Treibgut
n diesem Buch geht es um die Familie Gardener Ken, Abby und Adam. Adam hat früh seine sehr geliebte Ehefrau verloren und er musste seine Kinder Ken und Abby alleine groß ziehen. Er konnte zwischenzeitlich kurzzeitige Affären und eine kurze Ehe vorweisen, doch diese hatten wenig Bestand und zerfielen. Adam beschließt vor seinem 70. Geburtstag seine Medikamente abzusetzen, die seine manische Episode abmildern bis dämpfen. Er ist der Meinung, dass er kurz vor dem Durchbruch sei, bezüglich seiner Walforschung und diese Medikamente hindern ihn an seinem Erfolg.
Ken ist ein erfolgreicher Immobilienhändler. Er steht im Schatten seiner Frau, dessen Familie sehr viel Geld in die Ehe einbringt. Er kann sich jetzt profilieren, da er ein Seniorenanlage aufbauen kann. Darüber hinaus kriselt seine Ehe und er sieht sich gezwungen zum Psychiater / Psychologen zu gehen um an sich und seiner Ehe zu arbeiten.
Abby ist die erfolglose und bescheidene Malerin. Sie sieht sich in der Schuld, da ihre Mutter während ihrer Geburt gestorben war. Ihre Mutter war nur ein Schatten in ihrer Kindheit. Durch eine Schwangerschaft versucht sie ihr Leben in neue Bahnen zu bringen.
Dieses Buch lebt von den Perspektivwechseln. Es hat triviale Anklänge, aber ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt. Es poträtiert sehr schön die einzelnen handelnden Personen und am Ende kommt es zu einem spannenden Showdown, wo bestimmte Themen geklärt werden.
Fazit: Ein Buch welches mich gut unterhalten hat!
Mein Hör-Eindruck:
Cape Cod im Sommer, ein Sommerhaus direkt am Strand, Golfplätze, rauschende Parties und rauschende Meereswogen, Glitzer und Glamour, endlose Strände - und schon sind wir als Leser mitten drin in der Welt der Reichen und Schönen. Da ist Adam, der Senior, ein eitler, aber brillanter Wissenschaftler, was die Buckelwale angeht. Sein Sohn ist ebenfalls brillant als Immobilien-Tycoon, und seine Tochter ist auch brillant, als Künstlerin. Schwiegertochter Jenny ist schön und eine perfekte Gastgeberin. Als Leser ist man geblendet von so viel Schönheit und Brillanz, und daher bietet Steph, eine junge Polizistin aus einer kleinbürgerlichen Familie, einen durchaus willkommenen Kontrast zu den Upper-class-Figuren. Und da der Klappentext Familiengeheimnisse verspricht – immer ein verlockendes Thema -, weiß man, dass nicht alles Gold ist, was glänzt und dass auch die Schönen und Reichen ihre Kümmernisse haben. Leider liegt das Familiengeheimnis recht schnell auf dem Tisch, sodass keine Spannung entsteht.
Der Roman ist geschickt aufgebaut, weil jeder Figur ein eigenes Kapitel zugewiesen wird. Dieses multiperspektivische Erzählen bietet die Innensicht und bringt damit den Leser nahe an die einzelnen Figuren heran, ohne dass es zu Redundanzen kommt.
Alle Figuren zusammen bieten ein gewaltiges Kaleidoskop an Problemen und Themen: sexuelle Übergriffe, Verlustängste, Pubertätskonflikte, Alkoholismus, Freundschaftsprobleme, Ehebruch, Klimaschutz, Biodiversität, Eifersucht, uneheliche Schwangerschaft, homosexuelle Ehen, Eifersucht, psychische Erkrankungen, genetische Defekte, Esoterik, Ehekrisen, Psychotherapien, Sexismus etc. Und nicht zuletzt Tierschutz – was die Tochter aber nicht daran hindert, die Hummer für die abendliche Party in einem Sandloch schön langsam bei lebendigem Leibe zu rösten; das Rezept wird ausführlich vorgestellt. Pfui! Gerade diese Tochter ist aber so eins mit der Natur, dass sie die unterirdische Präsenz von Pilzen an einem Kribbeln im Haar spürt. Eine durchaus praktische Fähigkeit, aber leider nicht glaubhaft. Das alles wird erzählt vor der Kulisse des Wahlkampfes im Jahr 2016, wobei die Damen des Romans die Daumen drücken für Hilary Clinton. Argumente erfährt man als Leser nicht, es reicht, dass sie eine Frau ist.
Ähnlich oberflächlich und unreflektiert werden die vielen Themen des Buches abgehandelt. Die Autorin öffnet ein Fass nach dem anderen, ohne dass sie nur auf ein einziges den Deckel wieder daraufsetzen kann. Die Figuren entwickeln sich nicht, sie wachsen nicht an ihren Problemen. Sie bleiben daher letztlich blass und gewinnen kaum Konturen über das Klischee hinaus. Die oft witzigen und pointierten Dialoge sind allerdings ein Highlight des Romans.
Ein großes Lob geht ebenfalls an die Sprecherin Vera Teltz! Aber auch sie kann aus Stroh kein Gold spinnen.
Wer einen unverbindlichen Roman über die familiären Probleme der Reichen und Schönen lesen möchte, ist mit dem Roman gut beraten.
Ken und Abby Gardner standen einander als Kinder sehr nahe. Doch ihre Mutter war nach Abbys Geburt gestorben, als Ken drei Jahre alt war, und er hat der Schwester immer die Schuld gegeben. Der Vater Adam, ein bekannter Meeresbiologe, der sich auf Buckelwale spezialisiert hat, zieht seine Kinder allein auf, interessiert sich im Zweifelsfall aber mehr für seine Forschungen als für seine Kinder und hat nicht mitbekommen, dass sich Abby und Ken – inzwischen etwa 38 und 41 Jahre alt – voneinander entfernt haben. Ein Geheimnis aus der Kindheit hat Abby ihr Leben lang gequält. Ken ist ein erfolgreicher Immobilienhändler mit politischen Ambitionen geworden, Abby eine bisher noch nicht besonders erfolgreiche Künstlerin. Sie waren immer schon Rivalen um die Liebe und Aufmerksamkeit des Vaters und später um sichtbaren Erfolg. In Kens Ehe mit Abbys ehemals bester Freundin Jenny kriselt es. Die zwölfjährigen Zwillinge Tessa und Frannie kommen in ein schwieriges Alter und sehen den Vater inzwischen kritisch. Dann hat sich eine bisher unbekannte junge Frau namens Steph mit ihrem kleinen Sohn und ihrer Partnerin Toni in das Leben der Familie gedrängt. Auch hier gibt es etwas Verschwiegenes in der Vergangenheit. Adam Gardner will noch vor seinem bevorstehenden 70. Geburtstag und dem Ausscheiden aus dem Berufsleben zur Krönung seines Lebenswerks das eine große Forschungsergebnis erzielen: die Entschlüsselung der Sprache der Buckelwale. Dabei geht der lebenslang an einer bipolaren Störung leidende Wissenschaftler ein großes Risiko ein. Die Gardners wollen zum 70. Geburtstag des Vaters ein großes Fest geben. Hier kommt es erwartungsgemäß zum großen Showdown, bei dem alle Geheimnisse enthüllt werden.
