In der Nacht hör' ich die Sterne: Roman

Spannender Thriller-Auftakt um die »International Security Agency – ISA« und ihre Agentin Paula Tennant, deren Einsatz stets dort gefragt ist, wo es um unerklärliche und besonders brutale Verbrechen geht.
Ein Grab mit einem dunklen Geheimnis. Ein heiliger Wald voller Zeichen und Rätsel. Und ein Killer, dem nichts heilig ist.
Nach einem Erdbeben nördlich von Rom gibt der »Sacro Bosco« ein grauenhaftes Geheimnis preis. In einem Massengrab werden die Überreste enthaupteter Frauen entdeckt, die zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung Föten in sich trugen. Kardinal Calitri, der den heiligen Wald vor kurzem erwarb, ist entsetzt. Erste Untersuchungen ergeben, dass die Skelette Jahrhunderte alt sind, doch dann werden jüngere Frauenleichname entdeckt, und eine davon stammt aus dem letzten Winter.
Nach einer gescheiterten Karriere beim FBI wird Agent Paula Tennant von der ISA rekrutiert. Als einer ihrer obersten Bosse sie auf die Sacro-Bosco-Morde ansetzt, an dem sich die italienischen Behörden die Zähne ausbeißen, wittert sie ihre Chance. Undercover beginnt sie zu ermitteln, und stößt dabei immer wieder auf das Zeichen einer stilisierten Lilie – und auf eine alte Schrift aus den Vatikanarchiven, in der von einem alten Menschheitstraum und einem diabolischen Bund die Rede ist.
Bestechend an diesem Buch ist sein ungewöhnliches Setting:
1) Ein dreißig Jahre alter Mordfall, der nie aufgeklärt wurde: das "Bletterbach-Massaker" in der Nähe des idyllischen Südtiroler Bergdörfchens Siebenhoch.
2) Das Psychogramm einer abgeschiedenen Ortschaft, in der laut verkündet wird, man halte zusammen, während hinter den Kulissen vieles totgeschwiegen wird...
3) Die eindringliche Schilderung einer Natur, die bei aller Schönheit doch eine tödliche Bestie sein kann.
Für mich ist dieses Buch kein Thriller, vielleicht noch nicht einmal wirklich ein Krimi. Am ehesten würde ich es als Gegenwartsliteratur mit Spannungselementen bezeichnen. Die Spannung ist eine psychologische, eher langsame, die sich vor allem aus dem interessanten Beziehungsgeflecht entwickelt – und dem Abstieg der Hauptfigur in posttraumatische Belastungsstörung, Obsession und vielleicht sogar Wahnsinn. Dementsprechend ist auch nicht alles rational oder 100%ig logisch, die Geschichte folgt manchmal der fieberhaften (Un)logik eines Albtraums und hat etwas Unabwendbares
Salinger spürt, dass das Bletterbach-Massaker ihn bei lebendigem Leib auffrisst, versucht mehrfach, auszusteigen aus seinen Ermittlungen... Doch dann geschieht immer wieder etwas, das ihn zurückzieht. Die Sogwirkung übertrug sich auch auf mich als Leserin.
Das Ende ist fulminant und brachte mich an die Grenzen dessen, was ich noch als glaubhaft empfinden konnte. Es passiert etwas, wo ich erst dachte: 'Ok, das war's, das ruiniert jetzt das ganze Buch!' – aber dann war doch alles ganz anders und machte auf verquere Art und Weise Sinn. Auf jeden Fall bot es noch einmal eine wirklich unerwartete Wendung!
Jeremiah Salinger wirkte auf mich zunächst wie ein rundum netter Kerl, ein liebevoller Vater, der mit beiden Beinen fest im Leben steht – aber ein fataler Unfall während der Dreharbeiten zu seiner neuen Doku-Serie über die Männer der Bergrettung verändert alles: traumatisiert sucht er nach einem Ventil für seine nervöse Energie und entscheidet sich dafür, das Bletterbach-Massaker aufzuklären.
Nur so, sagt er sich, nur aus Neugierde.
Das Massaker entpuppt sich als schleichendes Gift, er vernachlässigt zunehmend Frau und Kind, er verändert sich, zeigt schließlich geradezu skrupelloses Verhalten... Er trifft sagenhaft schlechte Entscheidungen.
