Hunger

Buchseite und Rezensionen zu 'Hunger' von  Knut Hamsun
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4 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Hunger"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
EAN:
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Rezensionen zu "Hunger"

  1. Brot und Anerkennung

    In Kristiana -wie die norwegische Hauptstadt Oslo früher genannt wurde – schweift ein Mann durch die Gassen. Arbeitslos, obdachlos, brotlos. Er laviert von Tag zu Tag, fabuliert erfindungsreich. Er bleibt namenlos bis zum Ende. Ein Suchender, ein Hungernder.

    Knut Hamsun (1859-1952) schrieb Hunger in der Urfassung 1890. Mehrfach hat der Schriftsteller sein Werk umgeschrieben, 1920 erhielt er den Nobelpreis. In seinen letzten Jahren lässt Hamsuns Geisteshaltung und Weltanschauung kein gutes Licht auf den Autor.

    Dennoch ist Hunger ein Klassiker der Weltliteratur geblieben. Am Cover wird Astrid Lindgren zitiert: „Ein ergreifendes und hinreißend lustiges Buch über den Hunger…“ Nun. Ich teile offenbar nicht Lindgrens Humor. Ergreifend finde ich das Buch jedenfalls.

    Es ist ein außergewöhnlicher Protagonist, so ambivalent in seiner Persönlichkeit. Arroganz, Stolz, Scham und Würdelosigkeit sind im ständigen Widerstreit.

    Gleich zu Beginn auf den ersten beiden Seiten finden wir die ganze Trostlosigkeit, die Tür tapeziert mit alten Ausgaben des „Morgenbladet“, gleich daneben eine Werbung für Bäcker Fabian Olsens frisch gebackenes Brot. Das ist, es was den Mann antreibt, wonach er strebt: Schreiben und Essen. Der Hunger nach Nahrung und der Hunger nach Aufmerksamkeit ist sein Motor und mit beiden kann er nicht umgehen, wenn er es doch einmal erhält. Brot und Anerkennung.
    Aussichtlos von Beginn weg, trifft sein Blick auf die Anzeige in „mageren, grienenden Buchstaben Leichentücher bei Jungfer Andersen“.

    Grau und rau, der Manesse Verlag trifft mit dem Cover auf den Punkt. Übersetzt aus dem Norwegischen wurde die Erstausgabe aus 1890 von Ulrich Sonnenberg. Das Nachwort stammt von Felicitas Hoppe.

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  1. Rastlos und hungrig durch Kristiania

    Knut Hamsun gilt als einer der berühmtesten norwegischen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seine reaktionären Anschauungen und offenen Sympathiebekundungen für den Nationalsozialismus brachten nicht nur ihn persönlich, sondern auch sein literarisches Werk in Verruf.

    „Hunger“ ist Knut Hamsuns erster und zugleich erfolgreichster Roman. Er erschien erstmals 1890; Hamsun veränderte ihn bis ins Jahr 1934 insgesamt vier Mal, so dass immer reaktionärere Fassungen auf den Markt kamen. Nun hat Ulrich Sonnenburg die Urfassung von 1890 für den Manesse Verlag neu übersetzt.

    Obwohl mehr als 100 Jahre alt, liest sich der Roman erstaunlich modern, was wohl vor allem mit der Erzählweise zusammenhängt, die ausschließlich auf die Gemütszustände, die Gedanken und aktuelle Begegnungen, die wir durch die Brille des Protagonisten erleben, fokussiert.

    Der namenlose Ich-Erzähler irrt hungrig durch Kristiania (Oslo) immer auf der Suche nach Möglichkeiten an Geld und Essen zu gelangen. Er schreibt Artikel, die er meist erfolglos diversen Zeitungen anbietet. Wir sind Zeuge seiner Euphorie, wenn eine seiner Arbeiten veröffentlicht wird und leiden mit ihm, wenn ihn Selbstzweifel plagen, er unter Schreibblockaden leidet, eingereichte Artikel abgelehnt werden oder er durch Hunger nicht klar zu denken vermag und Schwächeanfälle erleidet. Man möchte ihn schütteln, wenn er „Dummheiten“ begeht, Lügengeschichten auftischt, um besser dazustehen und ahnt die ganze Zeit, dass es nicht gut ausgehen wird.

    Ich habe diesen Roman mit seinem ambivalenten, oft unsympathischen Antihelden voller Faszination gelesen.

    Wir erfahren kaum etwas über seine Vergangenheit, erahnen aber aus Andeutungen, dass es Zeiten des Wohlstands gegeben haben muss. Doch alles, was in Hamsuns Werk zählt, ist der Augenblick in der Gegenwart, die der Protagonist durchlebt und durchleidet.

    Hunger war für mich ein extrem kurzweiliges, schräges und unberechenbares Leserlebnis. Sein Protagonist wird mir definitiv mit seinen Stimmungsschwankungen, seiner Überheblichkeit, aber auch seinem Leid, seiner Hartnäckigkeit, seinen irrwitzigen Einfällen, seinen zweifelhaften ethischen Maßstäben, seinem gestörten Verhältnis zu anderen Menschen, seinem Talent Situationen misszuverstehen und sich selbst im Weg zu stehen, aber auch seinem wahnsinnigen Gedankenkarussell im Gedächtnis bleiben. Für mich sind das glatte fünf Sterne. Positiv zu erwähnen sind auch die zahlreichen hilfreichen Anmerkungen im Text und das sehr informative Nachwort von Felicitas Hoppe sowie die editorische Notiz am Ende dieser Neuausgabe.

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  1. Mein all time favorit

    Zum ersten Mal las ich "Hunger" von Knut Hamsun als junge Erwachsene. Ich war sehr begeistert von dem Werk, das eine nachhaltige Wirkung bei mir hinterließ. 2019 erschien dann dieses Meisterwerk im avant Verlag als graphic novel. Auch diese graphic novel fand ich sehr ansprechend. Alle guten Dinge sind drei. So nutzte ich die Gelegenheit, im Rahmen einer Leserunde das Werk in der neuen Ausgabe des Manesse Verlags zu diskutieren. Der Verlag ist ja für seine ansprechend gestalteten Klassiker bekannt und so enttäuscht er auch hier nicht. Nun liegt das autobiographisch inspirierte, bekannteste Werk Hamsuns in seiner Urfassung, versehen mit einem sehr informativen Nachwort von Felicitas Hoppes vor und punktet rein äußerlich mit einer besonderen Haptik.

    Auch die dritte Lektüre konnte mich wieder begeistern, weswegen ich in dem Fall von einem persönlichen all time favorit sprechen würde. Das Schicksal des hungernd durch Kristania herumirrenden Schriftstellers berührt mich jedes Mal aufs Neue. Vom beißenden Hunger- und Durst an den Rand des Wahnsinns getrieben, kämpft der Schrifsteller ums nackte Überleben. Stets ist er auf der Suche nach einer Gelegenheit, einen Text zu publizieren, doch kaum zu ein wenig Geld gekommen, wird er wiederholt leichtsinnig und verjubelt das bißchen Hab und Gut wieder. So gerät er schnell in den Sog einer machtvollen Abwärtsspirale. Seine eigene Würde scheint ihm das Wichtigste, und so lehnt er oft Hilfsangebote ab. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

    Wie auch bei den beiden vorangegangenen Lektüren fieberte und litt ich mit dem brotlosen Schriftsteller mit. Die große Not eines permanent um das Nötigste kämpfenden Menschen finde ich nach wie vor sehr eindrücklich beschrieben. Manch Leser mag es für unvernünftig und nicht nachvollziehbar halten, dass Hamsuns Hungerkünstler scheinbar nichts dazu lernt und uneinsichtig bleibt. Mir hingegen scheint dies eine authentische Beschreibung eines Hungernden zu sein, dessen größte Sorge die Wahrung eines letzten Rests eigener Würde ist und bleibt. Möglicherweise muss man selbst einmal in einer vergleichbaren Situation gewesen sein, um die ambivalenten und widersprüchlichen Verhaltensweisen des Protagonisten verstehen zu können. Den von Asrid Lindgren hochgelobten Humor konnte ich zwar nur ansatzweise erkennen, viel zu sehr ging mir das Buch an die eigene Substanz. Doch die Stärke dieses auch in sprachlicher Hinsicht sehr gelungenen Werks sehe ich in der implizierten Gesellschaftskritik. Hilfe ist eben nur dann letztlich wirklich eine Hilfe, wenn sie auch vom Hilfebdürftigen so verstanden wird. Das ist mein ganz persönliches Fazit.

    Für mich ist Hamsuns bekanntestes Werk auch nach der dritten Lektüre ein absolutes Lebenshighlight, das ich sicherlich nicht zum letzten Mal gelesen habe und gerne weiter empfehle.

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  1. Ein Hungerkünstler zwischen Verzweiflung und Wahnsinn

    Knut Hamsuns Roman „Hunger“ erschien im Jahr 1890. Bis 1934 wurde er vom Autor für vier verschiedene Neuauflagen überarbeitet, in denen er zentrale Passagen abänderte oder gar herausstrich. Insofern ist es wichtig zu wissen, dass sich die vorliegende Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg an der Urfassung orientiert. Felicitas Hoppe hat dazu ein höchst interessantes Nachwort geschrieben, das den Roman beleuchtet und in Hamsuns Schaffen einordnet. Gewohnt hochwertig gestaltet zeigt sich diese Manesse Neuausgabe, deren angerauter Schutzumschlag allein haptisch eine besondere Erfahrung darstellt. Hilfreich und informativ sind die 81 Anmerkungen zum Text sowie die editorische Notiz

    „Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist.“
    Mit diesem Satz beginnt der namenlose Ich-Erzähler seine Geschichte. Er ist bettelarm, leidet seit Monaten Hunger, trägt zerschlissene Kleidung und haust in einer kleinen Dachkammer. Er versteht sich als Journalist, weil er verschiedenen Zeitungen immer wieder Artikel für das Feuilleton anbietet. Manchmal gelingt es ihm, einen Artikel zu veröffentlichen, besonders ein Redakteur ist ihm gewogen. Dann verdient er ein paar Kronen, die seine Not aber nur kurzfristig abmildern, weil er einfach nicht mit Geld umgehen und damit haushalten kann. Dadurch wird seine Situation im Grunde immer prekärer. Als Leser hat man den Eindruck, die Hunger-Spirale dreht sich konsequent abwärts.

    Die meiste Zeit treibt sich der Protagonist in den Straßen Kristianias (heute Oslo) herum. Er fühlt sich elend und hungrig. Seine Empfindungen werden in einem für die Zeit modernen, fast endlosen Gedankenstrom beschrieben, in dem der Erzähler sehr anschaulich seine Wege, Begegnungen und Beobachtungen mitteilt – stets auf der Suche nach Nahrung. Tatsächlich gelingt es ihm immer wieder, zu etwas Geld oder Brot zu kommen. Doch anstatt es sich einzuteilen, verschleudert er das wertvolle Gut meist in Windeseile: Er beschenkt fremde Menschen, lädt Freunde ein, markiert den sorglosen Lebemann – nur um von seiner wahren Lage abzulenken. Man kann darüber streiten, ob sein Verhalten realistisch ist, oder ob nicht irgendwann die menschlichen Grundbedürfnisse nach Nahrung den Stolz und das Ehrgefühl niederringen müssten.

    Als Leser ist das schwer auszuhalten. Man möchte den Erzähler schütteln oder wenigstens auf ihn einreden, denn es ist schnell absehbar, dass er der Hungerspirale aus eigener Kraft nicht entkommen kann. Sein Problem besteht darin, dass er eine widersprüchliche Wahrnehmung von sich selbst hat. Einerseits weiß er, dass er am Boden liegt, dass er Gefahr läuft, sein Obdach zu verlieren (was kurze Zeit später auch passiert), dass er auf andere einen zerschlissenen, runtergekommenen Eindruck macht. Andererseits ist er sehr auf sein Ansehen, seine Ehre bedacht. Nur kein Bettler möchte er sein, sondern ein ehrlicher, rechtschaffener Bürger. Diese beiden Eindrücke konkurrieren und kämpfen in seinem Innern miteinander und dringen immer wieder auf abstruse Weise nach außen. Er ist kein Sympathieträger, er pendelt zwischen Gutmütigkeit und Größenwahn. Mitunter reflektiert er aber auch sein törichtes Verhalten oder monologisiert mit Gott und dem Teufel. Mancher Leser mag diese Szenen als komisch empfinden, mir blieb regelmäßig das Lachen im Halse stecken. Für mich ist der Ich-Erzähler eine höchst tragische Figur, sein irrationales Verhalten muss einer Art von Hunger-Irrsinn geschuldet sein. Wie im Wahn versucht er immer wieder Artikel zu schreiben. Er beginnt sogar einen Roman, aus dem er die Hoffnung schöpft, in naher Zukunft zu Ruhm und Geld zu kommen.

    Im Verlauf des Romans wiederholen sich die genannten Muster fortwährend. Dem Erzähler geht es zunehmend schlechter, auch die unästhetischen Nebenwirkungen des Nahrungsmangels werden nicht ausgelassen. Es treten neue Figuren hinzu, denen gegenüber sich der Protagonist als unzuverlässiger Geschichtenerzähler präsentiert. Manchmal lügt und übertreibt er wie ein Baron von Münchhausen, jedoch immer getrieben von innerer Verzweiflung. Damit stößt er sogar Menschen, die ihm helfen wollen, zurück. Diese gespaltene Persönlichkeit ist es, die den Erzähler so einzigartig macht. Man folgt ihm, seinen Assoziationen und Erlebnissen mit voller Aufmerksamkeit. Seine Not und Widersprüchlichkeit gehen nahe und wirken sehr authentisch, auch wenn man nicht nachvollziehen kann, warum er nicht aus dem Hamsterrad aussteigt, indem er sich einfach eine andere bezahlte Arbeit sucht. Doch seine Stärke ist eben nicht das Handeln, sondern das Denken.

    Diese Unmittelbarkeit wird auf großartige Weise durch die virtuose Sprachführung transportiert. Die Sätze sind meist lang und aneinandergereiht. Sie wirken atemlos. Das unterstreichen auch die wenigen Absätze. Der Bewusstseinsstrom, die inneren Monologe ebenso wie Gespräche und Beschreibungen, vermitteln plastisch die Verzweiflung des Protagonisten, der sich als wahrer Hungerkünstler durch Kristania bewegt und in seinem unverständlichen Verhaltenskodex gefangen ist. Eine Entwicklung erkennt man kaum, es ist ein kontinuierliches Auf und Ab. Streng genommen hätte ich deshalb auf die ein oder andere Spirale verzichten können, die im Kern nichts Neues bringt. Das Ende lässt Hamsun offen – oder auch nicht. Auf alle Fälle findet er einen sehr würdigen Abschluss für diesen, seinen berühmtesten Roman, für den ich eine klare Leseempfehlung aussprechen möchte.

    Unabhängig von Knut Hamsuns späterer politischer Verstrickung in die Ideale der Nationalsozialisten halte ich „Hunger“ für ein sehr lesenswertes Buch, das Freunde moderner klassischer Literatur sehr schätzen werden.

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    11. Feb 2023 

    Anstrengend und herausfordernd...

    1890 erschien die Erstfassung des ersten Romans des norwegischen Autors (1859-1952), der 1920 den Literaturnobelpreis erhielt und der später politisch sehr umstritten war wegen seiner offen zur Schau getragenen Sympathie mit der deutschen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs. "Hunger" entstand vor dem Hintergrund eigener Erlebnisse des Autors, der 1886 in Kristiania (früherer Name von Oslo) arbeitslos eine schwere Hungerzeit durchzustehen hatte. Mit diesem Roman gelang Knut Hamsun der literarische Durchbruch. Die Neuauflage des "Klassikers" entspricht lt. Verlag besagter Erstfassung, die später immer wieder Veränderungen unterlag.

    "Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist." (S. 5)

    Erzählt wird hier aus der eindringlichen Ich-Perspektive eines namenlosen Schreibers, der versucht sich durch das Einreichen kleiner Zeitungsartikel in Kristinia über Wasser zu halten. Er haust in einer schäbigen Kammer, wird von seinen Schulden aufgefressen und verliert schließlich sein Obdach. Tagelang streift er durch die Straßen ohne etwas zu essen zu haben und kommt dem Wahnsinn (zu) nahe. Das ist im Wesentlichen auch schon die Handlung. Im Fokus steht die innere Verfassung des Hungernden, seine wild springenden Gedanken und Empfindungen, zahllose demütigende Begegnungen und Ereignisse, die zunehmend untrennbare Verwebung von Realität und Halluzinationen. Von optimistisch zu hoffnungslos, fröhlich oder dankbar zu beschämt oder verächtlich - stetig wandelt sich das Erleben im Sekundentakt. Von himmelhochjauchzend zu zu Tode betrübt innerhalb von einer Sekunde - und gleich wieder zurück, bis man beim Lesen das Gefühl erhält, gleich mit verrückt zu werden.

    Dies sorgt für besagte Eindringlichkeit und Intensität, und nicht umsonst gilt der Roman als Meilenstein in der Entwicklung der Erzähltechnik des sog. "Bewusstseinsstroms" (Wiedergabe einer scheinbar ungeordneten Folge der Bewusstseinsinhalte eines Charakters). Autoren wie Kafka, James Joyce oder auch Virginia Woolfe ließen sich davon inspirieren. Insofern hat der Roman zurecht seinen "Klassiker"-Status. Doch muss einem jedes Buch gefallen, das unter diesen Begriff fällt? Wohl kaum. Ich jedenfalls fand den Roman nicht nur anstrengend zu lesen, ich war auch zunehmend genervt von der Lektüre. Das Verhaltensmuster des zudem sehr unsympathisch gezeichneten Ich-Erzählers wiederholt sich immerzu, eine Entwicklung findet nicht statt. Der ständige konsequente Wechsel der Zeitebene zwischen Präsens und Perfekt, teilweise auch innerhalb desselben Satzes, erhöhte den Lesefluss auch nicht gerade.