Adrienne Brodeur erzählt die Geschichte einer nur nach außen mehr oder weniger intakten Familie aus fünf verschiedenen Perspektiven, so dass der Leser schon lange vor den Betroffenen weiß, was an schmerzlichen Erfahrungen und Geheimnissen so lange verschwiegen wurde. Die Autorin entwickelt das inzwischen gängige Thema der dysfunktionalen Familie geschickt und facettenreich. Die Flora und artenreiche Fauna der Küste bei Cape Cod spielen eine besondere Rolle, vor allem Buckelwale, Gardners mit dem Jahr 2016 auch die entscheidende Phase vor der Präsidentschaftswahl, die Amerika grundlegend veränderte. Ein gut lesbarer Roman, der mich dazu veranlasst, jetzt auch “Wild Game“, Brodeurs autofiktionalen Vorgänger aus dem Jahr 2019 zu lesen.
Adam, ein siebzigjähriger Meeresbiologe, immer noch begeistert von den Schnittpunkten der Mathematik mit der Kunst, der Magie mit den Wissenschaften und den Walen in dem Ozean vor seiner Haustüre auf Cape Cod. In seinen manischen Phasen ist er überzeugt, dass er kurz vor dem Durchbruch zu einer großen Entdeckung ist, die in den Gesängen der Wale schlummert. In seinen depressiven Phasen stürzt er ab, in eine tiefe Schwärze der Sinnlosigkeit von aller Existenz.
Seine beiden Kinder, Ken und Abby hat er im Sturm dieser Krankheit allein aufgezogen. Die Mutter der Kinder, seine große Liebe, hat er nach der Geburt der Tochter verloren.
Beide Kinder sind in großer Freiheit, in einer engen Symbiose aufgewachsen, sie hatten sich selbst und gaben sich gegenseitig Halt .
In diesem einsamen Biotop entwickelten sich seelische Verzweigungen, die die Autorin im Laufe der Geschichte enthüllt, bis zu einem großen Showdown, bei dem sich jeder bekennen muss.
Der Roman ist eingebettet in die Beschreibungen der eindrucksvollen Natur von Cape Cod. Die Schreibweise der Autorin ist schnörkellos, gleicht der Landschaft, in der sie auch zuhause ist. Ohne Pathos und Überschwang, ohne "tiefgründelnde" Psychoanalyse, einfach und klar beschreibt sie die Personen in ihrem Alltag.
Das Cover des Buches ist ein Ausschnitt des Gemäldes "Strand bei Ebbe" von Frederick Milner. Es ist ausgezeichnend zu diesem Buch ausgewählt.
Ein Buch, das dem Leser Lesevergnügen schenkt.
Mit dem Originaltitel:"Little Monsters" hätte mich das Buch nicht interessiert.
Gut, dass man für die deutsche Ausgabe einen anderen Titel gewählt hat.
Kurzmeinung: Müsste man am Meer lesen! Sehr schöner Urlaubsroman - leicht und spannend.
Cape Cod. Schöne Gegend. Die Wohlhabenden wohnen hier, die beinahe Wohlhabenden machen hier Ferien. Sonne. Strand. Wind. Segelboote, Möwen, alte Villen, Künstler und Walbeobachtung. Das ist das Ambiente des Romans „Treibgut“. Dort lebt auch laut Klappentext die Autorin, weswegen die Atmosphäre der Insel völlig authentisch wirkt.
Ein alternder Professor für Meeresbiologie und seine Entourage. Obwohl der Professor Monologe über Wale liefert, und damit der Autorin Gelegenheit bietet, einige Informationen über diese großartigen Meeressäuger einfließen zu lassen, ist Adam Gardener nicht der Wissenschaftler, den man so erwartet, akkurat, rational, faktenorientiert. Denn Gardener leidet an einer bipolaren Störung und ist lustig selbstverliebt. Er hat seine Krankheit einigermaßen im Griff, aber eben nur einigermaßen, es gibt noch genug weiße Flächen in seinem Leben, denen er eben nicht Herr geworden ist und das ist seine Familie. Freilich ist er außerstande, seine Mankos zu erfassen. Zum Leidwesen seiner Kinder. Zur Erheiterung der Leser.
Selbstbild und Fremdwahrnehmung des Meeresbiologen klaffen also erheblich auseinander. Adam Gardener ist selbstbezogen, hält sich für ein Genie und denkt, er sei ein wunderbarer Vater gewesen. Womanizer. Mehrmals verheiratet. Auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. In Wirklichkeit aussortiert, da er mit der modernen Zeit nicht mithalten kann und, mit Verlaub, einfach zu alt ist. Er wird 70 Jahre alt und aus diesem Anlass soll seine Schwiegertochter ein großes Fest organisieren, das natürlich ein Fiasko wird. Adam hat immer dann geistige Höhenflüge, wenn er seine Medikamente absetzt. Und er findet immer wieder eine Rechtfertigung dafür, dies zu tun. Mit Medikamentation hat er Depressionen und sein Denken und Fühlen ist verlangsamt. Ohne Medis aber, fängt die Welt an zu schwingen. Nur dumm, dass er dann nicht mehr schlafen kann und ellenlange sinnentleerte Monologe hält, so dass alle schnell weglaufen.
Bipolarität ist eine schwere Persönlichkeitsstörung, die den Betroffenen das Leben zur Hölle machen kann. Es ist ein tragisches Krankheitsbild. Diese Tragik kommt in dem Roman zu kurz. Man amüsiert sich eher als dass man mitleidet. Für die Tragik brechen sich alte Familiengeheimnisse allmählich Bahn. Die erwachsenen Kinder Ken und Abby haben ihre Jugend am Meer sehr unterschiedlich verarbeitet. Der frühe Verlust der Mutter hat beiden einen Knacks versetzt. Ken versucht mithilfe seines Psychiaters seine Jugend aufzuarbeiten. Abby bannt in eigenartigen großflächigen Bildern ihre Erinnerungen auf die Leinwand, was Ken einen Höllenschrecken einjagt.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Die Protagonisten auf Cap Cod setzt die Autorin hübsch in Szene. Mit einem Menschen von außen, Steph, bekommt die Leserschaft nicht nur den inneren Blick der Familie durch den Sohn Ken, den Vater Adam und Tochter Abby und durch Jenny (Kens Frau), sondern auch einen Blick von außen geliefert.
Die Familiengeheimnisse sind, was sie immer sind. Ich will sie nicht verraten, aber es gibt nicht so viel Auswahl. Sie sind immer schmutzig und immer schmerzlich.
Die Autorin hatte mich lange Zeit am Bändel, ihre Figuren hatten interessante Berufe und interessante Probleme. Kens widerwillige psychiatrische Sitzungen mit seinem Psychiater sind wirklich erheiternd, sein Charakter widerspenstig. Abby, ist unsere Hero, strahlend reine Weste, eine gläserne Villa in den Dünen und Frida, the Hund machen uns Spaß. Adam mit seinen selbstverliebten Gedanken, fern jeder Realität sowieso. Lebendige Dialoge. Aber nach zwei Dritteln verliere ich das Interesse. Warum ist das so?
