Die Nobelpreis-Vorlesung

In ihrer Jugend waren sie beste Freunde: Henry, Lee, Ronny und Kip. Natürlich war ihre Verbindung nicht mehr so eng als sie älter wurden. Eines Tages jedoch kommt Kip nach hause. Er hat die Mühle gekauft und renoviert. Und er will heiraten. Er gibt einen Junggesellenabschied, mit dem er sich den Unmut seiner Freunde zuzieht. Ronny, der nach einem Unfall beim Rodeo nicht mehr so ist wie zuvor, soll nicht dabei sein. Das können und wollen die Freund nicht gutheißen und dulden. Doch die einst tiefe Freundschaft bekommt Risse. Und so werden Kip und Felicity nicht zu Lees Hochzeit nach New York eingeladen.
Freundschaft ist manchmal das Wichtigste im Leben, auch wenn nicht immer alles deutlich ausgesprochen wird. Mitunter bedarf es auch keiner großen Worte, man versteht sich auch so. Aber auch Freunde können Geheimnisse voreinander haben. Lee, der inzwischen ein berühmter Musiker ist, scheint am meisten an der Heimat Wisconsins zu hängen. Immer wieder zieht es ihn zurück, nur hier in der Ruhe und Weite kann er seine Batterien aufladen. Henry dagegen ist kaum je vom Land weggekommen. Träumt er nicht manchmal von einem Abenteuer. Ronny schien seinen Weg gemacht zu haben, vor seinem Unfall. Und Kip tut viel für den äußeren Schein.
Bücher über Männerfreundschaften haben etwas besonderes, deshalb bieten sie für Leser, denen genau dieses liegt, ein besonderes Leseerlebnis. Andere wiederum, die eher anderen Thematiken zugeneigt sind, aber gerne mal einen Ausflug in ein anderes Genre unternehmen, finden vielleicht nicht sofort einen Zugang zu dem Buch. Zunächst sacht in Schilderungen dahin plätschernd entwickelt sich nur nach und nach eine Dramatik, die dann jedoch mehr mitreißt als man zu diesem Zeitpunkt erwartet. Dennoch wirkt der Roman manchmal wie ein Freundschaftsbrainstorming, in dem nicht immer alles so friedlich und freundschaftlich ist wie es scheint. Eine durchaus interessante Lektüre, die einen tiefen Einblick in die lange Freundschaft der vier Männer gewährt.
Komplizierte Ichwerdung
Hanns-Josef Ortheil ist ein deutscher Gegenwartsautor mit einer langen Liste von Büchern, die ich mit dem Buch „Die Erfindung des Lebens“ für mich mit einiger Erwartung gestartet habe. Die Bezeichnung „Roman“ hüllt den offensichtlich starken autobiografischen Kern dieses Buches in Nebel, denn informiert man sich über die Lebensgeschichte des Autors, so tauchen tatsächlich alle Stationen und eine Vielzahl der handelnden Personen des „Romans“ auch in Ortheils Leben selbst auf. Zum Hintergrund und zur Einschätzung des Buches bleibt das nicht ohne Bedeutung.
Der Roman startet in einer Atmosphäre der Stille und Sprachlosigkeit und hat hier für mich seine größten Stärken, denn er kann das individuelle Schicksal des (autobiografischen) Helden mit Zeitgeist und gesellschaftlichem Leben atmosphärisch dicht und stimmig miteinander verschränken und zusammenbringen. Der mutistische (die Sprache verweigernde) kindliche Held lebt in der Nachkriegsstille der fünfziger Jahre
„… es war die unheimliche, wie von großer Erschöpfung herrührende Nachkriegsstille der fünfziger Jahre, in denen man jeden Laut, jede Stimme und jeden Klang noch sehr genau wahrnahm, weil diese Stille noch nicht durchsetzt war von fremden, künstlichen Klängen. Es war eine Welt ohne Fernsehen, ja sogar weitgehend noch ohne Radio oder Schallplatte, eine Welt, in der man sich bemühen musste , ein Geräusch zu erzeugen oder die Entstehung von Geräuschen zu veranlassen, eine Welt, in der es also nicht immer schon und dazu noch ununterbrochen Geräusche und Klänge gab.“
Im weiteren Verlauf seines Lebens und des Buches geht es dann um die Befreiung aus dieser sprachlosen Welt, in der der Held für sich ein Leben und eine Zukunft zu finden, zu entwerfen und zu realisieren sucht. Dabei geht es um ein vielfältiges Finden: das Finden der Sprache, eines Ortes zum Leben, einer Beschäftigung, das Finden von Menschen.