    "Ein ergreifendes und hinreißend lustiges Buch über den Hunger ... ein größeres Leseerlebnis habe ich wohl nie gehabt." Das hat wohl Astrid Lindgren nach der Lektüre des Romans verkündet. Leider erschloss sich mir der Humor in keinster Weise, ich habe ihn überhaupt gleich an keiner Stelle entdecken können. Schade eigentlich. Spannend fand ich dann allerdings die Verbindung zu Astrid Lindgren und ihrer Pippi Langstrumpf, die womöglich nur deshalb so viele Lügengeschichten auftischt, weil die Autorin damals so begeistert von Hamsuns skurrilem Werk war, dessen "Held" selbst ständig Lügengeschichten erzählt. Na, dann - hatte der Roman doch eine positive Auswirkung. Dieses Detail ist übrigens im umfassenden Nachwort von Felicitas Hoppe zu erfahren, das ich insgesamt leider als sehr gewollt intellektuell-geschraubt empfand, stellenweise ebenso unverständlich (wenn auch auf eine andere Weise) wie den Roman davor.

    Ein Roman, dem ich den "Klassiker"-Status zubillige, zu dem ich persönlich jedoch badauerlicherweise keinen Zugang fand.

    © Parden

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  1. Was Hungern mit einem Menschen anstellen kann

    Was Hunger mit einem Menschen anstellen kann

    Ich habe mir vorgenommen hier und da einen Klassiker zu lesen, also nutzte ich die Chance und nahm mir das Werk des norwegischen Nobelpreisträgers Knut Hamsun " Hunger" vor.
    Ich war ein wenig überrascht, als mir klar wurde, dass dieses Werk ausschließlich daraus besteht einen Hungernden zu begleiten, der durch das norwegische Kristania zieht. Dieser Mann zieht durch die Straßen, erzählt von seinen goldenen Zeiten, gibt sich als Schreiber aus, und will den Menschen um ihn herum glauben machen, dass er durchaus Geld hat. Kommt er mal zu ein paar Kronen kann es durchaus vorkommen, dass er sie Samariter mäßig einfach verschenkt. Der Pfandleiher bekommt hanebüchene Geschichten aufgetischt, wird sich aber anhand der dargebotenen Dinge gewiss seinen Teil denken und zum richtigen Schluss kommen.
    Das kleine Zimmerchen, dessen Miete er auch meist schuldig bleibt, ist an Kargheit kaum noch zu übertreffen, doch das muss man ihm wahrlich zu gute halten, er arrangiert sich mit jeder noch so misslichen Lage.
    Seine Gedanken wirken getrieben, je schlimmer der Hunger, umso konfuser die Zusammenhänge. Teilweise fällt es beim lesen schwer zu erkennen, was tatsächlich geschehen ist, oder was nur dem Wahn geschuldet ist.
    Seine Begegnung mit einer jungen Frau ist ein Beispiel dafür. Ich war mir nie sicher, ob es sie tatsächlich gibt, oder ob sie seinem gebeutelten Hirn entsprungen ist.

    Mehr möchte ich an dieser Stelle gar nicht ausführen, da es im Kern die komplette Handlung ist. Die Art wie der Autor formuliert, hat mir außerordentlich gut gefallen. Seine Botschaft, dass es schrecklich ist, dass ein Teil der Bevölkerung in diesem beklagenswerten Zustand des Hungerns verbringen muss, ist definitiv angekommen. Er zeigt in allen Facetten auf wie schrecklich es ist Hunger zu leiden. Dennoch war es für mich eine Lektüre die mich nicht wirklich begeistern konnte. Es war mir zu wirr, zu deprimierend, wenn auch einiges fast schon ins komische abdriftete, konnte ich auch der Art an Humor wenig bis gar nichts abgewinnen.

    Ich erkenne die Andersartigkeit, und für damalige Verhältnisse sicher wichtige Botschaft, durchaus als große Leistung an, doch der Funke sprang nicht über. Das lesen machte mir keinen Spaß. Hunger weckte in mir eher das Gefühl mich durcharbeiten zu müssen. Ein Klassiker, der sicher weiterhin seine Anhänger finden wird. Positiv hervorheben möchte ich an dieser Stelle die tolle Verarbeitung und Gestaltung des Covers. Da hat der Verlag sich mächtig ins Zeug gelegt.

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  1. Von Hunger und Wahnsinn

    Oslo im 19. Jahrhundert: Er träumt davon, als Journalist oder Autor groß herauszukommen. Doch bei den Zeitungen der Stadt werden nur wenige seiner Beiträge überhaupt veröffentlicht. Von den mickrigen Einnahmen kann er nicht leben. Ohne Geld und festen Wohnsitz irrt der Mann ziellos durch die Stadt, getrieben von dem Hunger, der Verzweiflung und dem Ehrgeiz, doch noch irgendwann ein geniales Werk zu schaffen…

    „Hunger“ ist eine Erzählung von Knut Hamsun, die erstmals 1890 erschienen ist.

    Meine Meinung:
    Das Werk besteht aus vier Teilen, genannt „Stücke“. Das erinnert, zumindest dem Namen nach, ein wenig an die Gattung Drama. Erzählt wird - mit Zeitsprüngen zwischen den verschiedenen Teilen - in der Ich-Perspektive aus der Sicht des namenlosen Protagonisten.

    Der Schreibstil ist geprägt durch viele innere und weniger äußere Dialoge. Die Sprache ist modern, für ihre Zeit vermutlich revolutionär und anschaulich. Der Text enthält vielerlei religiöse Bezüge. Als störend habe ich die unvermittelten Tempuswechsel von Präteritum zum Präsens, teils sogar mitten im Satz, empfunden. Bei der Ausgabe des Manesse-Verlags handelt es sich um eine gelungene Neuübersetzung aus dem Norwegischen, angefertigt von Ulrich Sonnenberg.

    Der namenlose Protagonist stellt einen unsympathischen Anti-Helden dar. Ein gesellschaftlicher Verlierer, der aufgrund seines falschen Stolzes, seiner Überheblichkeit und seines überzogenen Geltungsbedürfnisses immer weiter in Richtung Abgrund trudelt. Sein Abwärtstrend ist selbstverschuldet. Obwohl sein Denken sehr gut zum Ausdruck kommt, habe ich sein inkonsequentes Handeln meist nicht nachvollziehen können. Die Figur wird dermaßen überzeichnet dargestellt, dass sie ins Unglaubwürdige abdriftet.

    Inhaltlich geht es vor allem darum, wie der Hunger einem Menschen zusetzt. Das allein reicht als Lesart meiner Meinung nach jedoch nicht aus. Das wahnhafte, komplett irrationale Verhalten des Protagonisten zeigt sich nämlich auch in Phasen, in denen er an Essen herankommt. Insofern lässt es sich nur dann erklären, wenn man ihn als psychisch kranke Person liest, die ohne Hilfe von Familie und engen Freunden in einer großen Stadt zu überleben versucht.

    Auf den etwas mehr als 200 Seiten entfaltet sich nur wenig Handlung. Stattdessen wiederholen sich die Verhaltensmuster des Protagonisten auf ermüdende Weise.

    Das Nachwort von Felicitas Hoppe („Der ungeheuerliche Herr Happolati“) ist für mich leider wenig aufschlussreich. Auch die rund 80 Anmerkungen sind nur zum Teil hilfreich beim Verständnis der Lektüre. Positiv bewerte ich hingegen das angehängte Literaturverzeichnis und die editorische Notiz.

    Das ungewöhnliche, haptisch ansprechende Cover sticht aus der Masse hervor. Der norwegische Originaltitel („Sult“) wurde erfreulicherweise wortgetreu übersetzt.

    Mein Fazit:
    „Hunger“ ist ein Werk von Knut Hamsun, das mich inhaltlich enttäuscht und sprachlich ebenfalls nicht gänzlich überzeugt hat. Nur bedingt empfehlenswert.

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  1. Ein Schrei nach Brot und Anerkennung

    70 Jahre nach seinem Tod sind die Werke des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun (1859 – 1952) seit dem Jahresbeginn 2023 gemeinfrei. In einer Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg erschien pünktlich dazu sein Debütroman "Hunger", basierend auf der Urfassung von 1890, bevor Knut Hamsun ihn unter dem Einfluss der in späteren Jahren von ihm bedingungslos bewunderten und verinnerlichten Nazi-Ideologie mehrfach überarbeitete. Trotz meiner Liebe zur norwegischen Literatur hatte ich aus diesem Grund bisher Berührungsängste zu seinem Werk. Die wunderschöne Neuausgabe mit dem schlichten Cover in Schleifpapiermanier und der schmucklosen, plakativen Schrift sowie das Wissen um die große Bedeutung seines Werks für spätere Autoren haben mich nun doch bewogen, "Hunger" zu lesen, das ihm den literarischen Durchbruch bescherte.

    Gezeichnet von einer Stadt
    In vier mit „Stück“ überschriebenen Kapiteln folgen wir einem mittellosen, hungernden Journalisten und Schriftsteller durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo:

    "Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist." (1. Satz, S. 5)

    Jedes „Stück“ markiert einen neuen Tiefpunkt, während die positiven Momente, in denen der namenlose Ich-Erzähler zu etwas Geld kommt, ausgespart bleiben. Zunehmend zerlumpt, ohne Besitztümer und in immer prekäreren Quartieren hausend kommt er mit jeder Episode dem Wahnsinn wie dem Tod näher. Dabei ist er unfähig, sein Schicksal zu wenden, gibt das wenige Geld, an das er gelegentlich kommt, aus Gründen der Ehre und um über seine Not hinwegzutäuschen verschwenderisch ab und schwankt zwischen Größenwahn und schamhafter Unterwürfigkeit. Nur selten wird der innere Monolog für die wilden Lügengeschichten unterbrochen, die er bei seinen zufälligen Begegnungen erzählt. Nicht immer ist klar, ob diese Zusammentreffen in der Realität oder in seiner Fantasie stattfinden, weshalb das Werk manchen als Vorstufe des absurden Theaters gilt.

    Ein Roman ohne Plot
    Nicht nur an Brot mangelt es dem Hungerhelden, auch wenn der tagelange Nahrungsentzug ihm immer mehr zusetzt. Gleichzeitig dürstet er nach Wahrnehmung seiner Person, nach Anteilnahme, Anerkennung und Zuwendung. Selten habe ich Einsamkeit in einem Roman so greifbar beschrieben gefunden. Es ist mir deshalb ein Rätsel, warum Astrid Lindgren, wie Felicitas Hoppe im Nachwort ausführt, ihn als „hinreißend lustiges Buch über den Hunger“ beschreibt und beim Lesen vor Lachen „wimmerte“. Treffender wären für mich die Bezeichnungen „skurril“ und „aberwitzig“ für die Fantasiegeschichten, Worterfindungen, Gefühlsschwankungen und die Tatsache, dass der Ich-Erzähler am Ende auf einem Schiff nach Leeds anheuert, einer Stadt ohne Hafen. Ein Lachen wäre mir jedenfalls im Halse stecken geblieben. Eher schon hat mich der Hungerheld mit seinem deplatzierten Stolz, der ruinösen Ehrsucht und dem mangelnden Überlebensinstinkt zur Verzweiflung gebracht.

    Ich staune selbst, dass der fehlende Plot, zahlreiche Wiederholungen, der Verzicht auf die Schilderung der gesellschaftlichen Umstände und von Sozialkritik, das Schweigen über die Vergangenheit des Protagonisten und seine geringe Weiterentwicklung mich nur wenig  gestört haben. Vielleicht liegt es daran, dass Knut Hamsuns eigene Erfahrungen so authentisch spürbar sind und dass seine minutiöse Beobachtungsgabe sowie die sprachliche Virtuosität, an der auch der Übersetzer großen Anteil hat, mich bei diesem Klassiker überzeugen.

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    03. Feb 2023 

    Hungern im Norwegen des frühen 20. Jhrts.

    “Hunger” ist ein norwegischer Roman von Knut Hamsun, der in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts hinsichtlich seiner Form ein literarisches Ereignis darstellte. Der Roman ist vollständig geschrieben in Form eines Bewusstseinsstroms, in dem Erzählzeit und erzählte Zeit über weite Strecken vollständig übereinstimmen. Dabei lässt er seine Leser vollkommen ungefiltert an den Gedanken seines Erzählers und Helden teilnehmen. Die vollkommen fehlende Distanz und das absolute Einlassen auf die Wahrnehmung und Sichtweise seines Erzählers hat Hamsun literarischen Ruhm und einen Kreis erlauchter Nachahmer eingebracht.
    Der Manesse-Verlag hat den Roman in diesem Jahr neu aufgelegt und hat sich dabei an der Ursprungsfassung, die von Hamsun später mehrfach überarbeitet werden sollte, orientiert. So hat der Verlag versucht, die möglichst authentische, da ursprüngliche Sichtweise des Autors über die oftmals chaotische Gefühlslage seines Helden angesichts seiner prekären Lebensverhältnisse wiederzugeben.
    Der Erzähler, ein Mann, der sich zum Schreiben berufen fühlt, von dieser Tätigkeit aber immer weniger leben und seinen Unterhalt finanzieren kann, rutscht in diesem Roman sozial immer weiter ab. Verliert fast buchstäblich sein letztes Hemd und hat selten etwas, womit er seinen Hunger stillen kann. Ständig ist er auf der Suche nach Möglichkeiten, die nächste kurze Zeitspanne überleben zu können. Dabei versetzt er alles, was sich irgendwie zu Geld machen lassen könnte, – bis hin zu seinen abgeschabten Mantelknöpfen - oder versucht sich an textlicher Produktion und deren Vermarktung in der recht „mickrigen“ lokalen Medienlandschaft. Die Gefühlswelt des Romanhelden, an der wir als Leser so unvermittelt teilhaben können, ist ein heftiges Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung, von Aufbruchstimmung und tiefster Depression. Viele seiner Versuche, am Leben zu bleiben und Mittel dafür aufzubringen, zeigen ihn an oder sogar jenseits der Grenze zum Wahnsinn. Das alles ist für den Leser oft schwer erträglich und doch hat die Lektüre auch etwas Leichtes und Unterhaltsames, das bei aller Düsternis schwer zu beschreiben ist. Ein großes Staunen stellt sich ein darüber, wie ein Mensch in diesen Zeiten ohne Sozialsysteme und staatliche Hilfen sein bloßes Überleben gestalten konnte. Aber für den Romanhelden funktioniert das erstaunlich gut, so dass die Talfahrt, in der er sich während des gesamten Romans zu befinden scheint, zum Ende des Romans hin wohl sogar gestoppt werden kann, wenn er als Ausgezehrter und Ungelernter eine Stelle auf einem Schiff ergattert, das ihn aus dieser Ödnis Kristianias hinausbringen wird.
    Der Roman ist ein sehr gelungenes literarisches Zeugnis über eine experimentelle Schreibweise, die bedeutende Nachahmer gefunden hat. Die neue Ausgabe des Manesse-Verlages bringt diesem Werk wieder vermehrte Aufmerksamkeit in unserer Zeit und lässt uns einen Blick darauf werfen, wie prekäre Lebensverhältnisse in vergangenen Zeiten aussehen konnten.

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  1. Schwer verdaulich, aber trotzdem lecker

    „Dichter sind Vagabundenseelen, verwandt mit Leierkastenmännern, wurzellose Landstreicher ohne Pass.“ (Knut Hamsun)

    Ähnlich „wurzellos“ gibt sich der namenlose Ich-Erzähler in Knut Hamsuns Erfolgsroman „Hunger“; erstmals veröffentlicht 1890. Die Neuausgabe des Manesse Verlags in der Übersetzung von Ulrich Sonnenberg und einem Nachwort von Felicitas Hoppe folgt der Erstausgabe. Spätere Ausgaben wurden vom Autor gekürzt; warum kann der kurzen editorischen Notiz entnommen werden. Meine Bewertung bezieht sich lediglich auf den vorliegenden Text und nicht auf die Person Knut Hamsun und seine spätere äußerst fragwürdige politische Gesinnung.

    Der Ich-Erzähler ist ein abgehalfterter und erfolgloser Journalist bzw. Autor, der in Kristiania (heute Oslo) „[…] umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist.“ (S. 5) Was es mit dieser kryptischen Andeutung auf sich hat, offenbart sich am (offenen) Ende der in vier Stücke angelegten Erzählung.

    Ich kann nicht behaupten, dass ich direkt mit der Erzählung klargekommen bin – zu sperrig erwies sich der Stoff, der sich durch inkonsequente Zeitform konsequent den Themen Hunger/ Durst und den dadurch hervorgerufenen „Nebenwirkungen“ befasst, zumal mir das Thema aus persönlichen Gründen sehr nahegeht. Aber irgendwann habe ich angefangen zu begreifen, mit welcher Präzision Hamsun hier zu Werke geht und vieles, was der Hunger beim Erzähler auslöst, kann ich in (abgeschwächter) Form bestätigen.