Erstens wegen der Geheimnisse. Zu durchschaubar und nachdem sie nun einmal an den Tag getreten sind, gibt es keine Interaktion mehr unter den Figuren. Die Interaktion ist überhaupt der schwächste Punkt des Romans. Auch schon vor der Aufdeckung. Zweitens wegen der Geheimnisse. Schlimme Familiengeheimisse sind immer ein Schwachpunkt. Schwierig, Klischees dabei zu vermeiden. Falls ihr unter 35 seid, versäumt es nicht, eure Eltern zu fragen, ob ihr irgendwo geheime Geschwister habt, ob sie (oder auch Tanten, Onkel und Großväter) Nazis gewesen sind oder Kommunisten und ob sich auf dem Dachboden ein Koffer mit kompromittierenden Briefen befindet oder mit Falschgeld. Und dann gibt es noch sexuelle Geheimnisse. Also, wie gesagt, die Auswahl ist eigentlich gar nicht so groß. Aber das nur am Rande. Ein weiterer Schwachpunkt ist der Transport von Gefühlen. Seid ihr über 35 lohnt sich die Aufdeckung von Familiengeheimnissen meines Erachtens nicht mehr, nehmt alles hin, wie es eben ist. Es sei denn, ihr bekommt von irgendwo her eine Million vererbt oder ein Cottage in Südengland. Aber, wie gesagt, das nur am Rande. Das mit dem Cottage, sorry, tut mir wirklich leid, ist sehr unwahrscheinlich.
„Treibgut“ macht Spaß, es ist ein Roman, der einen vorwärtsstrebenden Plot hat, es ist immer etwas los, obwohl es auch erhellende Rückblenden gibt. Aber es fällt der Autorin schwer, die Gemütslage der Protagonisten anders darzustellen als durch einige Äußerlichkeiten, Alkohol, Distanzierung, Selbstgespräche, Hund. Und dann hätten wir noch die Natur. Obwohl die Naturpassagen wirklich schön sind, treten sie kaum in Bezug zu den Protagonisten.
Fazit: Stilsicher und ziemlich amüsant, bis die Familiengeheimnisse zu sehr Raum greifen und dann doch nicht wirklich besprochen werden.
Kategorie: Sommerroman. Gute Unterhaltung.
Verlag: Kindler, 2024
Dieser Erzählband enthält zwölf interessante, teils verwirrende und/oder verstörende Geschichten mit einem teilweise verblüffenden autobiografischen Bezug, wie die dem Buch beiligende Broschüre verrät. Dies sorgte bei mir im Nachhinein noch für einen Kloß im Hals, denn jeder der Texte steht für eine sehr persönliche Lebenskrise. Jede der Erzählungen widmet sich einer anderen Person, einer anderen Lebenslage, teilweise stehen die Episoden jedoch in einem losen Kontext zueinander.
Die Geschichten bieten oft eine überraschende Wendung, eine verblüffende Reaktion. Es kommt oftmals zu sehr eigenwilligen Lösungen, die die Kreativität von Menschen herausstreicht, aber auch die Extremsituationen verdeutlicht, in denen sich die Hauptcharaktere hier befinden. Eigensinn und Skurrilität kennzeichnen die Erzählungen, stets gibt es eine individuelle Lösung, kein Anpassen an Konventionen oder Erwartungen, was mir gut gefiel.
Manches stößt auf oder ab, und es sind oft unbequeme Geschichten, die trotz aller Distanziertheit des Erzählens teilweise ein Unwohlsein hervorrufen. Nicht alle Erzählungen konnten mich komplett abholen, bei manchen Geschichten habe ich nicht alle Hintergründe erfasst oder verstanden. Doch ich mochte das Unkonventionelle der Entscheidungen und die kleinen Ausbrüche der Hauptcharaktere, ebenso wie die leise Kritik an Rollenvorstellungen (Verhältnis Mann-Frau) und einigen gesellschaftlichen Gepflogenheiten.
Letztlich habe ich das Buch sehr gerne gelesen und die so unterschiedlichen Geschichten wohldosiert genossen...
© Parden
Michela Murgia wurde nur 51 Jahre alt, sie verstarb im August 2023. Insofern ist dieser Erzählband ihr letztes Buch, mit dem sie ein beeindruckendes Vermächtnis hinterlässt. Enthalten sind zwölf Geschichten. In der ersten „Unübersetzbarer Ausdruck“ erhält eine namenlose Ich-Erzählerin eine unheilbare Krebsdiagnose, in der letzten „Übergangszeit“ wird eine ungewöhnliche, bewegende Abschiedsfeier für eine kürzlich an Krebs verstorbene Frau begangen. Diese beiden Erzählungen bilden aus meiner Sicht den Rahmen. Doch auch die dazwischen liegenden Geschichten sind miteinander verwoben, man findet Bezüge, aus denen Zusammenhänge erkennbar sind.
Murgia erzählt stets aus einer gewissen Distanz heraus. Ihren Figuren wird durch ein plötzlich eintretendes Ereignis der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie sind gezwungen, sich neu auszurichten, Entscheidungen zu treffen oder Konflikte zu bewältigen mit dem Ziel, eine neue zufriedenstellende Balance zu erlangen. Die Themen sind vielfältig. Krankheit und Tod nannte ich schon. Dazu kommen Beziehungsprobleme unterschiedlicher Art, Verlassenwerden, Kinderwunsch, Sterbehilfe, Pubertät, patriarchische Bevormundung und andere Themen, die die Verletzlichkeit des Menschen zum Ausdruck bringen. Alle Erzählungen machen nachdenklich, erwecken aber auf die ein oder andere Weise Hoffnung. Die Figuren unterlaufen eine Entwicklung, so dass am Ende zumeist Lösungen in Sicht sind. Insofern verstehe ich „Drei Schalen“ als ein positives, nach vorne gerichtetes Buch. Auch wenn man die Welt nicht ändern kann, so ist es doch möglich, den eigenen Blick darauf zu variieren. Jede Geschichte hat Tiefgang, sie lässt den Leser aber niemals unglücklich zurück. Das halte ich für eine große Stärke dieser Texte.
Murgia benutzt eine messerscharfe, klare Rhetorik. Die Autorin führt den Leser unmittelbar in die Handlung ein. Man kann sich schnell in die namenlosen Protagonisten einfühlen, deren Konflikte menschlich nachvollziehbar geschildert werden. Die daraus resultierenden Handlungsweisen fallen mitunter unkonventionell aus, was deren literarische Qualität aber nicht mindert. Murgia versteht es, ihren Figuren Tiefe zu verleihen, die sie mit scheinbar wenigen Federstrichen zum Ausdruck bringt. Ihre eingestreute feine, teilweise poetische Metaphorik bringt die Texte zum Leuchten.
Die Erzählungen wurden von Esther Hansen wunderbar aus dem Italienischen übertragen. Sie sind ein beeindruckendes Vermächtnis einer viel zu früh gestorbenen Autorin, deren mentale Stärke an jeder Stelle dieses Buches zu spüren ist. Trotz ihrer eigenen vorhersehbar schlechten Diagnose hat sie offensichtlich den Blick für die Schicksale anderer Menschen nicht verloren.
Ich verneige mich vor Michela Murgia und spreche für diesen Erzählband mit seinem wunderschönen Cover eine große Leseempfehlung aus.
Mit "Drei Schalen" liegt nun der wohl letzte Erzählband der italienischen Schriftstellerin Michela Murgia vor. Er versammelt insgesamt zwölf verschiedene Geschichten zu Themen wie Krankheit und Tod, Trennungsschmerz und Neubeginn, Abschiednehmen und Weiterleben. Sie sind inspiriert von der Lebenssituation der Autorin, die hier ihre Krebserkrankung, an der sie verstarb, verarbeitete.