Auch bei den anderen Charakteren merkt man mehr und mehr, dass seit dem Massaker vor dreißig Jahren hinter der netten Fassade vieles schwelt: Trauer, Wut, Besessenheit, Sucht, selbstzerstörerisches Verhalten... Sie wissen es verständlicherweise nicht zu schätzen, dass ein hergelaufener Ami herumschnüffelt.
Salinger erzählt die Geschichte aus seiner Perspektive. Erst ganz locker: mal flapsig, mal sachlich und nüchtern, mal mit überwältigenden Beschreibungen der Natur. Der Schreibstil verändert sich mit seinem Gemütszustand: manchmal wirr, getrieben und voller albtraumhafter Gedanken: die Natur als Bestie, die ihn verfolgt und bedroht... An den ungewöhnlichen Tonfall muss man sich meines Erachtens erst gewöhnen!
Manchmal übertreibt es der Autor einfach: dann gleitet das Ganze ins Pathos ab und man kann die Filmmusik geradezu hören. Aber trotz dieser kleinen Ausrutscher konnte der Stil mich im Großen und Ganzen überzeugen.
Fazit:
In Siebenbach, einem idyllischen Bergdörfchen in Südtirol, wird seit dreißig Jahren ein bestialischer dreifacher Mord totgeschwiegen. Offiziell weiß keiner etwas, inoffiziell wollen es viele auch gar nicht, während einige davon aufgefressen werden und sich aus ihrer eigenen persönlichen Hölle aus Wut, Entsetzen und Schuldgefühlen nicht mehr befreien können. Jeremiah Salinger kommt als Fremder ins Dorf und rührt in alten Wunden, um sich von seinem eigenen Trauma nach einem fatalen Unfall mit unschuldigen Opfern abzulenken.
Die Spannung baut sich langsam auf, der Reiz des Buches lag für mich vor allem in der bestechenden Schilderung der ungesunden Dynamik in diesem kleinen Dörfchen: man beteuert, wie einträchtig und hilfsbereit man doch zusammenlebt, während man zulässt, dass Menschen vor die Hunde gehen...
Auch die psychologische Entwicklung der Hauptfigur fand ich sehr interessant und das Porträt einer fast schon diabolischen, wunderschönen Natur bestechend.
Für den Dreh einer Serie sind Jeremiah Salinger und seine Familie zurückgekehrt nach Südtirol. Alles läuft bestens bis zu einem Unglück, das Jeremiah nicht mehr loslässt. Schon vor dreißig Jahren ist ein großes Unheil über die Gemeinde hereingebrochen als drei junge Menschen grausam ermordet wurden. Salinger setzt nun alles daran, die noch immer nicht völlig geklärten Umstände der Morde aufzudecken. Um herauszufinden, was vor dreißig Jahren geschah, spielt Jeremiah mit seinem familiären Glück und seiner beruflichen Reputation. Viele Ortsansässige scheinen mehr über die Zusammenhänge zu wissen als vorhersehbar war. Sollte der Täter etwas mit den Opfern zu tun gehabt haben?
Steigert sich Jeremiah Salinger da in etwas hinein? Warum lässt er die Toten nicht einfach ruhen? Natürlich ist seine Seelenpein nach dem Unfall, den er selbst erlitten hat, groß. Will er Buße für seine Toten tun? Will er zu sich selbst zurückfinden? Bedeuten seine Frau und seine Tochter ihm nicht genug, um abzulassen? Zu Beginn seiner Nachforschungen wird er von den Dorfbewohnern nicht gerade wohlwollend empfangen, wenn er mit seinen Fragen auftaucht. Die Vergangenheit ist doch vergangen. Die Toten können nicht wieder erweckt werden. Doch die wiederwillig gegebenen Antworten weisen Wiedersprüche auf. Allem Anschein weist die offizielle Version der Geschichte doch einige Lücken auf. Und Salinger sieht es als seine Aufgabe an, diese Lücken zu füllen.