    Auch ist der Erzähler als Charakter nicht sonderlich sympathisch gezeichnet. Er ist auf der einen Seite eine sprichwörtlich gesehen arme Sau, auf der anderen Seite tut er wenig bis nichts, um seine Situation zu verbessern – im Gegenteil: durch kuriose und dem normalsterblichen Leser nicht nachvollziehbare Handlungen bringt er sich immer wieder in fast ausweglose Situationen und an mancher Stelle der Erzählung hat man Angst, dass jeden Moment der Geist des Erzählers die Geschichte zu Ende bringt *g*.

    Man sollte diesem Buch die nötige Zeit geben, sich zu entfalten und Wirkung zu zeigen. Auf keinen Fall darf die Erzählung zu schnell gelesen werden, da den geneigten Leserinnen und Lesern dann Details entgehen könnten, die im weiteren Verlauf noch einmal aufgegriffen werden. Darum habe ich auch 1 ½ Lesungen hinter mir (Stücke 3 und 4 habe ich doppelt gelesen) *g*. Und es wird wohl nicht dabeibleiben; dafür hat mich die Erzählung zu tief berührt.

    Einige Szenen sind so grotesk, dass ich der Aussage von Astrid Lindgren, dass „Hunger“ ein „[…] hinreißend lustiges Buch über den Hunger…“ (S. 233) ist, zwar nicht uneingeschränkt zustimmen würde, aber trotz aller Ernsthaftigkeit, die das Thema mit sich bringt, gibt es genug Stellen, über die man lachen oder zumindest breit grinsen kann.

    Von mir bekommt die Erzählung 5* und eine klare Leseempfehlung für Fans von Bewusstseinsströmen á la Virginia Woolf etc.!

    ©kingofmusic

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    19. Jan 2023 

    Der fröhliche Wahnsinn des Hungers

    Der Manesse Verlag hat dieser Tage eine Neuauflage des Klassikers „Hunger“ des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun herausgebracht, auf welche es sich lohnt, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es handelt sich dabei um die 1890 erschienene Urfassung des Romans, welcher bis 1934 insgesamt viermal in immer wieder geänderten Ausgaben neu vom Autor veröffentlicht wurde. Denn Hamsun wurde, wie aus der ausführlichen editorischen Notiz zu erfahren ist, im Alter immer reaktionärer, nationalchauvinistischer und duldete sein progressives Frühwerk zunehmend nicht mehr. Die aktuelle Ausgabe wurde außerdem von Ulrich Sonnenberg neu übersetzt und mit einem Nachwort der Autorin Felicitas Hoppe versehen.

    Im Roman selbst geht es um einen mittlerweile mittellosen Ich-Erzähler und Schriftsteller, der sich im Oslo des ausgehenden 19. Jahrhundert, damals noch Kristiania genannt, die Tage und Nächte auf der Straße um die Ohren schlug, unter ständigem Geld und vor allem Nahrungsmangel. Dieser titelgebende Hunger wirkt sich nun auf den Bewusstseinsstrom und die geschilderten Handlungen des Erzählers signifikant aus. Er schwankt zwischen Hochmut, Stolz und Ehrgefühl und Selbstzweifeln, Selbstmitleid sowie im wahrsten Sinne des Wortes verrückten Ideen. Immer wieder bringt er sich selbst um Möglichkeiten an eine Mahlzeit zu kommen, kann nicht mit Geld umgehen und irritiert die Menschen in seiner Umwelt.

    So wandert man „in vier Stücken“, den vier Teilen des Romans, mit dem Erzähler durch Kristiania, bangt mit ihm um seine nächste Mahlzeit und verflucht ihn genervt ob seiner Unfähigkeit rational zu denken und zu handeln. Die Ungeduld mit dem Protagonisten wird durch die ständigen Wiederholungen seiner Gedanken, Handlungen und Situationen, in welche er sich selbst katapultiert, im Verlaufe des Romans zunehmend gesteigert. Erwartet man immer das Schlimmste, kommt es wieder zu einer kurzfristigen glücklichen Fügung. Nur wenig Veränderungspotential gesteht der Autor seinem psychisch auffälligen Protagonisten zu. Denn der Erzähler scheint bereits vor seiner Hungerphase eine prämorbide Persönlichkeitsakzentuierung gehabt zu haben, welche ihn zum einen in seine missliche Lage gebracht zu haben scheint und sich nun - durch den Nährstoffmangel und den daraus resultierenden physischen aber eben auch psychischen Symptomen, die Hamsun sehr gut beschreibt – in besonders starken Ausprägungen äußert. Schwankt er doch stets zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.

    Sprachlich, in der aktuellen Übersetzung von Ulrich Sonnenberg, kann Hamsun definitv überzeugen. Man sieht den Erzähler vor sich, wie er durch die Straßen Kristianias flaniert, rennt, schwankt, oder fast kriecht; wie er vor Erschöpfung kaum mehr die Augen offen halten kann und dann schon wieder einem Passanten hoch erregt eine Lügengeschichte auftischt. Oft fragt man sich, was davon der Erzähler tatsächlich erlebt und bei was es sich um Halluzinationen handeln könnte. Da weiß der Autor zu fesseln.

    Letztlich hätte mir der Roman allerdings ohne die vielen Wiederholungen bzw. Variationen ähnlicher Situationen etwas mehr gefallen. Das Format einer Novelle hätte dem Inhalt des Textes durchaus auch gut zu Gesicht gestanden. Quasi etwas abgespeckt. Eine Formulierung, die einem nach der Lektüre von „Hunger“ allerdings doch ein wenig im Halse stecken bleibt.

    Im noch einmal zur aktuellen Ausgabe zurückzukommen: Das Gesamtpaket der vorliegenden Veröffentlichung vom Manesse Verlag finde ich wirklich sehr gut gelungen. Endlich gab es, die von mir immer so schmerzlich vermissten, durchnummerierten und im Text gekennzeichneten Anmerkungen. Diese haben geholfen nicht nur das Romangeschehen aber auch die nachträglichen Abänderungen durch den Autor besser zu verfolgen bzw. zu verstehen. Die editorische Notiz ist ausführlich und erhellend, ebenso wie das Nachwort von Felicitas Hoppe. Es hat mir sehr gefallen, dass sich das Nachwort auch wirklich ausführlich mit dem vorliegenden Werk beschäftigt und gut verständlich ist. So war ich erleichtert zu lesen, "die Geschichte von Hunger hat keinen Kern, genauso wenig, wie man von einem bündigen Plot sprechen könnte". Tatsächlich ist dies nämlich schwer greifbar beim vorliegenden Roman. Toll finde ich, dass das Nachwort mit einer Quellenangabe unterfüttert ist, die eine vertiefende Beschäftigung mit dem Werk anregt und leicht nachvollziehbar macht. Meines Erachtens hat hier der Verlag in der Zusammenstellung dieser Ausgabe wirklich alles richtig gemacht.

    Den Roman an sich würde ich insgesamt mit 3,5 Sternen bezüglich meiner Lektüre bewerten. Da mir die Ausgabe des Manesse Verlags in ihrer Ausstattung sehr gut gefällt, runde ich auf 4 Sterne auf.

    3,5/5 Sterne

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Der Halbbart

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4.9
4.9 von 5 (11 Bewertungen)

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Rezensionen zu "Der Halbbart"

  1. Der Halbbart

    Leicht macht es Charles Lewinsky seinen Lesern in seinem neuen Roman „Der Halbbart“ nicht gerade, gespickt mit Schweizer Mundartausdrücken und der Historie der Schweizer Gründungslegende im Hintergrund, die sich nur schwer erschließt. Aber es ist ein Schmökerroman im allerbesten Sinne, ein Schelmenstück und ein Balanceakt, der sprachlich und erzählerisch absolut gelungen ist, wenn man es schafft, sich auf den Autor und seine Geschichte einzulassen.

    Sebi, ein einfacher Schweizer Bube um 1300, wächst auf als Halbwaise mit seinen Brüdern Geni und Poli, bevor er auch noch seine Mutter verliert. Er hat es nicht leicht in einem Dorf, in dem Gut und Böse verschwägert sind und der Totengräber immer reichlich zu tun hat. Ein misstrauisch beäugter Fremder, äußerlich versehrt und weit gereist, nimmt den Sebi unter seine Fittiche und erzählt ihm in Bruchstücken seine Geschichte, die immer wieder eng mit den Geschicken des Dorfes verwickelt ist, geprägt von Schicksalsschlägen und Intrigen und Gewalt.

    Sebi, der Sensible, hat es schwer, seinen ihm angedachten Platz einzunehmen. Die Klosterobhut endet traumatisch, beim Dorfschmied findet er zwar Geschwisterersatz bei dessen Tochter, doch ohne Bestand. Durch den Widerstreit zwischen den Habsburgern und Wittelsbachern gibt es Gemetzel, Plünderungen und viel Leid, das Sebi gottesfürchtig aber nicht realitätsblind zu ertragen weiß. Schließlich führt ihn sein Weg zum Teufels-Anneli, wo er zum Geschichtenerzähler ausgebildet wird.

    Der Geschichtenerzähler Eusebius, oder Sebi, lässt den Leser teilhaben an der mittelalterlichen Welt mit großem Leid, Glaubenssätzen und einem von Not und Krieg geprägtem Alltag, bei dem das große Ganze verwischt, aber nie aus dem Auge verloren wird. Mit bestechend klarem Ton, der Neugier eines Kindes und der Klarsicht eines Erwachsenen erzählt Sebi, mit Witz und Verstand.

    Lewinsky präsentiert in diesem Roman schelmisch und fast philosophisch seine Fabulierlust, seinen Sprachwitz und seine Klugheit mit Themen, die erst auf den zweiten Blick augenscheinlich werden. Neben der frechen Neuerzählung der Gründungsgeschichte der Schweiz reibt er sich an der Gewaltfrage, an Gottesfürchtigkeit und Glauben und am Teufelsbild, ohne dabei zu moralisieren. Verspielt, nachdenklich über einer andere denkbare Realität und doch wenig utopisch, ist das Buch ein sehr gelungenes Gegenstück zu althergebrachter historisch geprägter Literatur mit all ihrer Schwere.

    Die von Lewinsky neu erzählte Vorgeschichte der Schlacht von Morgarten im Jahr 1315 ist gut recherchiert, auch wenn man als Leser die Fakten keinesfalls vom Autor serviert bekommt, sondern sich diese selbst erarbeiten muss. Seine Figuren, der jüdische Flüchtling Halbbart und der Geschichtenerzähler Sebi, scheinen auch nicht unbedingt jener Zeit entsprungen, sondern entsprechen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln eher dem individuellen und modernen Menschen. Beide stehen dem frommen Glauben und Aberglauben skeptisch gegenüber. Das Geflecht der Gesellschaft, in der sich die beiden bewegen, ist aber mit allen existenziellen Nöten, Konflikten und Gewalttaten durchaus der historischen Epoche des Mittelalters zuzuordnen und wirkt authentisch.

    Naiv, mit Augenzwinkern und bestechender Leichtigkeit trotz der sprachlich durch die Schweizerdeutschen Ausdrücke etwas rustikalen Atmosphäre führt Lewinsky den Leser durch die Geschichte um den Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Landleuten des Ortes Schwyz. Er verpasst den historischen Ereignissen einen familiären Touch, macht aus der großen Schlacht bei Morgarten ein eher unheroisches Gemetzel und läßt seinen fulminanten Roman clouhaft durch die Macht des Wortes ein rundes Ganzes werden, das man beim Lesen kaum weglegen möchte. Bravo!

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  1. Geschichten erzählen

    1313, in einem kleinen Dorf in der Schwyz lebt Sebi mit seiner Mutter und den älteren Brüdern Origenes und Polikarp. Für das raue Leben im Mittelalter ist der Sebi nicht gemacht, Eher klein und schmächtig -ein „Finöggel“ wird er genannt - eignet er sich nicht für die Feldarbeit, nicht fürs Klosterleben und fürs Soldatensein schon gar nicht. Ein Fremder siedelt sich in der Talschaft an. Er hat ein von Brandwunden verunstaltetes Gesicht – so kam der „Halbbart“ zu seinem Namen - ein Flüchtling, der für sich bleibt, einer mit einer geheimnisvollen Vergangenheit. Doch der Sebi sucht sich den Mann zum Freund aus, nimmt ihn zum Vorbild. Der Halbbart wiederum bringt dem Sebi nicht nur das „Schachzabel“ bei, sondern auch die Welt außerhalb des eigenen Dorfes näher. Eine Welt, die der Sebi nicht immer versteht.

    Vieles passiert in diesem Dorf und der Umgebung, gutes wie schlechtes, alltägliches wie abenteuerliches. Mit dem Sebi hat Charles Lewinksy ein erzählfreudiges Alter Ego. Geschichten erzählen ist das, was der Sebi will, und Geschichten erzählen ist das, was Charles Lewinsky kann.

    „Ich glaube, wenn es keine Geschichten gäbe, die Leute würden an der Langeweile sterben wie an einer Krankheit.“

    Harte Arbeit, Gewalt, Hunger, Glaube und Aberglaube. Das Leben der einfachen Menschen damals, der Bauern und Handwerker, ist davon geprägt. Im Streit um Land und Herrschaft werden sie Spielball der geistlichen und weltlichen Machthaber. Der historische Marchenstreit gibt den zeitlichen Rahmen vor. Doch Charles Lewinsky gibt uns keinen Geschichtsunterricht. Vielmehr lehrt er uns die Kraft der Geschichten und welche Wirklichkeiten daraus entstehen können, je nachdem wer denn diese Geschichte(n) erzählt.

    »Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.«

    Der Halbbart ist ein kraftvoller historischer Roman der etwas anderen Sorte. Sprachlich gewandt, überraschend und ohne schmachtvollen Firlefanz weiß Charles Lewinsky die Leserin bestens zu unterhalten.

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  1. Toller Roman, absolutes Lesehighlight

    Toller Roman, absolutes Lesehighlight

    Darf ich vorstellen? Mein Name ist Sebi! Abkürzung von Eusebius! Ein toller Kerl ist er dieser Sebi, der mich als Erzähler durch eine wunderbare Geschichte geführt hat. Auch wenn der Sebi noch sehr jung ist, kein Mann wie er es wahrscheinlich selbst ausdrücken würde, kaufe ich ihm diese Geschichte voll und ganz ab. Welche Geschichte werden dem Leser hier geboten? Na, die um den Halbbart, das Kätterli, des Teufels-Anneli und natürlich den Marchenstreit. Wobei der, trotz des wahren geschichtlichen Hintergrundes, gar nicht so wichtig ist wie der Rest.
    Doch so einfach ist das alles natürlich nicht, erst recht nicht, wenn der Autor Charles Lewinsky sich dem annimmt. Es müssen erst viele Geschichten erzählt werden, damit dem Leser ein Licht aufgeht......

    Sebi wohnt im kleinen Dorf Schwyz um 1300. Jeder kennt jeden, was die Sache nicht immer leicht macht. Seine beiden älteren Brüder mag er sehr, und natürlich seine Mutter, einen Vater gibt es nicht mehr. Doch am meisten fühlt er sich vom Halbbart angezogen, einem Mann, der sich abseits des Dorfes niedergelassen hat, versteckt hält. Der Halbbart weiß viel, und führt mit dem Sebi Gespräche, als wäre dieser ebenfalls erwachsen, das gefällt ihm sehr.
    Durch einen schweren Unfall seines Bruders Geni wird der Halbbart zum Retter dessen Beines, was ihm im weiteren Verlauf fast selbst das Leben gekostet hat. Doch das ist eine andere Geschichte.
    Ab da wird der Halbbart ins Dorf integriert, und hilft als Heiler wo er nur kann.
    Der Sebi geht nach dem Tod der Mutter ins Kloster, und viele weitere Dinge geschehen.
    Eine Aneinanderreihung von Abenteuern geschieht, und das größte Abenteuer hängt für den Sebi wohl mit dem Teufels-Anneli zusammen, aber das sollte jeder selbst lesen. Genauso wie die Lebensgeschichte des Halbbarts, die interessant und traurig zu gleich ist, sollte man sich vom Sebi erzählen lassen.
    Nun, wo ich den Roman ausgelesen habe, vermisse ich den Sebi und seine Geschichten. Mehr muss ich dazu glaube ich nicht sagen. Der Roman ist für mich ein persönliches Lesehighlight gewesen!

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  1. Geschichte(n) aus dem mittelalterlichen Schwyz

    Charles Lewinsky ist einer der facettenreichsten Autoren, die ich kenne, ein Wortakrobat im besten Sinne, ein Künstler im Umgang mit der deutschen Sprache. Kaum ein anderer kann aus so vielen verschiedenen Plots, Perspektiven und Grundstimmungen heraus schreiben. Jeder Roman aus seiner Feder ist ein Unikat. Mit dem Halbbart hat mich Lewinsky wieder einmal restlos begeistert.
    Hauptperson und Ich-Erzähler ist der 13-jährige Eusebius (Sebi), der zusammen mit seiner Mutter und den zwei älteren Brüdern Geni und Poli Anfang des 14. Jahrhunderts im Dorf Schwyz unweit des Benediktinerklosters Einsiedeln lebt. Man erfährt viel über den von harter Arbeit geprägten Alltag der Bauernfamilien. Sebi ist ein versierter Erzähler mit gutem Gedächtnis, der vermeintlich alltägliche Begebenheiten spannend und mit Witz darstellen kann. Allerdings ist er auch ein Außenseiter, der weder für die Feldarbeit noch für das Soldatenleben taugt. Als Alternative steht ein Leben hinter Klostermauern im Raum.