Die Menschen in ihren Geschichten sind ebenfalls mit radikalen und herausfordernden Umbrüchen in ihrem Leben konfrontiert, die sie auf je unterschiedliche und individuelle Art verarbeiten und so einen Neubeginn wagen: Da ist eine unheilbar an Krebs erkrankte Patientin, der es gelingt einen neuen Blickwinkel auf ihre Krankheit einzunehmen, oder wir lesen über den unterschiedlichen Umgang zweier Menschen mit Ihrer Trennung nach gescheiteter Beziehung. An anderer Stelle geht es um den Trennungsschmerz einer Mutter von ihrem ausgezogenen Sohn, den sie durch die Pappfigur eines Popstars zu kompensieren versucht oder um Gewissensbisse einer Witwe, die sich nach ihrem Anteil am Tod ihres kranken Mannes fragt und sich einem Pater anvertraut. In wieder anderen Geschichten geht es um Rituale, mithilfe derer die Überwindung althergebrachter Muster möglich erscheint oder auch mal um Gesellschaftskritik wie in den Geschichten über die Kinderhasserin, die sich als Leihmutter zur Verfügung stellt, oder der des Arztes, der trotz aller Schutzmaßnahmen am Ende nicht verhindern kann, dass der eigene Sohn an Corona erkrankt.
Die meisten Geschichten fand ich sehr erhellend und inspirierend. Auch haben mir die Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Geschichten gut gefallen. Murgias Sprache ist wirkt distanziert und kühl, aber überzeugt mit wunderschönen Formulierungen, die von viel Lebensweisheit zeugen. Die Erzählungen kreisen um das Thema des Kontrollverlusts und wie man diesen wieder in den Griff bekommen kann. Dies wird am Beispiel ganz unterschiedlicher Lebenssituationen aufgezeigt.
Murgias Geschichten haben mich gut unterhalten und zum Teil zum Nachdenken gebracht. Gerne empfehle ich den Erzählband weiter.
In ihrem Letzten Buch erzählt Michela Murgia so viele Geschichten, wie das Jahr Monate hat, und die Autorin schrieb sie in einer Zeit, die sie selber als "Übergangszeit" bezeichnet: die Zeit zwischen der Krebsdiagnose und ihrem zu frühem Tod. Diese Geschichten sind ihr Vermächtnis an ihre Leser.
Die erste Geschichte beginnt gleich mit dem Paukenschlag der tödlichen Krebsdiagnose, und streng genommen, beginnt hier sofort der Übergang, wenn die Protagonistin ihre Sicherheit verliert, wenn sie ab sofort nicht mehr gesund, sondern krank ist, und wenn sie weiß, dass ihre Therapie nur noch darin bestehen kann, ihr soviel Zeit wie möglich zu verschaffen. In dieser Geschichte ist der autobiografische Bezug überdeutlich. Und sofort wird der Ich-Erzählerin klar: sie wird nicht das übliche Kriegsvokabular benutzen wollen, denn „der Krebs ist kein Feind, den es zu vernichten gilt“, wie Murgia in einem Interview sagt. Für einen Feldzug gegen den Krebs ist es zu spät. Stattdessen sieht sie den Krebs als einen Teil ihres Körpers, der aus einer Vielzahl von Zellen besteht. Einzeller bekommen keinen Krebs, aber sie können auch nicht schreiben und lernen. Murgia und ihre Ich-Erzählerin jammern nicht, sie wehren sich nicht und begehren nicht auf, sondern sie arrangieren sich mit ihrem Schicksal in einer bewundernswert stoischen Haltung ändert. Und in diesem Ton erzählt Murgia ihre Geschichten.
Die Autorin führt ihrem Leser einen Figurenreigen vor, bei dem jede Figur in unterschiedlicher Weise mit einer anderen Figur verbunden ist. Alle Geschichten handeln von Abhängigkeit, von Abschied, Krankheit, von zerbrechenden und zerbrochenen Beziehungen, von Verlassenwerden und Schmerz und auch von Trauer.
Oft sind es Menschen in Umbruch-Situationen, in deren Leben eine entscheidende Wende tritt und die mit neuen Situationen klarkommen müssen. Dazu fallen ihnen gelegentlich merkwürdige Lösungen ein wie z. B. eine lebensgroße Pappfigur als Ersatz für den Sohn, aber warum nicht? Was spricht gegen ungewöhnliche Lösungen?
Michele Murgia bleibt nicht bei der Beschreibung stehen, sondern sie lässt immer die Ambivalenz des Verhaltens durchscheinen. Die Wahrheit hat für sie immer mehrere Gesichter. So lässt sie z. B. in der Geschichte mit dem provokanten Titel "Uterus zu verleihen" eine leidenschaftliche Kinderhasserin auftreten, die aber trotzdem dazu bereit ist, für ihren besten Freund ein Kind auszutragen: "Ich weiß, was Leid bedeutet, wenn ich es sehe, und ich ertrage es nicht, dass mein bester Freund leidet … Das Leben ist nicht gerecht."
Ähnlich sieht es in der Geschichte "Bis dass der Tod" aus. Eine Geschichte, in der eine vordergründig nicht emanzipierte Frau von Schuldgefühlen geplagt wird. Murgia legt jedoch mit einigen wenigen Wendungen offen, wie sehr dieser Frau das Vortäuschen von Schwachheit nutzt.
Alle 12 Geschichten bilden einen großen Bogen, beginnend bei der Diagnose und endend mit der Trauerfeier, bei der sich Freunde und Verwandte die Kleider der Verstorbenen mitnehmen dürfen. Damit gelingt Murgia ein sehr schönes und ein sehr tröstliches Bild. Diese Kleider sind voll von Erinnerungen, und in diesen Erinnerungen wird sie weiterleben können.
Murgias Sprache ist von schöner Klarheit. Sie braucht nicht viele Worte, um den Leser zu verunsichern und ihm die Rückseite der Medaille nahezubringen.
4,5 *
Michaela Murgias Erzählband „Drei Schalen“ präsentiert in zwölf Kurzgeschichten unterschiedliche, manchmal miteinander verbundene Protagonisten, die allesamt großes Leid, Ungerechtigkeit, Schmerz, Scham, Trauer oder Herabsetzung erfahren haben. Die Geschichten spiegeln deutlich die persönlichen Erfahrungen der Autorin, die selbst eine Krebsdiagnose verarbeiten musste. Dabei werden die Verletzlichkeit der Menschen und ihre sehr individuellen, oft bizarren und verstörenden Bewältigungsmechanismen dargestellt.
Durch eine schnörkellose, manchmal fast kalte Sprache herrscht in den Geschichten eine eigenartig distanzierte Stimmung, die trotz des häufig geschilderten tiefgreifenden Schmerzes nie die Emotionen überhandnehmen lässt und den Charakteren ihre Würde und in eigenwilliger Weise auch eine Bewältigung ihrer Probleme zugesteht.
Die Erzählungen berühren, ja machen betroffen, bleiben in ihrer Aussage teilweise im Unklaren und stecken voller Symbolik. Sie lassen den Leser nachdenklich und dennoch seltsam versöhnt zurück, nicht zuletzt, weil die letzte Erzählung mit einer tröstlichen Botschaft abschließt.
Insgesamt ein eigenartiges, lesenswertes Buch.
"Drei Schalen" besteht aus 12 Kurzgeschichten. die sich um das Thema tiefgreifende Lebensveränderungen drehen. Veränderung durch eine Krebsdiagnose, die Coronapandemie, den Tod eines Partners, den Auszug des erwachsenen Kindes, Schwangerschaft, das Ende einer Beziehung.
Die Geschichten werden teils in der Ich-Form, teils in der 3. Person erzählt. Die jeweiligen Erzähler berichten in poetischer Sprache und dennoch seltsam distanziert, so als blickten sie aus einigem Abstand wie aus der Vogelperspektive auf das Erlebte. Die Geschichten sind ineinander verwoben, die Personen teilweise identisch, der Erzählende nicht, so dass eine jeweils andere Perspektive deutlich wird.
