Carol: oder Salz und sein Preis (detebe)
"Darum geht es, um Sarah die Unbekannte, Sarah das ehrliche Mädchen. Sarah die zurückhaltende Dame, Sarah die Fantasiefrau, Sarah die bizarre Frau, Sarah die einsame Frau."
Eben nicht. In dem Roman "Es ist Sarah" der französischen Autorin Pauline Delabroy-Allard geht es nicht nur um Sarah, sondern um eine zerstörerische Liebe zwischen 2 Frauen, wovon eine ebendiese Sarah ist.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eine der beiden Frauen: alleinerziehende Mutter, Lehrerin, die eines Tages im Kreis von Freunden Sarah kennenlernt. Die Violistin Sarah kommt wie ein Wirbelwind in das Leben der jungen und zurückhaltenden Frau. Aus freundschaftlicher Zuneigung wird Liebe. Die beiden leben ihre Liebe, fernab jeglicher Konventionen. Denn sie haben genug mit sich allein zu tun. Da ist es schwierig, den Alltag in ihre Beziehung zu lassen. Dennoch lässt sich der Alltag nicht ignorieren. Insbesondere die Ich-Erzählerin spürt die Schwierigkeiten, Liebe, Beruf und Kind unter einen Hut zu bringen.
Sarah lebt und liebt mit einer Leidenschaft, die die beiden Frauen emotional an ihre Grenzen bringt. Nach etwa einem Jahr nimmt ihre Liebe zerstörerische Ausmaße an, die kaum noch zu ertragen sind.
"Manchmal wird sie verrückt. Verrückt vor Wut, dann verrückt vor Kummer. Sie beginnt zu schreien, sie wirft sich auf mich, zerkratzt mir das Gesicht mit einem monströsen Ausdruck auf ihrem. Sie ist schlimmer als die Hexe aus dem Märchen. Sie wirft mir alles Mögliche vor, ihr die Zeit zu stehlen, ihre Jugend zu stehlen, ihr die Vorstellung zu stehlen, die sie von klein auf davon hatte, wie sie ihr Leben führen sollte. Sie sagt es nicht, aber ich höre es, es klingt in meinen Ohren, Diebin, Diebin, Diebin."
Dieser Roman wird in zwei Teilen erzählt. Der erste Teil behandelt die leidenschaftliche und zerstörerische Beziehung der beiden Frauen. Im zweiten Teil geht es um die Konsequenzen auf das Seelenleben der Ich-Erzählerin, die völlig aus der Bahn geworfen wird, mit allem bricht, was ihr im Leben wichtig war und an dem emotionalen Schmerz, der durch die Beziehung zu Sarah verursacht wurde, zugrunde geht.
Die Beziehung der beiden Frauen wird von Lust, Leidenschaft, Zerstörung und Schmerz bestimmt. Dies sind auch die Begriffe, die die Geschichte und den Sprachstil der Autorin dominieren. Der Text strahlt ebendiese Begriffe aus, angefangen von der ersten bis hin zur letzten Zeile. Die Handlung reißt den Leser mit, wobei sich die Emotionalität unweigerlich auf den Leser überträgt.
Manch einem Leser mag dies zuviel Gefühl und Leidenschaft sein. Hinzu kommt die detailgetreue Beschreibung der erotischen Begegnungen der beiden Frauen. Doch für mich ergibt dies ein stimmiges Bild: Denn erzählt wird die Geschichte einer leidenschaftliche Liebe in all ihren Facetten, beschrieben in einer hochemotionalen Sprache.
Leseempfehlung!
© Renie
Der Roman wird im Wesentlichen aus zwei Erzählperspektiven erzählt: Einerseits haben wir einen auktorialen Erzähler, der uns Max Wenger und seine Gedanken sehr explizit darstellt. Andererseits gibt es die Ich-Erzählerin Chloe (genannt Zoey), Wengers 17-jährige Tochter. Ihre Abschnitte sind mit Hashtags gekennzeichnet. Die Kapitelführung ist von 10 rücklaufend bis 0 gestaltet, unregelmäßig werden Briefe einer unbekannten Frau namens Marlen abgedruckt. Die Geschichte spielt in der Gegenwart, es gibt aber zahlreiche Rückblicke, die für das bessere Verständnis des Geschehens wichtig sind.
Wenger ist ein wahrer Anti-Held. Mitte 50, getrennt von seiner Frau, hat er nur mäßigen Kontakt zu seinen zwei 16- und 17-jährigen Kindern. Er lebt er in einer verwahrlosten Junggesellenbude und träumt von besseren Zeiten. Seine Schwester Elisabeth kümmert sich um ihn, aber auch sie hört kein gutes Wort. Wenger flüchtet sich in Depression und Alkohol, ist ein richtiger Stinkstiefel.
