Zwei Leben: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Zwei Leben: Roman' von Ewald Arenz

Inhaltsangabe zu "Zwei Leben: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:300
EAN:9783832182052
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Lass die anderen reden

Buchseite und Rezensionen zu 'Lass die anderen reden' von Vanessa Engelstädter
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Lass die anderen reden"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:224
Verlag: Kosmos
EAN:9783440178461
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Rezensionen zu "Lass die anderen reden"

  1. tierischer Umgang mit Stress

    Im Ratgeber "Lass die anderen reden" vom Kosmos Verlag wird Umgang mit Stress thematisiert, und zwar mit Mensch und Tier/Hund bzw. zwischen Hund und Begleiter. Dieser tierische Aspekt hat mich sehr angesprochen, weil das wirklich einmal etwas anderes ist, in der Vielzahl der Stress Ratgeber bzw. Stress Coaching Bücher.

    Das Cover sagt mir persönlich nicht so zu - ich mag auf Ratgeber Büchern einfach keinen Menschen am Cover sehen, insbesondere nicht, wenn es sich dabei auch noch um die Autorin handelt.

    Das Buch ist sehr gut recherchiert und wirklich sehr ausführlich in seinen Erklärungen. Es wird hingewiesen, wie man Fehler erkennen kann und, ganz wichtig, auch Lösungen dafür angeboten. Was ich etwas vermisse, war etwas Auflockerung im Buch. Es ist viel zu viel Text, man hätte hin und wieder Fotos/Illustrationen einbauen können - im Buch hingegen mag ich die Fotos recht gerne.

    Ich finde das Buch sehr interessant.

 

Von Eintagsfliege bis Grönlandwal

Buchseite und Rezensionen zu 'Von Eintagsfliege bis Grönlandwal' von Lily Murray
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Von Eintagsfliege bis Grönlandwal"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:64
Verlag: Carlsen
EAN:9783551255051
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Rezensionen zu "Von Eintagsfliege bis Grönlandwal"

  1. In Begleitung eines Erwachsenen zu empfehlen.

    Im Original ist das Coverbild noch besser als gedacht. Hier wirken die kleinen Felder nicht so gedrängt, da das Buch an sich relativ groß ist. Dabei aber auch nicht zu schwer für kleine Kinderhände, was mir auch gut gefällt.
    In dem Vorwort " Unsere Zeit auf der Erde " wird Sinn und Zweck dieses Buches erklärt. Für Kinder ab 5 Jahren aber kaum zu verstehen, auch wenn es Erwachsene erklären. Ok. muss man ja nicht mit Vorlesen.
    Das Buch beginnt mit den Eintagsfliegen, wobei manche Arten in der Erwachsenenform nur 5 Minuten leben. Die Bilder sind sehr schön gestaltet und nach dem doch etwas anspruchsvolleren Text sehe ich die Mückenschwärme in der Abenddämmerung mit anderen Augen.
    Man sollte als vorlesender Erwachsener sich das Buch und die einzelnen Kapitel gut anschauen. Für manche Kinder ist das Bild der Falltürspinne eher erschreckend und im Text zu erfahren, dass sie ihre Höhle in ihrer doch relativ langen Lebenszeit kaum verlässt ist auch nicht so prickelnd.
    Als erwachsener Leser habe ich vieles interessantes neu gelernt und finde das Buch auch für Kinder in Erwachsenenbegleitung gut. Nur muss es nicht unbedingt schon ab 5 Jahren sein.

 

Nero Corleone

Buchseite und Rezensionen zu 'Nero Corleone' von Elke Heidenreich

Inhaltsangabe zu "Nero Corleone"

Format:Taschenbuch
Seiten:88
EAN:9783423625081
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Der Mann im roten Rock

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Mann im roten Rock' von Julian Barnes
4.6
4.6 von 5 (15 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Mann im roten Rock"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:265
EAN:
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Rezensionen zu "Der Mann im roten Rock"

  1. Ein literarisches Puzzle

    Julian Barnes war mir bisher eher als Romanautor bekannt. Dass er jedoch auch andere "Gattungen" erfolgreich "bedienen" kann, beweist er mit seinem famosen Portrait über den französischen Arzt Samuel Pozzi (1846-1918) mit dem Titel "Der Mann im roten Rock", welches in hochwertiger Qualität vom Kiepenheuer&Witsch-Verlag herausgebracht wurde. Ein definitives Schmuckstück in jeder Sammlung!

    Barnes schreibt allerdings keine schnöde 08/15 Biografie über einen Arzt, der mir (zugegeben) bis zum jetzigen Zeitpunkt völlig unbekannt war. Stattdessen entwirft er zusätzlich zu den biografischen Einsprengseln Kaleidoskop artig ein Portrait der sog. „Belle Èpoque“, verbindet nützliches Wissen über Kunst, Literatur, Politik etc. mit anekdotischen Absätzen, über die man bei der Lektüre schmunzeln oder den Kopf schütteln kann und schafft es trotzdem, die geneigte Leserschaft „bei der Stange“ zu halten, indem er immer wieder den „Running Gag“-Satz „Wir wissen es nicht.“ einstreut. Am Ende trägt er alles „Nichtwissen“ mit einem Augenzwinkern noch einmal zusammen.

    Ein zusätzlicher Pluspunkt dieses einzigartigen Portraits sind die vielen Abbildungen, die das Buch und die Lektüre „lebendig“ gestalten. Man lernt dadurch viele Zeitgenossen von Dr. Pozzi und seinen beiden Begleitern, dem Grafen Montesquiou und dem Prinzen Edmonde Polignac kennen, trifft auf (literarische) Bekannte wie Oscar Wilde, Marcel Proust, die Brüder Goncourt und Gustave Flaubert (um nur ein paar zu nennen) und wird „Zeuge“ von fortschrittlichen Entwicklungen im Gesundheitswesen, für die sich Samuel Pozzi vehement eingesetzt hat.

    Auch werden die teilweise gravierenden Unterschiede zwischen Frankreich und England (etwa im Prozesswesen) eingestreut. Den Abschluss des Buches bildet ein leidenschaftliches Plädoyer Julian Barnes´ für Europa; wer mag es ihm verübeln, wo sein Heimatland doch gerade erst aus der EU ausgetreten ist…

    Obwohl die Lektüre an der ein oder anderen Stelle alles andere als leicht ist, sei dieses Buch all jenen empfohlen, die gerne „puzzeln“ und ein wenig Geduld aufbringen.

    Volle Leseempfehlung und entsprechend 5*.

    ©kingofmusic

  1. Sittenbild der Belle Epoque

    Julian Barnes, einer der Großen der englischen Autoren, hat mich mit seinem neuen Buch überrascht.

    „Der Mann im roten Rock“ ist Dr. Samuel Pozzi ( 1846-1918 ), einem Pariser Arzt, der nicht nur Modearzt der eleganten Welt, sondern auch als Gynäkologie wegweisend war. Pozzi wurde von John Singer Sargent gemalt, in eben diesem titelgebenden roten Rock. Auf dem Cover sehen wir nur einen Ausschnitt, aber das Gemälde zeigt einen eleganten Mann in den besten Jahren, gekleidet in einen luxuriösen Hausmantel, dessen kostbaren Stoff Singer Sargent in ineinanderfließenden Rottönen malt. Darunter blitzen Rüschen an Kragen und Manschetten. Der Ausschnitt lenkt den Blick des Betrachters auf die feingliedrigen Hände eines begabten Operateurs.
    Aber Barnes wählt nicht die direkte Methode um Pozzi zu charakterisieren, er nimmt sich gleich der ganzen Epoche an. Die Belle Epoque, die vielleicht erst in der Rückschau zur „schönen“ wurde.

    Seit einer gemeinsamen London-Reise waren Dr. Pozzi, der Graf Montesquiou, ein Homme de lettre und Prince Edmonde Polignac befreundet. Pozzi, aus bürgerlicher Kreisen stammend, suchte und genoss die illustre Gesellschaft. Die Ehe mit Therese, beziehungsweise deren Mitgift, ermöglichte es ihm auch finanziell mitzuhalten, zumindest zu Beginn seiner Laufbahn.

    Erstaunlich fand ich immer wieder, dass Pozzi trotz seiner Prominenz und seiner Patientinnen aus Adel, Geldadel und Gesellschaft, ein Anliegen war, auch das allgemeine Krankenhauswesen zu verbessern. Er sorgte für einen vorbildlichen, nach allen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen Neubau eines Krankenhauses.
    Barnes nähert sich seiner Figur auf vielfach mäandernden Schleifen, dabei fließt viel aus der Politik und der Gesellschaft dieser Epoche ein. Man trifft Sarah Bernhardt, (Pozzi hat wohl eine Affäre mit ihr) die Brüder Goncourt, Alphonse Daudet, Oscar Wilde und viele mehr. Es ist ein großes Vergnügen von Julians Barnes überbordenden Kenntnissen der Zeit zu profitieren. Malerei, Literatur, Musik und Theater, der Autor breitet diese aufregende Epoche vor dem Leser aus.

    Immer wieder kommt es zu Vergleichen zwischen Frankreich und Großbritannien, zum Beispiel bei Gerichtsprozessen. Honoriert in Frankreich der Richter Ironie und Schlagfertigkeit des Angeklagten, wird ein Crime passionel generell mit Milde beurteilt, wird Oscar Wilde bei seinem Prozess in London die gegenteilige Erfahrung machen müssen.

    Mit seiner eleganten Erzählweise wird die Lektüre immer zu einem unterhaltsamen, wenn auch nicht einfachem Lesevergnügen.

    Im Buch finden sich unter anderen Illustrationen auch viele Portraitfotos der Sammlung Potin, so dass die meisten erwähnten Persönlichkeiten auch visuell greifbar werden.

    Ganz zum Schluss ergreift Barnes auch noch leidenschaftlich für ein gemeinsames Europa das Wort und verurteilt neu aufkommenden Nationalismus wie Brexit gleichermaßen

  1. Überall Pozzi

    „Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an.“

    Einer dieser drei Franzosen war Dr. Samuel Pozzi, die anderen beiden der Prinz Edmond de Polignac und Graf Robert de Montesquiou. Das 19. Jahrhundert näher sich seinem Ende. Für die, die es sich leisten konnten, war es die Belle Époque, eine Zeit der schönen Künste, der Reisen, der Ausschweifungen. Der britische Schriftsteller Julian Barnes ließ sich von dem markanten Gemälde „Dr. Pozzi at home“ des zu der Zeit gefragtesten Portraitmalers John Singer Sargent zu dieser absolut ungewöhnlichen Homestory über Samuel Pozzi inspirieren. Pozzi ist der „Mann im roten Rock“.

    Wer war nun dieser Samuel Pozzi? Arzt, Politiker, Liebhaber schöner Frauen. Trotz seiner bürgerlichen Herkunft bewegte er sich in den Salons der Adeligen wie ein Fisch im Wasser.

    „Pozzi war überall!“

    Doch Barnes hat hier weit mehr als eine Biografie verfasst. Das Buch ist ein Panoptikum der Epoche, das Sittenbild einer dekadenten Gesellschaft. Barnes spart nicht mit pikanten Details, Klatsch und Tratsch. Er vermittelt sein ungeheures Wissen über die damalige Zeit und erstreckt seine Schilderungen auf die Kunst in Wort und Bild, aber auch Justiz und Politik, beleuchtet das gesellschaftliche und damit einhergehende politische Ränkespiel zwischen Frankreich und England. Wobei Barnes sehr pointiert eine Brücke zu der aktuellen politischen Entwicklung in seiner britischen Heimat schlägt und seinen Unmut darüber kaum verhehlen mag.

    „Wir könnten auch mit einer Kugel beginnen und mit der Waffe, aus der sie abgeschossen wurde. Das funktioniert eigentlich immer: Eine eherne Theaterregel besagt, wenn man im ersten Akt eine Waffe sieht, wird sie im letzten garantiert abgefeuert. Aber welche Waffe und welche Kugel? Es gab so viele zu jener Zeit.“

    Barnes wird etliche Kugeln zum Rollen bringen. Eine Karambolage vieler Ereignisse, elegant über die Bande gespielt erledigt er die Liebschaft Pozzis zu Sarah Bernhardt, den Prozess gegen Oscar Wilde, streift hier an den Brüdern de Goncourt an und dort an der Dreyfus Affäre. Und noch an so viel mehr.

    Diese Lektüre ist ungemein fordernd, bereichernd und lehrreich. Barnes geschliffene Sprache, aber auch die elegante Aufmachung des Buches mit unzähligen (historischen) Abbildungen macht aus diesem Buch ein Schmuckstück.

    Letztlich ist das Buch auch Barnes Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben, insbesondere dem Schreiben einer Biografie, über gute und schlechte Bücher und darüber, was wir alles nicht wissen.

