragsarbeit war. Lize Spit sollte das Buch zur alljährlichen Bücherwoche 2023 schreiben. Das sog.„ Boekenweekgeschenk“ ( Bücherwochengeschenk) wird während dieser Woche jedes Jahr im März von niederländischen Buchhändlern an ihre Kunden verschenkt. Meist handelt es sich dabei um eine Novelle.
    Und diese Gattungsbezeichnung passt hier, auch wenn der Verlag dem Buch das Etikett „ Roman“ gegeben hat.
    Die Geschichte spielt in den 1990er Jahren in der fiktiven Ortschaft Bovenmeer in Belgien. Hier wohnt der neunjährige Jimmy, ein Einzelgänger und Außenseiter, allein mit seiner Mutter. Seine Familie hat einen schweren Stand im Dorf, denn der Vater, ein Steuerberater, hat einige Menschen hier mit dubiosen Geschäften um ihr Geld gebracht. Jimmy ist sensibel und klug, ein eifriger Sammler und Sachensucher. Sein ganzer Stolz ist seine Flippo-Sammlung. Flippos sind kleine Scheiben mit Sammelbildern, die in Chipstüten zu finden sind.
    Kurz nachdem nun sein Vater verschwunden ist, tritt Tristan Ibrahimi in Jimmys Leben. Der Elfjährige ist mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen und die Familie hat hier nun eine Unterkunft gefunden. Jimmy soll sich auf Wunsch der Lehrerin um den fremden Jungen kümmern; eine Aufgabe, die er gerne erfüllt. Endlich ist er nicht mehr allein. Er hilft Tristan nicht nur beim Erlernen der Sprache und den Hausaufgaben, sondern die beiden werden richtige Freunde. Als größten Freundschaftsbeweis legt Jimmy sogar ein eigenes Flippo-Sammelalbum für Tristan an. Das will er ihm feierlich überreichen, als er zum Übernachten bei Tristan eingeladen ist. Aber dann drängt sich ein anderes Ereignis in den Vordergrund. Die Ibrahimis sollen abgeschoben werden. Um das zu verhindern, schmieden Tristan und seine zwölfjährige Schwester Jetmira einen gewagten Plan, in dem Jimmy eine nicht unerhebliche, aber gefährliche Rolle zukommt. Das ist eine Herausforderung für ihn, doch um der Freundschaft willen bekämpft er seine inneren Zweifel und Ängste.
    Sehr einfühlsam und konsequent aus der Perspektive des neunjährigen Jimmy beschreibt die Autorin die Geschehnisse. Die Einsamkeit des Jungen ist deutlich spürbar. Auch, wie sehr ihn die Gemeinschaft dieser Großfamilie anzieht. Hier erlebt er einen Zusammenhalt und eine Wärme, wie er sie nicht kennt.
    Dafür bringt Jimmy viel Verständnis auf, wenn sein älterer Freund von „ inneren Erdbeben“ erschüttert wird. Wenn Tristan plötzlich Angst bekommt vor lauten Geräuschen, vor Uniformen, vor dem Meer, dann beruhigt Jimmy ihn, ohne nachzufragen. Schließlich weiß er, dass die Familie Schlimmes erlebt hat auf ihrer langen Flucht. Die Lehrerin hat, sobald Tristan sich verständlich machen konnte, der ganzen Klasse den Fluchtweg auf einer Landkarte aufgezeigt. „ Kosovo lag in Luftlinie ungefähr zweitausend Kilometer von Belgien entfernt, aber sie waren keine Vögel, sie hatten Grenzposten passieren müssen, zweimal kehrte der Zeigestock von Italien auf dem Landweg nach Albanien zurück, zweimal waren sie nach der lebensgefährlichen Überquerung des Meeres in einen Bus nach Albanien gesetzt worden. Beim dritten Mal hatten sie es geschafft, obwohl sie einen halben Kilometer vor der Küste aus dem Boot gestoßen worden waren. Sie waren auch keine Fische, ein Kind der Familie, mit der sie das kleine Boot teilten, hatte sich nicht bis ans Ufer retten können.“
    Die Familie aus dem Kosovo ist im Dorf freundlich aufgenommen worden. Freigebig wurden alle zum „ Ausmustern bestimmten Sachen -Matratzen, Elektrogeräte, Bettwäsche, Spielzeug, Bücher, Instrumente, Trampoline, Babysachen, Werkzeuge - lieber den Ibrahimis“ geschenkt, statt beim Recyclinghof abgeliefert. Die Wohnung dort ist ein Abenteuerspielplatz für die Kinder.
    Der Roman beschreibt eine Freundschaft zwischen Kindern vor dem Hintergrund großer Probleme. Dabei schafft es die Autorin, nicht in Klischees zu verfallen oder ins Sentimentale abzurutschen. Was Flucht und Integration bedeutet, wird an konkreten Figuren nachvollziehbar dargestellt.
    Eine packende und bewegende Lektüre, die auch für ältere Kinder und Jugendliche geeignet ist, ja, sich als aktuelle Schullektüre anbietet.
    Wie es im Nachwort heißt, wurde die Autorin von einer wahren Geschichte inspiriert. Eine zehnköpfige Familie aus dem Kosovo, die nach ihrer Flucht in einem belgischen Dorf unterkam, sollte wieder ausgewiesen werden. Doch nach massivem Protest des Dorfes erhielten sie Asyl.

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  1. Wer anderen eine Grube gräbt …

    Was ich zunächst nicht wusste: Dieses schmale Büchlein von Lize Spit wurde in den Niederlanden in der boekenweek (Buchwoche) als Buchgeschenk zu einem gekauften Buch dazu gegeben. De boekenweek dauert neun Tage und findet jedes Jahr im März statt. Beim Kauf von mindestens 15 Euro an niederländischsprachiger Lektüre erhält man also ein speziell für diese boekenweek geschriebenes Buch. Diese Ehre, dieses Buchgeschenk schreiben zu dürfen, wurde also in diesem Jahr Lize Spit zuteil.