Früher war er Schriftsteller. Er wurde es eher per Zufall, war dann aber eine Zeitlang sehr erfolgreich, bis seine Bücher die Läden hüteten und sich der Verleger von ihm abwandte. Der höchst poetisch formulierte Brief einer Unbekannten, adressiert an seinen Vormieter, mischt Wenger etwas auf: „Ich hab dich geliebt, lass mich das einmal aufschreiben. Lass mich alles einmal aufschreiben. Ich schreibe es weg von mir, raus aus mir, runter von mir. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder sauber. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder.“ (S. 19)
Zoey lebt im Elternhaus zusammen mit ihrem Bruder Spin, ihrer Mutter Patrizia und deren neuen, jungen Freund Reto. Die Mutter unterhält einen Kanal, in dem sie Schönheits- und Lifestyle-Tipps verbreitet. Sie leidet am Jugendwahn und will sich ständig mit ihrer Tochter messen und fotografieren lassen. Zoey verabscheut diese oberflächliche Welt, die Mutter spürt das aber nicht. Auch Wenger hat sich nie für seinen Nachwuchs interessiert, Zoey ist er fremd: „So ist das mit ihm. Er ist eine Tür, und ich probiere einen Schlüssel nach dem anderen, einen ganzen verfickten Schlüsselbund hab ich, und keiner passt. Nicht ein einziger.“ (S. 36).
Die Kinder sind sehr häufig sich selbst überlassen, was sie eng zusammengeschweißt hat. Probleme besprechen sie miteinander. Dennoch besuchen sie den Vater pflichtbewusst im 14-tägigen Rhythmus.
Im Zuge des Romans passiert viel. Wenger bekommt weiterhin die Briefe der Unbekannten, die er wie selbstverständlich öffnet, obwohl sie nicht für ihn bestimmt sind: "Wenger ist so alt, dass ein Brief noch Bedeutung hat für ihn, weil es ein echtes Schriftstück ist, in das jemand Worte eingewebt hat und das Tage gebraucht hat statt Sekunden, um anzukommen.“ (S.18)
Die Schreiberin zeigt zunehmend eine zutiefst enttäuschte und verletzte Seele, von Brief zu Brief erfährt man mehr über ihr Schicksal, dass sie nach San Remo verschlagen hat. Wenger berühren diese Briefe eigentümlich, seine Gedanken sind nicht immer schmeichelhaft für ihn. Was er nicht weiß, ist, dass auch Zoey die Briefe liest und sogar abfotografiert. Sie ist von ihnen völlig anders tangiert als ihr Vater.
Zoey hat das analoge Fotografieren zu ihrem Hobby gemacht, von dem zunächst niemand etwas weiß. Um Geld zu verdienen und sich fortzubilden, jobbt sie in einem Fotostudio. Sie träumt von der Anschaffung einer wertvollen Kamera. Eines Abends kommt es jedoch zu einem Vorfall, der sehr prägend und verletzend für die junge Frau ist und weitreichende Folgen für die Handlung hat.
Die drei unterschiedlichen Erzählperspektiven nehmen zunehmend Fahrt auf und zeigen wichtige Themen aus verschiedenen Blickwinkeln: Wenger erweist sich als ein großer Macho. Von jeher tritt er Frauen gegenüber sexistisch auf, beurteilt sie höchst oberflächlich und erwartet, dass insbesondere seine eigenen Interessen befriedigt werden. Zoey ist ein sensibles junges Mädchen, das unglücklich verliebt ist. Sie macht ihre ersten holprigen Erfahrungen mit Sexualität, die nichts mit Erfüllung zu tun haben.
Die Briefe Marlens gehen unter die Haut. Sie flankieren das Geschehen rund um Wenger und seine Tochter. Wenger fühlt sich von ihnen inspiriert, er rafft sich auf, findet ein neues Thema für einen Roman. Zoey leidet, kann aber noch nicht darüber sprechen. Die Spannung steigt, es gibt Konfrontationen innerhalb und außerhalb der Familie. Der Roman mutiert zum Pageturner. Beachtlich ist, dass Fallwickl völlig unterschiedliche Sprachmelodien für ihre Protagonisten findet. Sie gleitet nicht in Klischees ab, sie beschreibt Typen, und Typen wie Wenger – so unsympathisch er einem auch ist – gibt es in der realen Welt.
Die Autorin hat wichtige, allgegenwärtige Themen aufgegriffen. Es geht um Grenzen: Wo fangen sie an, wo hören sie auf, wie muss man sie verteidigen? Es geht um Identitätssuche und -definition, um Verarbeitung erlittener Gewalt. Hinzu treten der übertriebene Jugendwahn, auch Kritik an den Social Media habe ich herausgelesen. Interessant, dass hier nicht nur die Jugend zu den übertriebenen Nutzern gehört.