  1. 4
    14. Feb 2021 

    Biographie einer Epoche

    2015 stieß der frankophile englische Autor Julien Barnes bei einem Besuch der National Portrait Gallery in London auf das übermannsgroße Gemälde „ Pozzi at home“ des amerikanischen Portraitmalers John Singer Sargent ( 1856 - 1925 ) und sein Interesse war geweckt.
    Wer war dieser Dr. Pozzi?
    Samuel Jean Pozzi, 1846 in der Dordogne geboren, 1918 gestorben, war ein Pariser Frauenarzt und Chirurg, ein Modearzt, der sehr viele Berühmtheiten seiner Zeit - Künstler und Adelige- zu seinen Patienten zählte, aber auch 35 Jahre lang an einem öffentlichen Krankenhaus gearbeitet hat. Er war ein Reformmediziner, der den ersten Lehrstuhl in Gynäkologie in Frankreich innehatte und dessen „ Lehrbuch der Gynäkologie“ jahrzehntelang das Standardwerk auf seinem Gebiet war. Gleichzeitig aber war Pozzi ein Lebemann und umschwärmter Liebling der Frauen ( „ ekelhaft gutaussehend“ ). Obwohl verheiratet waren seine Affären stadtbekannt.
    Trotz seiner Herkunft - bürgerlich und aus der Provinz stammend - schaffte er es aus eigener Kraft ( und mit dem Geld seiner Frau ) in die höchsten Kreise der Pariser Gesellschaft. Er war bekannt und befreundet mit allen, mit den Dandys und Lebemänner dieser Zeit, mit den Dichtern und Künstlern. Schon als Student hatte er eine Affäre mit der legendären Sarah Bernhard, der er ein Leben lang freundschaftlich verbunden blieb.
    Er war Prozessbeobachter im Fall Dreyfus, auf dessen Seite er stand und den er auch als Arzt betreute.
    Das Leben dieses Doktor Pozzi faltet Barnes mit sehr vielen Episoden und Details vor uns auf. Dabei weiß der Autor um die Schwierigkeiten beim Verfassen einer Biographie. „ Wir wissen es nicht“ , heißt es daher oft und „ Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden ,...“ ( S. 127 )
    Doch Julian Barnes hat mit „ Der Mann im roten Rock“ nicht einfach eine Biographie dieses außergewöhnlichen Mannes geschrieben, sondern er erzählt an dessen Leben entlang die Biographie einer ganzen Epoche. ( Denn „ Pozzi war überall.“)
    Jener Zwischenkriegszeit zwischen 1870/71 und 1914, die wir heute als „ Belle Epoque“ kennen. „ Die Belle Epoque : der Inbegriff von Friede und Freude, von Glamour mit mehr als einem Hauch von Dekadenz, eine letzte Blüte der Künste und letzte Blüte einer etablierten Society,...“ ( S. 34 )
    Und so entwirft Barnes ein riesiges Wimmelbild dieser Jahre. Dazu lässt er jede Menge bekannter und heute weniger bekannter Personen auftreten, von Maupassant über die Brüder Goncourt, von Oscar Wilde bis Marcel Proust. Über sie erzählt er unendlich viele Anekdoten und skurrile Begebenheiten, oftmals Klatsch und Tratsch ( viele Bettgeschichten), Wichtiges und eher Nebensächliches.
    Dabei greift Barnes eine Besonderheit dieser Zeit auf, das Duell und zeigt an vielen Beispielen, wie nichtig oftmals die Gründe waren, die zum Austausch von Kugeln geführt haben. Mit dieser Unsitte hat der Erste Weltkrieg glücklicherweise aufgeräumt, wie Barnes etwas zynisch schreibt.
    Immer wieder geht Barnes höchst amüsant auf die Unterschiede zwischen Engländern und Franzosen ein . Dabei kommen die englischen Frauen und die englische Hauptstadt wenig gut weg. Auch über die Liebe herrschen unterschiedliche Ansichten. Während die Briten an die Gemeinsamkeit von Liebe und Ehe glauben, sieht der Franzose das pragmatischer. „ Man heiratete um der gesellschaftlichen Stellung, um des Geldes und Besitzes Willen und um die Familie fortzuführen, aber nicht aus Liebe. ...Die Ehe war lediglich ein Basislager, von dem das abenteuerlustige Herz zu neuen Ufern aufbrach.“
    ( S. 51 )
    Und während für politisch Verfolgte in Frankreich oft England das Ziel war, wohin sie flüchteten, so floh man von der Insel eher, um einem Skandal zu entgehen. „ Sie schickten uns ihre geschassten politischen Köpfe und gefährlichen Revolutionäre, wir schickten ihnen unser nobles Gesindel.“ ( S. 44 )
    Als zweite Hauptfigur neben Pozzi wählte Julian Barnes den Grafen Montesquiou, einen homosexuellen Dandy und mittelmäßigen Dichter. Dessen exzentrischer Lebensstil war Anregung für andere Literaten; so war er Vorbild für eine Figur in Marcel Prousts „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und der dekadente Held in Joris- Karl Huysmans‘ Buch „ Gegen den Strich“ trägt eindeutige Züge des Grafen.
    Obwohl Pozzi mit Montesquiou regen Umgang pflegte und obwohl er auch den Freuden des Lebens niemals abgeneigt war, so war er doch ein ganz anderer Typ Mensch. Pozzi war aufgeschlossen und wissbegierig, ein moderner Wissenschaftler, dem es um den Fortschritt und die Verbesserung in der Medizin ging. Während der Dandy, eine Erscheinung der „Belle Epoque“ , nur um sich selbst kreist, nur die Selbstinszenierung und die Ästhetisierung des eigenen Lebens im Blick hat. „ Wem gilt die Liebe des Dandys? Sich selbst, natürlich.“ ( S. 71 )
    Weshalb Julian Barnes Sympathie dem Arzt Samuel Pozzi gilt, macht er nochmals in seinem Nachwort deutlich. Gerade Pozzis Maxime „ Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“ hat es ihm angetan. Pozzi ist für den englischen Autor der Gegenentwurf zur Ignoranz und Selbstgefälligkeit der Engländer, die sich aktuell bei der Brexit - Abstimmung wieder gezeigt hat. Pozzi war zwar ein Patriot, aber kein Chauvinist. Er war weltoffen und zukunftsorientiert und jederzeit bereit, vom Ausland zu lernen.
    Hervorzuheben ist auch die wunderbare Machart des Buches. Einige Porträts, neben dem titelgebenden „ Mann im Rock“ , des Societymalers Sargent erfreuen den kunstliebenden Leser, sowie die klugen Interpretationen des Autors . Dazu machen zahlreiche Photos sowie die Schokoladen - Sammelbilder der Firma Potin die Figuren lebendig.
    Julian Barnes hat mit „ Der Mann im roten Rock“ eine äußerst kluge und elegant geschriebene Biographie einer beachtenswerten Person und einer spannenden Epoche geschrieben. Dazu hat er sehr, sehr gründlich recherchiert und eine Unmenge an Material zusammengetragen. Das wirft zwar einen sehr detaillierten Blick auf die Gesellschaft und das Denken jener Zeit, allerdings hätte ich es in dieser Fülle nicht gebraucht.
    Barnes reiht, zwar gekonnt, Episode an Episode, Betrachtung an Überlegung, verknüpft leichthändig die verschiedenen Themen, doch ab und an fehlte mir hier die Stringenz.
    Trotz dieser leichten Vorbehalte ist „ Der Mann im roten Rock“ eine literarisch anspruchsvolle, sehr erkenntnisreiche und unterhaltsame Lektüre, die ich gerne weiterempfehle.

  1. Eine Biografie der anderen Art

    "Der Mann im roten Rock" ist ein Gemälde von John Singer Sargent aus dem Jahr 1881 und zeigt Dr. Samuel Jean Pozzi. Der Klappentext, und auch der Titel, lassen vermuten, dass es sich um die Biografie von Dr. Pozzi handelt. Tatsächlich lebte dieser ein sehr bewegtes Leben. Er war seinerzeit ein berühmter Arzt, Vorreiter auf dem Gebiet der Gynäkologie und ärztlichen Hygiene, vielfältig interessiert, weit gereist und verkehrte in den besten Kreisen. Dies alles hätte genug Stoff für eine Biografie (oder zwei) hergegeben.

    Das titelgebende Gemälde und die Person Dr. Pozzis nutzt Julian Barnes jedoch nur als Aufhänger für eine Reise ans Ende des 19. Jahrhunderts. Spinnennetzartig erzählt er gefühlte tausend Geschichten unzähliger historischer Persönlichkeiten, die teils nur lose oder gar nichts mit Dr. Pozzi zu tun haben. Anhand von Anekdoten und Anekdötchen sowie unzähligen, sicherlich profund recherchierten Informationen mäandert Julian Barnes durch die Zeit und lässt die sog. Belle Époque wiederauferstehen.

    Das alles ist zweifelsohne interessant zu lesen. Dem Buch ist zudem anzumerken, dass Julian Barnes die Recherche für das Buch und die Niederschrift unendlich viel Freude gemacht haben. Sein Stil ist makellos und eloquent. Allein schon deshalb lohnt es sich, das Buch zu lesen. Als kleiner Kritikpunkt verbleibt allerdings, dass er weniger an seine Leser gedacht hat. Ein stärker ausgeprägter roten Faden oder Rahmen hätten es mir erleichtert, die vielen Einzelinformationen zu verorten und einprägsam nachzuvollziehen. Meine Kapazitäten hat Julian Barnes jedenfalls ziemlich ausgereizt. Daher vergebe ich vier Sterne.

  1. Dr. Samuel Pozzi oder "Der Mann im roten Rock"

    Dr. Samuel Pozzi oder " Der Mann im roten Rock"

    Julian Barnes ist mir durch mehrere Werke positiv im Gedächtnis geblieben, daher war ich sehr neugierig auf die neueste Veröffentlichung von ihm.
    Doch hier handelt es sich um eine Biografie, deshalb lässt es sich im Grunde gar nicht mit den mir bekannten Werken vergleichen. Dass lesen ist mir zeitweise schwer gefallen, da ich mit vielen Künstlern und Lebemännern aus der Zeit der Belle Époque , zu deren Zeit die Biografie ansetzt, wenig, mitunter gar nichts anfangen konnte. Größen wie Oscar Wilde oder Marcel Proust waren mir natürlich ein Begriff, doch Barnes verknüpft noch viel mehr Personen miteinander und mit dieser Zeit. Die am Ende des Buches auch so ziemlich ihren Glanz verloren hat.

    Hauptperson stellt der damals sehr erfolgreiche Gynäkologe Dr. Samuel Pozzi dar, der zu Beginn mit zwei weiteren Herren eine Reise antritt. Ob die drei gute Freunde waren, konnte ich nicht mal erkennen, aber sie gehörten wohl zur damaligen High-Society und passten daher gut zusammen. Jeder kannte damals wie heute jeden der Rang und Namen hatte.
    Im weiteren Verlauf erfahren wir einiges aus dem Leben der drei Männer. Ebenso erfahren wir über viele andere Künstler wo sie verkehrten, mit wem sie sich umgaben und so weiter. Einiges hat einen direkten Bezug zu Pozzi, doch bei vielen Personen fehlte mir dieser, oder ich konnte ihn einfach nicht nachvollziehen.

    Der Autor schaffte es dann irgendwann doch mich zu fesseln, und mir die Epoche und die Menschen aus dem gehobenen Stand näher zu bringen. Seine Intensität der Recherche muss immens gewesen sein, dafür verdient er große Anerkennung. Vor allem weil ihm hier und da Informationen fehlten, da beispielsweise Briefe oder Tagebücher, die Aufschlüsse hätten geben können, zerstört oder unauffindbar waren. Doch Barnes stellte sich dieser Aufgabe und ließ nur die echten Fakten sprechen. Und räumte an gegebener Stelle ein, dass es nicht nachvollziehbar sei, dass sich alles so und nicht anders abgespielt hat.

    Doch warum legte er sein Hauptaugenmerk auf Pozzi? War es das Gemälde, welches Pozzi noch in jungen Jahren abbildete, von dem Barnes als Kunstkenner so begeistert war? Oder wollte er mehr über diesen durchsetzungsstarkes Mann erzählen, der auf dem Gebiet der Wissenschaft viel erreicht hat? Wollte er den Leser am Leben dieses Menschen teilhaben lassen? Ich bin am Ende zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich gar keine Rolle spielt warum, sondern dass er es getan hat.
    Trotz meiner anfänglichen Schwierigkeiten aufgrund der Fülle an Personen, bilde ich mir ein gutes Bild der Zeit und dieses Mannes im roten Rock bekommen zu haben.
    Ein Buch, das Zeit erfordert. Zeit und Geduld, doch es hat sich am Ende gelohnt.

  1. Kaleidoskop einer Epoche

    "Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an.""

    Mit diesem Satz beginnt Julian Barnes die ungewöhnliche Biografie über den französischen Gynäkologen Dr. Samuel Pozzi. Der zu seiner Zeit sehr bekannte Arzt schrieb ein fortschrittliches Standardwerk über Gynäkologie und war DER Arzt der gesellschaftlichen Oberschicht während der sogenannten "Belle Époque". Das Gemälde "Dr. Pozzi at Home" des amerikanischen Porträtmalers John Singer Sargent weckte das Interesse des Autors sich näher mit dem Leben Pozzis und vor allem dieser faszinierenden Epoche zu beschäftigen. Und so ist dieses Buch auch weniger eine Biografie einer einzelnen Person, sondern eher eine Sammlung von Anekdoten und Geschichten der Zeit. Es enthält eine Fülle an Informationen; Namen und Begebenheiten, aber auch Klatsch und Tratsch. Nicht alles ist interessant, vieles nebensächlich, aber wenn man sich intensiv mit Buch befasst, erfährt man viel Wissenswertes und kann viel Freude an diesem Plauderton haben. Die wunderbare Gestaltung des Buches hat es mir besonders angetan. Das Papier ist etwas fester, es gibt viele Fotografien, aber auch farbige Bilder von Gemälden, die sehr aufmerksam und detailreich beschrieben werden, unter anderem das schon erwähnte "Dr. Pozzi at Home". Die Bildbeschreibungen haben mir am besten gefallen und auch der leichte Plauderton Barnes' mit dem er durch diese Zeit wandelt, traf genau meinen Nerv. Ich hatte bisher noch nichts von diesem Autor gelesen, was ich jetzt schnell nachholen möchte.

    Wer eine reine Biografie des durchaus interessanten und beschreibenswerten Lebens Pozzis erwartet, wird vielleicht enttäuscht sein, mir hat in dieser Hinsicht auch ein wenig die Gradlinigkeit gefehlt, aber es ist ein interessantes Buch mit vielen Geschichten und Geschichtchen einer faszinierenden Epoche.

