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Rezensionen zu "Die Übung (Quartbuch)"
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Vielschichtiger, psychologisch dichter Beziehungsroman
Giorgia und Filippo, beide Anfang 30, leben in einem preiswerten Mehrfamilienhaus in Mailand. Filippo hat die Bar seines Vaters übernommen, der es an Gästen mangelt, Giorgia arbeitet seit Kurzem als Kassiererin in einem Supermarkt. Sie kommen mehr schlecht als recht über die Runden. Beide scheinen irgendwie gestrandet, auf den kleinsten Nenner zurückgeworfen zu sein: „Alle Möglichkeiten sind schön, bevor sie Wirklichkeit werden, sie sind das Bild, das zu malen du dir vorstellst, das Lied, zu dem zu tanzen du dir vorstellst. Erst wenn man zwangsläufig mittendrin steckt, versteht man die Dinge wirklich.“ (S. 19)
Giorgia hat ein drängendes psychisches Problem: Sie kann sich nicht von anderen Personen abgrenzen, hat Halluzinationen. Starre Verhaltensmuster helfen ihr, ein halbwegs normales Leben zu führen. Ihre Routine wird unterbrochen, als sie Mauro wiedertrifft, ihren ehemaligen Schauspiellehrer. Heftige Gefühle branden auf. Offenbar spielte sie unter seiner Regie Theater, wurde aufgrund ihres herausragenden Talents bewundert, tauchte dann jedoch plötzlich ab und verschwand. Von diesem Teil ihres Lebens hat sie Filippo nie erzählt, irgendetwas muss dort vorgefallen sein… Als Leser nimmt man verschiedene Hinweise auf, dass der Schlüssel zu Giorgias schwieriger Persönlichkeit in der Vergangenheit liegen muss: „Manche Vergangenheiten sitzen so tief in deinem Atem, deinem Magen, dass es kein Entrinnen gibt“. (S. 30)
Mauro bietet Giorgia eine neue Rolle an, die sie zögernd annimmt. Die Proben scheinen ihr zunächst gut zu tun, am Premierenabend kommt es aber zu einem tragischen Zwischenfall, der Georgia für lange Zeit in die psychiatrische Klinik befördert. Mauro steht in diesen schweren Monaten an Filippos Seite. Gemeinsam besuchen sie die Patientin regelmäßig und lesen ihr wiederholt dasselbe Theaterstück vor. Wochenlang reagiert sie nicht. Nach dem Aufwachen aus der Apathie scheint sich Giorgia mit der gehörten Rolle aus dem Stück identifiziert zu haben. Sie spricht und bewegt sich gänzlich nach den Anweisungen des vorgelesenen Skripts.
Da die Ärzte ratlos sind, kommen die beiden Männer auf eine verwegene Idee: Kann man für Giorgia eine neue Rolle finden, ihr ein neues, glückliches Leben einprogrammieren? Kann man mittels bekannter Daten ein neues Skript schreiben, das ihr den Weg hinaus aus der Klinik und zurück in ihr Leben ermöglicht? Mauro und Filippo nennen dieses Projekt „Die Übung“ und setzen damit einen Prozess in Gang, der sich schon bald ihrer Einflussnahme entzieht.
Was mit hehrer Zielsetzung beginnt, entwickelt zunehmend eine eigene Dynamik. Die Übung scheint zunächst zu funktionieren, jedoch ist die menschliche Psyche ein komplexes Wesen und nicht uneingeschränkt manipulierbar. Wie wird Giorgia reagieren, wenn sie keine konkreten Anweisungen in ihrem Unterbewusstsein findet? Der Roman entfaltet sich zunehmend als psychologischer Spannungsroman. Jede Figur wird lebendig in ihrem Umfeld mit Stärken und Schwächen gezeichnet, mit fortschreitender Lektüre gibt es interessante Wendungen. Das Beziehungsgeflecht der Protagonisten, zu denen auch Mauros Schwester Amelia gehört, entwickelt sich vielschichtig. Insbesondere Mauros Rolle im Ganzen gibt Rätsel auf. Er scheint der Zeremonienmeister zu sein. Als Leser wird man im Unklaren darüber gelassen, ob er sich wirklich völlig altruistisch um die Menschen seines Umfeldes kümmert oder andere Ziele verfolgt.