So wie manche Bücher ein Herzschlagfinale haben, hat „Der Tod so kalt“ einen Herzschlagbeginn. Man muss erst einmal tief durchatmen, bevor der Autor einen in ein zunächst ruhigeres Fahrwasser entlässt. Doch wieder wird man gepackt, die Wahrheit über die dreißig Jahre alten Morde, scheint wie mit vielen Schleiern verhüllt. Jede eigentlich logische Erklärung erfährt weitere Erklärungen, jeder logische Tathergang wird als nicht so hundertprozentig richtig entlarvt und jeder scheint Details zu wissen, die er eigentlich nicht wissen kann. Mehrfach überrascht man sich bei dem Gedanken, wie vertrackt, das kann doch eigentlich nicht sein. Doch mit seinen Gedankengängen und Schilderungen vermag der Autor zu glänzen. Man nimmt Jeremiah seine Besessenheit ab, seine innere Unruhe, seine Unfähigkeit von der Sache zu lassen, seine Qual um das Wissen, was er aufs Spiel setzt.
Ein ausgesprochen spannender Debütroman, der hervorragend gelesen wird von Matthias Koeberlin, der die Fähigkeit besitzt, die Lesung interessant und lebendig zu gestalten und doch nicht zu sehr ins Schauspielern zu geraten. Ein vielschichtiger Roman, in dem es immer wieder Neuigkeiten zu entdecken gibt, vorgetragen von einem Leser, dessen Stimme und Interpretation perfekt zu Geschehen passen.
4,5 Sterne
Einen solchen Papst hat die Welt noch nicht gesehen: Petrus II. liebt nicht nur Vino, Caffè und Fußball, er macht auch auf der Vespa bella figura – sehr zum Leidwesen seiner frommen Haushälterin Schwester Immaculata. Aber leider quälen Petrus neuerdings ernste Sorgen. Sein engster Vertrauter, Kardinal Rotondo, wird Opfer eines mysteriösen Anschlags, ein Engel stürzt, eine Madonna weint, und eine blutige Schrift verkündet das Ende aller Tage. Hinter dem göttlichen Strafgericht wittert Petrus ein höchst irdisches Verbrechen. Mit römischem Witz und Gottes Beistand beginnt er zu ermitteln, doch ihm bleibt nur wenig Zeit. Denn Petrus glaubt zu wissen, wer das nächste Opfer sein soll: Seine Heiligkeit höchstpersönlich!
Einen augenzwinkernden Krimispaß haben Johanna Alba und Jan Chorin hier geschaffen und dabei der Figur des Papstes einen überaus sympathischen Anstrich verpasst. Vor Papst Franziskus (im Amt seit 2013) hätte ich solch eine weltoffene und lebensfrohe Art des irdischen Oberhaupts der katholischen Kirche streng ins Reich der Märchen verwiesen, doch dieses 2010 erschienene Buch hatte demnach wohl eine offenbar prophetische Ausrichtung. Dies aber nur mal nebenbei.
Der literarische Papst Petrus ist ein durch und durch freundlicher Zeitgenosse, in allem keineswegs päpstlicher als der Papst und nur gelegentlich verschnupft, wenn seine verkniffene und sich an Frömmigkeit selbst überbietende Haushälterin Immaculata ihm wieder einmal alle leiblichen Genüsse zu verwehren versucht. Paulus II. sieht Gott in allen schönen Dingen des Lebens und versucht dieses entsprechend zu genießen. Doch der Anschlag auf seinen alten Freund Kardinal Rotondo setzt dem süßen Müßiggang ein Ende. Unterstützt von seinem Privatsekretär Francesco und seiner hübschen adligen Pressesprecherin Giulia nimmt der Papst hinter den Kulissen selbst die Ermittlungen auf und sticht in ein Wespennest aus Korruption, Intrigen, Machtbestrebungen und persönlichen Schicksalen.
Reichlich unrealistisch aber durchaus amüsant zu lesen stolpert der Papst fortan durch Rom, stets erfolgreich inkognito und selbtredend ohne jeglichen Leibwächter. Wenn man sich aber auf diese Idee einlässt, lernt man die Sehenswürdigkeiten und auch Geheimtipps Roms sozusagen nebenher einmal aus ganz anderer Sicht kennen.
Die Charaktere sind recht klischeehaft gestrickt, die Idee hinter der Geschichte jedoch ist ganz originell. Dabei verwirrt allerdings die Anzahl der mögichen Verdächtigen - und am Ende hat die Verwirrung bei mir letztlich auch nicht abgenommen. Zu viele Lösungsteile werden nach einigen überraschenden Wendungen schließlich präsentiert - da schwurbelte bei aller Vorhersehbarkeit am Schluss doch ein wenig der Kopf.