  1. 3
    07. Feb 2021 

    Klatsch und Tratsch im 19. Jahrhundert

    Samuel Pozzi, der von 1848 bis 1918 lebte, war für mich bisher ein völlig Unbekannter. Er war Arzt, ein Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie. Und auch sonst ein sehr umtriebiger Mensch, der seiner Zeit in Vielem weit voraus war. Julian Barnes hat es sich zur Aufgabe gemacht, uns diesen Mann ein wenig näher zu bringen – und nicht nur ihn. Wir lernen seine Freunde, weitere Bekannte und Unbekannte kennen und die Zeit, in der er lebte.
    Im Plauderton erzählt Barnes nicht nur von Dr. Pozzi und seinen zahlreichen amourösen Verhältnissen, sondern auch eine Vielzahl von Anekdoten über bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten. Beispielsweise worauf Charles de Gaulles Abneigung gegenüber den Briten zurückzuführen war (Faschoda) oder Näheres zum Entdecker des Tourette-Syndroms. Keine Frage, wer sich für die Belle Époque interessiert, wird hier eine reichhaltige Fundgrube an historischen wichtigen aber auch belanglosen Informationen entdecken. Und nicht nur an Schriftlichem: Der Verlag hat aus dieser Lektüre ein wunderschönes Buch gemacht, gedruckt auf hochwertigem Papier mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißbildern, die viele der damaligen Persönlichkeiten auf Gemälden oder Photos abbilden. Nur die Biographie des Herrn Dr. Pozzi kommt leider etwas zu kurz, wie ich finde.
    Julian Barnes‘ Begeisterung an dieser Epoche und seinen Menschen (zumindest denen aus der gehobenen Schicht) ist überdeutlich zu spüren, was bedauerlicherweise nicht immer zum Vorteil der Lesenden gereicht. Es scheint, als wolle er uns so viel wie möglich an seinem immensen Wissen teilhaben lassen, und so werden viele der erzählten Dinge nur angerissen – zu knapp, wie ich häufig fand. Gerade Dr. Pozzi, dessen Gemälde das Cover des Buches zeigt, kommt meiner Meinung nach leider, wie schon erwähnt, viel zu kurz. Dies mag daran liegen, dass es über und von seiner Person nicht sehr viele Hinterlassenschaften gibt wie beispielsweise Briefe, Tagebücher o.ä. Wenn, dann sind es meist Dokumente aus zweiter oder dritter Hand wie beispielsweise das Tagebuch seiner Tochter oder die Briefe Sarah Bernhardts an Dr. Pozzi. Damit entsteht zwangsläufig ein ziemlich fragmentarisches Bild des titelgebenden Mannes ‚im roten Rock‘, während sein Freund Robert de Montesquiou-Fezensac wesentlich häufiger Erwähnung findet.
    So ist dieses Buch trotz des Titels kein Porträt einer einzelnen Person, sondern vielmehr ein Panorama der Belle Époque mit vielen Informationen aus jener Zeit – Klatsch, Tratsch und Belangloses mit inbegriffen.

  1. Mit Vergnügen durch die Belle Époque

    An seinen Romanen wie "Vom Ende einer Geschichte" oder "Die einzige Geschichte" hatte ich in den vergangenen Jahren schon viel Freude, ohne zu wissen, dass Julian Barnes auch Sachbücher schreibt. Sein neuestes, "Der Mann im roten Rock", konnte ich nun lesen, mit großer Hochachtung vor Barnes‘ enormem Quellenstudium sowie seiner Gabe, Mosaiksteine der Geschichte gekonnt zu einem Gesamtbild anzuordnen und unzusammenhängende Fäden scheinbar spielerisch zu verweben. Allerdings ist der Gegenstand des Buches nicht in erster Linie, der französische Chirurg und Frauenarzt Dr. Samuel Jean Pozzi (1846 – 1918), der diese beiden Fachrichtungen in seinem Heimatland revolutionierte, sondern vielmehr die Gesellschaftsschicht, in der er sich bewegte: die „ferne, dekadente, hektische, gewalttätige, narzisstische und neurotische“ Belle Époque zwischen 1870 und 1914. Duelle und Attentate, Tratsch, Klatsch und Gerüchte, sexuelle Orientierungen, Kunst, Literatur, Sammlerleidenschaft, Mäzenaten- und Dandytum, Aufschneiderei und Exzentrik, Freundschaften und Feindschaften, Ehen und Liebschaften und immer wieder Vergleiche zwischen Frankreich und Großbritannien, all das interessiert Julian Barnes ungleich mehr als antiseptische Operationsverfahren oder politische Entwicklungen. Wie elegant er allerdings darüber schreibt, ließ mich zunehmend vergessen, dass ich eigentlich mehr über die Meilensteine der Medizingeschichte erfahren wollte, ähnlich wie in der detailreichen Biografie "Der Horror der frühen Medizin" über Pozzis Zeitgenossen und Vorbild Joseph Lister, in der die Medizinhistorikerin Lindsey Fitzharris völlig andere Interessen bedient.

    Panorama einer Epoche
    Erstmals begegnete Julian Barnes dem „Mann im roten Rock“ 2015 in der National Portrait Gallery in London auf dem 1881 entstandenen Gemälde Dr. Pozzi at Home von John Singer Sargent, das als Ausschnitt das Cover ziert. Seine Neugier war geweckt. Ausgehend von einer Bildungs- und Einkaufsreise, die Pozzi im Jahr 1885 mit dem Prinzen Edmond de Polignac und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezensac nach London unternahm, katapultiert uns Barnes in das Leben der Pariser High Society. Vor allem der Graf, ein mäßig erfolgreicher Romancier, homosexueller Dandy und Exzentriker, nimmt viel Raum ein. Er war Vorbild für mehrere Romanfiguren, darunter die Hauptfigur in Joris-Karl Huysmans‘ Roman Gegen den Strich (der wiederum eine Rolle in Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray und beim Prozess gegen ihn spielte), und im Werk von Marcel Proust. Aber auch die Brüder Goncourt, die Familie Proust, Paul Hervieu, Lucien Daudet, Sarah Bernhardt, Guy de Maupassant, Jean Lorrain, Claude Monet, Alexandre Dumas d. J. und viele, viele andere tauchen als Freunde, Feinde, Patienten oder Geliebte Pozzis auf. Von allen gibt es Abbildungen, häufig Schokoladenbildchen der Firma Potin, in diesem opulenten, auf hochwertigem Papier gedruckten und doch überraschend preiswerten Band.

    Ein Tausendsassa
    Samuel Pozzi, Nachfahre italienischer Protestanten aus der Dordogne und mit einer englischen Stiefmutter zweisprachig aufgewachsen, war Begründer der französischen Gynäkologie, erster Lehrstuhlinhaber, Lehrbuchautor, Kosmopolit, Modearzt und für medizinische Neuerungen aus aller Welt aufgeschlossen, aber auch Kunstsammler, Senator, Dreyfusien und Salonlöwe. Er setzte sich für den medizinischen Fortschritt und für schonende, ganzheitliche Behandlungsformen ein, schreckte aber nicht vor Affären mit Patientinnen zurück. „Pozzi war überall“, wie Barnes wiederholt betont, um dann gelegentlich augenzwinkernd einzuschränken: „Pozzi war doch nicht überall“.

    Anders - aber gut
    Auch wenn mir zu Beginn falsche Erwartungen und ein zunächst verwirrendes Füllhorn von Akteuren und eher amüsanten als wissenswerten Anekdoten den Einstieg erschwerten, so steckten mich doch Barnes‘ Begeisterung, sein Humor, seine (Selbst-)Ironie und sein Spiel mit Wissen und Nichtwissen zunehmend an. Nicht nur, aber auch aufgrund seines Mottos: „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“ ist Pozzi für den überzeugten Europäer und Brexit-Gegner Barnes „so etwas wie ein Held“.

  1. Das Who is Who der Belle Époque

    Liebe Damen, schnürt die Korsetts und rafft die Kleider, liebe Herren, bürstet eure Melonen und haltet die Schusswaffen bereit, wir reisen in das Herz Europas der Belle Époque (1871 - 1914).

    Mit dieser Collage erheischt schon der Schutzumschlag Aufmerksamkeit; er zeigt den Rumpf eines Menschen im roten Rock, verbirgt darunter aber die außerordentlich hochwertige Gestaltung und Prägung des Buches von Kiepenheuer & Witsch. Ein Kompliment an den Verlag, man sieht und spürt einfach, mit wieviel Liebe zum Detail hier gearbeitet wurde!
    Gleich einer der ersten Seiten präsentiert uns dann das vollständige Gemälde eines charismatischen Mannes, rot in Rot, dessen Leben und Wirken der Dreh- und Angelpunkt dieses vergnüglichen Abenteuers in die Zeit des Überdrusses, des Pomp und Protzes ist; Barnes stellt vor, Samuel Jean de Pozzi, erfolgreicher Mediziner und Modearzt der Bohème, Franzose.
    Aber Samuel Pozzi ist nur der Nagel, der das Bild einer Epoche hält, in die wir gleich mit einer illustren Reisegesellschaft hineingezogen werden. Drei Männer, machen sich auf den Weg von Frankkreich nach London, um dort all die schönen Dinge, Stoffe und Kunstwerke zu kaufen, die Heim und Leben schmücken sollen. Drei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Pozzi wird begleitet vom Prinzen Edmond de Polignac und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezensac.
    Die schillernde Figur des Letztgenannten beschert und dann auch die größten Einblicke in diese Zeit der Eitelkeiten, der Auffassung von Moral, der Verletzungen des Ehrgefühls (es ist noch die Zeit der Duelle, meine Herren, deshalb seien sie immer bewaffnet), aber vor allem die Verabschiedung vom Alten und der Aufbruch in eine neue Zeit, was uns Pozzis fortschittliche Neuregelungen in der Gynäkologie sehr schön vor Augen führt.

    Streitigkeiten werden nicht nur auf dem morgendlichen, nebelbverhangenen Feld mit der Waffe verhandelt, sondern auch, quasi durch die Hintertür, in schriftlicher Form, pressetauglich, mit dem verabscheuungswürdigen Jean Lorrain, wenn es schnell gehen musste, oder aber im Romanformat ausgetragen. So tauchen denn auch bald Namen auf wie Marcel Proust, Oscar Wilde und Joris-Karl Huysmans als Weg- und Zeitgefährten auf. Huysmans Roman "Gegen den Strich" stellte fast unverhohlen das nicht ganz skandalfreie Leben des Grafen Montesquiou dar und obwohl es nur auf französisch erschien, musste sich später Oscar Wilde für seine Anspielungen auch auf diesen Roman vor Gericht wegen Homosexualität, welche in Frankreich, aber nicht in England legal war, verantworten.

    Dieses Namedropping ist nur ein kleiner Auszug, der verdeutlichen soll, wie Barnes die Be- und Empfindlichkeiten jener Zeit kongenial erfasst hat, aber mit dem bürgerlichen Pozzi auch eine Verbindung schafft, zu Verbesserungen in der Medizin und seinem Bestreben, den Mensch in den Mittelpunkt der Wissenschaft zu stellen. Beschränken wir uns beim Lesen aber allein auf Pozzis Biografie, so entgeht uns nicht seine unglückliche Ehe, seine Liebschaften und die große Hilfsbereitschaft für Personen mit heiklen, medizinischen Problemen, welche ihm letztendlich, schicksalsträchtig zum Verhängnis wird.

    Julian Barnes hat hier einen, fragmentarisch anmutendes, letztendlich aber doch die Essenz jener Zeit erfassenden Überblick des Fin de Sciècle an der Biografie eines außergwöhnlichen Arztes festgemacht, dessen Bild rahmenhandlungstauglich das Buch eröffnet und beschließt.

    Eine vergnügliche, wenn auch für mich nicht immer einfache Exkursion in die Geschichte zwischen zwei Kriegen, in denen sich Deutschland und Frankreich feindlich gegenüberstanden, die Voraussetzungen für eine vereintes Europa aber schon erkennen lassen. Ob es noch eine barnsche Beleuchtung des einfachen Volkes jener Zeit geben wird, wir wissen es nicht! ;-)

  1. 5
    02. Feb 2021 

    Die Belle Èpoque auf ganz besondere Art nah gebracht

    “Der Mann im roten Rock” von Julian Barnes wurde vom Kiepenheuer & Witsch-Verlag ohne eine Angabe des Genres in diesem Jahr veröffentlicht. Und auch mir fällt nach Lektüre des Buches nicht wirklich ein, um was es sich hier eigentlich handelt. Ein Roman ist es ganz sicher nicht. Dafür sind die non-fiktionalen Anteile einfach zu dominierend (mit ausführlicher Wiedergabe von Bildquellen aus der Zeit). Ein rein non-fiktionales Sachbuch ist es aber auch nicht, dafür ist die Sprach- und Gestaltungskreativität des Autors zu hervorstechend. Barnes schafft es, ein Buch zu schreiben, das den Lesern collagenhaft in die Zeit der Belle Époque entführt, die letztlich der wirkliche Held dieses Buches ist und die über eine große Auswahl von Vertretern der Gesellschaft in dieser Zeit vorgestellt und sehr anschaulich gemacht wird. Es ist dem Buch anzumerken, dass sich Barnes irgendwie in diese Zeit, in diese Gesellschaft verliebt hat und ihr vielleicht kein Denkmal setzen, aber diese Zeit doch in die Köpfe seiner Zeitgenossen zurückholen wollte. Er sieht in ihr einen Wert, der hochgehalten werden soll. Aber dazu später.
    Das Buch ist gestaltet rund um eine Person und deren gesellschaftliches Umfeld: Dr. Samuel Pozzi, erfolgreicher Arzt, Dandy, Gebildeter, Bourgeois, Frauenheld, Ehemann, Reisender. Für die Nachwelt festgehalten hat diese Person der Maler John Singer Sargent mit einem glamourösen Portrait: „Dr. Pozzi at home“, auf dem der Protagonist unseres Buches im roten Morgenrock weltmännisch an uns vorbeischaut. Über das Buch hinweg erfahren wir als Leser einiges aus dem Leben dieses Arztes – seine Familie, seine Profession, seine Affären, seine Reisen – und doch wird er nie wirklich zum Helden dieses Buches, auch wenn er dessen Titelgeber ist. Dafür ist das „Drumherum“ zu übermächtig, denn immer wieder verlässt Barnes diese Person, wenn an den Seiten von Pozzis Leben eine Situation oder eine Person auftaucht, die dem Autoren gerade besser geeignet erscheint, Einblicke in die Zeit und ihr Lebensgefühl zu geben. So tauchen Personen auf und sofort wieder ab (manchmal erscheint das als pures „name dropping“), andere begleiten uns über die Seiten der Geschichte immer wieder und geben dem Buch einen festen Halt. Neben der Sprache und Worten über diese Zeit spielt in dem Buch auch das Visuelle eine ganz besondere Rolle. Nicht nur das oben schon erwähnte Sargent-Portrait von Dr. Pozzi ist im Buch abgedruckt, sondern es finden sich Fotografien von fast allen angesprochenen Personen, wurden sie doch in eine zeitgenössische Schokoladenbildchen-Sammlung aufgenommen und hier erneut als „Who is who?“ der Zeit textuell und visuell für die Nachwelt festgehalten. Diese Schokoladen-Bildchen-Sammlung befindet sich nach Informationen aus dem Anhang im Besitz von Barnes und scheint so etwas wie ein Wegweiser für ihn durch das Labyrinth des Angesichts der Belle Époque gewesen zu sein: Wer hier abgebildet wurde, muss auch Bedeutung für die Zeit haben, also wird diese Person von Barnes herausgegriffen und in das Buch aufgenommen.
    Mein Fazit:
    Immer wieder während der Lektüre habe ich mich gefragt, was an dem Buch trotz seines collagenhaft, ja manchmal geradezu stückhaften Charakters so begeisternd, so soghaft funktioniert? Ich bin dem Geheimnis nicht ganz auf die Spur gekommen. Aber einige Punkte sind sicher hervorzuheben:
    - Der Sprachkunst Barnes gelingt eine meisterhafte Schilderung dieser Zeit des Dandytums mit seinen Spleens und Sonderbarkeiten.
    - Die distanziert ironische Haltung des Erzähltons gibt dem Text eine ganz besondere Note und Stimmung, in der nie ganz klar ist: Ist Barnes eigentlich der größte Fan dieser besonderen Zeit oder deren größter Skeptiker? Er schafft es tatsächlich manchmal, sich innerhalb eines Satzes von einer zur anderen Haltung komplett zu wenden.
    Dieses ganz besondere Portrait einer Epoche ist ein unvergessliches und unvergleichliches Leseerlebnis, nach dem auch ich als Leserin nicht mehr weiß: Bin ich Fan oder Skeptikerin dieser Zeit???
    Barnes allerdings löst für sich diese Frage auf in seinem Nachwort zum Buch. Hier stellt er diese weltoffene, nach unterschiedlichsten Einflüssen hungernde und diese nutzende Gesellschaft seiner zeitgenössischen chauvinistischen Heimat England gegenüber, die mit dem Votum für den Brexit solche positiven Einflüsse gerade hinweggeschoben und sich entschieden haben „in der Vergangenheit zu hocken“.
    Aber: Ist der Brexit die Motivation Barnes gewesen, gerade dieses besondere Buch als Reaktion darauf zu schreiben? Auch diese Sichtweise über das Buch erscheint eher abwegig.
    Und so gebe ich für ein Buch, das mir jede Menge Rätsel aufgibt, dennoch gerne 5 Sterne!