Mal wird das Bild einer veritablen Kinderhasserin entworfen, mal das Bild einer Ehefrau, deren Einsamkeit nach dem Auszug ihres Sohnes skurrile Züge annimmt. Einige der Geschichten haben auf mich einen befremdlichen Eindruck gemacht, obwohl mir klar erschien, was die Autorin u. a. zum Ausdruck bringen wollte: Toleranz gegenüber jeder Art von Andersartigkeit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich jede Geschichte verstanden habe, es war mir doch bei einigen davon zuviel Symbolik im Spiel.
Manche Geschichten und insbesondere die gezeichneten Charaktere haben mir sehr gut gefallen. Richtig anfreunden konnte ich mich mit diesen Kurzgeschichten insgesamt nicht.
Dennoch vergebe ich vier Sterne. Ausschlaggebend hierfür ist für mich der Vergleich mit dem in diesem Forum Anfang des Jahres gelesenen Roman von Bernhard Schlink "Das späte Leben". Auch bei Schlink geht es um Krebs, Tod und die Beziehung einer sehr viel jüngeren Frau zu einem älteren Mann. In der Geschichte "Familienverhältnisse" von Murgia wird ähnliches thematisiert, aber auf wieviel subtilere, sprachlich versiertere und tiefgründigere Art als bei Schlink ! Ich hatte Schlink 3 Sterne gegeben, also mussten es hier deutlich mehr sein, nämlich 4.
Weltalltage, das sind die Tage, an denen ihr Schwindel ihr das Gefühl gibt, Zeit und Raum zu verlassen, um sich einer Schwerelosigkeit hinzugeben, die sie als Betroffene bedrohlicher erlebt, als ihre Mitmenschen. Sie kennt Max seit einer gefühlten Ewigkeit. Beide im Osten Deutschlands aufgewachsen, beide Kinder alleinerziehender Mütter. Max‘ Mutter Ingenieurin, ihre Textilpflegerin. Max und sie waren sich einig, wenn sie auf Westkinder hinabsahen.
Ihr erfandet die Beleidigung Gummistiefelkinder für alle, die behüteter aufwuchsen als ihr und nie nasse Füße hatten. Eure Freundschaft fußt darauf, dass ihr keine Gummistiefelkinder wart und die Löcher in euren Turnschuhen zum symbolischen Beweis eurer Lebenserfahrung erhobt. S.25
Sie halfen sich gegenseitig, so gut sie konnten. Max schrieb bei ihrem Lexikonwissen ab und sie schaute sich von ihm die Selbstverständlichkeit seines Seins in dieser Welt, seinen Duktus ab, sobal ihre Redeangst sie lähmte, machte sich zunutze wie er in seinem Stuhl saß, frei von jeder Erwartung oder Bewertung. Lag sie mit heftigsten Unterleibschmerzen zuhause, kochte Max ihr etwas zu essen. Und als Ärzte ihr das geliebte Radfahren verboten, baute Max ihr einen Hänger und brachte sie überall hin.
Als Max Onkel, der vorletzte Mann seiner Familie, freiwillig aus dem Leben scheidet, entsteht ein Ruck in ihm, der ihn nachhaltig erschüttert. Nun glaubt er, dass ein Fluch über der Familie hängt, der alle Männer frühzeitig dahinrafft und nach dieser Logik, konsequenterweise bald auch ihn holen wird. Max trifft zunehmend Entscheidungen, die ihr nicht gefallen. Dann geht er in ein Krankenhaus und verbietet ihr jede Kontaktaufnahme zu ihm, was sie alles infrage stellen lässt. Ihre Freundschaft. Ihre Krankheit. Ihr Selbstbild.
Fazit: Ich mochte die Sprache von Paula Fürstenberg. Sie hat viele kluge und auch kreativ ausgearbeitete Sätze in dieses Buch gebracht. Der thematische Schwerpunkt liegt auf Freunschaft, Krankheit, Depression, Suizid und was diese Lebensereignisse mit einem selbst und mit anderen machen. Wie finden wir unseren Wert in einer Gesellschaft, die voller Erwartungen an uns ist, die wir nicht erfüllen können? Stellenweise wird ein wenig feministisches Gedankengut eingestreut, was ich nie verkehrt finde. Grundsätzlich hat die Autorin wichtige und interessante Fragen aufgeworfen, von denen ich mich gerne habe inspirieren lassen. Die Perspektive fand ich gewöhnungsbedürftig, weil die Autorin ihre Aufarbeitung mit sich selbst führt und im Du erzählt, also quasi eine Du-Erzählung. Was mir weniger gut gefallen hat, ist die Bezeichnung des Verlages, das Buch als Roman zu deklarieren. Deswegen hatte ich einen Roman erwartet aber es gibt keine durchgehende Geschichte. Allerdings fällt es mir auch schwer, den Text einzuordnen. Vielleicht trifft Essay das Geschrieben eher. Und so hat meine Herangehensweise an das Buch mein Leseglück ein wenig getrübt.
Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne des Wortes „unbeschreiblich“ ist, fällt es mir schwer, einen solchen Titel zu finden.
Auf der aller obersten, oberflächlichen, inhaltlichen Ebene dreht sich der Roman um die Freundschaft der Erzählerin mit Max. Beide in der DDR kurz vor der Wende geboren und gefühlt schon immer befreundet. Dabei war Max immer der Aufpasser für die Erzählerin, denn diese ist chronisch krank seit der Kindheit, leidet unter anderem an einem medizinisch nicht erklärbaren Schindel, der sie häufig in die Knie zwingt und für sie lebensgefährlich wird, wenn sie z.B. schwimmen gehen will. Das Gefüge zwischen den beiden: Sie die Kranke, Er der Gesunde; bleibt bis sie Dreißig sind so bestehen, bis Max langsam in eine Düsternis abrutscht, die beide nicht schnell genug als eine Depression erkennen. So einfach, so profan. Aber dann kommen noch die anderen Ebenen zum Vorschein.
So betrachtet Fürstenberg auch den Zusammenhang von Biografien und Erkrankungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf einer soziologischen Ebene begleiten wir Kinder, die in der strukturlosen Nachwendezeit aufwachsen, deren alleinerziehende Mütter überfordert sind und um die existenziellen Grundlagen ihrer Familien kämpfen müssen, wodurch sie fast keine Kapazitäten für die Bedürfnisse ihrer Kinder mehr haben. Diese retten sich durch das Klammern aneinander.
Und eine Ebene weiter ist Fürstenbergs Roman eigentlich gar kein „richtiger“ Roman, denn er besteht ausschließlich aus Listen. Listen, welche nicht aus reinen Stichpunkten bestehen, aber nach denen der Zettelkasten dieser Freundschaftsgeschichte geordnet ist. Das Buch beginnt mit der „Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte“. Wir finden bald heraus, warum hier ertastet werden muss, wie der Anfang der Freundschaft zustande gekommen ist. Denn die Erzählerin ist Schriftstellerin, Max ist Architekt. Die Schriftstellerin versucht ein Buch zu schreiben und muss ihre Ideen und Gedanken irgendwie zusammenbringen. Dies gelingt ihr durch Listen. So kommt die „Chronik einiger Verletzungen, die ihr euren Müttern zufügt“ ebenso vor wie ein „Amtliches Verzeichnis einiger Gespräche zwischen Max und dir, die im Nachhinein betrachtet nicht so optimal gelaufen sind“. Anhand dieser übergeordneten Punkte ergibt sich mehr und mehr ein tiefgründiges Bild nicht nur dieser besonderen Freundschaft, sondern auch der Biografien der Figuren, deren Befindlichkeiten und Sorgen.