Neben den Ermittlungen präsentiert das Autorenduo auch durchaus kritische Töne hinsichtlich der Situation der katholischen Kirche und der geheimnisvollen Vorgänge, die hinter verschlossenen Kirchenmauern ablaufen mögen. Doch auch andere Religionen und Glaubensrichtungen werden hier eingehender beleuchtet, ohne dass hier dogmatisch für oder gegen eine Richtung Partei ergriffen wird. Für mich erträgliche Denkanstöße, die den Lesefluss nicht störten.
Dieser Papst-Krimi ist der erste Band der Reihe um Paulus II., und ich freue mich schon auf ein Wiederlesen im alterwürdigen Rom. Abenteuer rund um den Vatikan mit Spannung und Humor - gerne wieder!
© Parden
Eine starke Frau, diese Oriana Fallaci, die zusammen mit ihrer Herkunftsfamilie alle Klischees sprengt. Äußerlich wie auch innerlich …
Was sie alles als Frau in einer männerdominierten Welt geleistet hat, ist wirklich enorm.
Oriana, deren Namen aus Marcel Prousts Figuren stammt. Wer die sieben Proust-Bände gelesen hat, ist eine Madame Oriane Guermante mehr als vertraut ... Wie kamen die beiden Eheleute Edoardo und Tosca Fallaci zu Proust? Zuerst etwas zur Herkunft. Oriana kam im Juni 1929 zu Welt. Geboren wurde sie in Florenz und sie war das erste Kind von drei weiteren Kindern. Die Eltern waren sehr arme Leute. Aber sie besaßen recht viele Bücher. Die Wohnung besaß wenige materielle Güter, aber sie war reich an Büchern. Obwohl die Fallacis sehr wenig Geld zur Verfügung hatten, kauften sie sich die Bücher, wenn auch nur auf Raten. Sie waren sehr belesen. Ganz untypisch für eine arme Familie. Die Bücher hatten für sie einen hohen ideellen Wert. Dies allein hatte mir schon sehr imponiert, dass Bücher einer armen Familie so bedeutend sein können. Die Fallacis betrachteten die Bücher als das Tor zur Welt, und so wuchs Oriana auch mit dieser Bücherliebe auf. Das Tor zur Welt passt exakt zu Orianas Leben, die im erwachsenen Alter überall auf der Welt journalistisch tätig wurde. Ihre journalistische Schule absolvierte sie in ihrem geliebten Land Amerika.
Orianas Kindheit und Jugend ist nicht ganz einfach verlaufen. Sie musste als die Erstgeborene den Jungen in der Familie ersetzen. Der politisch aktive Vater Edoardo nahm seine Tochter überall mit, denn
…
"… auch als Mädchen kann man dienen. (…) Um zu vermeiden, dass seine Frau sich allzu sehr ängstigt, teilt Edoardo seiner Frau Tosca nicht mit, wann er seine Tochter auf Einsatz schickt." (2016, 19).
Oriana wuchs in einer sehr kalten Welt auf. Sie war gerade mal zehn Jahre alt, als der Faschismus in Italien ausgebrochen ist. Der Vater mischte sich als Antifaschist unter die Partisanen und kämpfte im Untergrund für Freiheit und Gerechtigkeit. Oriana bekam vom Vater den Auftrag, antifaschistische Flugblätter zu verteilen, d. h. sie war schon recht früh politisch aktiv … Früh trat sie in die Fußstapfen ihres Vaters.
Oriana hat viel Elend gesehen und hat dadurch auch den Glauben an Gott recht früh verloren. Sie bezeichnete sich selbst als eine Atheistin, als ihr eine Ungerechtigkeit mit den Nonnen widerfahren ist:
Die Nonnen im Kloster sagen zu ihr, sie solle alles als Geschenk für den Heiland am Altar zurücklassen.