  1. Patchworkbild der Belle Èpoque

    Der "Mann im roten Rock" ist Dr. Samuel Pozzi, geboren 1846 in Bergerac (Frankreich). Julian Barnes' Interesse an dem erfolgreichen Arzt und Gesellschaftsmenschen Pozzi entzündete sich an einem Porträt J.S.Sargents, das Pozzi "theatralisch inszeniert" in einem scharlachroten Hausmantel darstellt.

    Schon im ersten Kapitel des prächtig aufgemachten Buchs exerziert Barnes in launiger Weise mehrere Möglichkeiten durch, wie er beginnen könnte - mit Sargents Bild, mit einem anderen Bild, mit Oscar Wilde, mit Pistolenschüssen, mit einer Operation -? Nein, er beginnt mit dem roten Rock und den eleganten Händen. Jeder der kurz "angerissenen möglichen Anfänge" wird im späteren Verlauf des Buches erklärt und vertieft. Dieser Beginn ist symptomatisch für das ganze Buch, das nicht so sehr eine Biographie des Arztes Pozzi darstellt als vielmehr ein umfassendes Bild vom geistigen und gesellschaftlichen Leben der Belle Époque in England und Frankreich.

    Barnes liegt nichts daran, ein geordnetes Gesellschaftsbild zu liefern. Sein Wissen über tausenderlei Aspekte der Zeit, über Berühmtheiten der Kunst, Politik und der "hautevolee", über die medizinischen und technischen Möglichkeiten, gesellschaftliche Strömungen, über Presse und Klatsch ist umfassend. So ist auch "Der Mann im roten Rock" ein Patchwork aus Szenen, Tagebucheinträgen, Zitaten aus Briefen und Büchern und vielem anderem mehr. Barnes führt eine Unzahl bekannter und weniger bekannter Zeitgenossen vor; neben Oscar Wilde, Maupassant, Proust und Henry James, Sarah Bernhardt und anderen heute noch geläufigen Personen nehmen auch vergessene, aber damals angesagte Leute ihren Raum wieder ein, wie der Graf von Montesquieu und der Prinz von Poligny, bekannte Dandys der Zeit. Und alle, alle waren Bekannte oder Freunde von Pozzi. "Pozzi war überall", bemerkt Barnes mit literarischem Schmunzeln. Wir erfahren den typischen Ablauf eines Duells, Einzelheiten über das Verfahren gegen Wilde wegen "Sodomie", alles über Schlüsselromane und die richtige Interpretation alter Gemälde, Klatsch und Tratsch über schwule Dandys und über die "nymphomanische" Bernhardt. Aber auch über die rasante Entwicklung der Technik und der Medizin. Vor allem über Neuerungen, die Pozzi - der nicht nur ein umschwärmter Salonlöwe, sondern auch ein gewissenhafter und fleißiger Mediziner war - speziell im Bereich der Gynäkologie einführte; seine neuen und schonenden Behandlungsmethoden, verbesserte Ausstattung seiner Klinik und sein Bemühen um Verständnis für die Patientinnen.

    Kurz, Julian Barnes erschlägt die Leserin fast mit der Fülle der Einzelheiten, die er darbietet. Aber alles ist so kunstvoll verwoben und leichthändig ausgebreitet, dass es ein Vergnügen ist, ihm zu folgen (und notfalls bei Bedarf auch nochmal zurückzulesen oder etwas nachzuschlagen). Dazu enthält das Buch eine Vielzahl schöner und informativer Bilder: Porträts der Hauptfiguren von bekannten Malern der Zeit und eine Reihe Fotografien, darunter die "Schokolade-Sammelbildchen" der Firma Potin mit Porträtfotos von Berühmtheiten. Es ist eine Freude, das schön ausgestattete Buch zur Hand zu nehmen; es führt auf sehr unterhaltsame Weise durch die Epoche und lädt dazu ein, vielleicht mal wieder Maupassant, Proust oder Wilde zu lesen oder eine Gemäldegalerie zu besuchen.

    Nicht zuletzt handelt das Buch auch von dem regen Kulturaustausch zwischen England und dem Kontinent zur damaligen Zeit. "Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz" zitiert Barnes seinen Helden Pozzi und gibt im Nachwort seiner Unzufriedenheit über den Austritt Großbritanniens aus der EU Ausdruck. Sein Buch kann auch als Plädoyer für den europäischen Gedanken gelesen werden. Pozzi war ein weltoffener, neugieriger und offenbar fröhlicher Mensch, "fortschrittlich, international und unentwegt wissbegierig" - wie der Autor selbst.

  1. Elegant geschriebenes Sittenbild über die Belle Èpoque

    „Der Mann im roten Rock“ ist wohl am ehesten eine Biografie, geht jedoch weit über das Leben des im Titel genannten Mannes, des Arztes Dr. Samuel Pozzi (1846 – 1918), hinaus. Pozzi ist der Aufhänger, anhand dessen uns eine ganze Epoche, die Belle Èpoque, vorgestellt wird. Handlungsschauplatz ist überwiegend Paris, mit kleinen Abstechern in London, in den USA und noch kleineren im Rest der Welt.
    „Der Ausdruck (Belle Èpoque) für diese Zeit des Friedens zwischen der katastrophalen französischen Niederlage von 1870/71 und dem katastrophalen französischen Sieg von 1914-18 hielt erst 1940/41 in die Sprache Einzug und war der Inbegriff von Friede und Freude, von Glamour mit mehr als nur einem Hauch von Dekadenz, eine letzte Blüte der Künste und letzte Blüte einer High Society, bevor dieses kuschelige Fantasiegebilde – mit einiger Verspätung – vom metallischen 20. Jahrhundert hinweggefegt wurde.“ (vgl. S. 34/35)

    Insofern steht nicht der normale Bürger im Zentrum, sondern eben jene High Society bestehend aus Adeligen, Künstlern und Mäzenen, die Einlass zu dieser Welt hatten. Barnes beginnt mit einer Einkaufstour dreier Franzosen unterschiedlichen Alters im Juni 1885 in London. Sehr eloquent werden die Teilnehmer vorgestellt, die gleichzeitig wiederkehrende Hauptpersonen dieses Buches sind: Der Bürgerliche Dr. Samuel Pozzi wird als charmanter, ehrgeiziger und erfolgreicher Arzt beschrieben. Der Prinz Edmond de Polignac, gilt als eher zurückhaltender heimlicher Homosexueller, der unerfüllte musikalische Ambitionen hegt. Der Graf Robert de Montesquiou-Fezenac ist wohl der Auffälligste, Schillerndste in diesem Trio. Auch er gilt als homosexuell, aber auch gesellig und umtriebig. Man kann ihn sich als Dandy und Connaisseur in Reinkultur vorstellen. Er war dermaßen ein Mann der Gesellschaft, dass er in mehrere Bücher (z.B. von Huysmans oder Proust) als literarische Figur Eingang fand – allerdings nicht zu seinem Gefallen.

    Auch im vorliegenden Buch nimmt der Graf viel Raum ein, man kann ihn als Prototypen eines Dandys begreifen. Durch seine Ich-Bezogenheit, Dekadenz und Arroganz war er bekannt wie ein bunter Hund und stellt einen Gegenentwurf zum zumeist ehrenwerten Dr. Pozzi dar, der als ein Pionier seines Berufsstandes galt. Pozzi verbesserte als Gynäkologe und Chirurg die hygienischen und sonstigen Verhältnisse in Krankenhäusern, brachte Operationstechniken voran und veröffentlichte ein über Jahre populäres medizinisches Standardwerk. Pozzi war ein Weltbürger, der auf seinen Reisen viel lernte und für die eigene Praxis umsetzte. Er hatte zahlreiche Förderer, wurde von seinen Zeitgenossen geschätzt – auch von den Frauen. Angepasst an die Gewohnheiten in der Belle Époque soll er zahlreiche Liebschaften gehabt haben, die auch mit seiner Heirat mit Thèrése Loth-Cazalis im Jahr 1879 nicht endeten, was ihn schon zu Lebzeiten zum Objekt der öffentlichen Gerüchteküche machte. Er selbst verhielt sich in derlei Dingen diskret, so dass sich viele Amouren nicht verifizieren lassen. Sein Familienleben galt allerdings nicht als glücklich – auch Dr. Pozzi hatte seine Schattenseiten.

    Die Epoche selbst liebte das Spekulieren: Gerüchte wurden gern zu bösartigem Klatsch ausgeweitet, auf das sich Presse und Literaten stürzten, so dass sie bald zur Pseudo-Wahrheit mutierten. Besonderes Interesse galt der Sexualität in allen Facetten, insbesondere eben auch „wer mit wem“ und andere pikante Details aus dem Privatleben.

    Abgesehen von der Dreyfus-Affäre ist „Der Mann im roten Rock“ kein Buch, dass sich vertieft mit Politik auseinandersetzt, den Zeitgeist jedoch spitzzüngig einfängt: „Die Franzosen glaubten damals ebenso wie die Briten, sie hätten eine einzigartige mission civilisatrice in der Welt; und wie nicht anders zu erwarten, hielt jede Nation die eigene zivilisatorische Mission für zivilisierter als die der anderen. Auf die Objekte der Zivilisierung wirkte das allerdings anders – wie eine Eroberung.“ (S. 36)
    Darüber hinaus behandelt das Buch die Kunst. Nicht nur die Kunst der Epoche, sondern die Kunst als Ganzes, als Bewahrer und Antiquar: „Die Kunst überdauert persönliche Launen, Familienstolz, gesellschaftliche Dogmen; die Kunst hat immer die Zeit auf ihrer Seite.“ (S.9)

    Barnes lässt uns an seinem umfangreichen Wissen teilhaben. Es tauchen viele historische Figuren auf. Interessantes wird über Schriftsteller Oscar Wilde, Schauspielerin Sarah Bernhardt und viele andere berichtet. Je mehr der Leser bereits über die Epoche weiß, desto mehr wird er vom Buch profitieren können (ansonsten bietet Google eine schnelle Alternative). Doch auch für den Einsteiger bietet der Autor eine Fülle an Eindrücken, Fakten, Gerüchten und Episoden, die ein umfangreiches Panorama der Zeit abbilden. Keinesfalls sollte man sich durch die vielen Namen irritieren lassen, die meiner Meinung nach mehr der Vollständigkeit als dem tieferen Verständnis dienen. Zahlreiche Portraits und Fotografien zeigen Persönlichkeiten der Belle Èpoque. Barnes gliedert sie in seine höchst unterhaltsamen Streifzüge ein. Er koloriert die Blütejahre der französischen Kunst, führt uns in die Salons und Raucherzimmer der gehobenen Gesellschaft, die sich routinemäßig in Duellen misst, um die vermeintliche Ehre wiederherzustellen. Dabei begnügt sich der Autor nicht mit dem Beschreiben: Gezielt nimmt er Stellung zu fragwürdigen Praktiken, verallgemeinert oder überträgt zuweilen auf die Gegenwart.

    Besondere Aufmerksamkeit widmet Barnes auch den Unterschieden zwischen Frankreich und England. Sei es die Stellung der Frau in Ehe und Familie, politische Korrumpierbarkeit, unterschiedliche Rechtsauffassungen oder bestehende Vorurteile: Barnes legt den Finger auf höchst intellektuelle Weise in die Wunde und deckt Widersprüchlichkeiten auf. In seinem Nachwort outet er sich denn auch als überzeugten Europäer und kritisiert den sektiererischen Austritt seines Heimatlandes aus der EU scharf.

    „Der Mann im roten Rock“ ist ein faszinierendes Buch. Es gibt unglaublich viel zu entdecken und bei Bedarf zu vertiefen. Der Autor springt durch die Zeit. Er fordert seine Leser zuweilen, hält sie aber durch seine elegante Schreibweise, durch die unterhaltsamen, interessanten und spannenden Episoden immer bei der Stange. Freunde von Kunst und Literatur werden dieses auch haptisch hochwertig ausgestaltete Buch lieben. Zahlreiche zeitgenössische Zitate sowie zeitlose philosophische Gedanken runden den Text dieses erzählenden Sachbuches ab.

    Außergewöhnlich, elegant und absolut lesenswert!