Weiterhin enthält dieses Buch fast essayistische Passagen, in denen Krankheitsentstehung, die Wahrnehmung von Krankheit in der Gesellschaft, Diagnoseodysseen, die misogyne Medizingeschichte, Krankheit als Metapher in literarischen Texten usw. erforscht werden. Hier werden viele konkrete Zitate eingebunden, die im Anhang des Buches durch ein entsprechendes Literaturverzeichnis unterlegt werden.
Und auf einer Metaebene beobachten wir auch die Figur der fiktiven Schriftstellerin dabei, wie sie diesen Roman, den wir hier in Händen halten, überhaupt erst entwirft. Wie sie gegen Wände rennt, wie sie mit Max verhandeln muss, ob Passagen über ihn im Buch vorkommen dürfen, wie sie eine erzählerische Stimme findet: „Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest.“ Denn der Text ist vollständig in der Du-Form verfasst. Da muss man sich erst einmal zu Beginn des Buches hineinfinden, aber nach der Eingewöhnungszeit passt diese etwas distanzierte Form perfekt, wird mensch beim Lesen doch dadurch auch immer mit angesprochen.
Und auch wenn das alles jetzt unglaublich überkonstruiert klingt, ist es das dann bei der Lektüre gar nicht so sehr. Alles fließt wunderbar dahin, alles greift ineinander und ergänzt sich, lässt sich wunderbar lesen. Der Text ging mir an vielen Stellen ganz nah, entlockte mir immer wieder Tränen. Dieses Buch ist ein „Ja genauso ist/war es“-Buch für Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Ärzt:innenodyssee, mit „Migrationshintergrund“ aus dem nicht mehr existenten Staat DDR, eine Migration, für die man nicht einmal umziehen musste, und mit vielem mehr in ihrem Erlebnishorizont. Und es ist ein Buch für Menschen, die zwar all diese Erfahrungen nicht gemacht haben, aber die es besser verstehen wollen, wie es sich damit anfühlen kann.
Für mich persönlich stellt dieses Werk von Paula Fürstenberg ein wahres Highlight dar. Ein Roman, den ich in dieser kreativen Form und mit so eindringlich und authentisch vermittelten Inhalten noch nie gelesen habe. Ich bin restlos begeistert und ich weiß, egal, was ich hier schreibe, es wird sowieso weder dem Roman noch meiner Begeisterung gerecht, die ich beim Lesen empfunden habe.
Deshalb:
10/5 Sterne… nein natürlich 5/5 Sterne, geht ja nicht anders. ;)
Im Buch geht es um Dorothy Horstmann. Sie hat große Ambitionen. Sie arbeitet daran, Polio auszuradieren. Als Ärztin kann sie die beängstigenden Zustände der Epidemie hautnah miterleben. Leider wird ihr als Frau im 20. Jahrhundert nicht zugetraut, wichtige wissenschaftliche Erfolge zu erlangen. Sie kämpft also nicht nur gegen Polio, sondern muss sich auch gegen den alltäglichen Sexismus zur Wehr setzen.
Die Zustände im Buch bezüglich der Kinderlähmung sind sehr beängstigend rübergebracht. Die damalige Zeit wird so dargestellt, dass man sich als lesende Person gut einfühlen und die Hilflosigkeit und Angst der Menschen nachempfinden kann. Dadurch kann man auch nachvollziehen, mit was für einer Motivation Dorothy Polio bekämpft. Durch diese Tatsache fühlt sich die Respektlosigkeit ihr gegenüber natürlich noch mehr wie ein Schlag ins Gesicht an. Das Buch stellt meiner Meinung nach sehr gut dar, wie viel Dummheit hinter Sexismus und anderer Diskriminierung steckt. Denn wenn man den Forschungen aller im Buch erwähnten Frauen eher getraut hätte, wäre der entscheidende Schlag gegen Kinderlähmung voraussichtlich viel früher möglich gewesen. Es wird auch gezeigt, wie oft Frauen bevormundet werden und wie ihre Erkenntnisse ihnen nicht zugestanden oder ihre Forschungen nicht gewürdigt wurden.
Der Roman ist sehr beängstigend und spannend und verleiht den forschenden Frauen dieser Zeit eine Stimme, was ich sehr verdient finde.
Ich war sehr gespannt auf das Buch, zumal ich mit dem Thema alternative Hilfe in den Wechseljahren bisher keine Berührung hatte. Das Buch hat mich vom Cover her sehr angesprochen, zeigt es doch eine anscheinend selbstbewusste gesprächsoffene ältere Frau. Der Begriff Kompass und die versprochene Begleitung durch die Wechseljahre, eine gute Idee und mir schien es vom Konzept her so, dass man ein Problem direkt nachschlagen kann und eine Problemlösung angeboten bekommt.
Etwas überrascht war ich schon beim Durchblättern. Ein Rezept Liebestrank für den Herrn als Krönung ein Schuss Sahne? Der Pearl Index für Verhütung? Ist das eher nicht Info für junge Frauen?Dazwischen Begriffe wie SERM selective estrogen receptor modulators.
Kam mir vor wie Kraut und Rüben. Mönchspfeffer ist gut für Frauen bis Anfang 40, danach ist Yamswurzel besser.
Ich begann mich über die Autorin zu informieren und stellte fest, eine vermutlich sehr erfolgreiche Autorin, Seminarveranstalterin, Dozentin.
Die Nachfolgerin in ihrer Praxis bietet zum Beispiel ein Windelfrei Coaching an und Energetische Beratung. Alles Selbstzahler oder Privatversicherte.
Hier fehlt mir absolut der Zugang. Ein Kompass sollte jedem den Weg anzeigen, nicht nur denen, die es sich leisten können. Hier finden sich natürlich auch Rezepte um zum Beispiel eine Tinktur herzustellen. Eine der Zutaten Taigawurzel. Nicht in unserer Natur zu finden oder im Reformhaus. Vermutlich teuere Homöopathie. Nix für jedefrau.
Wie abgebrüht muss man sein, um in dieser Pandemiezeit, die inzwischen alle Lebensbereiche beeinflusst und über die wir täglich in den Medien die neuesten Entwicklungen vernehmen, auch noch ein Sachbuch zu lesen, das sich mit Seuchen aller Art ausführlich beschäftigt? Nun ja, ziemlich!
Aber so panne ist es nun auch wieder nicht. Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel "The viral storm", 2012 dann auf deutsch und wurde jetzt im Juni 2020 vom Rowohlt Verlag, mit dem Rückentexthinweis auf Covid19 neu aufgelegt. Allerdings scheint nur der Umschlag einen neuen Anstrich bekommen zu haben, denn die Erzählungen brechen 2011 ab und es werden zwar erstaunlich gute Tipps für baldige zukünftige Pandemien gegeben, vieles scheint wie die Faust aufs Auge des Corona Virus aus 2019 zu passen, aber die aktuelle Lage wird nicht besprochen, das Virus hat sich nur namentlich aufs Cover verirrt.
Zuerst gibt es eine kleine Lektion in Biologie. Bakterien, Pilze und Pflanzen besitzen Zellen und können sich selbständig vermehren, Viren und Prionen sind auf Wirtszellen angewiesen, damit sie einen ordentlichen Stammbaum bekommen. Viele sind harmlos, manche sind sogar von Vorteil, ein paar krankmachende Rüpel aber verderben allen den Ruf. Die zu entdecken und zu bekämpfen, ohne auf allen Ebenen tabula rasa zu machen, das ist Wissenschaft.