    Unruhe verbreitet das Erscheinen eines geheimnisvollen Neuankömmlings im Ort. Der Fremde, der von allen nur der Halbbart genannt wird, sieht eigenartig aus, denn eine seiner Gesichtshälften ist entstellt und vernarbt. Schnell gilt der Einsiedler als komischer Vogel, in Windeseile entwickeln sich verschiedene Legenden um seine Existenz. Tatsache ist, dass der Halbbart eine bescheidene, stille Natur hat und sich auf Kräuter und Heilkunde versteht. Zunächst freundet sich nur Sebi mit ihm an. Tatsächlich haben die beiden auf den ersten Blick ungleichen Menschen viele Gemeinsamkeiten. Beide sind kluge Nachdenker, die ihre Mitmenschen kritisch hinterfragen und auch keine Scheu haben, tradierten Regeln auf den Grund zu gehen. Der Halbbart wird zu einem väterlichen Freund für den Jungen und bringt ihm auch sein Lieblingsspiel Schachzabel bei, das ihnen vergnügliche Stunden bereitet. Nur mit ihm kann er über seine Beobachtungen und Gedanken sprechen, sie mit ihm reflektieren und korrigieren. Der Halbbart verfügt über die erforderliche Lebenserfahrung. So erklärte ihm der Halbbart:

    „Wer befehlen könne, sei immer stärker als wer gehorchen müsse, mit den Muskeln habe das nichts zu tun. Und die Menschen, die das Sagen hätten, würden dafür sorgen, dass das Starksein, also das Befehlen, in ihrer Familie bliebe, nur deshalb gäbe es Grafen und Herzöge und Könige. So einer könne einen Buckel haben oder dünne Beine wie ein Storch, und trotzdem könne er alles befehlen, was ihm gerade in den Sinn komme, und ein ganzes Land müsse rennen, um es auszuführen.“ (S. 107)

    Mit der Zeit gewinnt der Halbbart auch die Freundschaft vom Geni und etabliert sich als Heilkundiger im Ort. Es könnte alles so schön sein – wenn die Zeiten nicht so unruhig wären. Sebis Geschichten sind nämlich eingebettet in die Zeit des Marchenstreits. Das Kloster Einsiedeln (protegiert vom Habsburger König) kämpft um mehr Landbesitz und Rechte, was sich die Schwyzer Bauern nicht gefallen lassen wollen. Ihnen kommen arbeitslose Söldner zur Hilfe, aus Recht wird Unrecht, Gewalt erzeugt Gegengewalt. Sebi berichtet über die verschiedenen Ereignisse äußerst erfrischend. Er ist klug, aber nicht altklug. Man nimmt ihm seine aufmerksame Beobachtungsgabe ab, auch weil er manchmal an die Grenzen seines Alters stößt. Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der schwierige Zusammenhänge vereinfacht und trotzdem auf den Punkt bringt. Der Leser bekommt ein umfassendes Panorama des Mittelalters geschildert. Sebi berichtet in seinen Geschichten über Standesunterschiede und daraus resultierende Ungerechtigkeiten, über brutale Übergriffe und Kampfhandlungen, über Glauben, Aberglauben, Heuchelei und Hexenverfolgung, aber auch über Familienbande, Freundschaft, Loyalität sowie das ganz normale Leben und Sterben in dieser Zeit. Das tut er auf eine sehr einnehmende, mitunter ungewollt humorvolle Weise. Die Art des Erzählens nimmt dem Erzählten die Härte und Grausamkeit.

    Der Roman ist aufgeteilt in 82 relativ kurze Kapitel, deren Überschriften den wesentlichen Inhalt kurz zusammenfassen. Das Potpourri an Figuren und Handlung machen das Buch zum Pageturner. Die sprachliche Gestaltung ist grandios. So viele Sätze möchte man anstreichen, soviel Weisheit und Humor blitzen aus den Zeilen hervor.

    „…und weil man Schweres leichter erträgt, wenn man jemandem die Schuld daran geben kann….“ (S. 276)
    „Mir scheint, je weniger jemand von einer Sache versteht, desto lauter redet er darüber.“ (S. 372)
    „Der Halbbart meint, letzten Endes ist es kein Unterschied, ob es wirklich so gewesen sei. Ein Gerücht müsse nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es müsse nur geglaubt werden.“ (S. 428)

    An sich stehe ich kindlichen Perspektiven sehr skeptisch gegenüber, hier hat sie mich eingefangen und überzeugt. Charme hat gerade auch die Sprache an sich, die mit ihren helvetischen Einsprengseln viel Lokalkolorit vermittelt. Lewinsky bildet das Mittelalter realistisch, aber nicht blutrünstig ab. Man kann den Halbbart völlig ohne hintergründige Geschichtskenntnisse genießen und verstehen, man kann aber auch Nachforschungen anstellen, um das Gelesene besser verorten zu können.

    Ein wirklich beeindruckender historischer Roman, der völlig zu Recht auf der Longlist des DBP 2020 steht und für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. Ein Buch, das vielen Leserschichten gefallen wird und dem ich ganz viele davon wünsche. Ein großer Wurf!

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  1. 5
    03. Nov 2020 

    der Sebi und seine Geschichten

    Mittlerweile kann ich mich blind darauf verlassen, dass mir ein Roman gefallen wird, sobald das Prädikat "Lewinsky" auf dem Buchcover zu finden ist. "Lewinsky" steht für mich für literarische Überraschungen. Denn selten bin ich darauf vorbereitet, was mich in einem Buch des Autors Charles Lewinsky erwarten wird. Ob er nun die Geschichte eines berühmten Schauspielers erzählt oder eines kriminellen Stotterers oder einer Familie über mehrere Generationen, ob er eine Biografie, einen Krimi oder ein Kinderbuch schreibt, ich bin jedes Mal aufs Neue verblüfft, was der Autor aus einem Thema macht - so auch dieses Mal bei seinem aktuellen Roman "Der Halbbart".
    "Der Halbbart" ist ein Roman, der auf einem historischen Ereignis basiert: der Marchenstreit zwischen dem Schweizer Kloster Einsiedeln und dem Ort Schwyz im 13./14. Jahrhundert. Hierbei ging es um Besitzrechte an den Ländereien in dieser Gegend.

    Charles Lewinsky hat sich also diesmal ein unpopuläres historisches Thema vorgenommen, denn welcher Nicht-Schweizer kennt sich schon mit der Schweizer Geschichte zur Zeit des späten Mittelalters aus. Der Freiheitskämpfer Wilhelm Tell, der zur selben Zeit gelebt hat, mag vielen noch ein Begriff sein. Aber "Marchenstreit"? (s. Wikipedia)
    Daher war ich doch sehr gespannt, wie der Autor an dieses Thema herangeht, und vor allem, was er daraus macht.

    Der erzählende Protagonist dieses Romans ist Eusebius, Sebi genannt, ein 13-jähriger Zeitzeuge, der mit seiner Familie in Schwyz gelebt hat.

    "'Die Menschheit ist wie ein Körper', hat er mir erklärt, 'Die Geistlichkeit ist der Kopf, der alles lenkt, die Ritter sind die Arme, die es zum Kämpfen braucht, und die Bauern sind die stinkigen Füße und müssen die anderen tragen.'"

    Dieser Sebi ist ein herzerfrischender Charakter. Er hat eine blühende Fantasie, ist ein cleveres Kerlchen und ein aufmerksamer Beobachter. Doch in einem Dorf, dessen Leben von Ackerbau bestimmt und eher Muskelkraft als Klugheit benötigt wird, sind Sebis Fähigkeiten kaum gefragt. Daher wird er leider selten für voll genommen. Einer der wenigen, die ihn ernst nehmen, ist der geheimnisvolle Halbbart.

    Eines Tages taucht dieser Halbbart in Sebis Dorf auf und lässt sich hier nieder. Keiner weiß, woher er gekommen ist, keiner weiß, was ihm Schreckliches widerfahren ist. Denn dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist, ist deutlich sichtbar. Das Gesicht des Halbart ist durch große Brandnarben verunstaltet. Die Dörfler sind zunächst misstrauisch gegenüber dem unheimlichen Fremden. Einzig der Sebi freundet sich mit dem Halbbart an. Nach und nach erfährt er dessen Geschichte. Auch die Dorfbewohner gewöhnen sich langsam an den Fremden, und er wird zu einem festen Bestandteil der Dorfgemeinschaft, was nicht zuletzt an seinem Wissen über Kräuterkunde und Heilmethoden liegt.

    "Es ist etwas Eigenes mit dem Halbbart: Die Menschen werden entweder ganz schnell seine Freunde, oder sie mögen ihn überhaupt nicht."

    Der Titel dieses Romans verleitet natürlich dazu, die Geschichte des Halbbart in den Mittelpunkt zu rücken. Doch dem ist nicht so. Tatsächlich entwickelt sich dieser Charakter zu einem Nebendarsteller, der anfangs größeren Einfluss auf die Handlung hat als zum Ende hin. Der Halbbart ist der väterliche Freund des Protagonisten Sebi und prägt dessen Entwicklung.
    Unser Sebi reift in diesem Roman. Vom anfänglichen Lausbuben, der träumerisch durchs Leben geht, entwickelt er sich in kurzer Zeit zu einem jungen Menschen, der weiß, was er will und der vernünftiger erscheint als manch einer, der mehr Lebenserfahrung besitzt als er. Wodurch sich Sebi jedoch immer auszeichnet, ist sein Mitgefühl und sein gesunder Menschenverstand. Diese beiden Eigenschaften unterscheiden ihn deutlich von den Meisten der Charaktere in diesem Buch. Man sollte meinen, dass der Sebi zu gut für die Welt ist - zumindest für die Welt des Jahres 1313, indem die Handlung dieses Romans stattfindet.

    Sebi muss lernen, dass scheinbar jeder Mensch eine dunkle Seele in sich birgt, die sich selten unterdrücken lässt. Diese Erkenntnis trägt dazu bei, dass Sebi seine Naivität und Gutgläubigkeit im Umgang mit den Menschen um ihn herum langsam verliert.

    "'... Man meint bei vielen Sachen, sie könnten nicht anders sein, als sie sind, so wie die Sonne aufgeht und wieder unter oder der Mond voll wird und wieder leer. Aber was zwischen den Menschen passiert, das hat nicht der Himmel gemacht, sondern wir selber, und manchmal könnte man glauben, es sei der Teufel gewesen. ...'"

    In diesem Roman spielen Kirche und Religion eine große Rolle. Der Einfluss der Kirche auf das damalige Leben war unermesslich, wobei die Kirche weniger als geistlicher Beistand anzusehen war, denn als Großgrundbesitzer. Denn der Kirche gehörten große Teile der Ländereien, die von der Bevölkerung bewirtschaftet wurde, inklusive der Wälder. Und wie es sich für Großgrundbesitzer gehört, lebten die Klerikalen in besseren Verhältnissen als der Rest der Bevölkerung, was natürlich zu Unzufriedenheit führte. Losgelöst von der Vorherrschaft der Kirchen waren die Menschen streng religiös. Glaube und Aberglaube bestimmte deren Alltag. Jede Lebenslage hatte ihren Heiligen, an dessen Wundertaten voller Ehrfurcht geglaubt wurde.

    Genauso wie der Halbbart wird auch der Marchenstreit in den Hintergrund dieser Geschichte treten. Dieser Konflikt gibt zwar immer noch den Rahmen für die Handlung vor. Dennoch werden die Menschen dieser Gegend, mit all ihren Tugenden und Lastern, im Mittelpunkt stehen. Der Sebi wird uns viele bunte Geschichten über seine Zeitgenossen erzählen, die diesen Roman zu einem großen Vergnügen machen.

    "Geschichten ausdenken ist wie lügen, aber auf eine schöne Art."

    Der Sprachstil in diesem Roman ist auf die damalige Zeit, seinem jugendlichen Ich-Erzähler aus einfachen Verhältnissen sowie dem Schauplatz angepasst. Wir befinden uns im dunklen Mittelalter. Demenstprechend düster erscheint die Stimmung in dieser Geschichte, wird aber immer wieder von der herzerfrischend jugendlichen Erzählweise des Sebi aufgelockert.

    In der Sprache dieses Romans finden sich viele Begriffe aus dem Schweizerdeutschen. Diese sind wie selbstverständlich in die Geschichte integriert. Anfangs mag das befremdlich erscheinen, doch schnell wird man feststellen, dass sich das Verständnis dieser Ausdrücke aus dem Zusammenhang ergibt. (Und wer es genau wissen will, kann in einem Glossar auf der Diogenes Seite nachschlagen). Sebi ist ein Junge aus einfachen Verhältnissen, der weder lesen noch schreiben kann. Er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, inklusive freizügiger Grammatik und simpler Wortwahl. Doch gerade diese simple Ausdrucksweise in Kombination mit dem Schweizerdeutsch erhöht die Glaubwürdigkeit des Sprachstils. Man nimmt dem Autor das Mittelalter ab.

    Mein Fazit:
    Auf das Prädikat "Lewinsky" kann man sich blind verlassen. Denn Erzählkünstler Charles Lewinsky ist mit "Der Halbbart" zur Höchstform aufgelaufen und hat aus einem unpopulären historischen Thema ein schillerndes literarisches Kunstwerk gemacht.
    Ich bin restlos begeistert von diesem Roman!

    Leseempfehlung!

    © Renie

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  1. Ein begnadeter Erzähler

    Einer der Schweizer Gründungsmythen neben Rütli-Schwur und Tell-Sage ist die Schlacht von Morgarten im November 1315. Spätere Chronisten haben dieses Ereignis als großartigen Sieg tapferer Bauern gegen Habsburger Machtansprüche gepriesen. Was sich dort wirklich ereignet hat, ist heute ungewiss, sicher ist, dass die Schwyzer schon vorher Widerstand leisteten. Auslöser war ein Streit um Weideland zwischen dem unter Habsburger Protektorat stehenden Benediktinerkloster Einsiedeln und den Schwyzer Bauern, der sogenannte Marchenstreit, in dessen Verlauf der Konstanzer Bischof einen Kirchenbann verhängte. Der Überfall auf das Kloster mit Plünderung und Schändung der Kirche sowie die Parteinahme der Schwyzer für den Wittelsbacher Ludwig den Bayer gegen den Habsburger Friedrich den Schönen nach der Doppelkönigswahl 1314 taten ein Übriges.

    Charles Lewinskys knapp 700 Seiten umfassender Roman "Der Halbbart" spielt genau vor diesem historischen Hintergrund. Allerdings weiß der Ich-Erzähler der Geschichte, der Bauernbub Eusebius, genannt Sebi, wenig über die große Politik. Er, der weder zum Bauer, noch zum Handwerker, Totengräber, Mönch oder Soldaten taugt und darüber fast zu verzweifeln droht, berichtet von den Geschehnissen rund um sein Dorf. Zunehmend spüren die einfachen Menschen die Auswirkungen des Marchenstreits und des Kirchenbanns, erleben die Rückkehr verrohter Söldner aus Italien und lassen sich zum Überfall auf das Kloster anstacheln. Auch Sebis Familie ist gespalten: Während sein besonnener, herzlicher Bruder Origenes, genannt Geni, der bei Waldarbeiten für das Kloster ein Bein verloren hat, beim Landammann Werner Stauffacher in Schwyz für eine friedliche Beilegung des Konflikts eintritt, ist Polykarp, genannt Poli, ein unüberlegter, kriegslüsterner Hitzkopf.

    Der Ton macht die Musik
    Meine Faszination und durchgängige Lesefreude speisten sich vor allem aus der Figur des Sebis, des „Finöggels“ (Mimöschens), „Ins-Hemd-Scheißers“, und aus seiner munteren Erzählweise. Im Perfekt, manchmal umgangssprachlich Grammatikregeln missachtend, durchsetzt mit Helvetismen, für die man ein - nicht unbedingt notwendiges - Glossar im Internet findet, tut er, was er am besten kann und im Laufe des Romans als seine Bestimmung erkennt: Geschichten erzählen. Sein Vorbild ist das Teufels-Anneli, das im Winter über die Dörfer zieht und Unterhaltung gegen Bewirtung bietet. Auch Sebi weiß als großartiger Beobachter und aufmerksamer Zuhörer viel zu berichten, Wahres und Erfundenes. Mit seinem immer sicherer werdenden Gespür für Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit, Lüge, Heuchelei und Vorurteile formuliert er treffsicher, bisweilen humorvoll:

    "Wenn man einmal mit dem Gehorchen aufgehört hat, fällt einem das Sündigen bei jedem Mal leichter." (S. 180) 

    "Es heißt, dass die Bereitschaft zur Wohltätigkeit mit jedem Schritt von der Kirche weg abnimmt." (S. 295)

    "Aber die Gerechtigkeit, das habe ich gelernt, ist mehr eine Sache für die Predigten als für die Wirklichkeit." (S. 330)

    Auf schmerzliche Art muss er zuletzt aber auch von den Gefahren des Geschichtenerzählens und vom möglichen Missbrauch erfahren.

    Ein Fremder mit dunkler und heller Seite
    Fehlt noch der titelgebende Halbbart, dessen eine Körper- und Gesichtshälfte verbrannt sind. Sein Auftauchen im Dorf und sein Ende rahmen die 83 Kapitel ein, er wird zum weisen Ratgeber für Sebi, enthüllt stückweise seine tragische Geschichte, erfindet mit der Hellebarde die gefährlichste Waffe des Mittelalters und wird zuletzt Opfer seiner Rachgier.

    Intelligente Unterhaltung
    Mittelalter-Romane mit Wanderhuren meide ich und ein Band aus Ken Folletts Kingsbridge-Reihe war mehr als genug. "Der Halbbart" hat mir dagegen viel Spaß gemacht. Zurecht stand der intelligent unterhaltende Roman auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 und liegt aktuell noch im Rennen um den Schweizer Buchpreis.