Die Beeinflussung Georgias erinnert mich an eine programmierbare künstliche Intelligenz. Ich kann nicht abschätzen, inwiefern die beschriebenen Manipulationen medizinisch denkbar oder realistisch sind. Dem Romangeschehen tut das aber keinen Abbruch. Zu spannend sind die Interaktionen der Figuren, zu gut durchdekliniert ist die Handlung als solche. Es lohnt sich, ganz am Ende des Buches noch einmal zur Vorgeschichte zurückzublättern, dort finden sich lose Fäden, die mit dem Ende verknüpft neuen Sinn ergeben. „Ich leide nicht unter diesem Ich-Mangel, diesem Fehlen von mir als Individuum, das ist ein abstraktes Konzept, letztlich wertlos“, beklagt sich Giorgia auf S. 49. Das könnte die Erklärung sein, warum sie problemlos mit anderen Identitäten und Rollen verschmelzen kann. Eins passt ins Andere.
Auf den ungewöhnlichen, innovativen Plot muss man sich als Leser einlassen. Die Welt des Theaters hat auch etwas mit Fantasie und Vorstellungskraft zu tun. Die braucht man hier, um die Entwicklung Giorgias nachempfinden zu können. Das ist aber im Grunde gar nicht das Entscheidende, denn hinter den Kulissen ergeben sich weitere, tiefgreifende Fragestellungen, über die man nachsinnen kann. Es geht natürlich um Identität, um Schein und Sein, um den Wunsch nach einem idealen Partner (Liebe und Manipulation), um die Sehnsucht nach Erfüllung, nach einem glücklichen Leben. Es geht um Freundschaft, Familienverstrickungen und Sinnsuche. Man verfolgt die vier jungen Menschen gern. Jeder hat eine Vergangenheit, die den Charakter geprägt hat. Der Roman hat viele Ebenen, die zum Nachdenken anregen. Auch sprachlich hat er mir sehr gut gefallen, er enthält wunderschöne tiefgründige Formulierungen und Bilder. Die Übersetzung ist Mirjam Bitter exzellent ohne Stolpersteine gelungen. Einzig mit dem Titel bin ich ein wenig unglücklich, der offenbar wörtlich aus dem Italienischen (L´esercizio) übernommen wurde. Der englische Titel heißt „The Performance“ und trifft es meines Erachtens besser - einen vergleichbaren deutschen Begriff bleibe ich aber auch schuldig.
Ich spreche eine dicke Lese-Empfehlung für diesen ungewöhnlichen, psychologisch und sprachlich dichten Roman aus, der sich ideal für Lesekreise eignet und zum Diskutieren einlädt.
Glasflügel: Ein Kopenhagen-Thriller (detebe)
Ein geniales Feuerwerk!
„Stella Maris“ – als christlich sozialisierter Leser verbindet man mit diesem Begriff sofort die Gottesmutter Maria, deren Beiname „Stella Maris“, Meerstern, auf ihre Rolle als Schutzherrin der Seeleute und Fischer hinweist und, im übertragenen Sinn, auch auf ihren Schutz für jeden Menschen, der auf dem Meer des Lebens unterwegs ist.
Hier heißt das psychiatrische Krankenhaus „Stella Maris“, und der Leser muss selber entscheiden, welche Bedeutung der Name im Roman hat…
Eine junge Frau, Alicia, eine geniale Mathematikerin und Musikerin, weist sich selber in die Psychiatrie ein und führt sieben diagnostische Gespräche mit einem Psychiater. Es ist verlockend, über die Sonderstellung der Zahl 7 in der Mathematik nachzudenken und vor allem über ihre Bedeutung im kosmischen, mythischen und auch biblischen Bereich; im letzteres ist es die Zahl des Tabus, und auch diese Facette passt zum Roman, denn gerade im 7. Gespräch wird ein Tabubruch thematisiert.