  1. La Belle Époque (fast) nur für echte Blaustrümpfe

    Es ist ungewöhnlich eine Rezension mit einem Zitat aus Wikipedia zu beginnen:
    (Die) „Belle Époque ist die Bezeichnung für eine Zeitspanne von etwa 30 Jahren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hauptsächlich in Europa. Eine genaue Datierung kann nicht vorgenommen werden. Meist wird die Zeit von 1884 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 genannt. Für die Zeit vor der Jahrhundertwende ist auch der Begriff Fin de Siècle gebräuchlich.“

    Besser kann man es kaum sagen und genau darum geht es: um einen bestimmten Zeitabschnitt in der Geschichte, und unsere Geschichte in der Geschichte, spielt sich hauptsächlich in Frankreich ab und ein bisschen in England.

    In Frankreich, weil dort die Hauptpersonen der Handlung leben und in England, weil ein Gentleman seinen intellektuell geschärften Blick auf das in vielen Dingen eine Vorreiterrolle spielende England gerichtet hält.

    Dennoch, fanden die Gentleman, waren die Engländerinnen durchweg hässlich und rotgesichtig, die Männer und die Sitten „seltsam“, man hatte natürlich in Frankreich den besseren Geschmack und sah den Leidenschaften der Menschen als einer Art Naturgewalt viel mehr nach als die steifen Engländer, die nur die Ratio gelten lassen.

    Das galt insbesondere vor Gericht. Es war möglich, dass eine durch die Presse angefeindete Frau in eine Redaktion spazierte, den Chefredakteur zu sprechen wünschte, ihn mit einem gerade erworbenen Revolver erschoss und vor Gericht freigesprochen wurde. In England wäre dies undenkbar gewesen. Auch in Frankreich ging das nur, wenn man der Oberschicht angehörte, natürlich.

    In dieser vor spannenden Details wimmelnden Zeit, darunter manche Pikanterien, die uns Jules Barnes genüsslich in die Ohren reibt, er serviert uns Hunderte von kleinen, nicht allgemein bekannten Leckerbissen über Maler, Literaten, Wissenschaftler, Grafen, Prinzen, dem ganzen Gesocks der Oberschicht, also Insiderwissen, sind Barnes Hauptfiguren, ein Graf, ein Prinz und ein Arzt.

    Es handelt sich um die Personen Dr. Samuel Jean de Pozzi, Edmond de Polignac und Robert de Montesquiou.

    Das Hauptinteresse des Autors gilt Pozzi, der altersmäßig von dem jüngeren Grafen M. und dem älteren Prinzen P. eingerahmt ist. Alle drei kannten sich und man unterhielt mehr oder weniger innige Beziehungen zueinander. Über den snobistischen Grafen M. hatte Barnes jedoch am meisten Stoff.

    Barnes umkreist seine Personen. Er umkreist sie mit der Zeit, in der sie leben. Das ist das Raffinerte, aber auch das Blaustrümpfige. Der Mann im Roten Rock ist kein Roman für Lieschen Müller.

    Wenn Barnes sich mehr mit dem Leser als mit seinen Figuren verbündet, indem er immer wieder satirische Nadelstiche über das Geschriebene und die Beschriebenen in den Roman setzt, dann ist er ganz auf der Linie und einig und kongruent mit seinem Thema.

    Auch die Literaten ihrer Zeit vergnügten sich mit derartigen Nadelstichen. Es gab nichts Besseres als sich gegenseitig in ihre Romane einzuschreiben und zu karikieren. Nach Herzenslust und mit spitzer Feder.

    Davon wissen wir heutigen Leser zu wenig und lesen naiv darüber hinweg. Aber mit Barnes Hilfe kommen wir den Satirikern der Zeit auf die Spur.

    Erst so nach und nach enthüllt Julian Barnes die zentralen Ereignisse im Leben der drei Männer, die er ins Auge gefasst hat und darunter imponiert ihm der Arzt und Lebemann Pozzi am meisten. Zu Recht, denn Pozzi war alles und er war überall, wie Barnes immer wieder süffisant feststellt („Pozzi war überall.“ „Pozzi war doch nicht überall.“) Ich höre Barnes kichern.

    Unser Pozzi: Lebemann, Womanizer, Modearzt, Pionier, Professor für Gynäkologie, Erneuerer, Reisender, Literat, Sammler. Politiker mit Homestory. Das titelgebende Bildnis von John Singer Sargent lautet „Dr. Pozzi at home“.

    Pozzi war Ehemann und Vater, wobei er sich in diesen häuslichen Rollen nicht so besonders hervortat. Er führte eine Ehe zur linken Hand und hatte dennoch zahlreiche Affären. Er hatte ein ausgefülltes und reiches Leben. Sogar sein Sterbevorgang war besonders; selbst dabei erwies er sich als kaltblütig und beherzt.

    Die Themen der Zeit werden von Barnes, vergnüglichst mit Klatsch und Tratsch versehen, über den ganzen Roman verteilt: Dabei ist eine seiner Quellen die Tagebücher der Brüder Goncourts, die selber unzertrennlich waren und von denen einer an Syphilis starb. Pikante Details überall. Diese Tagebücher lesen sich wie die Yellow Press heutzutage und ein wenig ist auch Barnes Roman Yellow Press des Fin de Siècle.

    Was macht einen Gentleman aus. Was dürfen Männer? Alles. Was dürfen Frauen? Stillhalten und Leiden.Sie dienen auch als Goldesel: Besonders, wenn sie amerikanische Erbinnen sind, kann man sie heiraten. Heiraten, nicht lieben. Wenn das doch einmal geschieht, finden die anderen Männer dies aus der Art gefallen. Heiraten, ausnehmen, bevormunden, Kinder machen, alleine lassen.

    Die Gerüchteküche kochte fast ständig und oft focht man Verleumdungsklagen vor den Gerichten aus. Doch die französischen Gerichte, ich wollte nicht vor ihnen stehen, hatten viel Nachsicht mit Ideen! Wer also von einer Idee getrieben eine Straftat beging, konnte mit Milde rechnen. Nicht so in England, wo man Oscar Wilde anhand eines Romans den Prozess machte und ihn ins Gefängnis steckte. Homosexualität war in. Gleichzeitig anrüchig. Homosexualität war überall. Nur nicht offiziell. Das intellektuelle Gerangel zwischen England (eigentlich London) und Frankreich (eigentlich Paris) feiert bis heute fröhliche Urständ.

    Ein Gentleman hatte Geschmack und hielt seine Ehre hoch. In Frankreich duellierte man sich, in England versuchte man die Dinge rationaler anzugehen. In Duellen verletzte man sich, Pistolenkugeln flogen hin und her, sie sind ein Schlüsselelement des Romans. And so on. Ich könnte noch stundenlang erzählen.

    Fazit: „Der Mann im roten Rock“ ist eine äußerst originelle und raffiniert aufgebaute Dreier-Biographie, eingebaut in ein vergnügliches Sammelsurium von Kuriositäten und Insiderwissen über das Fin de Siècle beziehungsweise die Belle Epoque.

    Ich gebe eine Leseempfehlung an Blaustrümpfe. Gut, dafür sollte man wissen, was ein Blaustrumpf ist. Smiley.

  1. "Pozzi, ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit." (188)

    Das erzählende Sachbuch beginnt mit einer Reflektion über den richtigen Erzählanfang:
    1. "Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an." (7)
    Gemeint ist dabei die Hauptfigur Dr. Samuel Pozzi, ein Bürgerlicher, der gemeinsam mit zwei Adligen zur Shopping Tour nach London reist, wobei sie bei Henry James logieren.
    Die anderen beiden sind der Graf Robert de Montesquiou-Fezensac sowie der Prinz Edmond de Polignac.
    Neben den Hauptfirguren wird die Verbindung zwischen Frankreich und England gezogen und wir sind direkt in der Zeit verortet und wissen, warum sie dorthin gereist sind. Klassischer Einstieg in einen Bericht ;)

    2. In seinen Flitterwochen liest Oscar Wilde einen französischen Roman, den er wiederum in "Das Bildnis des Dorian Gray" erwähnt.
    Gemeint ist "´À Rebours" von Joris-Karl von Huysmans, der 1884 erschienen ist (dt. "Gegen den Strich") und dessen Hauptfigur ein 29-jähriger Aristokrat ist, der erhebliche Parallelen zu Montesquiou aufweist, der sich im Verlauf der Ausführungen Barnes als schillernde Figur der Belle Époque erweist, heute würde man ihn einen Prominenten nennen, der die Klatschmagazin ziert.
    „Montesquiou war das Musterbeispiel eines aristokratischen Dandypoeten“ (67)

    Und immer wieder kommt Barnes auf die Unterschiede zwischen Frankreich und England zu sprechen:
    „Als Angehöriger der Mittelschicht, geschweige denn der Arbeiterklasse, konnte man in England schwerlich ein Dandy sein. In Frankreich durfte man in den Kreisen der künstlerischen Boheme ein Dandy sein.“ (67)
    Neben dem Grafen widmet sich Barnes auch dem Leben Oscar Wildes, dessen Prozess, seine Amerikareise finden Erwähnung sowie die Tatsache, dass auch er ein klassischer Dandy gewesen ist.

    3. "Wir könnten auch mit einer Kugel beginnen und mit der Waffe, aus der sie abgeschossen wurde." (7) Kugeln sind ein Leitmotiv. Eine Kugel, die Puschkin getötet haben soll, ist angeblich im Besitz des Grafen Montesquiou. Gleichzeitig verweist die Kugel auch auf die Duelle, die mehrmals thematisiert werden. Eine in Frankreich bis zum 1.Weltkrieg verbreitete Praxis, während sie "in England schon in den 1830er-Jahren aus der Mode gekommen [waren]." (57)
    "Wo war Pozzi bei all diesen wütenden Balgereien, die dieser Clown - die Ehre - angezettelt hatte?" (61)
    Er stand als Arzt zur Stelle und leistete Beistand, womit man zum nächsten möglichen Erzählanfang überleiten kann:

    4. In Kentucky hat im Jahr 1809 Ephraim McDowell erfolgreich die erste Ovarektomie durchgeführt. Anlässlich des 100. Jahrestag dieser Operation reist Pozzi, inzwischen ein erfolgreicher Gynäkologe und der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologie in Frankreich, nach New York (vgl. S.240).

    Dieser Erzählanfang verweist auf Pozzis berufliche Tätigkeit, der als Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie gilt und dessen beruflichen Werdegang Barnes anschaulich darlegt, wobei er vor allem seine Innovationen im Bereich der Hygiene, Operationstechnik, aber auch sein Empathie gegenüber den Patientinnen hervorhebt.
    Barnes beschreibt Pozzi als charmant, gastfreundlich, großzügig, bei allen beliebt, erfolgreich, wissenschaftlicher Atheist, dem jedoch der Ruf vorauseilt, ein notorischer Verführer gewesen zu sein - allein es mangelt an entsprechenden weiblichen Quellen. Gibt es nichts zu erzählen oder schwiegen die Damen?
    Lediglich Pozzis Tochter Catherine äußert sich in ihrem Tagebuch dazu, aber kann man einer Jugendlichen Glauben schenken?

    Die Ehe Pozzis mit Thérèse Loth-Cazalis basierte jedenfalls auf einem Arrangement. Pozzi ist der Überzeugung, sie liebe ihn nicht genug, daher wendet er sich anderen Frauen (Geliebten) zu, seine Frau wahrt jedoch nach außen den Schein, während es im Inneren zu Streitigkeiten und unschönen Szenen gekommen sein soll.
    Die französische Einstellung der Zeit:
    "Die Ehe war lediglich ein Basislager, von dem das abenteuerlustige Herz zu neuen Ufern aufbrach." (51) "Die Briten glaubten an Liebe und Ehe - dass die Liebe zur Ehe führt und darin fortbesteht" (51).

    5. Ein Mann liegt im Bett und "weiß, was er machen soll, er weiß nur nicht, wann und ob er machen kann, was er machen will." (8) Hätte Barnes damit begonnen, hätte er die Geschichte von hinten aufgerollt.
    Der Mann, der im Bett liegt, hat etwas mit Pozzis Tod im Jahr 1918 zu tun (s. auch Erzählanfang 3).

    6. Stattdessen entscheidet sich Barnes dafür, mit einer sehr genauen Bildbeschreibung von "Dr. Pozzi at home" (1881) von John Singer Sargent, das auch das Buchcover ziert, zu beginnen.

    "Mich zog das Porträt von Sargent zu Dr. Pozzi, ich wurde neugierig auf sein Leben und Werk, schrieb dieses Buch und halte das Bild noch immer für ein wahres und elegantes Abbild." (229)

    Wer erwartet, eine Biografie Pozzis zu lesen, wird zwangsläufig enttäuscht. Vielmehr ist der Roman ein Lesebuch der Belle Époque -
    "eine Periode neurotischer, ja hysterischer nationaler Angst, gezeichnet von politischer Instabilität, Krisen und Skandalen" (35) -
    das erzählt, welche politischen Themen à la mode waren, z.B. die Dreyfus-Affäre, welche wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Medizin stattfanden, welche Klatsch- und Tratschgeschichten kursierten - ein Bereich, der sehr viel Raum einnimmt - und vor allem, ein Buch über das "Who´s Who".

    Passend dazu sind ein Teil der Fotografien abgebildet, die Félix Potin von 1898-1922 herausbrachte und die jeweils seiner Tafel Schokolade beigegeben waren.

    "Wie schon viele Biografen festgestellt haben, kann man sich die Freunde seiner wichtigsten Figur leider nicht aussuchen." (83)

    Gemeint ist Jean Lorrain, der neben dem Grafen und dem Prinzen immer wieder Erwähnung findet und der in der Tat sehr unsympathisch wirkt. Zudem steht er in ewiger Konkurrenz zum Grafen, der ihn jedoch ignorierte. In seinem Roman "Monsieur de Phocas" erschuft Lorrain "die zweite literarische Schattenversion von Montesquoiu", wobei insgesamt vier davon existieren.
    In der Leserunde kam die Frage auf, warum dem Leben des Grafen Montesquiou so viel Raum gegeben wird.
    Ich denke, dass der Graf neben der Tatsache, dass er eine berühmte zeitgenössische Person gewesen ist, auch als eine Art Negativfolie wirkt. Ein adliger Dandy, der seine Umgebung manipuliert, ausnutzt und sein Luxusleben genießt, während Pozzi sich als erfolgreicher Arzt einen Namen macht, wobei auch er weit davon entfernt ist, als Heiliger dargestellt zu werden. Barnes selbst begründet sein Interesse an Pozzi damit, dass er "ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit" (188) gewesen ist.