Fallwickl hat ein wichtiges, aktuelles Buch vorgelegt in einer Sprache, die vielseitig verschiedene Nuancen aufzeigt, sich flüssig liest, mal nachdenklich stimmt, mal zum Schmunzeln einlädt oder poetische Anlehnungen hat. Es ist ein Roman, der sowohl für ältere Teenager als auch für Erwachsene geeignet ist. Auch nach dem Zuklappen des Romans, dem die Autorin ein absolut glaubwürdiges Ende gegeben hat, ist der Denkprozess nicht abgeschlossen.
Ein Buch, das nachhallt. Was will man mehr von guter, zeitgenössischer Literatur?
Von mir gibt es 5 Sterne und meine volle Leseempfehlung!
Von Sex und Surrealismus
Kurzmeinung: Auf den ersten Blick eine leichte Lektüre, wenn man darüber nachsinnt, entdeckt man eine literarische Strömung.
Ganz unerwartet wird die namenlose, in Paris lebende Icherzählerin von der Liebe zu der Violonistin Sarah überrollt. Es ist eine Art feindliche Übernahme über ihr gesamtes Leben. Noch nie hat die Erzählerin eine solche umfassende Obsession erlebt. Denn eine Obession ist es.
Ob es auch Liebe ist, wird nicht ausgelotet im Roman, obwohl viel von Liebe die Rede ist. Auch von einer Art Seelenverwandtschaft. Alles scheint zu passen. Die Erzählerin lässt sich in einen Liebesrausch fallen. Doch so schnell wie der Rausch begonnen hat, ist er auch wieder vorbei.
Was die einen fasziniert, langweilt die anderen. Nämlich die Schreibweise dieses Romans, der in kurzen Sätzen mit viel Wortwiederholungen, Atemlosigkeit zu vermitteln vermag. Doch reicht es als Charakterisierung, wenn man hundertmal schreibt „sie ist so lebendig“.? Die grünen Augen von Sarah haben mich nicht ganz so gefesselt wie die Autorin sich das vorgestellt hat und ihre Schlupflider haben mich auch nicht glücklich gemacht.
Hannah Lühmann schreibt (deshalb) 21.08.2019 in der „Welt“:
„Der glamouröseste Roman der französischen Gegenwartsliteratur ist die Geschichte einer Amour fou zwischen zwei Frauen. Warum aber bleibt man von dieser virtuosen Erzählung letztlich so unberührt?“
Weil er Charaktere nicht auslotet und dies auch nicht tun will. Und weil er mit surrealistischen Momenten und Anteilen spielt, die ja gerade eine Identifikation verhindern möchten, aber ein Gefühl nach vorne bringen wollen. Der Surrealismus ist nichts als ein Gefühl.
Ja, man sucht in dem Roman vergeblich nach Inhalt. Sexistische Reizwörter beschreiben schnörkellos die Liaison. Die Liebe bleibt unhinterfragt. Obwohl sie von der einen Seite rücksichtslos ausnutzend gelebt wird und von der anderen stalkerhaft bis ins Krankhafte gesteigert ist.
Man weiß nur Marginales von den beiden Frauen. Es wird angedeutet, skizziert. Und dabei bleibt es. Aber das ist Absicht. Es ist gewollt und nicht etwa nicht gekonnt.
Die Liebeskizze, die eine krankhafte, alles verschlingende Obsession darstellt, hat seine Reize. Aber sie ist bleibt unausgeformt. Ein Bild in Pastell, bei dem die Pastelltöne oft sogar bis zur Unkenntlichkeit von Konturen verschwimmen.
Im zweiten Teil ist man nicht mehr ganz sicher, wer hier spricht. Ist es immer noch die selbe Erzählerin oder ist es nicht doch Sarah, die im Todesdelirium phantasiert und die Fakten vermengt, durcheinanderbringt? Wir wissen es nicht. Das Ende ist auf alle Fälle strange.
Aber Pauline Delabroy-Allard kann sich auch ganz wunderbar audrücken: "Seit wir zu zweit sind, herrscht die Magie." Das ist kurz. Und genial.
"Der Winter, der mit leisen Schritten vorbeigeht, während wir dem Schnee beim Fallen zusehen". Das ist einfach. Und schön.
Fazit: Der moderne weibliche, fanzösische Roman scheint im Moment sexistisch zu sein und mit surrealistischen Anteilen zu spielen. Der surrealistische Anteil versöhnt hier, genau so wie bei Leila Slimani. Die modernen Schriftstellerinnen brechen mit den alten Erzähl-Formen. Sie experimentieren. Sie spielen. Das muss einem nicht gefallen, man kann es aber honorieren. Kunst muss sich weiterentwickeln.
Kategorie: Moderner französischer Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, 2020