    Beim Blauen Sofa in der Bertelsmann Repräsentanz in Berlin, Anfang März 2024, durfte ich nun diese bezaubernde und charmante Autorin persönlich kennenlernen und sie hat mir dieses Buch signiert. Mit einer ganz speziellen Widmung, die ich übersetzen muss. Ich verstehe das so, dass ich den Mansch vom Papri-Club unbedingt probieren soll. Und manchmal auch „Ja“ zu Dingen sagen soll, wo ich eigentlich „Nein“ sagen würde. Mal sehen …

    Im „ehrlichen Finder“ geht es um die Freundschaft zweier Jungen und auch um das (schändliche) Ausnutzen des anderen unter der Vorspiegelung der Freundschaft. Und es zeigt sich auch, dass bei verschiedenen Nationalitäten eben unterschiedliche Werte zählen. Der kluge und einsame Jimmy kümmert sich aufopferungsvoll um den Migranten Tristan, indem er ihm nicht nur die Sprache beizubringen versucht, sondern auch die üblichen Verhaltensweisen. Jimmy gefällt auch die riesengroße Familie von Tristan. Denn er selbst hat keine Geschwister und sein Vater verschwand spurlos, nachdem er das halbe Dorf finanziell betrogen hatte. Kein guter Start für den Sohn in der Schule.

    Was nun weiterhin geschieht, kann hier nicht verraten werden, nur so viel: Jimmys Gaben weiß man nicht zu schätzen und was man von ihm verlangt, ist viel, viel zu viel.

    Lize Spit hat es verstanden, den wenigen Seiten Leben einzuhauchen und eine Geschichte aufzubauen, die es in sich hat. Und ja, manchmal braucht es viel Mut, um ein Feigling zu sein. (Frei zitiert von S. 109.) Warum das Buch aber diesen Titel trägt, das hat sich mir leider nicht erschlossen.

    Das Cover bezieht sich auf Jimmys Flipposammlung. S. 32: „Von der Time-Serie und den Pop-up-Monstern hatte er noch am wenigsten. Diese beiden, die aus insgesamt lediglich vierzig Stück bestanden, erwischte man am schwersten.“ Deshalb also sind vierzig Kreise auf dem Cover. Und die Flippos findet man in Kartoffelchips-Tüten und natürlich soll damit der Verkauf der Ware angekurbelt werden. Gab es zuvor offensichtlich schon in Korea, Griechenland, England etc. aber in Deutschland (leider) nicht. Aus den Chips kann man einen wunderbaren Mansch herstellen, den Jimmy und Tristan im Geheimen genießen. In ihrem Papri-Club.

    Fazit: Ich habe alle drei Bücher dieser fantastischen jungen Autorin gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. Ihre Themen sind sehr unterschiedlich, nichts ist aufgewärmt und sie weiß genau, wovon sie schreibt und fühlt sich extrem in ihre Figuren ein. ****

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  1. Aktuelle Freundschaftsgeschichte mit Tiefgang

    Jimmy geht in die dritte Klasse und ist ein einsamer, fantasiebegabter Junge. Seine Eltern haben sich gerade erst scheiden lassen. Der Vater ist auf und davon, die Mutter nimmt sich wenig Zeit für ihren Sohn. Jimmy hat sich eine eigene innere Welt geschaffen. Er sammelt mit leidenschaftlicher Hingabe Flippo Sammelbilder aus Chipstüten, imaginiert eigene Heldengeschichten, er ist überdurchschnittlich klug und dabei leider ein Außenseiter. Letzteres ändert sich, als Tristan Ibrahimi in seine Klasse kommt. Mit elf Jahren ist Tristan zwar einiges älter, doch hat er mit seiner Familie eine tragische Flucht aus dem Kosovo hinter sich und soll nun erst einmal zur Ruhe kommen sowie die Sprache erlernen. Zu diesem Zweck wird ihm Jimmy an die Seite gestellt, der sich dieser Aufgabe auch engagiert und ideenreich widmet. Die beiden ungleichen Jungen werden dicke Freunde. Jimmy genießt Zusammenhalt und Gemeinschaft in Tristans großer Familie, in der jeder seine Aufgaben hat und gebraucht wird. Er freut sich riesig, als er zum ersten Mal zu einer Übernachtung eingeladen wird, die eine spannende Entwicklung nimmt.

    Die Figuren werden mit großer Unmittelbarkeit vorgestellt, überwiegend aus der Perspektive Jimmys. Schnell sympathisiert man mit dem ruhigen Jungen, der fast verzweifelt auf einen Anruf seines Vaters wartet. Man gönnt ihm den neuen Freund von Herzen, der seine innere Vereinsamung durchbricht. Doch auch Tristan hat seine Geheimnisse, an denen man nicht rühren darf. Er wurde stark traumatisiert, so dass ihn plötzlich auftretende Ängste lähmen können und sein Verhalten nicht immer nachvollziehbar machen. Man liest den kleinen Roman über weite Strecken wie ein spannendes Jugendbuch, bis die reale Erwachsenenwelt ins Geschehen einbricht. Familie Ibrahimi ist nämlich von Abschiebung bedroht.

    Ohne belehrende Botschaften konstruiert Lize Spit einen bewegenden Plot, der aus völlig ruhigen Fahrwassern dramatische Spannung entwickelt. Anonyme Flüchtlinge bekommen ein Gesicht und eine Identität, die Autorin zeigt deren Schicksal exemplarisch ohne Dramatisierung oder Beschönigung. Tristan möchte seine Chance nutzen, er möchte unbedingt in Belgien bleiben und ist dafür bereit, auch Risiken einzugehen.