Und die Wissenschaft musste sich anstrengen. Sie musste nicht nur im tiefsten Kongo schauen, welche Mikrobiome dort den Menschenaffen scheinbar verschonen, um dann beim Verzehr von Bushmeat beim Menschen gnadenlos zuzuschlagen, sie musste auch verstehen, was den Menschen so anfällig macht und was der Sapiens seitdem alles falsch macht.
Denn seien wir mal ehrlich, Seuchen hat es schon früher gegeben und aus heutiger Sicht fällt es uns leicht, mit dem Finger auf die Fehler zu zeigen, die uns jetzt niemals mehr unterlaufen würden... wenn es denn so einfach wäre und wir ab sofort auf Urlaub, Sofortlieferungen, Familienzuwachs und vieles mehr verzichten würden. Unsere Welt ist hoffnungslos vernetzt, unsere Wirtschaft hängt wie Bandsalat zusammen, immer mehr Menschen drängen sich auf engstem Raum und der größte Teil der Bevölkerung wird abgehängt. Abgehängt von sauberen Trinkwasser, abgehängt von Hygienestandards und medizinischer Vorsorge und abghängt von regulären Märkten. So enstehen Brennpunkte, in denen Seuchen ausbrechen und mit immer schnellerem Tempo die ganze Welt umrunden können.
Mit viel Sachverstand führt uns Wolfe durch die frühe Menschheitsgeschichte, klärt über Fachbegriffe auf, beschreibt, was er und seine Kollegen tun, damit Seuchen verstanden und eingedämmt werden können und macht Vorschläge, wie eine zukünftige, weil immer dringender werdende Arbeit der Länder und Behörden aussehen könnte. Aber ein Großteil des Buches befasst sich auch mit erstaunlichen Sidesteps, die mich auf den gut 300 Seiten bei Laune gehalten haben, zwar nur sekundär dem Thema geschuldet, aber für ein umfassendes Verständnis wirkungsvoll schienen.
Natürlich wirbt der Virologe Nathan Wolfe zum Schluss für mehr Geld und Aufmerksamkeit in seinem Fachgebiet (vermutlich fließt das Geld seit diesem Jahr). Die Wichtigkeit für Mensch und Wirtschaft dürfte inzwischen jedem einleuchten, aber sein Vorschlag sämtliche Social Media Kanäle zu überwachen und so zukünftige Ausbruchsherde schneller identifizieren zu können, hat dann doch bei mir einen kleinen roten Alarmknopf anspringen lassen.
Alles in allem aber ist es ein vernünftiges Buch von einem Fachmann, unaufgeregt, aber doch eindringlich und gänzlich ohne Verschwörungstheorien.
In diesem Ratgeber geht es um ein völlig unterschätztes Organ, nämlich unseren Darm. Ein unermüdlicher Nährstoffmotor und zusätzlich so etwas wie ein" inneres Gehirn". Meiner Meinung nach sind viele Kleinigkeiten gerade für Laien sehr gut erklärt und beschrieben. Die einzelnen Wirkungsweisen der Enzyme genauso wie Zusammenhänge was z.B. Nahrungsunverträglichkeiten angeht. Das Buch lässt sich flüssig lesen, und was mir sehr gut gefallen hat, ist die Tatsache, dass der Autor aus eigener Erfahrung spricht und das Buch dadurch völlig ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Und den Leser zu langsamen und vorsichtigen Schritten animiert. Außerdem sind alle Empfehlungen in diesem Buch rein auf die Wirkstoffe und Wirkungen ausgerichtet, dadurch kommt das Buch völlig ohne Werbung aus, was mir persönlich gerade in diesem sensiblen Bereich unheimlich wichtig ist. Ein wenig fehlten mir die Umkehrschlüsse, denn ich erlebe schon häufiger, dass Menschen einen für sie falschen Weg einschlagen. Mit einem Intervall - Fastendiät z. B., die dann nicht den gewünschten Erfolg bringt, sondern das Leid noch verschlimmert. Hier hätte ich noch ein wenig mehr Aufklärungspotential gesehen.
Natürlich kann ein Sachbuch über ein Thema nicht gezielt und punktgenau sein, wenn die Problematik an sich selbst für die meisten Ärzte und Betroffenen jahrelang unerkannt vor sich hin schlummert, und zudem noch so komplex und chamäleonartig ist wie das RDS Syndrom.
Der Überblick ist jedoch hervorragend gelungen und selbst ich , die dieses Buch nicht aus einem Leidensdruck, sondern aus reinem Interesse gelesen hat, habe noch jede Menge interessante Aspekte herausfischen können und hoffe jetzt einiges davon umsetzen zu können.
Ein kleiner Kritikpunkt für mich ist noch die Umsetzung des E - Books, da ich zu 99% auf meinem Handy lese, in diesem Format sind die Tabellen total verrutscht und teilweise nicht lesbar.
Aber dies nur am Rande, insgesamt ist dieses Buch absolut empfehlenswert, für Menschen mit einer solchen Problematik um für sich selber gangbare Wege auszuloten und dann gezielter Therapien in Anspruch nehmen zu können.
„Meine innere Uhr“ von Pepe Peschel ist ein Buch für alle, die durch berufliche oder private Termine gezwungen sind, gegen ihre innere Uhr zu arbeiten, und die trotzdem leistungsfähig und gesund bleiben möchten. Mir hat das schlanke und kompakte Format des Buches sehr zugesagt. Auch die Aufmachung und die Farbwahl sind sehr modern und ansprechend.
Das Buch gliedert sich in 3 Teile. Im ersten Teil wird die biologische Uhr des Körpers erklärt und mit Studien untermauert. Ich fand das sehr interessant, teils aber auch recht langatmig geschrieben. Im zweiten Teil ging es um die Folgen der permanenten Ignoranz unserer inneren Uhr. Da habe ich mich – leider – in vielen Punkte wiedergefunden und musste schon des Öfteren mal Schlucken.
Der für mich interessanteste Part war der 3. Teil mit seinem 3 Schritte Programm. Ich möchte natürlich wissen, was ich im Alltag verbessern kann und der Leser bekommt hier wertvolle Tipps. Viele Tipps kannte ich bereits, hatte sie aber bisher nicht auf die innere Uhr bezogen. Manches was mir aber völlig neu und wird ausprobiert. Mein „UN-Tipp“ des Jahres war leider auch dabei… ich habe schon oft gelesen, dass man immer nur essen soll wenn man Hunger hat (zeitglich natürlich regelmäßig und am besten mit 4-5 h Abstand zwischen den Mahlzeiten). Wenn man als normaler Mensch aber nur isst wenn man selber Hunger hat, dann isst man ungefähr nie mit seiner Familie zusammen. Ich habe bis heute nicht verstanden wo da der Vorteil sein soll.
Alles in allem ist es aber ein wirklich gutes Buch, was ich gerne empfehle.
Ich lese gern mal einen Ratgeber, vor allem wenn eine berühmte Persönlichkeit diesen verfasst hat und er biografisch geprägt ist.
Im vorliegenden Sachbuch beschreibt das Model Shermine Shahrivar ihren Weg zu sich selbst und beleuchtet dabei Themen wie Beziehungen, Spiritualität, Sexualität, Ernährung, Beauty und Sport.
Wer also einen Diät- Ratgeber erwartet hat, der ist hier gänzlich falsch.
Die angesprochenen Themen sind in jedem Fall wichtig und sollten nicht außer Acht gelassen werden, allerdings konnte ich bei diesem Buch leider nicht wirklich etwas Neues mitnehmen, da alles Beschriebene bereits schon in diversen anderen Büchern und online durchgekaut worden ist.