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  1. Freie Berufswahl...

    ...ist nicht selbstverständlich für den 12jährigen Eusebius, schon gar nicht, als er doch Anfang des 14. Jahrhunderts in einem Dorf nahe dem Kloster Einsiedeln aufwächst, früh Mutter und Vater verliert und der älteste Bruder, zum Krüppel geworden, die Familie nicht zusammenhalten kann. Origenes, kurz Geni, verletzte sich am Bein bei einem verunglückten Baumeinschlag in den Klosterwäldern.

    Der Halbbart, der sich vor kurzem über Schmugglerwege ins Dorf geschlichen hat, seinen wahren Namen nicht preisgibt und auch nicht darüber sprechen will, wie er zu seinem halben Gesicht kam, erkennt die Symptome des Wundbrands und rät zur Beinamputation. Die Operation gelingt, Genis Leben ist gerettet und das Vertrauen der Dorfbwohner zu diesem merkwürdigen Fremden halbwegs gewonnen.

    Der dritte Bruder im Bunde, ist Poli (kurz für Polykarb). Er ist der Draufgänger in der Familie, rauft sich mit Freunden zusammen und will sich für das Unglück im Wald am Klerus rächen und das Joch der Habsburger Unterdrückung abstreifen.

    Wir sind mittendrin im Marchenstreit, der schon um 1100 begann, als die Schwyzer Land rodeten, welches dem Kloster Einsiedeln vom Kaiser zugesprochen war und nun langsam seinem Höhepunkt entgegensteuert. In dieser Kulisse steht nun Sebi, zur Feldarbeit, oder gar zum Soldatenleben nicht geeignet. Von einem kurzen, aber sehr eindrücklichen Aufenthalt im Kloster, flieht er schließlich, versteckt sich und wird dann doch irgendwann wieder in die Streitigkeiten hineingezogen.

    Mehr und mehr wird dem Jungen klar, was er in seinem Leben machen möchte. Er will so sein, wie das Teufels Annelie, die im Winter von Dorf zu Dorf zieht und für eine Schüssel warmes Essen den Leuten die dunklen Abende mit Geschichten füllt.

    Lewinsky nimmt mit seinem Roman diese Erfüllung vorweg. Der Autor lässt den Sebi diese Geschichte erzählen, lässt ihn die Welt so sehen, wie es für ihn in seinem Alter möglich ist, und aus der Sicht der Dinge, die er erlebt hat. Das Mittelalter mit all seinen Grausamkeiten wird abgemildert durch den Umstand, dass Sebi eben genau ein Kind dieser Zeit ist, aber auch nicht vor Ungemach verschont bleibt. Wofür er keine Worte findet, das umschreibt er grandios, saugt mit seinem Verstand alles in sich auf. Mit den Erzählungen des Halbbarts ergibt sich für den Leser ein komplexes Abbild des mittelalterlichen Lebens.

    Was dieses Buch wirklich lesenswert macht, sind die großartigen Lebensweisheiten, eingebettet in einer wunderbaren Sprache mit Lokalkolorit, vor dem Hintergrund einer wahren Geschichte. Kein Fädchen, egal ob am Anfang, oder am Ende gesponnen, wird liegengelassen und ergibt schlussendlich ein erinnerungswürdiges Bild voller stimmiger Details.
    Dem unverbesserlichen Wortspieler Lewinsky kommt man nach und nach auf die Spur und den ein, oder andere Blick ins Wikipedia-Lexikon lohnt sich allemal. Trotz seiner fast 700 Seiten liest sich dieses Buch sehr flüssig. Es gibt keine Zeitsprünge und er Sebi bleibt uns als Erzähler bis zuletzt treu. Die kurzen Kapitel lassen Zeit zum Luftholen für den nächsten Sprint in die handlungsreichen Ablauf. Erzählkunst at its best!

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  1. Geschichte live

    Eigentlich habe ich mit Mittelalterromanen abgeschlossen, alle Hebammen, Berufsstände, Bauwerke, Minnesang und auch die Tafelrunde hinreichend gelesen. Da kommt so ein Halbbart, setzt sich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und lacht. Da muss man ihn doch lesen, oder?

    Dieses Buch ist anders, das merkt man direkt nach den ersten Sätzen. Hier erzählt der 12jährige Sebi, von sich, seiner Familie, seinem Dorf und wie er den Halbbart kennengelernt hat in einer Sprache, die ich so noch nie gelesen habe, spaßig, warmherzig, klug, irgendwas zwischen schweizerisch, naiv und altertümlich, auf jeden Fall originell und lebendig.

    Er ist ein Exot, dieser Halbbart, ein Fremder, gezeichnet, und wird, obwohl viel älter, Sebis Freund und Berater, aber eigentlich geht es gar nicht so sehr um ihn.
    „Der Halbbart“ erzählt von den Kindertagen der Schweiz, vom Leben im Mittelalter und vom Marchenstreit, wo sich der Klerus und die Habsburger um Ländereien stritten und die Schwyzer es ausbaden mussten. Dabei kümmert man sich nicht um große Politik oder hohe Herrschaften, sondern erzählt die Ereignisse aus Sicht der kleinen Leute, wodurch man alles fast am eigenen Leib erfährt. Geschichte live, wir sind mittendrin im tiefsten Mittelalter, das sich, obwohl schon hundert Mal gelesen, plötzlich ganz anders anfühlt. Eine Zeit voller Willkür, Aberglaube und Grausamkeiten.

    Dann geht es noch um Geschichten. In einer Zeit, wo kaum jemand lesen kann, haben Geschichten einen ganz anderen Stellenwert als heutzutage. Da wird das Teufels-Anneli heiß erwartet, die fahrende Geschichtenerzählerin, die Legenden spinnt und uns zeigt, wie aus Geschichten Geschichte werden kann. Habt ihr gewusst, dass die Schweizer eigentlich Schweden sind?

    Dieses Buch macht Spaß und zeigt, wie historische Romane sein sollten. Es ist eine tolle Mischung aus Humor und grausig Realistischem, gespickt mit klugen Einwürfen. Immer wieder bekommt man witzige Weisheiten serviert. „Wenn einer zu viel Mut hat, habe ich einmal sagen hören, bleibt kein Platz für den Verstand.“

    Es ist wirklich ausführlich und man kann es langatmig finden, nur hat mich das hier überhaupt nicht gestört. Ich hatte viel Spaß und habe viel gelernt und empfehle sehr gerne dieses ungewöhnliche Buch.

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  1. Der Marchenstreit. Historisch geht auch ohne Schwulst

    Wir befinden uns mit der Erzählung von Charles Lewinsky in einem heute in der Schweiz liegenden Dorf in der Nähe des Klosters Einsiedeln. Das Kloster hat einen Streit mit den umliegenden Dörfern über einige Almen, Wiesen, Waldgebiete. Wem gehört was? Der Fürstabt pocht auf Dokumente, die die Mehrzahl der Dorfleut aber erstens nicht lesen können, und zweitens, die der Fürstabt auch nicht zum Lesen herausrückt. Es geht hin und her und eines Tages eskaliert der sogenannte „Marchenstreit“.

    Im Mittelalter geht es immer um Macht und Pfründe auf der einen Seite, nämlich auf der Seite der Herrschenden, und auf der anderen, nämlich der Bauern und Handwerker, ums Überleben. Um das Sattwerden. Und auch um das Seligwerden, denn die Religion spielt eine entscheidende Rolle.

    Unser Held, den Charles Lewinsky mit Ernst und Laune entworfen hat, der aufgeweckte Junge Eusebius, Sebi genannt, wächst sowohl mit dem heiligen katholischen Glauben wie auch mit dem Unglauben, nämlich mit einer gehörigen Portion Aberglauben in einer instabilen Familie auf. Denn der Vater ist lange tot und die Mutter bringt ihre drei Söhne alleine durch. Das bedeutet in der ländlichen Gegend: jede Menge Feldarbeit. Zwei wesentlich ältere Brüder stehen ihm zur Seite, der Poli, der cholerisch ist, aber stark und der Geni, der klug ist und dem Sebi sein Trost.

    Jaja, der Dativ. Das ist beabsichtigt. Lewinsky lässt Sebi reden. Der Sebi redet halt so. Er hat ein gutes Gedächtnis, so dass er uns, den Lesern, auch mit den lateinischen Zitaten aus der Heiligen Schrift und der Messelesungen kommen kann, er nacherzählt sämtliches Hörensagen im Dorf und Drumherum und kommentiert es mit seinen eigenen Gedanken. Dabei wird ihm klar, dass vieles, was ihm der Aberglaube zu diktieren schein, unmöglich wahr sein kann.

    Eines Tages kommt der Halbbart in das Dorf. Das ist ein älteres Mann, dem nicht das Leben, sondern seine Mitmenschen übel, sehr übel mitgespielt haben. Überhaupt ist das Mittelalter nicht zimperlich. Da wird gefoltert, gehauen und gestochen, diffamiert und verleugnet, ausgegrenzt. Wer keinen festen Platz hat, der hat es schwer.

    Der Halbbart wird für den Sebi wichtig. Denn er ist herumgekommen und weiß manches, was die Dorfbewohner nicht wissen. So erweist er sich als begnadeter Heiler und gewinnt das Herz vom Sebi, dem er auch das „Schachzabel“ beibringt.

    Was sonst noch vom Sebi, seinen Brüdern und dem Halbbart und den Herrschern seiner Zeit zu erzählen sei und wie der Marchenstreit ausgegangen ist, wer gefallen ist und wer überlebt hat, das lest selber.

    Charles Lewinsky hat in seinem Roman das Mittelalter aus Sicht der kleinen Leute aufleben lassen, dabei beweist er bei allem Ernst der schwierigen Lebenssituation seiner Helden eine leichte Hand und kreiert echte Charaktere, in die man sich verliebt. Man liest den über 600seitigen Roman gerne, der selbstredend, wie alle gute Literatur ohne Phrasen und Füllselworte auskommt, und lauscht dem Sebi und dem Teufels-Anneli, wenn sie im Sommer durch die Lande zieht und Geschichten über Geschichten erzählen. Dabei kommen Lebensweisheiten und Humor nicht zu kurz. Ganz nebenbei wird deutlich, wie Geschichtsschreibung entsteht oder auch, wenn man es einmal nicht mehr so genau weiß, wie Legendenbildung geschieht.

    Zitate:
    „Wissen ist immer nützlich, auch wenn man nie im Voraus wissen kann, für was es sich einmal brauchen lässt.“
    „Mit dem Fuchs kann man hundert Friedensverträge abschließen, in den Hühnerhof einladen darf man ihn trotzdem nicht.“
    „Man findet vieles nur deshalb lächerlich, weil man es nicht gewohnt ist“.

    Was fehlt, ist ein Nachwort, in dem die Einpassung des Geschehens in die Historie und in die Zeit erfolgt.

    Fazit: Der Halbbart ist ein Mittelalterschmöker ohne den üblichen Schmu. Auf hohem literarischen Niveau, aber mit großem Unterhaltungswert, wird ein kleiner Abschnitt schweizerischer Geschichte liebenswert und kunstfertig aufbereitet.

    „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky steht völlig zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

    Diogenes, 2020
    Kategorie: Belletristik. Historischer Roman.

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  1. Alltagsgeschichte(n) aus dem Mittelalter

    Sebi, eigentlich Eusebius, ist der Protagonist des Romans, der im Jahr 1313-1315 in der Schwyz spielt. Aus der Sicht des 12jährigen Jungen erleben wir den Alltag im Mittelalter, in einer Zeit, in der die neue Eidgenossenschaft sich im Marchenstreit mit dem Kloster Einsiedeln befindet. Die historischen Zusammenhänge kann man teilweise aus dem Kontext erschließen, allerdings muss man, will man Näheres wissen, selbst recherchieren.
    Für Sebi spielt das alles zunächst keine Rolle, viel spannender ist, dass ein Fremder im kleinen Dorf auftaucht.

    "Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da." (9)

    Keiner weiß es genau zu sagen, aber es ranken sich viele Geschichten darum, wie er sich am Rande des Dorfes niedergelassen hat.

    "Also, der Halbbart. Man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen." (13)

    Woher diese Verbrennung kommen, will der Sebi gerne wissen, aber er muss Geduld haben, bis der Halbbart seine Geschichte vollständig erzählen will und kann. Sebi freundet sich mit dem Fremden an, der medizinisch versiert ist und ihm "Schachzabel" beibringt. Die meisten Helvetismen versteht man, ohne das Glossar (www.diogenes.ch/halbbart) zu Rate zu ziehen, da sie sich aus dem Kontext ergeben und für zusätzlichen Lesegenuss sorgen.
    Zu Beginn der Geschichte wird der Streit mit dem Kloster Einsiedeln bereits angedeutet, da sich Sebis Bruder Geni beim Roden verletzt - eine Arbeit, zu der sie vom Kloster aus gezwungen werden.

    "wir sind keine Eigenleute, aber der Wald gehört ihnen, auch wenn wir ihn nutzen dürfen, und wenn sie rufen, müssen wir kommen." (19)

    Genis Bein bricht und die Heilkünste der im Dorf ansässigen Iten-Zwillinge führen fast dazu, dass er stirbt. Der Halbbart schlägt Sebi vor, dass Bein abzusägen - ein Vorschlag, den der mittlere, hitzköpfige Bruder Poli sowie Sebis Mutter ablehnen. Doch letztlich willigen sie ein, dass der Eichenberger, der als reicher Mann "Metzgete machen [kann], wann immer [er] Lust auf eine Blutwurst [hat]" (46) und folglich mit dem Messer umzugehen gelernt hat, das Bein abschneidet.
    Lewinsky schont die Leser*innen nicht und schildert detailreich, was eine Amputation im Mittelalter bedeutet hat. Gut, dass die Kapitel recht kurz sind und oft zu Beginn das Ende des Abschnittes vorweg genommen wird, was geschieht. Erst danach erzählt der Sebi, was er gehört oder selbst miterlebt hat. So ist man schon mal vorgewarnt.

    Sebi bezeichnet sich selbst als Finöggel - ein zartes Persönchen, daher möchte er am liebsten ins Kloster, um lesen und schreiben zu lernen.
    Ein Wunsch, der für ihn in Erfüllung gehen wird, wobei sich herausstellt, dass das Leben im Kloster nicht das ist, was er erwartet hat, so dass sein weiterer Weg einige unerwartete Wendungen einschlägt.
    Neben der sympathischen Figur Halbbart, der sich im Dorf niederlässt und sich mit dem Genibefreundet und dessen Name noch eine interessante Rolle spielen wird, ist es das Teufels-Anneli, das besonders fasziniert. Kommt das Teufels-Anneli ins Dorf, ist Sebi nicht zu halten. Im Winter, wenn es keine Arbeit draußen gibt, wandert sie über die Dörfer und erzählt Geschichten vom Teufel - gegen ein gutes Essen. Sebi findet, "sie hat den wunderbarsten Beruf auf der ganzen Welt." (116)

    Und um kleinere und größere (Alltags-)Geschichten geht es in diesem Roman, der uns das Leben der "einfachen Menschen" im Mittelalter atmosphärisch vor Augen führt, gerade weil aus der Sicht des jungen Sebi erzählt wird, der mit seiner Interpretation der Ereignisse oft ins Schwarze trifft. Sicherlich beeinflussen der Halbbart und der Geni, die meistens vernünftig und besonnen agieren, ihn positiv.
    Obwohl man es eigentlich weiß, erstaunt es doch, welcher Aberglaube vorgeherrscht hat, der tief in den Menschen verankert zu sein scheint. Dem Sebi macht am meisten zu schaffen, dass ein ungetauftes verstorbenes Baby nicht in den Himmel kommen kann, sondern im Limbus verweilen muss - eine Art Zwischenwelt, weder Himmel noch Hölle. Und doch findet er eine Lösung, so wie er oft clevere Ideen hat und die Leser*innen mit seinen Lebensweisheiten und -einsichten überrascht.
    Er bewertet das, was er von anderen gehört hat und das was an Geschichten erzählt wird, wird irgendwann Geschichte werden - wie es auf dem Buchrücken so treffend heißt.

    Ein empfehlenswerter Roman für alle diejenigen, die sich für Alltagsgeschichte(n) interessieren. Die geschichtlichen Fakten muss man, wenn es einen interessiert, nachlesen. Da hätte ich mir ein Nachwort mit eben jenen gewünscht, das ist aber auch der einzige Kritikpunkt am Roman ;)

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  1. Reise ins grausige Mittelalter...

    Aufmerksam geworden bin ich auf diesen Roman aufgrund der Buchpreisnominierung. Gebannt begann ich zu lesen.

    In der Geschichte geht es um den etwa Zwölfjährigen Sebi, der am liebsten Geschichten hört und auch gern selber Geschichten erzählen würde. Er träumt gern vor sich hin, doch ist das gut in Zeiten des düsteren Mittelalters?

    Der Roman besticht vor allem durch seine Sprachgewalt, denn der Erzählstil und die verwendeten Worte sind einfach nur schön. Ich habe mir viele kluge Sätze notiert.

    Sebi fungiert als Ich- Erzähler und war mir bereits auf den ersten Seiten sympathisch, da ich mich sehr gut mit ihm identifizieren konnte. Als Kind und manchmal auch heute noch, träume ich mich gerne mal weg und vergesse die Welt um mich herum. Unser Eusebius hat ein Talent für das Beobachten und Werten vom Verhalten anderer. Hier hatte man oft das Gefühl, dass er längst erwachsen ist, was vielleicht an der rauen Zeit liegt, in der er groß wird.