    Am Ende des Romans muss man zweifellos nachdenken. Über Familie, Freundschaft, über Asylpolitik, Integration - vor allem aber über den Ausgang dieser Geschichte, die einiges an Interpretationsspielraum offenlässt. Ich kann mir das Buch wunderbar als Schullektüre vorstellen, die schon aufgrund ihrer Kürze und der gezeigten kindlichen Lebensrealität bestimmt gern gelesen wird. Gut und Böse verschwimmen bewusst, der Bezug zum Titel hat eine Doppeldeutigkeit. Helga von Beuningen hat den Roman hervorragend aus dem Niederländischen übersetzt.

    All Age Leseempfehlung!

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Effi Briest: der berühmte Klassiker

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Hallo, du Schöne

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Rezensionen zu "Hallo, du Schöne"

  1. 2
    05. Mär 2024 

    Leider nicht mein Fall

    Im Buch geht es um die Familie Padavano. Wir lernen sie kennen, als William Julia, die älteste der Padavano Schwestern, heiratet. Die Schwestern sind in ihrer Jugendzeit unzertrennbar, aber als Erwachsene folgt ein Schlag auf den anderen, wodurch sie sich immer weiter voneinander entfernen. Als dann ein besonders schlimmer Schicksalschlag sie trifft, muss sich die Familie Padavano endlich wieder zusammenraffen.

    Die Familienmitglieder haben in ihren Kapiteln unterschiedliche Stimmen, welche anfangs gut dargestellt werden. Ihre verschiedenen Perspektiven werden zu Beginn des Romans gut differenziert. Man bekommt einen guten Einblick in die komplizierten Familiendynamiken.
    Der Anfang hat mir gefallen. Es gab berührende Stellen und ich fand es spannend, wie die psychischen Probleme von William in Bezug zu toxischer Maskulinität dargestellt wurden.
    Dann kommen wir aber leider zu dem Punkt, der dafür gesorgt hat, dass ich den Rest des Buches mit den Augen rollen musste. Es fällt mir schwer, genauer darüber zu reden, weil es ein Spoiler wäre. Aber eine Frau verliebt sich in einen Mann, mit dem sie aus zwischenmenschlichen Gründen nicht zusammen sein sollte und im Buch wird das mehrmals mit Homosexualität verglichen, was ich unfassbar albern fand. Es wird immer wieder gesagt, dass sie ja keine Wahl hatten und die Konsequenzen für diese, meiner Meinung nach, höchst fragwürdige Entscheidung sind alle so oberflächlich. Andere Personen sind kurz enttäuscht oder wütend, innerhalb kürzester Zeit finden sie es dann aber komplett nachvollziehbar. Romantische Liebe wird so seltsamerweise ausdrücklich als besonders wichtig hervorgehoben in einem Roman über Familienbande, was ich irritierend fand. Ich habe natürlich kein Wissen zum persönlichen Leben der Autorin, aber es fühlt sich an, wie eine Rechtfertigung ihrerseits.
    Abseits dessen werden die Charaktere auch irgendwann im Verlauf des Buches sehr verwaschen, weswegen ihre anfangs starken, individuellen Stimmen immer weniger klar sind.
    Das Buch fühlt sich an, als hätte es zu wenig Inhalt für die Länge, die es hat.

    Das Buch hat mir anfangs gut gefallen, weswegen es enttäuschend war, wie ungern ich den Rest gelesen habe. Andere Personen können möglicherweise über den Punkt hinwegsehen, der mich gestört hat, aber mich hat die Geschichte letztendlich nur noch irritiert.

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Saturday Night and Sunday Morning

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Wir, die Familie Caserta: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Wir, die Familie Caserta: Roman' von Aurora Venturini

Inhaltsangabe zu "Wir, die Familie Caserta: Roman"

Chela ist eine Vagabundin in der eigenen Familie. Als Kind erfindet sie sich eine magische Welt, bevölkert von Katzen und Eidechsen, als Jugendliche rettet sie die Lektüre von Rilke, Gide, Wilde, Rimbaud vor den Erwachsenen. Sie ist hochbegabt und nicht zu bändigen. Die Klosterschule erweist sich als völlig falsche Entscheidung. Empört reißt Chela aus. Ihr Weg als Künstlerin beginnt, er führt sie nach Chile, Paris, Rom, Sizilien und auf die Osterinsel. Auf der Flucht vor einer Familie von Monstern, die Schildkröte Bertha in der Handtasche stets mit dabei. Eine rasante und poetische Prosa, die alle literarischen Konventionen ins Wackeln bringt, ihresgleichen sucht und die Autorin zu einem internationalen Phänomen machte.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
EAN:9783423283601
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Der Stich der Biene

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Stich der Biene' von Paul Murray
3.75
3.8 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Stich der Biene"

Von der New York Times und der Washington Post zu einem der 10 besten Bücher 2023 gekürt, für The New Yorker, TIME, New York Public Library und BBC eines der besten Bücher des Jahres 2023 und Gewinner des 2023 An Post Irish Book Award als Roman des Jahres – Familie Barnes steckt in Schwierigkeiten. Dickie Barnes’ lukratives Autogeschäft läuft nicht mehr. Aber anstatt sich dem Problem zu stellen, beginnt er in den Wäldern einen Bunker zu bauen. Seiner Frau Imelda, die ihren Schmuck auf eBay verkauft, erscheinen die Avancen von Big Mike, dem reichen Rinderzüchter, immer attraktiver. Die achtzehnjährige Cass, die immer die Klassenbeste war, reagiert auf den Niedergang, indem sie beschließt sich bis zu ihrem Abschluss jeden Tag zu betrinken, während der zwölfjährige PJ einen Plan schmiedet, um von zu Hause abzuhauen. Wenn das Leben und die Welt auseinanderfallen, stellen sich die großen Fragen: Wann und warum begann der Untergang? Was hätte man tun können und wie weit müsste man zurückgehen, wenn man die Geschichte ändern könnte? Bis zu dem Tag als Dickie Barnes zehnjährig zitternd vor seinem Vater stand und lernte, wie man ein richtiger Mann wird? Bis zu dem Autounfall zwölf Monate vor Cass’ Geburt? Oder bis zu dem verheerenden Stich der Biene, der Imeldas Hochzeitstag ruinierte?