Ich hatte mir erhofft mehr über Shermine Shahrivar zu erfahren, nur wird hier lediglich an der Oberfläche gekratzt. Das fand ich sehr schade, denn ich sehe sie als interessante Persönlichkeit, gerade weil sie alleinerziehende Mama ist.
Zudem ist das Sachbuch leider mit diversen Lebensweisheiten versehen, die eher an Kalendersprüche und Wandtattoos erinnern, als wirklich zu motivieren und zu unterstützen.
Der Schreibstil ist einfach gehalten und kurzweilig, so dass man es fix nebenbei lesen kann.
Die Fotos im Buch empfand ich als sehr ansprechend. Sie haben etwas Sinnliches an sich. Da hat man wirklich das Gefühl, dass sie mit sich im Reinen ist.
Wer einen richtig guten Ratgeber zum Thema Selbstliebe und gesunder Ernährung lesen möchte, der sollte zu "Sei glücklich, nicht perfekt" von Anja Zeidler greifen.
Als Printexemplar 144 Seiten, als Ebook 93 Seiten, das ist dann wirklich nur etwas für Fans der Autorin.
Fazit: Leider konnte dieses hübsch gestaltete Sachbuch meine Erwartungen nicht erfüllen, weshalb ich keine Empfehlung aussprechen kann.
Wieder ein Diätbuch - Diäten prägen den Alltag, insbesondere den von Frauen, und auch schon Teenagern.
Dieses Diätbuch ist von einem Modell - hmm, das motiviert im ersten Moment nicht so wirklich, denn woher soll die Autorin die Probleme von übergewichtigen Menschen verstehen können?
Beim Lesen des Buches habe ich dann aber erkannt, was ich immer wieder vergesse: jeder Mensch, hat sein Päckchen zu tragen - JEDER!
Dieses Buch ist gut aufgebaut - und für mich ist das besondere: das Buch versucht einen ganzheitlichen Ansatz zu bieten, und nicht nur auf die Punkte Ernährung und Sport einzugehen. Auch die Themenbereiche Beziehungen, Sexualität, Beauty und Spiritualität werden behandelt.
Dieser ganzheitliche Ansatz gefällt mir sehr gut. Jedoch ist für diesen Umfang das Buch einfach zu kurz geraten.
Ja das Buch bietet einige schöne Ideen - und ist vielleicht die Basis, wenn man den ganzheitlichen Ansatz und die Ideen dahinter kennen lernen möchte. Möchte man diesen aber wirklich umsetzen, benötigt man tiefergehende Bücher um sich damit zu beschäftigen.
Schön finde ich die im Buch eingebauten Lebensweisheiten und Philsophien - eines schafft das Buch damit nämlich definitiv: man beginnt zum Nachdenken, und damit, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Das Buch ist definitiv ein "anderes" Diätenbuch und hebt sich aus der Masse hervor - es bietet einen guten Einblick und regt zum Nachdenken an; aber um das Ganze wirklich langfristig umzusetzen, bietet es inhaltlich zu wenig.
Spannendes Beziehungsdrama
REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Treibgut“, dem im April vom Kindler Verlag veröffentlichten Roman von Adrienne Brodeur. Den Handlungsrahmen bilden die Vorbereitungen zur großen Party anlässlich des 70. Geburtstags des Meeresbiologen Adam Gardner. Reicht dies für einen 460-Seiten-Roman? Und ob! Denn nicht die Handlung steht bei der amerikanischen Autorin im Vordergrund ihres Romans, sondern das überaus komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der gutsituierten, in der Öffentlichkeit als musterhaft erscheinenden Vorzeigefamilie mit Vater Adam und den erwachsenen Kindern Ken und Abby. Der Autorin gelingt es auf faszinierende Weise, das in der familiären Abhängigkeit überaus schwierige Miteinander ebenso wie Gegeneinander unterschiedlicher Charaktere psychologisch tiefgründig und sprachlich eindringlich zu schildern, dass gerade dieser hintergründige Kleinkrieg für Spannung sorgt und beim Lesen einen Sog erzeugt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Im kapitelweisen Wechsel lernen wir jeweils für sich die Protagonisten immer näher und besser kennen: Adam Gardner blickt voller Sorge und zunehmender Verunsicherung auf seinen bevorstehenden Geburtstag: „Vielleicht war siebzig nicht das Ende der Welt, aber doch ein schwindelerregender Meilenstein, ein Riesenschritt auf den Abgrund der Sterblichkeit zu.“ Der einst erfolgreiche Meeresbiologe - „ein weiterer dummer Wisenschaftler mit Größenwahn, von seinem eigenen aufgeblasenen Ego zu Fall gebracht“ - mag sich nicht damit abfinden, dass er von jüngeren Wissenschaftlern aus seinem Büro gedrängt wird, und versucht, sich selbst zu trösten: „Er war ein Genie, dessen Aufgabe darin bestand, die endlosen Wunder der Tiefe zu erforschen. Er brauchte diesen schäbigen Arbeitsplatz nicht und erst recht nicht die damit verbundenen Scherereien.“ Ein letztes Mal will er sein Können beweisen und die Sprache der Wale entschlüsseln.
Sein Sohn Ken (41) ist erfolgreicher Immobilienunternehmer, Vater zweier pubertierender Zwillingstöchter, der in mentaler Stärke und unternehmerischem Erfolg seinem Vater nachzueifern versucht. Doch er steckt gerade in einer Ehekrise und leidet psychisch noch immer unter dem Verlust seiner Mutter, die einst bei der Geburt seiner Schwester Abby verstarb, als er erst drei Jahre alt war. Er hat „noch immer die Melodie der Stimme seiner Mutter beim abendlichen Vorlesen im Ohr“. Doch Schwäche darf er sich nicht eingestehen und schon gar nicht nach außen zeigen, bemüht er sich doch gerade um ein politisches Amt.
Seine unverheiratete Schwester Abby (38) ist Lehrerin und eine bislang noch unbekannte Künstlerin, die dank einer kommenden Reportage in einem Kunstmagazin kurz vor ihrem Durchbruch als Malerin steht. Sie ist im Grunde unselbstständig und vom Wohlwollen ihres Bruders abhängig, dem das von ihr genutzte Atelier gehört. „Immer noch lief sie auf Zehenspitzen um die Launen ihres Bruders herum wie ein rohes Ei. Und um die ihres Vaters auch.“ Doch ihre Schwangerschaft – sie erwartet ein Kind von ihrem verheirateten Jugendfreund David – ist Anlass zur Selbstbefreiung aus familiärer Abhängigkeit.
Dabei hilft ihr auch die etwa gleichaltrige Polizistin Steph, die sich als ihre Halbschwester zu erkennen gibt, Ergebnis eines Seitensprungs des gemeinsamen Vaters Adam. Das über Jahrzehnte sorgsam bewahrte Bild einer Musterfamilie beginnt langsam zu bröckeln. Lange gehütete Familiengeheimnisse dringen ans Licht. „Wir alle setzen manchmal Masken auf“, stellt Kens Psychiater fest. „Das nennt sich Selbstschutz. ... Man kann vergangenen Schmerz nicht überwinden, ohne ihn zu durchleben. Das nennt sich sonst Leugnen.“ Diese Masken beginnen zu fallen. Alles läuft unaufhaltsam auf eine familiäre Katastrophe zu. So wird „Treibgut“ vor allem in der zweiten Hälfte zu einem spannenden Familienroman und Beziehungsdrama, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.