>>Kurz darauf bin ich heimlich noch einmal in die Kirche zurück, um nachzusehen, ob das Jesuskind alles aufgegessen hatte, und das Essen war weg. Doch nicht einmal die Bananenschale lag mehr da, und auch das Silberpapier der Schokolade war verschwunden. Mir kam der Verdacht. Ich verließ die Kirche, ging einen Flur entlang, und da saß auf einem Mäuerchen die Nonne, die meine Banane aß.<< (39f)
Oriana geht nach der Schule auf die Universität und versucht es mit einem Medizinstudium, das sie aber wegen der Armut selbst finanzieren muss. Das wurde ihr mit der Zeit zu anstrengend, und sie brach das Studium wieder ab und engagierte sich hauptsächlich journalistisch …
Oriana hatte eigentlich den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, da sie aber nicht wusste, wie sie sich diesen Wunsch erfüllen konnte, blieb sie weiterhin journalistisch tätig. Ihre Art zu schreiben ist nach deutscher Art sehr ungewöhnlich. Sie pflegte einen polemischen Ton, aber immer mit Herz und Verstand bei der Sache. Vorurteile konnte sie schnell ablegen, sobald sie sich als falsch erwiesen haben. Oriana wurde als Kriegsberichterstatterin viel in Krisengebieten eingesetzt, wie z. B. im Iran, Indien, Türkei, Südamerika etc. Mit der Zeit genoss sie international große Beliebtheit … Sie hatte Erfolg, sie verschaffte sich auch bei den Patriarchen hohen Respekt. Für mich erwies sich Oriana Fallaci nicht wirklich als Italienerin, für mich war sie ein Weltmensch …
Und dennoch, durch Orianas genossene Erziehung zahlte sie auch einen hohen Preis. Sie lebte nicht wirklich ihre Rolle als Frau, und war auch nicht beziehungsfähig, und erlebte mehrere Zusammenbrüche was die Partnerwahl betraf. Dadurch blieb auch ihr Kinderwunsch unerfüllt. Selbst durch den Beruf, umgeben von vielen Menschen, war sie bis zu ihrem Tod eine sehr einsame Frau.
Weiteres ist dem Buch zu entnehmen …
Mein Fazit zu dem Buch?
Meine Lesepartnerin Tina und ich hatten dieselben Empfindungen. Wir sind beide der Ansicht, dass Oriana Fallaci eine sehr bedeutende Persönlichkeit war, die viel Achtung verdient hat, und trotzdem war sie uns auch zu anstrengend, dass wir uns eine Freundschaft mit ihr schwer vorstellen konnten.
Und wir haben uns die Frage gestellt, was aus ihr geworden wäre, wenn vor ihr ein Junge geboren wäre? Sicher, sie bekäme eine klassische Mädchenerziehung. Aber Oriana hatte noch drei Schwestern, die alle eine gute Schulausbildung erhielten, und sich wahrscheinlich die ältere Schwester zum Vorbild nahmen, da auch sie politisch aktiv und journalistisch tätig wurden. Den Eltern war es also schon wichtig, auch den anderen Mädchen trotz der Armut eine hohe schulische Ausbildung zukommen zu lassen.
Auf meinem Blog hat das Buch 12 von 12 Punkten bekommen.
Du wirst nicht viel Zeit haben, um die Dinge zu begreifen und sie zu erledigen. Die Zeit, die man uns gibt, in dem, was man Leben nennt, ist viel zu kurz. Und so ist es nötig, dass alles in großer Eile geschieht.
Heute möchte ich Dich auf eine interessante Frau aufmerksam machen. Eine Frau, die schon sehr früh erwachsen werden musste, da sie schon als Kind den Krieg miterlebte und im Untergrund arbeitete. Eine Frau, die sich mit ihrer Berufswahl eine Männerdomäne eroberte.
Am 4. September 2006 kehrt Oriana Fallaci nach Florenz zurück. Ihr Neffe begleitet sie auf ihrem Flug. Ihr Krebs ist im letzten Stadium, weshalb sie ein Privatflugzeug nehmen musste. Keine Fluggesellschaft wollte sie als Passagier haben.
Die letzten 50 Jahre lebte sie in New York. Doch zum Sterben möchte sie dahin, wo alles begann. Sie igelt sich auf ihrem Sitz ein und erinnert sich:
Als Oriana Fallaci 1929 in Florenz geboren wurde, war ihrem Leben keine erfolgreiche Karriere vorherbestimmt. Ihre Mutter musste für die Familie des Mannes das Aschenputtel spielen und sie bat ihre Tochter oft: Lerne, studiere, schau dir die Welt an. Und als Oriana 1977 den Ehrendoktortitel am Columbia College in Chicago annimmt, sagt sie in ihrer Dankesrede:
Ich widme diesen Ehrentitel meiner Mutter Tosca Fallaci, die nicht die Universität besuchen durfte, weil sie in einer Zeit, in der arme Frauen nicht studieren durften, arm war und eine Frau.