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:700
Verlag: Kunstmann, A
EAN:9783956145810
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Rezensionen zu "Der Stich der Biene"

  1. Familie in Krisenzeiten

    Alles dreht sich um die Familie Barnes die, ihr vermutet es bereits, in Irland lebt. Zu ihr zählen der Vater Dickie, seine Frau und Mutter Imelda, die fast volljährige Cass und ihr Bruder PJ, der zwölf Jahre alt ist.
    Der Familie geht es grundsätzlich recht gut. Sie leben in einem Haus und der gut florierende Autohandel des Vaters ernährt die vierköpfige Familie ausgezeichnet. Doch dann kommt die Wirtschaftskrise und die hat schnell, nicht nur das ganze Land im Griff, sondern wirkt sich auch auf das Leben der Familie Barnes ungut aus.

    An diesem Punkt begleiten wir die Kleinfamilie. Wir sind dabei wenn die Zahlen des Autogeschäftes immer weiter in den Keller gehen, der Familie das Geld knapp wird, sich Vater und Mutter deshalb immer mehr streiten, Cass das örtliche Städtchen sowie ihre ganze Umgebung zu spießig werden und sich PJ einfach nur wünscht, dass alles wieder so wird wie früher, denn da war sein Vater nämlich immer gut gelaunt.
    Paul Murray skizziert jede Figur für sich, sehr genau. Ihr Erleben, ihre Befindlichkeit und den Kontext in dem sie sich bewegt werden charakteristisch sowie glaubhaft dargestellt. Jede/r in der Familie geht auf ihre/ seine eigene Art und Weise mit der existentiellen Krise um. Nicht zu Letzt wegen seiner bisherigen Erfahrungen und Erlebnisse. Ja, auch Eltern haben eine Vergangenheit. Durch die charakteristischen Eigenheiten der handelnden Person, wird man sie mal mehr oder mal weniger sympathisch finden. Eines bleibt aber immer am Ende immer gleich. Man muss sie einfach ins Herz schließen.
    Neben dem Ernst der Lage sowohl in privater als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, vergisst der Autor jedoch nicht, sein Publikum zwischendurch zum Lachen oder zumindest zum Schmunzeln zu bringen. Sei es durch die Eigenheiten seiner Protagonisten (Imelda redet ohne Punkt und Komma) oder auf Grund der Situationskomik.
    Obwohl so viele komplexe Themen im Roman behandelt werden, wirkt die Geschichte zu keiner Zeit überladen. Für Paul Murray ist es ein leichtes auf amüsantes Art und Weise Sachverhalte bzw. Situationen auf den Punkt zu beschreiben.

    Fazit:
    Ein gelungenes Meisterwerk.

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  1. 3
    14. Mär 2024 

    Der Zerfall einer Familie

    Die Geschichte spielt in Irland und im Mittelpunkt steht die Familie Barnes und deren Niedergang. Lange Jahre wohlhabend steckt sie nun durch eine Wirtschaftskrise in finanziellen Schwierigkeiten. Vater Dickie zieht sich mehr und mehr zurück und geht lieber in den Wald um mit dem Sonderling Viktor einen Bunker zu bauen. Mutter Imelda, gewohnt immer alles zu kaufen was das Herz begehrt, hadert schwer mit dem Schicksal. Die Tochter Cass steht kurz vor ihren Abschlussprüfungen. Wenig selbstbewusst definiert sie sich hauptsächlich in ihrer Freundschaft mit dem gleichaltrigen In-Girl Elaine und der 12jährige PJ wünscht sich nur, dass alles wieder so wird wie es einmal war.
    Die Kapitel erzählen abwechselnd aus der Sicht eines der Familienmitglieder. Die Geschichte ist fortlaufend, aber es gibt immer wieder Flashbacks und so wird schnell klar, dass der Geist von Dickies Bruder Frank, der vor vielen Jahren bei einem Autounfall starb, über der Familie hängt.
    Nach ungefähr 2/3 Drittel des Buches wechselt die Erzählperspektive. Die Geschichte wird weitererzählt, aber die Personen werden nun mit du angesprochen, was ich zu Beginn ziemlich verwirrend fand und mir auch nicht sonderlich gefallen hat. Zum Schluss spitzt sich alles zu einem großen Showdown zusammen und die Stimmen wechseln sich immer atemloser ab.

    Ich habe die Geschichte ganz gern gelesen, auch wenn ich sie manchmal als etwas zäh empfand. Die Kindheitserinnerungen der Eltern waren sehr ausführlich erzählt und auch ziemlich deprimierend. Von dem versprochenen Witz im Klappentext habe ich leider nicht viel gefunden. Das Buch wurde in vielen Publikationen zum Buch des Jahres 2023 gekürt, was sicher auch mit der großartigen Formulierkunst des Autors zusammenhängt. Immer wieder konnte ich mich an wunderbaren Metaphern erfreuen, die mich motivierten weiterzulesen.