Der Leser kann den Helden durch verschiedene Karrieren (Pianist, Organist, Schriftsteller) und zu verschiedenen Orten (Köln, Hunsrück, Rom) begleiten und die Überwindung der Sprachlosigkeit lesend miterleben.
„Der ausdauerndste und längste Kampf, den ich gegen diese Nachwirkungen führe, besteht in meinem Schreiben. All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin.“
Ein Entwicklungsroman also, der – hier setzen meine kritischen Bemerkungen an – immer mehr den Bezug zur umgebenden Gesellschaft verliert. Aus einer intelligenten Verschränkung von individuellem Erleben und der Umwelt und Gesellschaft wird zum Ende des Romans immer mehr eine Nabelschau des Individuums. Das tut dem Lesegenuss keinen Abbruch, denn Schreiben kann Ortheil ohne Frage. Er schafft eine „unendliche Melodie“ aus Sprache, um ein Zitat aus dem Klappentext zu übernehmen. Aber mein Interesse als Leser an der Entwicklung der Ichwerdung wurde zum Ende hin doch immer geringer. Und das kann ich mir nur dadurch erklären, dass der Eindruck einer etwas eitlen Nabelschau sich immer mehr in den Vordergrund schob.
Mein Fazit ist deshalb geteilt. Als Schriftsteller hat mich Hanns-Josef Ortheil sprachlich auf jeden Fall überzeugt und ich werde gerne noch ein weiteres Buch / weitere Bücher von ihm ausprobieren. Inhaltlich aber sehe ich mich in einer recht großen kritischen Distanz zu dem Buch, seinem Helden und seiner Entwicklung.
Ich gebe 3 Sterne.
Tango Sur
Viel zu schnell stirbt Christinas Mutter an Krebs. Christina ist untröstlich, ihr Vater ist früh verstorben, ihre Mutter wuchs in einem Waisenhaus auf. Für Christina, deren Ehe irgendwie auf der Kippe steht, beginnt eine Zeit des Umbruchs. Unter den wenigen Erinnerungsstücken an ihre Mutter findet sie eine Postkarte, die einen Hinweis auf ihre Großeltern geben könnte. Christina macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Schon im ehemaligen Waisenhaus trifft sie auf eine alte Schwester, die sich sogar noch an Christinas Mutter erinnern kann. Schon gibt es ein Rätsel zu lösen, denn anscheinend stimmt nicht viel von dem, was die Mutter immer erzählt hat.
Die Suche nach den Wurzeln, wer die eigenen kennt, wird es vielleicht nie ganz verstehen können. Für Christina hören ihre Wurzeln mit der Mutter auf, immer hat sie das Gefühl vermisst, einen Vater zu haben. Auch die Seite der Großeltern mütterlicherseits fehlt einfach. Und nun nachdem ihre Mutter verstorben ist, gibt es nur noch Christina und ihren Mann. Was also, wenn diese Postkarte einen Hinweis auf die verlorene Hälfte der Familie enthielte. Erstaunlicherweise gelingt es Christina auch nach der langen Zeit noch, verschiedene Puzzleteile zusammenzusetzen. Über ihr heimatliches Berlin führt die Spur nach Argentinien.
Was mag der Weg in die Vergangenheit bringen? Kann der winzige Hinweis einer Postkarte überhaupt ausreichen, das Geheimnis zu lüften? Man mag es für möglich halten oder auch nicht. Jedenfalls ist es dem Autor gelungen, eine spannende Familienchronik zu entwickeln. Zeiten des Glücks wechseln sich mit Schwermut und Leid. Beginnend in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg stehen Teiles des Schicksals auch unter dem Einfluss des unsäglichen Nazi-Regimes. Gierige Krallen hat es nach der weiten Welt ausgestreckt und willfährige Kleingeister in seinen Bann gezogen. Die wenigen Aufrechten, die die Perfidität der Pläne durchschauen, können sich lange nicht durchsetzen. Vor diesem Hintergrund bekommt die schwere Süße einer großen Liebe eine besondere Tragik. Es ist zwar nicht die Bestimmung eines jeden, ein Happyend zu erfahren, doch schließt sich mit der Lösung des Rätsels um die Postkarte ein Kreis auf sehr hoffnungsfroh stimmende Weise.
Mit diesem Roman wird die Suche nach den Wurzeln zu einem spannenden Abenteuer voller Dramatik und Hoffnung.
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