Oriana bekommt noch zwei Schwestern und viel später, als sie selbst schon erwachsen waren, noch eine Adoptivschwester. Es gab keinen Stammhalter, und so zog Orianas Vater sie wie einen Jungen auf.
Die entscheidende Rolle für ihre spätere Berufswahl spielte ihr Onkel väterlicherseits: Bruno Fallaci. Er gehört der Welt der Schreibenden an, ist mit der Schriftstellerin Gianna Manzini verheiratet und selbst ein erfolgreicher Journalist. Einer seiner Ratschläge, die Oriana immer wieder zitiert: „Vor allem eins: Den Leser NIEMALS langweilen!“
Orianas Kindheitserinnerungen sind eher trauriger Natur. Die Mutter hungert öfter, damit die Kinder etwas in den Magen bekommen. Aber sie sorgt auch dafür, dass man der Familie die Armut äußerlich nicht ansieht. Aus Alt mach Neu war ihre Devise. Und der Vater schreinerte Möbel, nur einen Geschäftssinn hat er nicht – er war eher ein Künstler.
Schon als Kind interessierte sich Oriana für ihre Vorfahren. In einer Truhe gab es jede Menge Andenken an frühere Familienmitglieder. 1944 wird die Truhe samt Haus bei einem Bomenangriff total zerstört. Nur weil Oriana einige Briefe der Vorfahren abschrieb, blieben diese erhalten. Sie hat damals schon begriffen, „dass jedes Ding eine Sprache hat und zu einer Geschichte werden kann – man muss nur gut zuhören können“.
Die Fallacis haben schon immer gegen die Obrigkeit aufbegehrt. Aber um die Politik kümmerte sich der Vater. Die Mutter teilte zwar die Meinung, hatte aber gar keine Zeit, den Kindern zu erklären, warum Mussolini schlecht war. Es war halt so.
Oriana wird ein Kind des Krieges. Diese Zeit hat sich ihr tief ins Gedächtnis eingegraben. „Ich war ein Mädchen, das sich mit Hunger, mit Kälte und Angst auskannte.“ Und sie kämpfte als Kind schon mit ihrem Vater im Untergrund.
Orianas Vater wird denunziert und ins Gefängnis geworfen. Man foltert ihn, sodass sie ihn, als sie ihn endlich besuchen dürfen, gar nicht erkannten.
Nach dem Krieg, Florenz liegt in Trümmern, macht der Vater in der Aktionspartei Gewerkschaftsarbeit. Oriana wurde als einfacher Soldat aus der italienischen Armee verabschiedet. Da war sie 16 Jahre jung.
Das dritte Kapitel hat die Überschrift „Ein Haus voller Bücher“ und ich war ganz traurig, dass es nur acht Seiten hat. Die Autorin lässt Oriana hier eine kleine Geschichte erzählen, die ich unbedingt aufschreiben muss, weil ich sie so schön finde:
„Als ich noch klein war, kaufte meine Mutter Wolle im Strang, die sie dann zu einem Knäuel aufwickelte. Den Anfang des Knäuels knotete sie immer um ein zerknülltes Stückchen Papier, ob es nun ein weißes Blatt, ein Stück Zeitung oder eine Quittung aus dem Lebensmittelladen war. Mich brachte die Neugier jedes Mal schier um, wenn ich zusah, wie das Knäuel beim Stricken immer kleiner wurde, weil ich es nicht erwarten konnte zu erfahren, was sie wohl diesmal reingesteckt hatte. War das Knäuel zu Ende, hielt ich das Stück Papier ganz fest und drehte es in meinen ungeduldigen, kleinen Fingern hin und her. Wie gesagt, kam es durchaus öfters vor, dass es nur ein unbeschriebenes Stück Papier war, und in diesem Fall war die Enttäuschung groß. Stand jedoch etwas darauf, gab ich es sogleich der Mama, damit sie es mir vorlas, und lauschte ihr verzückt. Selbst die Rechnung aus dem Kaufladen erzählte mir eine Geschichte.“
Was für ihre gesellschaftliche Herkunft eher ungewöhnlich ist, ist, dass Orianas Eltern leidenschaftliche Leser sind. Sie kaufen ihre Bücher auf Raten.
Diese acht Seiten haben es in sich. Ich möchte sie euch am liebsten abschreiben, aber das geht leider nicht.