    „Bei Mannschaftsspielen blieb sie am Rand, machte ein mürrisches Gesicht, zupfte an ihren Haaren herum und ließ sich widerwillig mit der allgemeinen Bewegung des Spiels hin und her treiben – wie ein anmutiger Farnwedel auf dem Grund eines unruhigen Ozeans.“
    „..., aber der Wald war im grauen Novemberlicht noch schöner als vorher. Die weißen Blätter auf dem Boden glitzerten wie von einem Kleid abgefallene Pailletten. Die Vögel zwitscherten sich überhastete Botschaften zu, als kämen sie zu spät zu einem Termin.“
    „Die Welt ist ein Garten voller Blumen, die dir ihre Gesichter zuwenden.“
    „Die Nacht ist angebrochen, von Smartphone-Lichtkegeln auf Augenhöhe angestrahlte Gesichter hüpfen über das glitschige, nieselnasse Kopfsteinpflaster des Front Square. Als du die Augen halb schließt, sehen sie aus wie Irrlichter – eine Gemeinschaft aus Irrlichtern, die sich gegenseitig auf die x-te Ebene der Irrungen und Wirrungen führen.“
    Insgesamt gesehen war es eine durchaus interessante Familiengeschichte, die allerdings einige Längen aufwies. Das etwas abgedrehte Ende war schon sehr speziell und ist sicherlich nicht jedermann Sache. Mir hat es gefallen und es hat meine Bewertung des Buches tatsächlich wieder um eine halben Punkt nach oben gerückt.

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  1. Irisch halt! Was willste machen!

    Kurzmeinung: Zu lang!

    Irische Literatur muss ja depressiv sein. Marcel Reich-Ranicki sagte bekanntlich von ihr „Ich habe einen Widerwillen gegen die irische Literatur, ich kann das nicht ertragen, immer die Slums und immer wird gesoffen und ein bisschen gekotzt zwischendurch. Elend und muffiger Katholizismus.“
    Ganz so schlimm treibt es Paul Murray nicht, dazu ist der Autor zu sehr in der Moderne verhaftet, geboren 1975. Obwohl seine Hauptfigur Dick Barnes durchaus eine depressive Veranlagung hat. Um die Barnes geht es in dem Familienroman von Paul Murray, „Der Stich der Biene“, (The Bee Sting), ist shortlistet für den Booker Prize 2023.
    Dieser Roman ist in der deutschen Übersetzung 700 Seiten lang und ich möchte noch einmal Marcel Reich-Ranicki zitieren: „Seit Jahren wiederhole ich das und ich erkläre hiermit zum 95. Mal: Jeder Roman - bitte nicht Zauberberg oder Buddenbrooks! - der mehr als 500 Seiten umfasst, ist schlecht. Bis zum Gegenbeweis werde ich das wiederholen. Kommt ein Roman von mehr als 500 Seiten und er wird gut sein, bin ich bereit, vor laufender Kamera auf die Knie zu fallen. (14.1.1993)“.
    Nicht in Gänze, doch in Bezug auf „Der Stich der Biene“ pflichte ich bei. Kürzer wäre besser gewesen.
    Vier Beteiligten sieht Paul Murray tief in den Kopf. Dick Barnes, dem vermögenden Autorhändler, der eigentlich keiner sein wollte; seiner Frau Imelda, die eigentlich Dicks Bruder heiraten wollte; Cassandra, der Tochter, die um ihr Studium bangt – Stipendium oder kann Papa noch bezahlen? – PJ, zwölfjähriger Sohnemann, der die Orientierung verliert, als die Familie langsam, aber sicher auseinanderfällt, weil einerseits eine Flutkatastrophe, anderseits eine Veruntreuung und die Rezension der amerikanischen Wirtschaft das Autohaus in die Knie zwingt und die Familie den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin nicht verkraftet.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Bin ich am Anfang noch ganz angetan von den Einblicken in die Köpfe aller Beteiligten; werde ich nach und nach immer genervter von den Längen und der schlimmen Kindheit! Und noch mal schlimme Kindheit. Und Längen! Die Lebenslügen der Familie sind schwer nachzuvollziehen und kaum zu ertragen. Keiner ist in der Lage, zu dem zu stehen, was er fühlt, was er ist. Der Vater, Dick Barnes, ist zwar schon eine interessante Figur, weil er sich so schön in die Tasche lügt, aber mit seinen momentanen psychischen und physischen Ausfällen auch schwer zu verstehen und ich kann nicht viel mit ihm anfangen, die Tochter rückt nicht mit der Sprache heraus, dass sie sich mehr von ihrer besten Freundin Elaine erhofft als Freundschaft; ok. Aber müssen wir lang und breit in aller Ausführlichkeit in ihren Kleinmädchenphantasien verweilen, sie in jede Bar begleiten? Quer durch den Campus, in jede Begegnung, in jede Vorlesung? In jeden Exzess? In jede falsche Entscheidung? Auch Mutter kann eine schlimme Kindheit nicht richtig verwinden. Warum geht keiner in Therapie? Oder wenigstens zum Beichten? Wir sind doch im katholischen Irland! Überhaupt spielt schlimme Kindheit eine übergroße Rolle, viel Alkohol, viel Gewalt und immer muss das Gesicht gewahrt werden. Nach außen hui und innen pfui. Das wird auf die Dauer äußerst langweilig. Und hat Längen. Längen! Längen!
    Tatsächlich suhlen wir uns, wie Ranicki vorhergesagt hat, kapitellang im Kindheitselend, buchstäblich alle haben eine besch….., will sagen schlimme Kindheit gehabt, alle suhlen sich im Drogensumpf, Alkoholexzessen und ringen mit ihrer sexuellen Orientierung.
    In einem zweiten Erzählstrang kommen die Prepper zum Zug und es wird ganz und gar abgefahren, vom Bunkerbau über Tierquälerei bis zum abstrusen Schluss, der, falls ich es richtig verstanden habe, die ganze Familie auslöscht. Boah. Marcel, vielleicht sollten wir den Deckel über der irischen Literatur schließen. Experimentell ist der Roman zudem, den Bewusstseinsstrom Imeldas erleben wir Leser ohne Satzzeichen und die Schlussszenarien sind textlich wie ein Theaterstück aufgebaut.