    Polignac ist dagegen "die Sorte Aristokrat, die mühelos zur Revolution anstachelt. Polignac war sanft, verschroben und ziemlich hoffnungsloser Fall: die Sorte Aristokrat, die eher harmlos erscheint und womöglich sogar leichtes Mitleid erregt." (140)
    Die Ehe mit der reichen amerikanischen Erbin Winnaretta Singer verläuft trotz aller Erwartungen harmonisch.

    Ist man zu Beginn von der Vielzahl an Namen überfordert, findet man sich schnell in Barnes scheinbar assoziativem Erzählen von Ereignissen, Figuren, Themen zurecht und genießt das Eintauchen in die Epoche. Neben der Kunst und dem Betrachten von Gemälden wird auch der "Schaffensprozess" selbst sowie die Problematik, eine Biografie zu schreiben, thematisiert.
    „Wir wissen es nicht. Sparsam gebraucht, ist das eine der stärksten Aussagen in der Biografensprache.
    Der Satz ruft uns in Erinnerung, dass die eingängige Lebensbeschreibung, die wir lesen, bei aller Detailfülle und Ausführlichkeit, bei allen Fußnoten, faktischen Gewissheiten und zuversichtlichen Hypothesen nur eine öffentliche Version eines öffentlichen Lebens und eine unvollständige Version eines privaten Lebens sein kann. Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden" (127).

    Auch die Wirkung von Literatur wird diskutiert. Flauberts Leitsatz dazu: „Man kann die Menschheit nicht ändern, man kann sie nur kennen.“ (219)
    Barnes merkt an, die Menschheit zu kennen und sie so zu beschreiben, wie sie ist, sei schon eine Korrekturmaßnahme, da man vieles aus neuer Sicht sehe. Was der Leser bzw. die Leserin daraus mache, liege jedoch nicht mehr im Ermessen des Autors bzw. der Autorin.

    Und was machen wir aus dieser Biografie, die eher eine Kulturgeschichte der Belle Époque ist?
    Lesen, staunen, genießen und Wissen anhäufen, an das wir zu gegebener Zeit, vielleicht bei der nächsten Lektüre, anknüpfen können.

    Vieles wissen wir nicht, aber wir haben viel dazugelernt ;),

    insofern kann ich jedem dieses intellektuelle "Lesebuch" ans Herz legen!

 

Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen

Buchseite und Rezensionen zu 'Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen' von Eldon Yellowhorn
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:144
Verlag: Carlsen
EAN:9783551255181
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Rezensionen zu "Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen"

  1. Eine Bereicherung für jede Bibliothek, nicht nur für Schüler!!

    Endlich ein Buch, dass sich zu dem Thema einbringt. Sehr gut finde ich auch, dass hier nicht eine Anklage oder Abrechnung mit den altbekannten Indianerklischees stattfindet. Eine kurze Stellungnahme: Bezeichnungen, die wir früher für „angemessen” gehalten haben, werden heute von Indigenen sehr kritisch betrachtet und eigentlich kaum verwendet. Das wars auch schon. Das Buch spricht dann für sich und punktet mit dem Inhalt.
    Und das so aktuell wie ich es nicht erwartet hätte. So geht es um die Verantwortung der Menschen für die Erde. Indianer geben schon immer in Form von Geschichten Erkenntnisse weiter, die heute als Nachhaltigkeit und neue Erkenntnis beworben werden. Nur so viel der Natur entnehmen, wie sinnvoll ist und den Bestand nicht gefährdet.
    Das zweite Kapitel thematisiert die Heiligkeit des Wassers. Dazu erhält der Leser auch Informationen, wie sich die indigenen Völker für den Schutz des Wassers und den gerechten Zugang dafür einsetzen. So könnte man noch viele aktuelle Beispiele anbringen.
    Vor allem aber sollte man Aufhören sich Aufzuregen über Verbote von Indianerklischees, sei es die Infragestellung von Faschingskostümen oder Winnetou als Lesestoff. Abseits davon macht es mehr Sinn sich auf die Botschaften des indigenen Volkes zu besinnen und darüber zu reden und zu diskutieren.

 

Partikel

Buchseite und Rezensionen zu 'Partikel' von Wolf Harlander
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Partikel"

Format:Broschiert
Seiten:608
EAN:9783499011351
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Rezensionen zu "Partikel"

  1. Die unsichtbare Gefahr

    Wieder einmal beschäftigt sich der Autor Wolf Harlander mit einem aktuellen Umweltthema.
    Überall im menschlichen Körper ist Mikroplastik zu finden. Welche Auswirkungen das auf unseren Körper hat, ist noch nicht genügend erforscht, aber man kann davon ausgehen, dass es negative Auswirkungen hat.
    Es kommt zu einem schrecklichen Zwischenfall bei einer Hochzeitsfeier auf Sylt. Die Gäste werden krank und es sterben sogar Menschen. Bei Untersuchungen stellt man fest, dass eine extrem hohe Konzentration an Mikroplastik im Fisch die Ursache ist. Die ambitionierte Journalistin Melissa Frey hat einen ganz persönlichen Grund der Sache nachzugehen, denn ihre zweijährige Nichte Zoe ist sehr krank durch das Mikroplastik, welches ihr Körper nicht abbauen kann. Die Recherchen führen zu der Firma Cyaclean, die das Plastikproblem lösen will.
    Der Schreibstil ist gut zu lesen. Dabei gibt es eine Menge Informationen zum Thema. Verschiedene Handlungsstränge und wechselnde Perspektivensorgen für Tempo und Spannung.
    Auch die Charaktere sind gut und vielschichtig gezeichnet. Die Familie der kleinen Zoe ist natürlich verzweifelt und würde alles tun, um das Leben der Kleinen zu retten. Aber ist die bahnbrechende Innovation der Firma Cyaclean wirklich die Rettung für Zoe? Während die Familie jede Chance nutzen möchte, machen andere mit dem Plastikmüll gigantische illegale Geschäfte und scheren sich keinen Deut darum, was sie der Umwelt und den Menschen antun. Nelson Carius und Diana Winkels, die wir ja schon aus anderen Büchern des Autors kennen, stellen ihre Untersuchungen im Auftrag des BND an.
    Am Ende fügen sich die unterschiedlichen Handlungsstränge schlüssig zusammen.
    Dieser Thriller macht einen nachdenklich und erschüttert. Das Problem ist längst erkannt und auch die Gefahren sind wohl ziemlich offensichtlich, aber die, welche mit Plastikgeschäfte machen, haben keine Skrupel. Bei ihnen überwiegt die Geldgier. Aber auch wir Verbrauchen greifen ja immer wieder zu den so bequemen Plastikartikeln und sorgen so dafür, dass die Müllberge und damit die Verschmutzung der Umwelt weiter zunehmen.
    Mir hat dieser spannende Thriller gut gefallen.

  1. Unausweichbar & ernüchternd. Lieblingsbuch 24

    Ein Thriller, der die Augen öffnet und mir den Atem raubte.

    PARTIKEL, - mein bisheriges Lieblingsbuch 24 -

    Ein weiterer literarischer Nervenkitzel aus der Feder von Wolf Harlander.
    Der fränkische Schriftsteller hat sich mit der Veröffentlichung seiner wissenschaftlich fundierten Thrillern inzwischen eine große Fangemeinde erschaffen können. Als ausgebildeter Journalist ist er für seine durchweg fundierte Hintergrundrecherche bekannt und beliebt.
    Ich bin sehr auf diesen Roman gespannt gewesen. Handelt es sich um ein globales Problem.

    Zum Inhalt
    Plastik und seine Herstellung ist seit gefühlter Ewigkeit ein beliebtes Werkmaterial. Für viele Jahre wurde es hergestellt, ohne über den Effekt an der Umwelt überprüft oder gemessen zu werden.
    Eine Reederei ist offen für ungewöhnliche Transporte. Eine Besatzung nimmt einen Auftrag an, ohne die Ladung zu kennen. Das Schiff sinkt. Nun ist die Aufmerksamkeit einiger geweckt. Zwischenzeitlich erkrankt ein kleines Mädchen an Krebs. Der Vater und ihre Tante Melissa sind im Schockzustand. Wer kann Zoe retten? Kann sie überhaupt gerettet werden?

    Schon der Klappentext hatte mich in seinen Bann gezogen. Ich gehöre zu der Lesergruppe, die spannende Unterhaltung, gemischt mit aktuellen Informationen, bevorzugt. Also war ich sehr auf diese Lektüre gespannt.

    Das Cover
    ist im Vergleich zu denen seiner Vorgänger, sehr minimalistisch und klar gehalten. Der Titel erzählt keine Geschichte, ist jedoch genug Gedankenfutter um mich zu aktivieren.
    Als ich das Buch das erste Mal in den Händen halte, gefällt mir die Aufmachung noch viel besser. Innenumschlag und Rückseite sind sehr schön gestylt und informativ gestaltet. Mit seinen 608 Seiten nicht gerade ein kleines Buch....

    Mein Leseeindruck
    Aufbau - Protagonisten - Spannung - Informationsgehalt - Finale

    Ich mag den Erzähl - & Schreibstil sehr. Die Sätze sind glasklar und die Geschichte liest sich sehr flüssig. Die weitergegebenen Hintergrundinformationen überprüfe ich. Ich habe die anderen Umweltthriller des Autors gelesen und weiß, dass ich mich auf seine Informationen verlassen kann. Aber ich will doch lieber selbst nachsehen. Das Thema elektrisiert mich. Schon nach einigen Kapiteln beginne ich in meinem Bekanntenkreis über Plastik und die großen damit verbundenen Herausforderungen mit meinem sozialen Umfeld zu diskutieren.
    Das Schicksal der Menschheit, der Tier -& Pflanzenwelt, lassen mich auch nach der Lektüre nicht los.
    Die vorgestellten Personen sind ganz normale Menschen. So wie Du und ich. das macht die Geschichte definitiv noch greifbarer.
    Das Finale ist so überraschend und rund, wie ich es erwartet habe.

    Fazit
    Das ist ein Buch, das ich definitiv in meine persönliche Buchhit-Liste 2024 aufnehmen werde. Mir hat alles sehr gefallen. Deshalb vergebe ich uneingeschränkte, volle 5* Lesesterne.
    Ich kann den Thriller uneingeschränkt empfehlen. Auch Leser, die ökologisch nicht so interessiert sind, werden durch dieses Buch spannend unterhalten werden.

    ISDN: 978-3499011351
    Verlag: Rowohlt
    Formate: Hörbuch, E-Book, Taschenbuch

 

Am Himmel die Flüsse: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Am Himmel die Flüsse: Roman' von Elif Shafak
4.5
4.5 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Am Himmel die Flüsse: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:592
EAN:9783446280083
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Rezensionen zu "Am Himmel die Flüsse: Roman"

  1. 4
    01. Sep 2024 

    Ein Wassertropfen reist durch die Zeit und um die Welt

    In Elif Shafaks neuem Buch “Am Himmel die Flüsse“ geht es um drei wichtige Personen auf verschiedenen Zeitebenen und das zentrale Element Wasser. Das 9jährige ezidische Mädchen Narin soll 2014 am Tigris in der Türkei nach traditionellen Riten im Fluss getauft werden. Die Wasserforscherin Zaleekha betreibt ihre Forschungen 2018, und ein armer Engländer namens Arthur, "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", lebt Mitte des 19. Jahrhunderts in äußerster Armut am Ufer der Themse. Sein Grab findet Narin in der Nähe der Grabstätte ihrer Ururgroßmutter Leila. Auch Assurbanipal, ein mächtiger, grausamer König von Mesopotamien in der Urzeit spielt eine Rolle ebenso wie das Gilgamesch-Epos, verfasst vor rund 5000 Jahren und eine der ältesten Dichtungen der Welt. Das Element, das sie alle verbinden soll, ist Wasser, genauer gesagt ein Wassertropfen, der immer wieder neue Erscheinungsformen annimmt, in dieser Geschichte fast personifiziert wirkt. Es geht um Vergangenheit und Gegenwart, um die Folgen uralter Konflikte und Geheimnisse, die noch nicht aufgedeckt wurden.
    Shafaks Geschichte ist nicht leicht zu lesen. Der Roman ist sehr umfangreich, sehr detailliert, und mich stören sprachliche Manierismen. Die Wortwahl wirkt auf mich teilweise merkwürdig versponnen, die Ausdrucksweise ein wenig gestelzt. Dennoch ist das Werk schon beeindruckend und empfehlenswert, vor allem weil es Massaker zur Sprache bringt, die nicht nur in vergangenen Jahrhunderten begangen wurden, sondern zum Beispiel noch 2014 unbeachtet vor den Augen der Welt stattfanden. Die Autorin thematisiert außerdem immer wieder die Frage, welches Recht europäische Länder hatten und haben, bei Ausgrabungen entdeckte Kunstschätze außer Landes zu schaffen, in Museen auszustellen oder für große Summen an reiche Sammler zu verkaufen. Insgesamt ist "Am Himmel die Flüsse" eine lohnende Lektüre, aber man braucht ein wenig Ausdauer.

  1. Wasser zeigt die Verbindungen zwischen Orten und Zeiten

    "Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches Werk.

    Es geht um die Verbundenheit von allem und allen auf dieser Welt, metaphorisch dargestellt durch das Wasser, das in seinen vielfältigen Formen, ob als Wassertropfen, unterirdischer Fluss oder überwältigende Sturzflut, menschliche Schicksale und Zeiten miteinander verknüpft.

    Beginnend mit der Geschichte des Herrschers Assurbanipal im antiken Ninive begleiten wir schließlich den hochbegabten, aber in bitterste Not hineingeborenen Arthur, den "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", auf seinem Lebensweg in der Zeit der Industrialisierung, genauso wie im Jahr 2014 die 9-jährige Narin auf dem Weg zu ihrer Taufe ins Lalischtal, begleitet von ihrer liebevollen, geschichtenerzählenden Großmutter, sowie eine junge Hydrologin in London im Jahr 2018... und einen Wassertropfen auf seiner Reise durch die Weltregionen und die Jahrtausende.

    Was macht für mich ein literarisches Meisterwerk aus?