    Seine beiden Brüder könnten unterschiedlicher kaum sein. Während ich Geni sehr bewundert habe wie er mit seinem Schicksal umgeht, so habe ich Poli so manches Mal verwünscht für seine gewalttätige Art.

    Meine absolute Lieblingsfigur hingegen war der Namensgeber des Buches: der Halbbart. Er ist ein Mensch mit sieben Siegeln. Manche Geheimnisse um ihn werden gelüftet, als Leser ist man fasziniert von ihm und seinem Schicksal. Leider verblasst er im Verlaufe der Geschichte immer mehr und ich habe nicht alles erfahren was ich mir gewünscht hatte. Und die Andeutungen waren meines Erachtens zu wenig, um sich als Leser seine Geschichte selbst weiterspinnen zu können.

    Besonders eindrücklich ist es dem Autor gelungen das Mittelalter darzustellen, denn es ist von Grausamkeiten und Entbehrlichkeiten geprägt. Ich musste ein ums andere Mal schlucken was die Figuren des Romans so aushalten müssen.

    Während ich bis ungefähr zur Mitte des Buches richtig Freude an der Geschichte hatte und kaum aufhören konnte zu lesen, ließ sich die Lektüre mit der Zeit immer beschwerlicher lesen und ich kann gar nicht genau sagen wieso. Irgendwie fesselte mich das Erzählte nicht mehr so sehr, ich brauchte lange, um das Gelesene zu verarbeiten und oft liefen angefangene Erzählstränge irgendwie ins Leere.

    Und so verbleibe ich nach der Lektüre etwas ratlos zurück. Selten musste ich so lange über einer Rezension sitzen, eh mir die richtigen Worte einfielen. Der Roman ist gewiss nicht schlecht, hat meine Erwartungen einfach nur bedingt erfüllt.

    Fazit: Sprachlich eine Wucht, zum Schluss etwas zäh. Als Leser wird man immer wieder gefordert, das muss man mögen. Ich spreche dennoch eine Empfehlung aus, weil mich die Lektüre sehr nachdenklich gestimmt und mir einiges abverlangt hat.

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Die Familie

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Familie' von  Naomi Krupitsky
2.5
2.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Familie"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
EAN:
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Rezensionen zu "Die Familie"

  1. Eine Freundschaft im Mafia-Milieu

    Dass die Familie im Mafia-Milieu über allem steht, wissen wir schon aus vielen anderen Büchern und Filmen. Doch in diesem Buch geht es weniger um die Männer das Clans, als um die Frauen, die loyal sein sollen, nicht alles wissen müssen, aber zu schweigen haben.
    Antonia und Sofia wachsen auf wie Schwestern und sind beste Freundinnen. Antonias Vater möchte irgendwann ein Leben außerhalb der „Familie“ führen. Doch das ist unmöglich, er verschwindet spurlos. Das hat Auswirkungen auf die Freundschaft der Frauen
    Die Geschichte liest sich gut, aber ich hätte in diesem Umfeld mehr Spannung erwartet.
    Die Charaktere sind gut gezeichnet. Man erlebt die Mädchen von Kindesbeinen an und wie sie sich entwickeln. Die beiden sind sehr unterschiedlich. Sie freunden sich an, auch weil sie gar keine Möglichkeit haben außerhalb der Familien Kontakte zu knüpfen. Sie wachsen behütet auf, spüren aber auch, dass es vieles gibt, was sie nicht begreifen und das ihnen niemand erklären wird. Es gibt Regeln, die man nicht in Frage stellt und an die man sich zu halten hat. Als junge Frauen träumen sie davon, dieses Leben hinter sich zu lassen, doch mit ihrer Heirat verfestigen sie die Situation.
    Ich war gespannt darauf, wie diese Geschichte sich entwickelt und wie sie ausgeht. Das Ende ist recht abrupt und hat mich etwas enttäuscht.
    So ganz wurden meine Erwartungen nicht erfüllt, aber dennoch ein interessanter Roman.

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  1. Ich hatte zunächst einen

    Ich hatte zunächst einen durchaus positiven Eindruck von dem Buch, denn die Geschichte wird auf sehr angenehme Art und Weise erzählt und auch die Idee finde ich durchaus spannend. Erwartet hatte ich mir deshalb einen spannenden Mafia-Roman, bei dem die Frauen „der Familie“ mehr im Vordergrund stehen.
    In gewisser Weise tun sie das auch, denn es wird Antonias und Sofias gemeinsame Lebensgeschichte erzählt. Von Kindesbeinen an eng miteinander befreundet, teilen sie jeden Gedanken, Traum und Wunsch miteinander. Sie wachsen auf, gehen zur Schule, in die Highschool und werden erwachsen. Sie beginnen sich voneinander zu entfremden, Geheimnisse voreinander zu haben. Und das alles im Schatten einer Mafia-Familie.

    Einige Aspekte wurden sehr berührend dargestellt, z.B. die Entfremdung der beiden engen Freundinnen oder auch Antonias Situation nach der Geburt ihres ersten Kindes. Es wird schnell deutlich, dass beide unterschiedliche Vorstellungen von ihrem Leben haben, sich jedoch in das bestehende Familiengefüge eingliedern. Aber beide gehen damit sehr unterschiedlich um und entwickeln eigene „Überlebensstrategien“.

    Allerdings empfinde ich das ganze Drumherum als wahnsinnig langweilig. Jedes noch so kleinste Detail wird über Seiten aufgezogen und von allen Seiten beleuchtet. Sei es eine belanglose Begebenheit in der Schule, die erste Menstruation, die erste eigene Wohnung oder einfach nur der Alltag. Dann driften die Sätze auch schon mal ins sehr schwülstige ab und die ansonsten angenehm leichte Erzählung wirkt auf mich gewollt überladen.
    Es passiert eigentlich nichts, die Geschichte plätschert dahin. Es gibt einige Situationen, bei denen ich dachte, dass jetzt doch mal ein bisschen Schwung in die ganze Sache kommen müsste. Aber das wird leider ziemlich zügig im Keim erstickt. Erst zum Ende kommt dann mal etwas Spannung auf. Und dank eines ziemlich abrupten Endes, fühlt es sich an, als wäre man mittendrin rausgerissen worden.

    Für mich bleibt es daher bei einem ziemlich langweiligen Roman, der meine Erwartungen leider nicht erfüllen konnte.

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Max

Buchseite und Rezensionen zu 'Max' von  Markus Orths
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Max"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
EAN:
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Rezensionen zu "Max"

  1. Ein Künstlerroman zum Hören

    Max Ernst (1891 – 1976) gehört zu den bedeutendsten Malern, Grafikern und Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Der Autodidakt war 1919 Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe und gehörte ab 1922 zu den Surrealisten um den Dichter André Breton. Geboren im Rheinland, kam er Anfang der 1920er-Jahre nach Frankreich. 1941 floh er von dort mit Unterstützung des berühmten Fluchthelfers Varian Fry vor der Gestapo in die USA und kehrte 1953 nach Frankreich zurück, wo er bis zu seinem Tod am Tag vor seinem 85. Geburtstag lebte.

    Egal wo er sich aufhielt, welcher Strömung er folgte, in welcher Technik und mit welchem Material er arbeitete, Max Ernst war kein Mann, der alleine blieb. Zahlreiche Frauen begleiteten ihn ab seinem 19. Lebensjahr. Die sechs wichtigsten stellt der Autor Markus Orths in seinem biografischen Roman "Max" neben dem Künstler in den Mittelpunkt und benennt nach ihnen die sechs Kapitel, denen ein kurzer Prolog vorausgeht. Mit vier der Frauen war Max Ernst verheiratet. Fünf begleiteten ihn während 33 Jahren, die letzte weitere 33 Jahre bis zu seinem Tod.

    Kapitel „Lou“ und „Galapaul“
    Den Reigen der Frauen eröffnet Luise Straus, genannt Lou, die Max Ernst 1918 heiratete, Mutter seines einzigen Kindes, dem Sohn Hans-Ulrich, genannt Jimmy. Als selbstbewusste, durchsetzungsfähige und intelligente Frau konnte die promovierte Kunsthistorikerin und Journalistin für sich und ihren Sohn sorgen, nachdem Max Ernst sie verließ. Doch weder er noch der Sohn konnten die Jüdin vor der Deportation aus ihrem französischen Exil und der Ermordung in Auschwitz retten.

    Die erste Ehe tauschte Max Ernst 1922 gegen eine Ménage-à-trois mit dem Lyriker Paul Éluard und dessen Frau Gala, der späteren Frau von Salvador Dalí, ein.

    Kapitel „Marie-Berthe“ und „Leonora“
    Ehefrau Nummer zwei des mittlerweile 35-jährigen Künstlers wurde 1927 überstürzt die 21-jährige Marie-Berthe Aurenche, die psychisch nie über die Trennung hinwegkam. Leonora Carrington, eine britische Künstlerin, war 20, als der 46-jährige Max Ernst sie 1937 kennenlernte. Sie war seine große Liebe, mit der er zeitweise in einem gemeinsamen Haus in Saint-Martin-d’Ardèche lebte.

    Kapitel „Peggy“ und „Dorothea“
    Als die Beziehung zu Leonora in den Kriegswirren zerbrach, wurde 1941 die reiche, kapriziöse US-amerikanische Kunstsammlerin Peggy Guggenheim Ernsts dritte Ehefrau, eine Verbindung, die sich schnell als Irrtum erwies. Erst als er 1943 die Malerin Dorothea Tanning kennenlernte, die 1946 seine vierte und letzte Ehefrau wurde, kam er zur Ruhe.

    Mehr als schmückendes Beiwerk
    Markus Orths gibt jeder der Frauen breiten Raum, stellt ihre Biografien, ihre Stärken, Ambitionen und Schwächen in den Mittelpunkt und reduziert sie nicht zum Anhängsel des berühmten Künstlers. Fast alle waren auf ihre Art beeindruckende Frauen, wobei Luise Straus für mich herausragt.

    Leider gekürzt
    Der Sprecher Torben Kessler liest das Hörbuch auf sechs CDs mit 456 Minuten ausgesprochen angenehm, allerdings bedauere ich sehr, dass es sich um eine gekürzte Fassung handelt. Sind die auf nur einer, der letzten, CD zusammengefassten Jahre ab 1941 eine Folge dieser Kürzung? Gerne hätte ich den vollständigen Text gehört. Trotzdem ist auch das Hörbuch empfehlenswert, gewährt es doch nicht nur Einblicke in das Leben des unermüdlichen Kunst-Erneuerers Max Ernst, sondern auch in das seiner Partnerinnen und vieler zeitgenössischer Künstlerkollegen eines überaus spannenden Jahrhunderts.

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Die Berechnung der Sterne

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Berechnung der Sterne' von  Mary Robinette Kowal
NAN
(0 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Berechnung der Sterne"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
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Der Buchspazierer

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Buchspazierer' von  Carsten Henn
4
4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Buchspazierer"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
Verlag:
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Rezensionen zu "Der Buchspazierer"

  1. Ein Fest für Lesende

    Carl Kollhoff war Buchhändler mit Leib und Seele. Jetzt wo, er „zum alten Eisen gehört“ liefert er nach Ladenschluss Buchbestellungen an spezielle Kundschaft aus. Seine allabendlichen Buchspaziergänge sind für Carl ein liebgewordenes und wichtiges Ritual. Für ihn und die Menschen, die er besucht ist es oft der einzige zwischenmenschliche Kontakt. Doch dieses besondere Service soll bald eingestellt werden, zu wenig profitabel, behauptet die Besitzerin der Buchhandlung. Eine ungeahnte Wendung, die Carls Leben auf den Kopf stellt, bringt seine Begegnung mit der neunjährigen Schascha mit sich.

    „Der Buchspazierer“ von Carsten Henn, in der Hörbuchversion gelesen von Reinhard Kuhnert, ist eine liebenswerte Geschichte mit Wohlfühlcharakter über die Liebe zum Lesen und zu Büchern. Der Sprecher vermittelt mit seiner ruhigen und sonoren Stimme überzeugend das Gefühl dem Protagonisten Carl Kollhoff nahe zu sein.

    „Carl unterschied Leser in Hasen, Schildkröten und Fische. Er selbst war ein Fisch und ließ sich in einem Buch treiben. Mal gemächlich, mal schnell.“

    Carls Leben ist der Literatur, den Büchern, dem Lesen und den Lesenden gewidmet. Außerhalb seiner Bücherwelt ist Carl einsam und zurückgezogen.

    „Er war der Welt, wie er sich manchmal eingestand, ein wenig abhandengekommen.“

    Es sind ausgewählte Personen, denen Carl regelmäßig Bücherlieferungen bringt. Alle haben ihre besonderen Eigenheiten, Sorgen und Ängste. Für alle hat Carl Namen aus der Literatur gewählt: Effie Briest für die Frau mit dem gewalttätigen Ehemann, die so gerne romantische Bücher liest. Mr. Darcy für den schwerreichen aber äußerst introvertierten Leser von Klassikern. Herkules für den muskulösen Riesen, der gar nicht lesen kann, und noch einige andere mehr….

    Die kleine Schascha bringt ordentlich Schwung in die verstaubte Routine. Nicht nur Carl, sondern auch dessen „Schützlingen“ wird durch das altkluge und verschmitzte Mädchen gehörig der Kopf verdreht.

    Das ist auch der Punkt, der dem Buch einen Kritikpunkt einbringt. Die Personen sind stereotype Abziehbilder. Dass die Rolle der „bösen Hexe“ von der Buchhändlerin übernommen werden musste, hat mich fast ein wenig gekränkt. Das Leben ist nicht ganz so einfach, dass ein aufgewecktes Kind sämtliche Probleme mit seinem Lachen wegzaubern könnte. Aber es wäre natürlich schön, wenn es so wäre.

    Davon abgesehen ist „Der Buchspazierer“ eine charmante Hommage auf das Lesen und das Leben mit Büchern sowie ein Fest für Lesende und bereitete mir angenehme Lese- beziehungsweise Hörstunden.

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Ein Gentleman in Moskau: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Ein Gentleman in Moskau: Roman' von Amor Towles
3.65
3.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ein Gentleman in Moskau: Roman"

Moskau, 1922. Der genussfreudige Lebemann Graf Rostov wird verhaftet und zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, ausgerechnet im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platz. Er muss alle bisher genossenen Privilegien aufgeben und eine Arbeit als Hilfskellner annehmen. Rostov mit seinen 30 Jahren ist ein äußerst liebenswürdiger, immer optimistischer Gentleman. Trotz seiner eingeschränkten Umstände lebt er ganz seine Überzeugung, dass selbst kleine gute Taten einer chaotischen Welt Sinn verleihen. Aber ihm bleibt nur der Blick aus dem Fenster, während draußen Russland stürmische Dekaden durchlebt. Seine Stunde kommt, als eine alte Freundin ihm ihre kleine Tochter anvertraut. Das Kind ändert Rostovs Leben von Grund auf. Für das Mädchen und sein Leben wächst der Graf über sich hinaus.


"Towles ist ein Meistererzähler" New York Times Book Review


"Eine charmante Erinnerung an die Bedeutung von gutem Stil" Washington Post


"Elegant, dabei gleichzeitig filigran und üppig wie ein Schmuckei von Fabergé" O, the Oprah Magazine

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:561
EAN:
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Rezensionen zu "Ein Gentleman in Moskau: Roman"

  1. Verbannung im Hotel

    Durch die russische Revolution wird der Graf Rostov im Grande Metropol verbannt. Falls er sich der Verbannung entzieht, wird er erschossen. Der Graf Rostov versucht das beste aus dieser Situation zu machen. Er muss in eine kleine Dachgeschoßwohnung umziehen. Ein Teil seiner Habe darf er mitnehmen; der Rest gehört dann der Öffentlichkeit. In dem Falle gehört das dann dem Hotel.

    Er freundet sich mit einem neun- jährigem Mädchen (Nina) an. Die zeigt ihm die ganzen Räumlichkeiten, wo sich das Personal aufhält und so, dass er ein Einblick hinter den Kulissen erhält. Er freundet sich dann im Laufe der Zeit auch mit dem Personal an. Die Gerichte, die der Graf dort im Metropol- Hotel serviert bekommt, werden sehr detailiert vorgestellt, so dass dem Leser das Wasser im Munde zusammenläuft.

    Aber für mein Empfinden wird das Buch doch recht monoton erzählt. Ich finde das Buch hat wenig Handlung, viel Atmosphäre. Es ist eher ein Genussbuch, bei dem inhaltlich nicht viel passiert.

    Dieses Buch kann ich empfehlen

    Als Wohlfühlbuch (bei dem inhaltlich nicht viel herumkommt, aber die Speisen zelebriert werden)

    Zu Weihnachten (der Zeit der Einkehr, wo man das Buch langsam mit Genuss konsumiert)

    oder wenn man in Quarantäne oder lange das Bett hüten muss, da man krank ist.

    Für mich war es leider zu wenig Inhalt und zuviel Atmosphäre. Aber irgendwann denke ich wird die Zeit reif sein dieses Buch nochmal zu lesen. Jetzt ist irgendwie nicht der richtige Zeitpunkt.