    Was gibt es eigentlich Positives zu sagen? Ich weiß nicht so recht. Irgendwie hat mich der Roman doch bei der Stange gehalten, wahrscheinlich war es die Hoffnung, dass er sich auf 700 Seiten doch noch fängt - man will wissen, wie es endet. Und wenn man es weiß, ist man bereit, von irischer Literatur die Finger zu lassen. Wenn da nicht auch solche Romane wie Shuggie Bain von Douglas Stuart herauskommen würden (Achtung: viel Alkohol, Elend und Katholizismus) und man irgendwie doch fasziniert von der Demontage ist. Und kreative Einfälle kann man dem Autor auch nicht absprechen; irgendwann tritt es zutage, was es wirklich mit dem Stich der Biene auf sich hat. Mein persönlicher Romanheld ist weiblich: Imelda. Ach ja, der Roman polarisiert. Dieses Moment könnte man als Plus verbuchen.
    Was ich noch gar nicht angemerkt habe und das ist gar nicht positiv, sind die vielen Vorträge darüber, wie wir unsere Umwelt kaputt machen. Das muss ja, heute. Klima. Klima. Klima. Sonst sind wir nicht modern. Handwerklich ist "Der Stich der Biene" dann doch zu geschickt, um unter 3 Sterne zu fallen.

    Fazit: Marcel- du fehlst uns! Hinten und vorne! Die Shortlistung kann ich nicht nachvollziehen, irische Literatur ist nichts für depressive Menschen; aber irgendwie hat sie dann doch was, was andere Literatur nicht hat.
    Sie sollten diesen Roman lesen! Machen Sie sich selber ein Bild.
    Dann schimpfen Sie mit oder loben ihn über den grünen Klee. Eine andere Wahl gibt es nicht.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman. Irischer Roman.
    Auf der Shortlist des Booker Prize 2023
    Verlag: Kunstmann, 2024

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  1. Von Einem, der auszog, Großes zu erschaffen