Der Roman hat keinen Erzähler, sondern besteht ausschließlich aus den je einstündigen Gesprächsprotokollen. Alicia zweifelt an ihrer Welterfahrung und generell an der der Menschheit. Ähnlich wie Goethes Faust will sie erkennen, „was die Welt/ im Innersten zusammenhält“, aber sie geht noch darüber hinaus. Sie zweifelt an der Wirklichkeit der Welt, deren Sichtbarkeit sich ja nur in ihrem Kopf abspiele. Sind diese Wirklichkeiten identisch? Oder nicht? Wie ist Welt erfassbar? Was weiß der Mensch NICHT? Ihre zentrale Frage ist eine erkenntnistheoretische: wie gewinnt der Mensch Erkenntnis? Ihre Hoffnung, das über die Mathematik zu erreichen, erfüllte sich nicht. Bezeichnenderweise steht am Ende dieser Gespräche die These des genialen Einstein-Freundes Karl Gödel, dass auch die Axiomatik der Mathematik nicht widerspruchsfrei sei. Auch die Suche in den benachbarten Disziplinen wie Physik, Philosophie, Kunst, Sprachphilosophie und Psychologie – hier ist es die Wirkkraft des Unbewussten und Unterbewussten im Freudschen Sinne - lässt keine belastbare Erkenntnis zu. Wie bei Goethes Faust erscheint ihr daher der Suizid als eine akzeptable Alternative zum Leben: wie Faust sucht sie im Suizid die Entgrenzung der menschlichen Erkenntnis und hat die Hoffnung, bisher verschlossene Welten zu betreten und dass im letzten Lebens-Augenblick die Wahrheit des Universums aufleuchte.
In diesen erkenntnistheoretischen Dialogen, thematisch von der Antike bis zur Jetztzeit, bewegt sich der Autor mit großer Sicherheit: ein überaus spannendes, farbenprächtiges intellektuelles Feuerwerk, dem man als Leser nur gebannt und fasziniert folgen kann! Eine Fülle an Vorstellungen, Ideen, an Anregungen!
Zugleich tritt in den Dialogen Alicia als Mensch hervor. Wir erfahren von ihrer belasteten Familie, dem frühen Tod der Eltern, ihrer großen Einsamkeit und der daraus folgenden engen Bindung an ihren älteren Bruder. In kleinen Schritten bewegt sie sich im Lauf der Gespräche auf ihren Therapeuten zu und versucht, ihn nicht nur in seiner Funktion, sondern als Mitmensch zu erkennen. Sie fasst offensichtlich Vertrauen zu ihm, öffnet sich ihm und kann schließlich auch über Themen erzählen, denen sie aufgrund ihrer Tabuisierung zu Beginn ausgewichen ist. Und auch hier erscheint der Suizid als Zugang zu einer ersehnten Welt und als Möglichkeit, denselben Seinszustand wie ihr Bruder zu erreichen.
Wie McCarthy diese Verbindung von Erkenntnistheorie im weitesten Sinn und einem hohen Maß an Emotionalisierung leistet, hat mich sehr beeindruckt. Alicias erschreckende Einsamkeit und die Aussichtslosigkeit, diese Einsamkeit zu überwinden, finden ihren Schlusspunkt in einer kurzen Abschlussszene, die McCarthy einfach meisterhaft komponiert hat: wenige Worte, eine kleine Geste – und ein Übermaß an Emotion beim Leser.
Beide Dialogstimmen werden vom selben Sprecher gesprochen. Christian Brückners professionelle und klar akzentuierte Sprache macht die Dialoge lebendig. Er setzt alle Mittel ein, die er zur Verfügung hat und macht deutlich, dass Vorlesen nicht nur ein reiner Sprechakt, sondern zugleich immer auch Deutung ist.
CHAPEAU an Autor, Übersetzer und Sprecher.