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  1. Entfaltet sich elegant

    Ein Roman mit vielen Seiten, der langsam genossen und nicht als Pageturner weggelesen werden möchte, denn dafür ist der Schreibstil zu schwer und blumig - wie ein elegantes Parfum, das seine Kopfnote erst nach einiger Zeit entfaltet. Es gibt Zeitsprünge, die einen vor veränderte Tatsachen stellen, deren Ursache man erst viel später verraten bekommt. Man kann also eine leichte Ungeduld entwickeln. Doch folgt man Rostov, seinen Gedankengängen und seinen Erlebnissen beharrlich und geduldig, wird man belohnt.
    Die Charaktere sind dreidimensional gestaltet, rufen unterschiedlichste Emotionen hervor und machen es nachvollziehbar, ob der charmante, gewitzte und nur ein Mal ein wenig depressive Graf sich mit ihnen befreundet, ihnen vertraut oder eben nicht. Die Vielzahl der Personen erinnert an die russischen Klassiker, an die sich Alexander Rostov an vielen Stellen erinnert. Dennoch behält man in diesem Fall den Überblick.
    Eine emotionale, eindringliche aber eben auch anstrengende Geschichte.

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  1. Hotel Metropol

    Alexander Iljitsch Graf Rostov hat ein privilegiertes Leben in Müßiggang und Genussfreude gelebt. Allein das macht ihn im Rußland der Zwanziger Jahre zu einer unerwünschten Person. Von der Revolutionsregierung wird er unter lebenslangen Hausarrest gestellt. Das klingt nicht so übel, wenn man eine Suite im legendären Moskauer Hotel Metropol bewohnt. Allerdings haben die neuen Machthaber vorgesorgt, die Suite ist perdu, eine winzige Dachkammer ist nun sein Domizil. Aber Alexander hat sich eine Maxime zu eigen gemacht „wenn man nicht Herr der Umstände ist, wird man von den Umständen beherrscht“. So richtet er sein neues Leben ein, bis die Ankunft eines jungen Mädchens im Hotel in aus seiner Beschaulichkeit reißt. Nina ist mit ihrem Vater, einem der neuen Beamten der Regierung nach Moskau gekommen und leben ebenfalls im Hotel. Nina, still, klug und von bestechender kindlicher Logik krempelt sein Leben um. Er lernt die geheimen Treppen und Räume der Dienstboten (wie sie an einen Generalschlüssel gekommen ist, bleibt ihr Geheimnis), die Abläufe hinter den prächtigen Türen kennen. Ein Vorteil, der sich auszahlt, als die Umstände Graf Rostov ins weiße Jackett eines Kellners zwingen.
    Ein Leben im Hotel - ein Leben in einem kleinen, eng umgrenzten und definiertem Kosmos, aber so reich an Ideen, Thesen und Erlebnissen. Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, dass mich von der ersten Seite an, so angesprochen und berührt hat. Es sind nicht die großen Umwälzungen, die das Buch zum Thema hat, sondern ein Mensch, dessen Leben mit feinen Pinselstrichen gezeichnet wird. Der sich jeder Herausforderung stellt, aber dabei immer anständig und loyal bleibt und für Menschen, die ihm begegnen und wichtig sind, auch sein eigenes Wohl zurückstellt. Wenn nach langen Jahren der Verbannung ein zurückgekehrter Jugendfreund zu Alexander sagt „ du scheinst der glücklichste Mensch Rußlands zu sein“ hat er den Kern getroffen.
    Ich hätte diesen Roman noch ewig weiterlesen können, hier ist eine untergegangene Welt, eine ferne Epoche auferstanden, so lebendig erzählt der Autor Rostovs Leben.
    Ich habe ein Lieblingsbuch gefunden, das mich sicher immer wieder zum erneuten lesen und entdecken reizen wird. Ich möchte es jedem Leser ans Herz legen.

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Die Optimisten

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Optimisten' von Rebecca Makkai
4.15
4.2 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Optimisten"

Die Liebe in schwierigen Zeiten.

Chicago, 1985: Yale ist ein junger Kunstexperte, der mit Feuereifer nach Neuerwerbungen für seine Galerie sucht. Gerade ist er einer Gemäldesammlung auf der Spur, die seiner Karriere den entscheidenden Schub verleihen könnte. Er ahnt nicht, dass ein Virus, das gerade in Chicagos „Boys Town“ zu wüten begonnen hat, einen nach dem anderen seiner Freunde in den Abgrund reißen wird.
Paris, 2015: Fiona spürt ihrer Tochter nach, die sich offenbar nicht finden lassen will. Die Suche nach der Tochter gestaltet sich ebenso zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, denn in Paris trifft sie auf alte Freunde aus Chicago, die sie an das Gefühlschaos der Achtzigerjahre erinnern und sie mit einem großen Schmerz von damals konfrontieren.
Die Optimisten ist eine zutiefst bewegende Geschichte darüber, wie Liebe uns retten, aber ebenso vernichten kann, und wie uns traumatische Ereignisse ein Leben lang prägen können, bis Heilung möglich wird.

PULITZER PRIZE FINALIST

NATIONAL BOOK AWARD SHORTLIST

AUSGEZEICHNET MIT DER ANDREW CARNEGIE MEDAL

AUSGEZEICHNET MIT DEM LOS ANGELES TIMES BOOK PRIZE

NEW YORK TIMES 10 BEST BOOKS 2018

»Ein Pageturner ... eine packende und tief bewegende Geschichte über das Leben in schwierigen Zeiten.« Michael Cunningham in der The New York Times Book Review

»Fesselnd, spannend, wunderschön.« The Boston Globe

»Warmherzig und mehrdimensional erzählt ... Süchtigmachend.« The San Francisco Chronicle

»Vielstimmig, grandios.« The Chicago Tribune

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:624
Verlag: Eisele eBooks
EAN:
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Rezensionen zu "Die Optimisten"

  1. Zeitreise

    Im Endeffekt geht es in diesem Buch um schwule Männer in Chicago, (um 1985) die an AIDS erkranken und daran sterben und wie das soziale Umfeld (in dem Fall Fiona) mit diesen Verlusten umgeht.

    Für mich war die Geschichte, die in Chicago spielt toll geschrieben. Die Männer werden sehr liebevoll und berürhend beschrieben, so dass man sie als Leser richtig lieb gewinnt. Sie wurden für einen richtige Freunde, mit denen man sich mitfühlt und trauert.

    Als Gegenpol spielt der andere Teil in Paris. Fiona, die ihren Bruder in den 1980 er Jahren verloren hatte und eine Schlüsselfigut und Maskottchen, der schwulen Szene in Chicago, sucht ihre Tocher, Claire. Diese hat den Kontakt zu Fiona abgebrochen und ist in eine Sekte abgetaucht und hat sich dann mit ihrem damaligen Freund daraus befreit.

    Für mich schrappte die Geschichte knapp an Trash/ Schmonzette und Melodramatik vorbei. Sie war wirklich sehr langatmig geschrieben, so dass ich 200 Seiten vorgeblättert habe, um festzustellen, dass ich nicht sehr viel verpasst habe.

    Was für mich ein wirklicher Pluspunkt war, dass die Figuren, die in Chicago spielten, "echt" waren. Sie lebten, sie berührten mich. Ich wollte auf einmal total viel über die Entwicklung der Krankheit AIDS erfahren. Und ihr Lebens- und Leidensweg hat mich zu Tränen berührt. Ich habe als Leser gemerkt, dass die Autorin wirklich etwas zu sagen hat und dass das ihr Thema ist/ war.
    Ein wirklich lesenswertes Buch!

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  1. Auch in Krisenzeiten gilt: Immer optimistisch bleiben

    Der Roman spielt auf zwei sich abwechselnden Zeitebenen. Die eine beginnt im Jahre 1985 in Chicagos „Boystown“, einer Gegend, in der viele schwule junge Männer leben, lieben, feiern und das Leben genießen. Bis die bis dahin unbekannte Krankheit AIDS droht, dieses Dasein komplett zu beenden.

    Wir lernen Yale und Fiona auf Nicos Trauerfeier kennen. Yale war Nicos Freund, Fiona seine Schwester. In der Zeitebene von 1985 ist Yale die Hauptfigur. Er ist leidenschaftlicher Kunstexperte und arbeitet für eine kleine Galerie. Die Bekanntschaft mit Fiona führt zum Kontakt mit der über 90-jährigen Nora, die in ihrer Jugend Modell für bekannte Maler saß. Aus dieser Zeit verfügt sie noch über einige Bilder, die sie Yales Galerie stiften möchte. Die Familie nicht beglückt darüber, weil sie dann den Erbanspruch verlieren würde. Es entwickelt sich eine höchst interessante Auseinandersetzung rund um die Kunstwerke.
    Yales Privatleben scheint in ruhigen Bahnen zu verlaufen. Er lebt seit Jahren mit Charlie in einer monogamen Partnerschaft, er hat einen großen Freundeskreis. An den Wochenenden trifft man sich in unterschiedlichen (Schwulen-)Bars, genießt das Leben, kämpft aber auch für die eigenen Rechte. Eingetrübt wird die Stimmung erst durch das neue Virus HIV, das Lücken in die Schwulenszene reißt. Trotzdem bleiben die jungen Männer optimistisch, versuchen mit der Bedrohung zu leben. Mancher lässt sich testen, mancher will es gar nicht wissen. Man hilft den Betroffenen, die vielfach keinen Kontakt mehr zu ihren Familien haben, in den Phasen der Krankheit bis hin zum Tod. So bedrückend dieses Szenario scheint, so gut ist es der Autorin gelungen, den Blick stets nach vorne zu richten, ohne allzu große Trübsal aufkommen zu lassen. Der Roman wirkt nie hoffnungslos. Ich denke, dass dort auch der Titel des Buches herrührt.

    Die zweite Zeitebene spielt im Jahr 2015, also 30 Jahre später. Fiona steht nun im Mittelpunkt, die nach Frankreich gereist ist, um ihre verschollene Tochter Claire zu suchen. Claire soll mit dem falschen Mann in die Fänge einer Sekte geraten sein, sie hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern. Fiona vermutet, dass sie mittlerweile eine kleine Tochter haben könnte.
    In Paris wohnt Fiona bei ihrem alten Freund, dem mittlerweile berühmten Fotografen Richard Campo, der damals in Chicago zum engsten Freundeskreis ihres Bruders Nico gehörte und noch Kontakte zu den Überlebenden von damals hat. Nach und nach wird Fiona, die offenbar vielen Sterbenden aus der Schwulenszene in ihren letzten Wochen beigestanden hat, mit ihrer verdrängten Vergangenheit, mit ihrer Trauer und erlittenen Verletzungen konfrontiert, die weitreichende Auswirkungen auf ihr eigenes Familienleben gehabt haben. So sind diese Tage in Paris nicht nur eine Suche nach Claire, sondern auch eine Reise in die Vergangenheit und Einkehr eigene Ich, die neue Erkenntnisse zutage fördern. Wie nebenbei eingewoben werden auch die grausigen Terroranschläge vom 13. November 2015 mit ihren Folgen für die Pariser Bevölkerung.

    Die Zeitebenen wechseln sich kapitelweise ab. Beide Geschichten entwickeln ihren eigenen Sog, zum Ende hin erfährt man immer mehr Details aus der Vergangenheit, die Erklärungen liefern und Zusammenhänge zur Gegenwart herstellen, was etwas Erleuchtendes hat. Diese Komposition ist Makkai sehr gut gelungen.
    Das Buch entwickelt eine unglaubliche Wucht, weil man als Leser die Tragödie der um sich greifenden AIDS-Erkrankung hautnah aus erster Hand vor Augen geführt bekommt. Was für viele von uns damals nur Schlagzeilen aus einer anderen Welt waren, erhält auf einmal eine höchst persönliche Note: Zunächst war da nur die allgemeine Ungläubigkeit, bis man sah, was die Krankheit mit den Betroffenen machte: Sie höhlte aus, verursachte hässliche Ausschläge, inaktivierte die Immunabwehr und führte schließlich auf brutale Weise und unumkehrbar zu Tod. Die Nachricht, dass ein naher Freund erkrankt war, führte nicht nur zu Betroffenheit, sondern mitunter zu monatelanger Angst, auch selbst infiziert zu sein. Eine Angst, die erst durch den erlösenden Test genommen (oder bestätigt) werden konnte. Medikamente gab es noch nicht, AIDS war ein Todesurteil. Es blieb nur die Hoffnung auf einen möglichst späten Ausbruch der Krankheit. Dazu kam die Ächtung und allgemeine Diskriminierung der Schwulen in der Gesellschaft. Das alles wird sehr authentisch und doch unsentimental erzählt.

    Beide Erzählebenen lesen sich völlig unkompliziert, man hat keine Probleme beim Wechseln und Folgen. Insofern ist es ein entspannender Roman, der zudem zufällig zum richtigen Zeitpunkt erschienen ist: mitten in der Corona-Krise. Wieder bringt eine unbekannte Krankheit Tod und Leid über die Menschen und zwingt zur Veränderung von Gewohnheiten.

    „Die Optimisten“ ist ein wunderbares Buch zum Abtauchen. Es bringt einem eine vergangene Krise ins Bewusstsein, macht aber auch vor aktuellen Herausforderungen nicht Halt. Es hält eine erstaunliche Anzahl wirklich sympathischer Figuren parat, von denen nicht viele überleben. Trotzdem ist der Grundton optimistisch. Fiona hat in ihrem Leben viel Gutes geleistet und darüber ihre eigene Familie vernachlässigt. Am Ende hilft immer nur das Nachvorneschauen, ohne sich an Vergangenem festzuhalten. Das ist das, was man aus diesem überaus lesenswerten Roman mitnehmen kann: Immer optimistisch bleiben!

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  1. 4
    23. Mai 2020 

    Boystown

    Im Chicago Mitte der 1980er leben Yale und seine Freunde in einer eingeschworenen Community. Das Leben könnte so schön sein, gäbe es da nicht diese unheimliche Krankheit, die Lücken in ihre Reihen reißt. Fiona ist eine der wenigen jungen Frauen, die als Nicos Schwester ein festes Mitglied der Gemeinschaft ist. Und Nico ist einer der ersten aus ihren Reihen, der der Krankheit erliegt. Was soll dieses Virus? Sie wollten sich doch gerade ihren Platz in der Gesellschaft erobern, sie wollten feiern, sie wollten Spaß. Keiner wollte so jung sterben.

    Auf zwei Zeitebenen ist dieser Roman angesiedelt. Zum einen wie erwähnt in den 80ern des letzten Jahrhunderts - wie weit weg das klingt - und zum anderen im Jahr 2015 als Fiona nach Paris reist, um nach ihrer Tochter zu suchen. Überraschend trifft sie in der Stadt der Liebe ein paar der alten Bekannten wieder und damit erstehen auch die alten Zeiten vor ihrem inneren Auge wieder.

    Die Autorin zieht einen selbst in die Erinnerung an die eigene Jugend. Auch wenn man wegen der dörflichen Herkunft im direkten Umfeld nicht allzu viel mitbekam, so war die Krankheit und das Virus allgegenwärtig. Die Lust am Feiern wurde jäh ausgebremst, auf einmal war Vorsicht geboten. Und der Gedanke, mich betrifft es nicht, bot keine Erleichterung. Es konnte jeden treffen. Wie schlimm muss es da erst unter denen gewesen sein, die eigentlich nur ihr Leben leben wollten, beruflich durchstarten und ihre Liebe genießen? Plötzlich wurden Freunde, Kollegen und Liebste von ihrer Seite gerissen und doch steckten sie manchmal den Kopf in den Sand. Und Fiona mitten drin, häufig der letzte Halt für ihre Freunde.

    Mit dem von ihr gewählten Thema berührt die Autorin, besonders wenn man eine Erinnerung an die aufkommende Bedrohung hat. Gerade heutzutage wo es auch gilt gegen eine bedrohliche Krankheit, gegen die es kein Mittel gibt, anzukämpfen, bekommt das Buch eine zusätzliche Aktualität. Allerdings schafft die Autorin es nicht, einem die handelnden Personen wirklich nahe zu bringen. Vielleicht ist die Handlung etwas zu episodenhaft erzählt. Dennoch regt das Buch zum Nachdenken an und einige Szenen sind wirklich herzzerreißend.

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  1. 5
    16. Mai 2020 

    Ein interessanter, bewegender und hochaktueller Pageturner!

    Zwei Geschichten werden erzählt und geschickt miteinander verwoben. Sie greifen ineinander, werden schließlich zu einer Geschichte und am Ende schließt man das über 600-seitige Werk mit einem zufriedenen Lächeln und der Gewissheit, ein interessantes, berührendes und unterhaltsames Buch gelesen zu haben, das man nicht so schnell vergessen wird.

    Am einen Ende die Aids-Krise in Chicago (1980-er Jahre), am anderen Ende die Terroranschläge in Paris (2015).
    Dazwischen Krankheit und Tod. Leben, Leidenschaft und Liebe. Freundschaft, Verbundenheit, Vergebung und Treue.

    Die ganze Palette an Emotionen wird im Verlauf des Romans ausgelöst, aber zu keinem Zeitpunkt wird er kitschig oder rührselig.

    Nach dem Öffnen des Buches landen wir auf einem „Leichenschmaus“. Aber nicht in einer Gaststätte, sondern im eleganten Brownstone-Haus von Richard in Chicago im November 1985.

    Der väterliche, gut situierte, homosexuelle und talentierte Fotograf Richard hat eine Trauerfeier für die schwulen Bekannten und Freunde des vor drei Wochen an Aids verstorbenen, erst 25 Jahre alten Comiczeichners Nico organisiert.

    Auf der offiziellen Trauermesse ist die schwule Community nicht erwünscht.