    Viel hat sich der Ire Paul Murray vorgenommen - außerordentlich viel. Mit dem „Stich der Biene“ schuf er ein gewaltiges Epos, einen wahren Bilderrausch auf 700 Seiten, das wenig auslässt, was die Welt im Innern zusammenhält und was den Menschen darin ausmacht. Es zeigt die Keimzelle des menschlichen Zusammenlebens, nämlich die Familie, in all ihren Ausprägungen. Deren Oberhaupt Dickie, der glücklos in nicht enden wollende Lebenskrisen schlittert, obwohl dem blitzgescheiten und fleißigen Spross der Familie Barnes eine glänzende, solide Zukunft bescheinigt wird. Doch das prosperierende Autohaus, das ihm sein Vater und Selfmade-Millionär noch zu Lebzeiten hinterlässt, steht unter keinem guten Stern. Mit der Banken- und Finanzkrise geht es plötzlich und stetig bergab. Ein Ereignis, das die unvermeidliche Katastrophe für die Familie Barnes nur beschleunigt. Imelda, Dickies Frau, hatte sich einst unsterblich in dessen Bruder Frank verliebt. Mit ihm, einer heldenhaften Lichtgestalt, wollte die Schönheit aus ihrem niederträchtigen Slum-Milieu emporsteigen und eine neue Zukunft bauen. Nach Franks tragischem Unfalltod kam es unerwartet anders und das Schicksal schanzte ihr Dickie zu, der aus Schuldgefühlen Franks Rolle einnimmt, ohne seine – völlig gegensätzliche – Bedürfnisse zu befriedigen. Mit ihm zeugt sie die Kinder Cass und PJ, deren Lebensabschnitt zu einer turbulenten Zeitreise wird – die einer Coming-of-Age-Teenagerin und eines experimentierfreudigen, träumerischen Jungen auf der Suche nach wilden Abenteuern. In diesem Mikrokosmos einer Kleinstadt in der Nähe Dublins hängt alles mit allem und jeder mit jedem zusammen, manchmal ostentativ, häufig aber auf subtile Weise.
    Murrays Einfallsreichtum scheint keine Grenzen zu kennen. Neben den diversen Handlungssträngen, die die Familiengeschichte umranken und um die es im Kern geht – um kriminelle Machenschaften, in die vor allem Dickie gerät, um die „Frauwerdung“ von Cass mit vielen Teenie-Romance-Anleihen, um die Flucht und die Ausflüchte der unglücklichen und am liebsten ausbrechenden desperate Housewife Imelda und um die infantilen Erlebnisse eines Jungen, der mit großen Augen auf die Geheimnisse der Erwachsenwelt starrt – sind es die unzähligen, häufig meisterhaft erzählten Episoden, die der gebürtige Dubliner scheinbar mühelos herbeifabuliert. Seine Experimentierfreude ist auf fast jeder Buchseite spürbar und nicht selten verlässt er die Romanwelt und betritt das Land der Groteske.
    Bis zur Beinah-Unlesbarkeit benutzt Murray auch alle möglichen Stilmittel, um den vielen Wendungen der Story – je nach dem – Auftrieb oder Dämpfer zu geben. Er strapaziert diese – und damit auch den/ die Leser:in – durch zahllose Metaphern, Übersteigerungen, Dopplungen, Auslassungen, Lautmalereien, Comic-Sprache, Slang, Fremdworten, Eingriffe in die Typographie, in die Zeichensetzung (Imeldas Passagen auf Dutzenden Seiten verzichten auf jegliche Satzzeichen) und irrwitzigen Perspektivwechseln. Neben auktorialer Erzählform und dem personalen Erzähler bedient er sich im letzten Viertel der zweiten Person Singular. Ein Experiment, das den/ die Leser:in zwangsläufig von den Geschehnissen distanziert, gleichzeitig aber auch eine Zwangsidentifizierung mit der/m jeweiligen Protagonistin/-en schafft. Wäre Murray ein Maler, dann hätten wir hier ein Werk, welches neben einer Kohlezeichnung, Malereien in Acryl, Öl und Tusche, eine Radierung und allerlei mehr Handwerk bis hin zu einer gegenständlichen Darstellung zeigen würde – und das alles auf bzw. mit einer einzigen Leinwand! Es wirkt mutig, aber auch ein wenig arrogant, als würde er ausrufen: Seht her (ecce!), das alles beherrsche ich!
    Ich finde diese Originalität sehr imposant, da das Gesamtkunstwerk mit allen Herausforderungen geglückt ist. Allerdings tauchen auch Abschnitte auf, die den Betrachter oder besser den/ die Leser:in so weit aus der Geschichte drängen, dass diese plötzlich nur noch Gegenstand ist und man von außen gezwungen wird zu überlegen, warum und auf welche Weise ein radikaler Kunstgriff in diesem Handwerk vollzogen wurde. Und das ist – sofern es nicht gerade ein Schreibratgeber handelt – für sämtliche Belletristik tödlich. Wäre die Lesbarkeit vom Autor und Verlag nicht absichtlich gestört worden und könnte der flüssige und bildhafte Lesefluss ungebremst in das Bewusstsein der Leserschaft strömen, dann dürften sich viel mehr an diesen ernsthaften Botschaften dieser spannenden, tragikomischen, aufregenden, bösen und schlicht unterhaltsamen Familien-Dramedy erfreuen. So bleiben viele verwundert oder einfach überfordert auf der Strecke. Hier wäre weniger mehr gewesen.
    Berauscht haben mich jedoch die vielen erstklassigen Episoden, die oft sehr spannend und so lebensnah geschildert sind, dass sie einem Vergleich mit John Irving, Philip Roth oder Jonathan Frantzen standhalten können. Der Plot erinnerte mich an die tiefgründigen Familiengeheimnisse, den verbotenen, doppelten Böden trügerischer Idyllen wie in American Beauty, in dem die blutige Wahrheit und das wahre Grauen tröpfchenweise auf die Stufen tropft, bis es einen regelrechten See vor einem scheinbar unbescholtenen Heim bildet und jegliche Illusion von Harmonie und Zuversicht hinfort spült.
    Merkwürdigerweise hatte ich manchmal das Gefühl, dass die Abschnitte (auch unter der Berücksichtigung, dass sie natürlich mehrere Jahrzehnte der Familienhistorie abbilden) anachronistisch wirken. So hatte ich den Eindruck, dass manche Geschehnisse der modernen Smartphone-Zeit eher wie aus den Achtzigern wirkten. Auch blieben einige lose Fäden für mich ungeklärt oder entzogen sich meiner Aufmerksamkeit, zum Beispiel die Hintergründe der Schreckenstat, die zur Auslöschung einer Familie führte, oder die nervenzerfetzende Situation, als PJ trotz sämtlicher Bemühungen nicht an das Restgeld kommt, das er für die Zahlung an einen äußerst brutalen Erpresser dringend benötigt. Hier hatte ich eine Auflösung erwartet. Gleichwohl sind viele metaphorischen Untermalungen sehr gut in die Story eingewoben worden, was sich ebenso im Showdown am Ende des Buches zeigt. Das merkwürdige Mal im Baum, die seherischen Fähigkeiten von Tante Rose, die Bekämpfung der grauen Eichhörnchen, um die roten Artgenossen zu retten – ein passender Vergleich zu dem Opfer, welches Dickie für die Familie, die er so nie wollte, erbringt. Ach ja, auch der Stich der Biene wird entschleiert. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um ein Unglück am Tag der Hochzeit, sondern um einen ganz anderen Akt von Gewalt, der hier jedoch nicht verraten wird.
    Insgesamt ist der Roman „Der Stich der Biene“ ein gelungenes Kunstwerk, das sich nicht darauf beschränkt, nur eine opulente Familiengeschichte zu sein. Vielmehr sprengt das Buch die konventionellen Grenzen, was einen Roman im herkömmlichen Sinn ausmacht. Es ist mit Absicht anstrengend zu lesen. Murray ist hier der unangefochtene Schöpfer dieses steinigen Massivs. Da gerade diese vom Autor grenzenlose Vorgehensweise bei der Leserschaft auch unüberwindbare Schranken setzt, halte ich den Roman für begrenzt lesenswert. Zumindest benötigt der/ die Leser:in einen langen Atem, um diesen Berg zu erklimmen.
    Ein wahrer Achttausender.