    Erstens die ganz besonders schöne, poetische Sprache: ein Buch, das schon mit seiner Wortwahl ein besonderer Lesegenuss ist und mit treffend gewählten Sprachbildern die Fantasie anregt. Davon findet sich ganz viel in diesem Buch, hier ein paar Beispiele:

    "Die Kinder entwurzelter Eltern sind in den Stamm des Erinnerns hineingeboren."

    "Arthur weiß inzwischen, dass die Grenzen zwischen Klassen in Wirklichkeit die Grenzen auf einer Landkarte sind. Wenn man in einer reichen und privilegierten Familie zur Welt kommt, erbt man einen Plan, auf dem der weitere Weg vorgezeichnet ist, der Abkürzungen und Nebenwege enthält, und der die üppig grünen Täler, in denen man rasten kann, ebenso nennt wie die schwierigen Stellen, die man besser umgeht. Wer die Welt ohne eine solche Karte betrifft, dem fehlt es an guter Orientierung. Der kommt viel leichter von seinem Weg ab, weil er auf vermeintliche Haine und Gärten zugeht, um schließlich festzustellen, dass er in Sumpf und Moor gelandet ist."

    "Endlich habe ich meine Berufung gefunden: Es ist meine Pflicht, das Zerbrochene zusammenzufügen, den Menschen zu helfen, sich an das zu erinnern, was jahrhundertelang vergessen war, und das, was irgendwo auf dem Weg durch jene Zeit verloren gegangen war, wiederzufinden. Ich möchte wie die Themse sein. Ich werde mich um alles Weggeworfene, Beschädigte, Vergessene kümmern."

    Mit solchen Sprachbildern ist das Buch voll.

    Zweitens die komplexen, gut recherchierten und miteinander verbundenen Themen:

    Beim Lesen dieses Buches kann man nebenbei sehr viel lernen. Zwar sind die Figuren fiktiv, doch das, was diese erleben oder ihnen zustößt, beruht überwiegend auf sehr sorgfältig recherchierten historischen Tatsachen (wie die Autorin im Nachwort auch selbst detailliert beschreibt). Dieses Buch hat mir Wissen über so unterschiedliche Gebiete wie das alte Mesopotamien, London zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, das Wassergedächtnis, die vergrabenen unterirdischen Flüsse von London, Paris und vielen weiteren Metropolen (auch in Wien gibt es solche), den Völkermord an den Eziden in der Geschichte des osmanischen Reiches sowie durch den IS, Organhandel, die Klimakrise auch als Wasserkrise, die Problematik des Verschleppens von Kunstschätzen in ferne Museen und vieles mehr vermittelt, einfach so nebenbei beim Lesen.

    Drittens das Bewusstsein für soziale und kulturelle Unterschiede, Benachteiligungen und Privilegien und wie sie die Möglichkeiten der einzelnen Menschen und ihre Weltsicht prägen. Das Buch zeigt etwa an vielen Beispielen (siehe z.B. das mittlere Zitat oben) auf, wie die eigene soziale Schicht und der eigene kulturelle und familiäre Hintergrund Türen öffnet oder schließt, wie schwierig es sein kann, diesem Hintergrund zu entfliehen und wie wenig Bewusstsein auf Seiten der Privilegierten dafür oft besteht, sowohl historisch als auch in der heutigen Zeit. Damit bietet das Buch viel Stoff zum kritischen Reflektieren und auch für Diskussionen mit anderen und eignet sich dadurch auch besonders gut für gemeinsame Leserunden.

    Viertens authentisch gezeichnete, tiefgründige und facettenreiche Figuren und eine spannend erzählte Geschichte. Dieses Buch hat mich gepackt, wie schon länger keines mehr, und als ich die liebevoll gezeichneten Figuren einmal kennen gelernt hatte, war ich sehr schnell emotional tief mit ihnen und ihrem Schicksal verbunden, habe mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende, das die verschiedenen Handlungsstränge noch einmal geschickt miteinander verwebt, war das Buch absolut fesselnd.

    Es handelt sich hierbei also um ein literarisches Meisterwerk, wie ich schon länger keines mehr gelesen habe. Im Klappentext findet sich die Aussage des Schriftstellers Hanif Kureishi, es handle sich bei Elif Shafak um "eine der besten Schriftstellerinnen der Welt" - dem kann ich absolut zustimmen und werde definitiv noch weitere Bücher von ihr lesen.

    Empfehlen kann ich das Buch allen, die sich für wirklich gute Literatur und/oder für die angesprochenen Themen interessieren, dieses Buch ist wirklich ein besonderer Lesegenuss.

    Nötig ist allerdings, sich innerlich auch für sehr schwierige Themen menschlicher Grausamkeit zu wappnen: diese hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, es gibt sie leider bis heute, und sie kommen auch detailliert im Buch vor.

    Das macht beim Lesen gerade deshalb emotional besonders betroffen, weil es aufgrund der gut recherchierten wahren Hintergründe eben nicht möglich ist, sich mit der Vorstellung, es sei nur eine Geschichte, davon zu distanzieren: schreckliche Dinge werden Menschen, Tieren und der Natur durch andere Menschen angetan, bis zum heutigen Tag, und Elif Shafak spricht das klar und mutig an.

    Es ist also trotz der schönen, poetischen Sprache und der spannenden Geschichte nicht nur ein reiner Lesegenuss, sondern macht auch sehr nachdenklich und sensibilisiert für das Leid der Welt und für das, was Menschen, Tieren und Natur angetan wird, bis zum heutigen Tage. Damit kann es aber auch aufrütteln, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine bessere Welt einzusetzen.

  1. Von der Themse zum Tigris – anregende Geschichte in 3 Zeitebenen

    6 von 5 Sternen – Thematisch reichhaltig, sprachlich bildhaft, philosophisch und gesellschaftskritisch anregend – großartig!

    'Dieser Roman ist meine Liebeserklärung an Flüsse – diejenigen, die noch voller Leben sind, und diejenigen, die es längst nicht mehr gibt.' (Shafaks Worte zum Schluss, 590)

    Es ist ein unglaublich reichhaltiges Buch, spannend erzählt, lehrreich, nachdenklich machend. Dabei stört es mich nicht, dass viele Themen angesprochen werden, im Gegenteil, es wirkt anregend und lange nachwirkend.

    Auch wenn in drei bzw. vier Zeitebenen erzählt wird, sind diese klar voneinander durch die Angabe der Personen, des Ortes und des Jahres abgegrenzt, andererseits aber durch eine Menge unterschiedlicher Aspekte miteinander verbunden, allen voran Wasser, ein Regentropfen, die Flüsse Themse und Tigris, das alles geschickt in die einzelnen Geschichten eingewoben.

    In Urzeiten lebte einst in Ninive ein gebildeter, aber grausamer assyrischer Herrscher -
    Assurbanipal. Doch was interessiert der uns heutzutage noch? Diese Frage wird man sich am Ende des Buches nicht mehr stellen, denn alles hängt zusammen, alles ist miteinander verflochten. Er ist derjenige, dessen riesige Schutzgötter-Statuen, die Lamassu, noch heute im Britischen Museum zu sehen sind, er ist derjenige, der Keilschriften-Tontafeln sammelte, allen voran das heute noch hoch geschätzte Epos von Gilgamesch.

    Und in diesem Zusammenhang treffen wir auf den jungen Arthur, der diese Keilschriften entzifferte und Zeit seines Lebens vom Gilgamesch-Epos besessen war. Seine Geschichte spielt an der Themse und am Tigris in Mesopotamien, Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Er wird in ärmlichste Verhältnisse geboren, in ein London zu Beginn der Industrialisierung, schmutzig, verseucht, mit krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich.

    Er ist ein besonderes Kind mit besonderen Begabungen und bekommt die Chance, in einer Druckerei zu arbeiten, später im Britischen Museum. Als er unter den Keilschriften Bruchstücke des Gilgamesch-Epos entdeckt, darf er nach Mesopotamien reisen, um dort Ausgrabungen zu machen und eventuell die fehlenden Tafeln zu finden. Er wird sein Leben lang davon besessen bleiben, auch von der Landschaft, dem Fluss Tigris und den gastfreundlichen Jesiden, die er dort kennenlernt. Deren Schicksal ist uns bekannt (IS), aber sie waren auch damals schon als 'Teufelsanbeter' verschrien und mussten Massaker erdulden. Am Ende stirbt Arthur dort krank und einsam und wird dort begraben.

    Leider setzt sich das grausame Schicksal der Jesiden auch in der Gegenwart fort. Ein Dammbauprojekt der türkischen Regierung zerstört den Lebensraum von Tausenden Menschen und Kulturgüter mit einer zwölftausend Jahre alten Geschichte. Schlimmer noch der Terror des IS, das uns am Schicksal der kleinen Narin und ihrer Großmutter erfahrbar gemacht wird: Massaker, Sklaverei, Vergewaltigungen.

    Die Großmutter ist eine weise alte Frau, die versucht, Narin zu Menschlichkeit zu erziehen:

    'Die Welt ist voller Schmerz und Leid, aber sie ist auch schön.' (321)

    Später wird uns Narin im Zusammenhang mit einer anderen Person des Buches begegnen, Zaleekhah, im Jahre 2018. Sie ist 31, promovierte Hydrologin und wegen des Todes ihrer Eltern, an dem sie sich die Schuld gibt, depressiv. Zum Glück lernt sie aber eine lebensbejahende Frau kennen, die sich ihrer annimmt und wo auch wieder allerlei Verbindungen zu Ninive und dem Gilgamesch-Epos aufgezeigt werden.

    Am Ende der Geschichte sehen wir, wie alle und alles zusammenhängen, wie alle und alles miteinander verbunden ist und welche Rolle vor allem Wasser dabei spielt.

    Das Buch spricht eine Fülle von Themen an, was aber nicht abschreckend, sondern anregend wirkt:

    Umweltprobleme - 'Wir Menschen zerstören so oft die Natur und nennen das Fortschritt.' 173 - 'Die Klimakrise ist im Grunde eine Wasserkrise' 148

    Darf das kulturelle Erbe anderer Völker in Museen in aller Welt gebracht werden? Oder gar in Privatbesitz übergehen?

    Die Verfolgung der Religionsgemeinschaft der Jesiden

    Gibt es ein 'Wassergedächtnis'?

    Organverpflanzung / Organhandel

    u.v.m.

    Fazit

    Es ist ein Buch, das mich überwältigt, fasziniert und tief beeindruckt hat. Es ist eines, das man mehr als einmal lesen kann und muss. Es ist eines, das viele Gedankenanregungen gibt und zum Recherchieren anregt. Es ist ein Buch voller schöner bildhafter Sätze und Zitate. Und es ist keien Minute langweilig, obwohl man außer den persönlichen Lebensgeschichten einiges Sachliche erfährt.

    'Ein Buch dagegen endet nie, auch nicht, wenn man es fertig gelesen hat.' (143)
    'Schreiben heißt, die Zwänge von Ort und Zeit zu überwinden.' (500)

  1. Große Erzählkunst

    In ihrem neusten Buch schlägt die britisch-türkische Autorin Elif Shafak einen weiten Bogen. Es beginnt im Jahr 630 v. Chr. in Ninive, das zu dieser Zeit die Hauptstadt des Assyrischen Reiches war. Der Leser begleitet einen Regentropfen, der auf das Haupt des Königs Assurbanipal fällt, wieder verdunstet, um im Jahr 1840 als Schneeflocke im Mund eines Neugeborenen am Themse-Ufer zu landen. Die Reise geht bis in das Jahr 2018, wo eine Hydrologin über das Gedächtnis des Wasser forscht.
    Die Geschichte ist in drei Handlungsstränge mit völlig unterschiedlichen Protagonisten aufgeteilt, die abwechselnd erzählt werden.
    Da ist zu einem Arthur, das Neugeborene aus dem Jahr 1840. In Armut geboren und aufgewachsen, aber mit einem wachen Geist und der besonderen Gabe, wiederauftretende Muster in vielen Dingen zu erkennen, schafft es der Junge vom Druckerlehrling zum anerkannten Fachmann und Übersetzer des Gilgamesch-Epos. Diese Figur ist an eine historische Person angelehnt.
    Dann gibt es die 9jährige Narin und ihre Großmutter. Sie gehören der Glaubensgruppe der Eziden (Jesiden) an und leben 2014 im Südosten der Türkei, nahe der Grenze zu Syrien. Narins Großmutter ist eine weise Frau und erzählt ihrer Enkeltochter viele Sagen und Legenden ihrer Religion. Ihr Heimatort soll von einem geplanten Staudamm überflutet werden, was nicht nur die Vertreibung der Anwohner, sonder auch die Überflutung und Vernichtung archäologischer Stätten bedeutet. Narin reist mit ihrer Großmutter in das Lalisch-Tal im Norden des Irak, weil sie dort nach ezidischem Brauch getauft werden soll. Als die Kämpfer des IS in das Tal einfallen, kommt es für die ezidische Bevölkerung zur Katastrophe.
    Und dann gibt es noch Zuleekah, die Hydrologin, die im Jahr 2018 in London lebt. Sie hat sich von ihrem Ehemann getrennt und ist auf ein Hausboot auf der Themse gezogen. Ihre Eltern starben früh und sie ist bei der Familie ihres Onkels aufgewachsen. Dieser Onkel, ein schwerreicher Mann, stellt große Ansprüche an Zuleekah, die gerade mühsam versucht, sich aus ihrer Lebenskrise herauszuarbeiten.
    Es war für mich das erste Buch der Autorin, das mir bis auf kleine Abstriche gut gefallen hat. Elif Shafak ist eine großartige Erzählerin, sie lässt die Figuren lebendig werden und schafft es mühelos diese drei unterschiedlichen Handlungsstränge am Ende zusammenzuführen. Dabei spricht sie viele Themen an. Nicht nur das Gedächtnis des Wassers und die Entschlüsselung der Keilschrift und damit die Entdeckung des Gilgamesch-Epos. Auch die leidvolle Geschichte der Eziden und ihre gezielte Vernichtung werden beschrieben. Zusätzlich beleuchtet sie noch die Problematik der Aneignung archäologischer Kulturgüter durch westeuropäische Staaten und den Organhandel. Obwohl die Geschichte dadurch manchmal überladen wirkt, bleibt sie durchgehend fesselnd. Mir persönlich hat der Teil mit Zuleekah am besten gefallen, ihr fühlte ich mich am am meisten verbunden. Der gesellschaftliche Aufstieg Arthurs mutete sehr märchenhaft an, wobei es ja wie schon erwähnt, durchaus ein historisches Vorbild gibt. Die Mythen und Legenden der Eziden verliehen der Erzählung einen Hauch von Tausendundeiner Nacht. Die Darstellungen des Genozids, dem Narin und ihre Familie zum Opfer fielen, waren dagegen teilweise so intensiv, dass sie für empfindsame Personen schwer zu verkraften sind, besonders weil sie der Realität entsprechen.
    Alles in allem ist ein lesenswertes und lehrreiches Buch, das manchmal etwas zu märchenhaft anmutet.