    Neben dem 31-jährigen Yale und dem um 5 Jahre älteren Charlie, Nicos besten Freunden, ist auch Fiona, Nicos um vier Jahre jüngere Schwester, auf dem Fest bei Richard.
    Diese fünf Personen, Fiona, Nico, Yale, Charlie und Richard, werden uns den ganzen Roman über begleiten.

    Fiona und ihr verstorbener Bruder Nico waren eng miteinander verbunden.
    Er wurde mit 15 Jahren von den Eltern verstoßen. Sie hat sich mit ihrem Bruder solidarisiert und ihm und ihren gemeinsamen Freunden bis zuletzt die Treue gehalten.

    Yale und Charlie haben Nico am Sterbebett versprochen, sich um Fiona zu kümmern.
    Ein Versprechen, das letztlich in umgekehrter Weise eingelöst wurde.

    Alkohol, Drogen, Dia-Show… Eine feuchtfröhliche Party ist bei Richard im Gang. Genau so hätte es Nico gefallen.

    Yale wird auf dem Fest von Erinnerungen und Wehmut übermannt und zieht sich in ein Schlafzimmer in der ersten Etage zurück, um innerlich zur Ruhe zu kommen.
    Als er nach einiger Zeit wieder herunterkommt sind alle verschwunden. Das Haus ist wie ausgestorben.

    Was ist da passiert?
    Auf die Antwort müssen wir erst einmal warten, denn mit dem nächsten Kapitel gelangen wir ins Jahr 2015.

    Die inzwischen 51-jährige Fiona ist Psychologin und Geschäftsführerin eines Gebrauchtwarenladens „mit Mission“: Mit Umsatz und Erlös setzt sich Fiona für Aids-Erkrankte ein - eine Lebensaufgabe in Erinnerung an all‘ ihre verstorbenen Freunde und Bekannte.

    Im Moment befindet sie sich in einem Flugzeug nach Paris.
    Sie will dort mit Hilfe eines Privatdetektivs ihre Tochter Claire suchen, die sich vor einigen Jahren einer Sekte angeschlossen hat.

    Während ihres Aufenthalts wird sie bei Richard, dem mittlerweile 80-jährigen berühmten Fotografen, den wir bereits im ersten Kapitel kennengelernt haben und der damals die Trauerfeier für Fionas Bruder Nico organisiert hatte, wohnen.

    Nach diesem Kapitel wechseln wir regelmäßig zwischen 1985 ff und 2015 hin und her.
    Das Tolle dabei ist, dass jeder der beiden Erzählstränge interessant, unterhaltsam und packend ist und bewundernswert ist, wie die Autorin zwischen diesen beiden Ebenen eine Brücke schlägt.
    Es wirkt mühelos und unaufgeregt, wie sie die beiden Zeitstränge durch Personen, Geschehnisse und Erinnerungen verbindet.

    Wir lesen von den 1980-er Jahren, in denen das HIV-Virus zu grassieren und wüten begann und auch eine Bedrohung für Chicagos Schwulenszene wurde.
    Wir tauchen in „Chicagos Aidskrise“ ein, lesen von Tests, fehlenden Behandlungsmöglichkeiten, persönlichen Schicksalen, Vorurteilen, Ausgrenzungen und Demonstrationen.
    Mit rasanter Geschwindigkeit erkranken und sterben Infizierte. Die beängstigende Atmosphäre und die verunsicherte Grundstimmung erinnern an die momentane Bedrohung durch das Coronavirus. Ein Wiedererkennungseffekt, der gleichermaßen erschreckend wie faszinierend ist.

    Wir erfahren etwas über Yales Alltag in der Galerie, für die er gerade eine wertvolle Gemäldesammlung ergattern will, über Charlies Arbeit als Herausgeber der Zeitung „Out Loud Chicago“, einer „Schwulenzeitung“, und über die Liebesbeziehung der beiden Männer, die immer wieder von Charlies ungerechtfertigter Eifersucht überschattet wird.

    Die oben erwähnte wertvolle Gemäldesammlung stammt von Fionas und Nicos 90-jähriger Großtante Nora. Wir lernen aber nicht nur die faszinierende alte Dame, die einst Kunst studierte und bei berühmten Künstlern in Paris Modell saß, kennen, sondern auch Frank, ihren geldgierigen Sohn und Debra, ihre verwöhnte und übellaunige Enkelin, die beide mit der Spende nicht so ganz einverstanden sind.

    Ob es Yale schließlich gelingen wird, die Sammlung für die Galerie zu gewinnen und ob Fiona ihre Tochter in Paris finden wird, erzähle ich hier natürlich nicht, aber diese Geschichten in der Geschichte sind spannend, verschaffen einen interessanten Einblick in einen wichtigen Bereich der Kunstszene und zeigen auf, wie schnell Missverständnisse entstehen können, wie leicht Beziehungen Risse bekommen können und wie schwierig, unsinnig und unmöglich es oft ist, Schuld zuzuweisen.

    Rebecca Makkai schreibt empathisch, liebevoll, bewegend und ausdrucksstark.
    Sie zeichnet authentische und lebendige Charaktere und verwendet dabei eine flüssig zu lesende und bildhafte Sprache mit wunderschönen Formulierungen und Metaphern.

    Hier einige Kostproben:
    „Normalerweise war er ein Gummiball aus kinetische Energie…“ (Kindle, Pos. 219)

    Toll formuliert, so wahr und auch zum Schmunzeln: „Als ich in ihrem Alter war, dachte ich, ab 50 würde es nur noch bergab gehen. Tja. Die Vorteile, die zur Altersdiskriminierung führen, sind die einzigen, die sich von selbst korrigieren, nicht wahr?“ (Kindle, Pos. 2285)

    Welch schöne Metapher, um eine Infektionskette zu beschreiben: „Sie waren menschliche Dominosteine. Wie konnte er nicht wissen, dass er der nächste Dominostein in der Reihe war?“ (Kindle, Pos. 2594)

    Mit dieser Formulierung kann man sich die Szene doch ganz genau vorstellen: „Er ließ sich auf einen Barhocker sinken, SCHÄLTE die Sohlen vom klebrigen Boden und bestellte einen Manhattan.“ (Kindle Pos. 4457)

    Vielleicht überlegt sich der ein oder andere interessierte Leser skeptisch, dass er in einer real virusdominierten Welt nichts über ein anderes Virus lesen möchte, dass die Realität genug Schwere und Ernst bereithält und dass es gerade deshalb besonders bedeutsam ist, für ausgleichende Ablenkung und Unterhaltung zu sorgen.

    Ich habe vor der Lektüre keine dieser Überlegungen angestellt, weil ich blind auf Elke Heidenreichs Empfehlung vertraute, die keine Details über den Inhalt verriet.

    Jetzt, am Ende der Lektüre kann ich voller Überzeugung sagen, dass man den Roman auch bedenkenlos lesen kann, wenn man sich im Vorfeld diese Gedanken macht.

    Es geht zwar um eine ernste und berührende Thematik, aber der Roman ist vielschichtig, abwechslungsreich und durchweg fesselnd, kurzweilig, interessant und unterhaltsam.
    Makkai gelingt es, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Schwere und Leichtigkeit herzustellen.

    An dieser Stelle macht es Sinn, auf den Titel des Romans zu verweisen. Er heißt nicht umsonst „Die Optimisten“ und verweist zurecht darauf, dass es hier trotz schwerer und ernster Grundthematik nicht um Ausweglosigkeit, Pessimismus und Depression geht.
    Im Verlauf und vor allem gegen Ende des Romans wird klar, warum die Autorin gerade diesen Titel gewählt hat, der ein Gegengewicht zur mit dem Thema assoziierten Stimmung darstellt.

    Ich flog durch die Seiten und bezeichne ihn gerne als absolut lesenswerten Pageturner.

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  1. Von Aids und vom Tod

    Kurzmeinung: Verliert leider mit der Zeit durch Geschwätzigkeit und zu viele Handlungselemente.

    In dem Roman „Die Optimisten“ geht es um die Schwulenszene in den 1980ern in Chicago und die Veränderungen, die eintreten als das tödliche Aids-Virus ausbricht wie eine Seuche, gegen die man nichts tun kann.

    „Plötzlich ist Sex nicht mehr nur Sex“, lässt die Autorin ihren Hauptprotagonisten sagen. Sondern besetzt mit Angst und Krankheit, Verdächtigungen und aufgebrachten Unterstellungen gegenüber dem Gesundheitswesen und der Politik. Die sie (gefühlt) alle im Stich lassen. Denn zuerst hat man sich in der Szene endlich frei gefühlt, waren die 1980er die Zeiten des sexuellen Comingouts überhaupt und der Möglichkeit, sich auszuprobieren und von langhergebrachten Fesseln der Konventionen zu lösen. Das Paradies schlechthin! Und nun das: Zurück auf Null und von der Gesellschaft geächtet, ausgestoßen.

    Yale und Charlie sind ein monogames Paar, das schützt sie in diesen Zeiten vor Ansteckung und Tod. Der eine, Charlie, leitet mit Engagement und großem Erfolg eine Schwulenzeitung, der andere ist in der Kunstsparte tätig. Yale ist führender Angestellter einer der Northwesternuniversität angegliederten Galerie und fürs Fundraising zuständig. Dieses Fundraising umfasst sowohl finanzielle Zuwendungen wie auch das Anlandziehen von Vermächtnissen möglichst wertvoller Kunstgegenstände. Gerade ist Yale dabei, einer alten Dame zuzureden, der Galerie ihre millionenschweren Bilder zu vermachen und sie nicht der Familie zu überlassen. Eine schwierige Aufgabe. Zeitgleich: Das Idyll des schwulen Paares, Yale und Charlie, zerbricht als einer der beiden fremdgeht und sich ansteckt. Ist auch der andere angesteckt?

    Positiv ist zunächst herauszustellen, dass die Autorin das Geschehen der Schwulenszene in Chicago, das Aufkommen von Aids, die erschütternden Krankengeschichten sowie diverse politische Ereignisse, einschließlich der Kunstszene Chigacos, sehr authentisch darstellt.

    Leider auch akribisch. Die sorgfältige Recherche der Autorin führt deshalb zu manchen Längen. Subjektiv und drastischer ausgedrückt: Das Buch ist zu lang und ersäuft an seiner Detailfülle.

    Nach der Hälfte der Zeit verliert die geneigte Leserin allmählich das Interesse. Woran liegts im Einzelnen?

    Zwei parallel geführte Handlungstränge wechseln sich unnötigerweise regelmässig ab und lassen das Interesse erlahmen. Erstens hängen sie nur lose zusammen und zweitens gibt es keinen ersichtlichen Grund für den ständigen Wechsel, beide Stränge werden nicht immer dichter zusammengeführt, sondern bleiben für sich stehen bis zum Ende.

    Die Protagonisten, Yale in den 80igern und Fiona um 2015, begeistern nicht. Sie haben zu wenige Facetten. Leblos sind sie nicht und sie schwätzen auch eine Menge. Aber sie sind zu beschäftigt, um zu wirken. Yale mit seiner Kunst und dem Schwulsein und Fiona mit der Suche nach ihrer Tochter und Enkelin. Wer sind Fiona und Yale wirklich? No idea. Das Sosein kommt zu kurz.

    Die Handlung ist viel zu vollgestopft. Nicht nur verfolgen wir den sehr komplizierten Fundraisingsfall Yales in allen Einzelheiten, sondern auch seine Beziehungen zu Charles und zu quasi jedem, der ihm über den Weg läuft. Diverse Krankheitsverläufe und Todesfälle werden in der Rückschau beobachtet.

    In Paris wird es vollends wirr. Wir hasten mit einem Privatdetektiv durch die Gassen, brechen eine Wohnung auf, bereiten eine Ausstellung vor, arbeiten alte Beziehungen auf, haben sexuelle Abenteuer und erleben einen terroristischen Anschlag. Dazu schwätzen die Protagonisten ununterbrochen (vor sich hin). Dialoglastig ist ja per se nicht verkehrt, nur dann, wenn dies zum Nachteil "der Persönlichskeitsbildung" geht, dann schon.

    Fazit: Die historische Darstellung der Chicagoer Schwulenszene, einschließlich deren Verortung in Politik und Gesellschaft ist gut gelungen. Der zweite Teil mit Paris und allem drum und dran jedoch ist für ärgerliche Längen verantwortlich. Es wäre besser gewesen, ihn gar nicht zu bringen. Die Charakterzeichnungen hätten ausgeprägter sein können, ja müssen! Fiona ist eine sehr langweilige Person.

    Insgesamt ist der Roman schon gut lesbar, aber der große Wurf ist es nicht.

    Kategorie: (Fast historischer) Roman. Belletristik.
    Verlag: Eisele, 2020

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  1. Ein Buch, das nicht spurlos am Leser vorbeigeht

    Das Original, “The Great Believers”, rief in der englischsprachigen Literatur eine enorme Resonanz hervor – als habe der Roman endlich, endlich eine Lücke geschlossen, endlich ein kaum überwundenes Trauma in die richtigen Worte gefasst.

    Eine zugleich begeisterte und erschütterte Rezension folgte auf die nächste, der Roman wurde für einige Preise nominiert und gewann auch zahlreiche davon.

    Ich kann kaum in Worte fassen, was dieses Buch in mir hervorrief.

    Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Aids sich das erste Mal durch die Nachrichten brannte wie ein Buschfeuer. Der Schock, aber vielerseits auch die direkt folgende Beschwichtigung: Gott sei Dank, dass mir das nicht passieren kann – das betrifft ja nur die Schwulen. (Erst später wurde klar: Aids kann auch Hetereosexuelle treffen.)

    Und so rückte eine Minderheit auf die furchtbarste Art ins Rampenlicht, während ihr Leid zugleich reißerisch ausgeschlachtet und marginalisiert wurde.

    Rebecca Makkai zollt diesem Leid drei Jahrzehnte später Respekt und echtes Mitgefühl.
    Das liest sich durchaus spannend, das liest sich sogar unterhaltsam, aber es reißt auch tiefe Wunden ins Leserherz, es bewegt, verstört und wühlt auf. Die Charaktere sind glaubhaft und komplex, und man hat immer im Hinterkopf: Wirst du das Buch überleben? Und du? Und du? Bitte, wenigstens du… Es schnürt einem die Kehle zu – und ja, ich habe geweint.

    Das ist meisterhaft geschrieben, in einer Sprache, die die Atmosphäre der Zeit und die Gefühle der Protagonisten mühelos zum Leben erweckt – da trifft jeder Satz ins Mark. ‘Zum Leben erweckt’? Da bin ich gerade vor meinen eigenen Worten erschrocken, die ungewollt zynisch wirken, wo doch nur wenige Charaktere das Buch überleben.

    Warum soll man das lesen? Warum sollte man sich das antun?

    Warum liest man überhaupt Bücher, die auf wahren Begebenheiten beruhen, wenn diese Begebenheiten schrecklich waren? In meinen Augen tut man das (auch), weil man die menschliche Natur verstehen will, die sich nie so prägnant und glasklar zeigt wie in Zeiten der Angst und des Schmerzes. “Die Optimisten” erfüllt genau dieses Bedürfnis nach Verstehen und Verständnis.

    Und der Roman zeigt ja nicht nur das Leid und den Schmerz, sondern auch die Hoffnung, die bedingungslose Liebe und die tief empfundene Freundschaft, ein wahres Kaleidoskop an Gefühlen. Da wird nichts künstlich aufgebauscht, nichts dramatisiert, aber auch nichts geschönt oder verharmlost.

    Die Autorin lässt die Gefühle der Charaktere, stellvertretend für die Gefühle der damals tatsächlich Betroffenen, ganz unaufdringlich einfach nur wirken. Sie gibt den Betroffenen eine Stimme und sie gibt auch den Schuldgefühlen der Überlebenden Raum. Und das wirkt so echt, dass man sich kaum vorstellen kann, dass Yale und seine Freunde nie wirklich gelebt haben.

    Der zweite Handlungsstrang im Jahr 2015 öffnet eine Tür für die Hoffnung.

    Hier wird deutlich: Heilung nach einem traumatischen Erlebnis ist möglich, doch erst müssen die eigenen Gefühle aufgearbeitet werden. Fiona, die die meisten ihrer Freunde überlebt hat, begreift, dass sie die Vergangenheit endlich loslassen muss, um das Verhältnis zu ihrer Tochter zu retten.

    Dieser Teil des Buches ist bitter nötig, denn wenn das Leid dargestellt wird, sollte auch die Hoffnung nicht verschwiegen werden. Der Autorin gelingt hier meines Erachtens die genau richtige Balance, ohne als Mehrgenerationenroman in die Kitsch-Falle zu tappen.

    Fazit

    In Chicago des Jahres 1985 rafft ein neuer Virus junge, bisher gesunde Männer aus der Schwulenszene dahin: Aids, das erst gar nicht ‘Aids’ hieß, sondern ‘Gay People’s Immuno Deficiency Syndrome’, weil man da noch dachte, es könne nur Schwule betreffen. Der junge Kunstexperte Yale muss zusehen, wie seine Freunde reihenweise sterben – immer in der Angst, er könnte der Nächste sein.

    Dreißig Jahre später wird Fiona, die Nichte eines Aids-Opfers, die im Kreise seiner größtenteils ebenfalls verstorbenen Freunde aufwuchs, erneut mit dieser Epoche konfrontiert.

    Rebecca Makkai beschreibt die Zeit, in der es noch keine Medikamente gegen Aids gab und Abertausende von Menschen auf furchtbare Art und Weise starben, ungeschönt, dabei aber nicht sensationsheischend, sondern mit Empathie und großem Respekt. Das geht unter die Haut, ist aber gerade deswegen sehr lesenswert.

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