Oriana verliebt sich nach den ersten Seiten von „Ruf der Wildnis“ von Jack London in den Hund Buck und London selbst war ihr erstes Vorbild. Er ist für sie „der Inbegriff des schriftstellernden Journalisten, in dem sich Neugier und Abenteuerlust mischen“.
Da ihr jederman sagte, der Beruf des Schriftstellers wäre nur etwas für reiche oder alte Leute, arbeitete sie darauf hin, Journalistin zu werden.
Sie weiß, dass sie in diesem von Männern dominierten Beruf besser sein musste als alle anderen und arbeitete akribisch.
Arrigo Benedetti, Herausgeber des „Europeo“, sagte zu ihr:
Du musst aufpassen. Du bist gut und wirst dir in unserer Branche keine Freunde machen, weil das alles Primadonnen sind, die einer Frau wenig zugestehen. Genauer gesagt, gar nichts. Tatsache ist, dass du dir einfach alles nehmen musst, ohne darauf zu warten, dass sie es dir geben, und damit wirst du dir nicht viel Sympathie verschaffen.
Und da Florenz zu klein für sie wurde, ging sie für den „Europeo“ nach Rom, wo aber erst einmal eine Zeit des Hungers begann.
Hiermit schließe ich und hoffe, ich habe Dich neugierig gemacht auf das Leben von Oriana Fallaci.
Nur noch so viel: Oriana Fallaci arbeitete auch für renommierte internationale Zeitungen. Sie berichtete 1956 über den Ungarn-Aufstand und wurde beim Massaker von Tlatelolco durch Schüsse verletzt. Sie interviewte berühmte Menschen, darunter auch Ayatollah Chomeini und schrieb Bücher, die in 20 Sprachen übersetzt und in 31 Ländern veröffentlicht wurden.
Nach ihrer Reise nach Ungarn schrieb Oriana das, was mir heute dauernd durch den Kopf geht:
Wie können wir als Männer und Frauen mit Bewusstsein uns denn noch für die Liebschaften von Filmstars interessieren, für die Skandale der High Society oder für die Filmpremieren, die man im Smoking und tiefem Dekolleté besucht?
Eine absolut interessante Biografie. Mich hat sie so neugierig gemacht, dass ich nun noch etwas Geschriebenes von Oriana Fallaci lesen möchte. „Wir, Engel und Bestien – Ein Bericht aus dem Vietnamkrieg“ habe ich mir schon besorgt.
Beeindruckend
In dieser Sammlung geben die Herausgeberinnen Frauen aus Südtirol eine Stimme. Sie erzählen aus ihrer Kindheit in einer kargen Umgebung. Geboren zwischen 1910 und 1971 wird in diesen Geschichten auch die Entwicklung einer Region sichtbar. Anfang des 20. Jahrhunderts ist Südtirol noch von großer Armut geprägt, die kinderreichen Familien mussten schon früh ihre Mädchen und Buben in Dienst schicken und von einer unbeschwerten Kindheit konnte keine Rede sein.
Beeindruckt hat mich bei diesen Erinnerungen die innere Zufriedenheit mit der die meisten Mädchen zurückblicken. Eine entbehrungsreiche Zeit, die aber durch den Zusammenhalt der Familien erträglicher wurde.
Für uns heutige Leser ist es fast unvorstellbar welchen Einfluss die nicht immer wohlmeinenden Pfarrer auf die bäuerlich geprägten Dörfer und ihrer Bewohner hatten. Ihr Wort war Gesetz und von einer christlich-mitfühlenden Denkweise waren die Kirche und ihre Vertreter noch weit entfernt.
Je jünger die erzählenden Frauen werden, umso deutlicher wird der Wandel der Region Südtirol, umso leichter und unbeschwerter wird der Blick zurück.
Oral History – wenn Zeitzeugen zu Wort kommen dürfen – ergibt sich meist ein ganz besonders unmittelbarer und unverstellter Blick auf eine Ära. Dieses echte und wertungsfreie Erzählen hat mich beeindruckt und mir eine ganz neue Sichtweise auf den inzwischen touristisch geprägten Landstrich ermöglicht.
Ein kleines Glossar der dialektgeprägten und fast vergessenen Ausdrücke rundet das Buch noch ab.
Diesem Buch wünsche ich auch außerhalb der Region viele Leserinnen, sie werden sicher ebenso beeindruckt sein, wie ich.
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