  1. Bindeglied Wasser

    Wasser ist in unseren Leben omnipräsent. Wir trinken es für gewöhnlich jeden Tag mehrmals, nutzen es zum kochen und waschen, es gibt Wasserstoff als Energie. Doch wie tiefgründig die Geschichte der Menschheit mit Wasser verbunden ist, zeigt Elif Shafaks „Am Himmel die Flüsse“ exemplarisch.

    Den Ursprung der im Buch dargestellten Verbindung liegt bei Assurbanipal, der einst über die reiche Stadt Ninive herrschte. In dieser Stadt ist seinerzeit eine große Bibliothek mit dem wertvollen Gilgamesch-Epos. Der fasziniert nicht nur in der Antike die Völker, sondern auch im 19. Jahrhundert Arthur. Arthur ist ein mittelloser Forscher aus London, der aufgrund seiner Geburt an der Themse auch als König der Abwasserkanäle verschrieen ist. Sein Können beruht darauf, dass er alte Erinnerungen und Daten vor seinen inneren Auge sieht.

    Ein ähnliches Phänomen hat Narins Großmutter vorzuweisen. Auf der Flucht der beiden Richtung Irak im Jahr 2014 offenbart sie, dass sie mit den Flüssen kommunizieren kann. Narin ist fasziniert und beschäftigt sich mit der Vergangenheit, sodass sie auf Arthurs Grab stößt.

    Die letzte Protagonistin ist Zaleekhah, die sich mit Wasser als Wissenschaft beschäftigt. Sie erkennt, dass die Talsperre am Tigris nicht funktionieren würde und erfährt bei ihrer Recherche mehr über den Fluss und die Geschichten um ihn herum.

    Ich finde das Buch klasse geschrieben. Sicherlich könnte man Shafak vorhalten, das Szenen wie Arthurs Geburt oder Narins Flucht nicht leicht zu lesen sind und sich die Szenen teils in die Länge ziehen, aber alles hat seinen Sinn und ergibt ein tolles Gesamtbild. Nicht zu vergessen, dass es Shafak stets gelingt, die Sprache anzupassen und so eine runde Situation zu erschaffen. Besonders gut gefällt mir, dass Shafak allen gesellschaftlichen Problemen Raum gibt und so auch oft vergessene Fakten zur Sprache kommen. Fünf Sterne.

  1. Ein Weckruf!

    Wenige Autoren sind mit sovielen Literaturpreisen bedacht wie Elif Shafak. Mit großer Leidenschaft, Mut und Mitgefühl für das Schicksal der Eziden hat sie dieses Buch geschrieben. Sie hat dafür eine umfassende Recherche betrieben, die sie ausführlich in ihren Anmerkungen beschreibt. Eine Fundgrube an Literatur, für alle die sich für die Vielzahl der, in ihrem Buch angesprochenen Themen weitergehend interessieren.
    Alles beginnt in Mesopotamien, dort wo der Garten Eden war, wo die Wiege der Zivilisation und Kultur stand, dort wo die Sintflut ihren Anfang hatte und die Erzählung von Gilgamesch als Keilschrift in denLehm gedrückt, oder in Lapislazuli geschnitten wurde.
    Am Ufer des Tigris fällt ein Regentropfen in Assurbanipals Haar und landet tausende Jahre später als Schneekristall an der Themse, auf dem Körper von Arthur, dem Entzifferer der Keilschrift, der sich aufmacht nach Mesopotamien und unterwegs die religiöse Rechtfertigung erfährt, aus welchem Grunde man die Eziden töten soll. Dieser Grund gilt heute noch und wurde auch bei dem letzten Massaker durch den IS angewendet.
    Die Autorin setzt in ihrem Buch einen Gedenkstein für dieses Volk.

 

In den Wäldern der Biber: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'In den Wäldern der Biber: Roman' von Franziska Fischer
4
4 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "In den Wäldern der Biber: Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:320
EAN:9783832166731
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Rezensionen zu "In den Wäldern der Biber: Roman"

  1. Wohltuend entschleunigend wie ein Waldspaziergang

    Gestaltung:
    ---------------------
    Das Buch sieht wunderschön aus. Die Bäume in verschiedenen Grüntönen als Titelbild sind leicht haptisch hervorgehoben. Es wirkt beruhigend. Das Hardcover ist hochwertig verarbeitet, die Seiten stabil und das dunkelgrüne Lesebändchen passt perfekt.

    Inhalt:
    ---------------------
    Alina hat sich gerade frisch von ihrem Freund getrennt, Job und Wohnung in Frankfurt verloren und fährt mangels einer Alternative und ohne weiter Nachzudenken zu ihrem Großvater. Dieser wohnt in einem kleinen Dorf namens Spechthausen. Ihr Vater starb, als sie ein Kind war und kurz danach brach der Kontakt zwischen ihrer Mutter und den Großeltern väterlicherseits ab. Nun, nach gut 20 Jahren, steht sie vor seiner Tür. Er nimmt sie auf und gemeinsam arbeiten sie die Vergangenheit auf und Alina kommt endlich an - bei sich und generell.

    Mein Eindruck:
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    "Joggen auf Waldwegen ist wie Schweben, ein Dahingleiten durch eine Welt, die voller Geheimnisse ist." (S. 164)

    Mich konnte die Autorin von Anfang an fesseln. Das liegt weniger an einer spannenden Handlung, sondern vielmehr an der poetischen Sprachgewalt, die dem Roman innewohnt. Frau Fischer versteht es wunderbar, Gefühle zu beschreiben und einen zum Nachdenken zu bringen. Ich konnte mich gut in Alina und ihre Selbstzweifel hineinversetzen, konnte die Annäherungen zwischen ihr und den Personen im Dorf nachspüren, besonders die zwischen ihr und Ihrem Großvater, aber auch die Gefühle zu Elias. Es waren langsame Annäherungen, so dass die Handlung authentisch wirkte und nie ins Kitschige driftete. Bei den Naturbeschreibungen und der Schilderung der Waldspaziergänge fühlte ich mich direkt an den Ort versetzt. Es wirkte entschleunigend und erholsam.

    "Als Kind ist man jeden Tag eine andere Person, jemand, der mehr weiß als das Ich, das man am Vortag war, der mehr kann und mehr versteht und gleichzeitig mehr strauchelt." (S. 182)

    Alina muss vieles in ihrem Leben überdenken und neu ordnen. Dabei helfen ihr die sehr offenen Gespräche mit ihrem Großvater, aber auch mit dem Geschwisterpaar Isabel und Elias, die sie noch aus ihren Ferien in Kindheitstagen kannte. So mischen sich immer wieder Kindheitserinnerungen mit philosophischen Zukunftsüberlegungen in die Handlung ein. Die Autorin hat für mich sehr treffend die Emotionen beschrieben und ich habe mir viele Passagen als Zitate aufgeschrieben.
    Das Ende betreffend ist vielleicht in großen Teilen vorhersehbar, aber letztendlich gefiel mir, dass die Autorin hier nicht vollends in ein kitschiges Happy End abgedriftet ist, sondern ein Plädoyer für eine andere Art von Partnerschaft und Familie gesetzt hat. Anders wäre es für mich nicht glaubwürdig gewesen.
    Ein Buch über Verlust, Vergebung, Kindheit und Erwachsenwerden, aber auch über Liebe und Familie, die nicht den klassisch-gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen muss.
    Die Biber spielen eigentlich nur eine Nebenrolle, dennoch sind sie und der Wald der Ort, der Alina entschleunigt und so schließlich die Änderungen ins Rollen bringen. Und nebenher erfährt man dann auch noch ein wenig über das Verhalten und den Schutz der Biber, was mir gut gefallen hat.

    Fazit:
    ---------------------
    Wunderbar geschriebener Roman über den Wald als Ort der Entschleunigung und für Neubeginn - regt zum Innehalten und Nachdenken an

  1. 2,5 Sterne

    Klappentext:

    „Alina ist an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, an dem sie nicht mehr weiterweiß: Ihren Job konnte sie nie leiden, in Frankfurt am Main, der Stadt, in der sie lebt, fühlt sie sich schon lange nicht mehr wohl, und dann geht nach einem heftigen Streit auch noch ihre Beziehung in die Brüche, sodass sie plötzlich ohne Wohnung dasteht. Wohin jetzt? Der einzige Ort, der ihr einfällt, ist Spechthausen, ein kleines Dorf in Brandenburg. Hier lebt ihr Großvater, zu dem sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. In seinem viel zu großen, renovierungsbedürftigen Haus am Waldrand nimmt er sie auf, ohne viele Fragen zu stellen.

    Langsam nähern Alina und er sich wieder an. Sie hilft ihm mit den Hühnern und dem Garten; gemeinsam beobachten sie Biber in freier Wildbahn. Dunkel und fast ein wenig unwirklich sind Alinas Kindheitserinnerungen an die Ferien in Spechthausen. Nun, inmitten der Natur, kehren sie nach und nach zurück. Ehe sie sichs versieht, fühlt sie sich heimisch in dem Ort und den umliegenden Wäldern. Endlich hat sie Zeit, darüber nachzudenken, was ist, was war und was sein soll. Außerdem ist da noch ihr Kindheitsfreund Elias, mit dem sie viel verbindet. Doch bevor sie sich ein neues Leben aufbauen kann, gibt es einiges, wovon Alina sich befreien muss.“

    Der Buchtitel sowie der Klappentext lassen eine Geschichte vermuten, die in der Natur spielt, wo die Natur ein gewisser wichtiger Nebendarsteller zu sein scheint, aber leider trifft das nicht ganz zu. Sobald man in der Geschichte rund um Alina feststeckt, bemerkt man, man sucht die Natur, man sucht die Biber und will selbstredend hinter die Gedankengänge von Alina streifen um zu erfahren was sie so, nennen wir es „verwirrt“, verwirrt hat. Schnell stellte sich aber mir die Frage beim lesen, warum um Himmels Willen nimmt denn ihr Großvater sie so ohne weiteres bei sich auf? Gibt es denn da nicht erstmal einen gewissen Klärungsbedarf? Hat er etwas gutzumachen? Warum führt sie diese Flucht aus ihrem Leben zurück in ihre Vergangenheit nach Spechthausen? Warum lässt ihr Großvater alle Veränderungen, die Alina anstrebt, so ohne murren zu? Mir war hier vieles einfach zu verworren, zu undurchsichtig und vor allem zu unglaubwürdig. Wer lässt denn einfach mal so nach langer Zeit der Abstinenz jemanden so mir-nichts-dir-nichts in sein Leben? Man könnte es als Großherzigkeit oder gar Verständnis für das Enkelkind abtun, aber wie gesagt, ich finde es sehr fragwürdig. Und was ist noch fragwürdig an diesem Roman? Man sucht die Natur doch vergebens. Wird erst dem Leser der Mund so wässrig gemacht und dann „sehen“ wir die sowieso schon seltenen Biber nur für einen winzigen Moment.

    Die Geschichte soll wohl eine Art Selbstfindung sein, mit den Erinnerungen der Kindheit aufräumen, mit den aktuellen Problemen lernen umzugehen, Sinnsuche, Achtsamkeitstraining für die geschundene Seele oder so ähnlich. Ich hatte mir etwas anderes davon versprochen und kann einfach nicht mehr als 2,5 Sterne dafür vergeben. Da reißt auch der der Schreibstil oder der Ausdruck nichts heraus.

 

Unglaublich krank

Buchseite und Rezensionen zu 'Unglaublich krank' von Esther Schweins
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Unglaublich krank"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:366
EAN:
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Rezensionen zu "Unglaublich krank"

  1. sehr interessant

    Dieses Buch beleuchtet in seinen Kapiteln sehr seltene Krankheitsbilder. Die Autoren kommen abwechselnd zu Wort, was die reine medizinische Beschreibung auflockert. Frau Schweins spricht dabei sehr viel über ihr eigenes Leben und ihre Erfahrungen. Auch über Traumata die sie erfahren hat.
    Professor Mücke hingegen beleuchtet die medizinische Seite dieser Erkrankungen und die Odyssee, die diese Patienten auf seine Station geführt haben.
    Das ist unglaublich spannend und gut geschrieben. Auch ein Laie findet sich hier gut zurecht und kann krimimäßig miträtseln.
    Da der Autor Professor Mücke den Fachbereich seltene Erkrankungen leitet, sind alle Erzählung aus seinem direkten Erleben und nicht vom Hören-sagen, was dieses Buch sehr authentisch macht.
    Ein wenig hat mich gestört, dass man zwischen der Beschreibung der Erkrankungen nicht gewusst hat, welcher der beiden Autoren nun gerade kommentiert, da fehlte für meine Begriffe die Zuordnung, wie sie zu Beginn eines jeden Kapitels ja als Überschrift gegeben ist.
    Da ich selber in einem medizinischen Beruf tätig bin, konnte ich tatsächlich einige Erkrankungen" erraten" und fand es sehr traurig für die Betroffenen, dass die Medizin in diesem Lande oftmals nur Zeit und Terminvergabe für oberflächliche Untersuchungen hat.
    Der Schreibstil ist einfach gehalten, ohne spezielle Termini, und wenn sie gebraucht werden, wird alles sehr gut erläutert. Genervt hat mich der Genderwahnsinn in diesem Buch, es gab Gott sei Dank keine Sternchenworte, daher erfolgt auch kein Punktabzug, aber diese Schlangensätze mit Krankenhausärztinnen und Krankenhausärzten, die von Notärztinnen und Notärzten oder Hausärztinnen und Hausärzten Diagnosen überprüfen, fand ich schon übel.
    Ansonsten habe ich nichts zu meckern, und kann das Buch bedingungslos jedem Leser empfehlen, der sich gerne miträtselnderweise medizinisch bilden möchte. Auch als Geschenk kann ich mir dieses Buch sehr gut vorstellen.

 

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