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Lindy Girls: Roman

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Rezensionen zu "Lindy Girls: Roman"

  1. Berlin swingt

    In den Zwanziger Jahren kommt eine neue Musik aus Amerika nach Berlin. Die junge Choreografin Wally ist begeistert vom Swing, Jazz und Charleston und gründet eine Tanzgruppe, die „Lindy-Girls“. Doch der Erfolg bleibt den Frauen verwehrt, denn in den Tanzpalästen und Varietés im Berlin der haben die Männer das Sagen. Doch die Frauen geben nicht auf.
    Ich habe schon eine ganze Reihe Bücher der Autorin Anne Stern gelesen und immer wieder kann sie mich mit ihren Geschichten packen. Ihr Schreibstil lässt sich sehr angenehm lesen. Die wechselnden Perspektiven lassen einen nahe am Geschehen sein. Die Handlungsorte sind sehr schön und atmosphärisch beschrieben, so dass man sich alles gut vorstellen konnte. Auch spürt man schon die Veränderungen, welche die politischen Verhältnisse dann mit sich bringen.
    Die Charaktere sind gut und authentisch dargestellt. Wally und die anderen Tänzerinnen sind selbstbewusste junge Frauen, die ihr Recht haben wollen und neben ihrem Job schwer dafür arbeiten. Sie kommen aus unterschiedlichen Verhältnissen, jede hat ihre eigene Geschichte, aber die Liebe zum Tanz bringt sie zusammen. Die Entscheider in den Tanzpalästen aber wollen lieber am Bewährten festhalten. Doch die Frauen lassen sich nicht unterkriegen. Doch als die Liebe dazwischenfunkt, könnte sich alles ändern.
    Eine tolle Geschichte, die uns das Lebensgefühl der damaligen Zeit und den Rhythmus der Musik spüren lässt. Mir hat es Spaß gemacht, diesen historischen Roman zu lesen.

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Nacht ohne Morgen

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Rezensionen zu "Nacht ohne Morgen"

  1. Hätte noch etwas Liebe gebraucht.

    Alexis Douviers wurde als drittes von vier Kindern geboren. Die starke Bindung zu seinem Großvater hat ihn geprägt und so ist er ein aufgeschlossener junger Mann geworden, der seine Familie, seine Freunde und sein Leben liebt.

    Alexis war dreizehn als sein Schauspiellehrer Samuel sich mehrfach an im verging. Danach hatte Alexis das Gefühl, dass sein Körper nicht mehr ihm gehörte. Souverän wechselte er die Schule und versuchte seine Erlebnisse zu vergessen. Jahre später brennt in ihm der Wunsch, seinen Eltern zu sagen, dass er Männer liebt, doch dann erfahren sie von Samuel, einige seiner damaligen Mitschüler hatten den Schauspiellehrer angezeigt.

    Marc wuchs auf Korsika auf. Er war siebzehn als sein Vater ihn brüllend Tunte! nannte und ihm den Koffer vor die Tür stellte, weil Marc Matteo liebte. Marc stieg auf die Fähre nach Nizza und sah seinen Vater nie wieder. Eine glückliche Fügung trieb ihn nach New York, wo er in der Finanzwelt aufstieg. Er entwickelt sich zu einem erfolgreichen, gutaussehenden Mann, der privat, in der riesigen Stadt keinen Fuß fassen kann. Seine Beziehungen bleiben oberflächlich, können weder seine sexuelle Gier erfüllen, noch seinen stillen Kummer heilen. Marcs Depression zeigt sich in seiner Arbeitswut, seinem Tabletten- und Kokskonsum und seiner Sexsucht. Sein Selbsthass ist riesig.

    Bei einem Besuch in Nizza lernt Marc Alexis kennen und sie fühlen sich zutiefst zueinander hingezogen. Frühere Beziehungen haben beide verletzt und misstrauisch gemacht. Sie raufen sich immer wieder zusammen. Marc überwindet seine Eifersucht, Alexis sein Gefühl der Minderwertigkeit. Alle Zeichen deuten auf ein erfülltes, glückliches Leben, doch dann passiert Alexis etwas schreckliches.

    Fazit: Zuerst einmal, das Cover ist ein Kunstwerk, die Veredelung ein haptischer Genuss.

    Die Geschichte beginnt mit einem Prolog und erzählt danach in der Rückschau von Mark und Alexis. Welche Erlebnisse sie ausmachen. Stellenweise entstehen Verdachtsmomente und die Storry wirkt wie ein Krimi. Tatsächlich aber, war es die Liebesgeschichte zwischen Marc und Alexis. Der Konflikt, die Schwierigkeiten aus ihrer Vergangenheit, die sie immer wieder trennten zu überwinden. Ich mag, dass der Autor diverse Tabuthemen bearbeitet hat. Das Schwulsein an sich, das tatsächlich im prüden Frankreich noch heute eine familiäre Schande ist. Sexueller Missbrauch, Gewalt in der Beziehung, Machtmissbrauch, Workahollic, Sexsucht, Depression. Rachsucht.

    Was mir nicht gefallen hat waren die vielen Schönheitsfehler, dass die Geschichte stark konstruiert ist. Ich fand die Mutter in ihrem Gedankengang, gerade zu Anfang nicht überzeugend.

    Über ihr etwas zu aufgeräumtes Leben ist gerade eine Tragödie hereingebrochen. Catherine muss sich ihr stellen. S. 17

    So sieht echte Verzweiflung nicht aus, die hätte ich aber erwartet.

    Die Hortensien verbreiten noch immer ihren Duft. S. 213

    Ne, Hortensien duften nicht.

    Der Versuch des Autors mich bei der Stange zu halten, ohne Mehrwert zu bieten:

    Ein unersättlicher Drang treibt sie beharrlich einander zu. Er ist unbändig. Wie eine Selbstverständlichkeit, der sie sich beugen, eine Macht, vor der sie die Waffen strecken müssen. S. 195

    Ja ok, ich hatte schon die letzten 50 Seiten verstanden, dass ihr geilen Sex habt, du hast es mir ja gezeigt, warum bringst du mich jetzt zum Gähnen?

    Alles in allem eine lesenswerte Geschichte, die noch etwas Liebe gebraucht hätte.

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