Verlogen

read more

Rezensionen zu "Verlogen"

  1. Wahrheit oder Lüge?

    In einem Lavafeld wird in einer Höhle eine weibliche Leiche entdeckt. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um die seit 7 Monaten vermisste Marianne handelt. Die Vermutung, dass es sich um Selbstmord handelt, bewahrheitet sich allerdings nicht. Sie wurde ermordet.
    Die bereits vor über einem halben Jahr angestellten Ermittlungen werden nun von Kommissarin Elma und ihrem Team wieder aufgerollt. Dabei werden akribisch Spuren gesammelt, was allerdings manchmal ins Eintönige abdriftet.
    Die Hauptprotagonisten Elma und Sævar sind mir beide sehr sympathisch. Eva Björg Ægisdóttir lässt immer wieder etwas vom privaten Umfeld der beiden in die Story einfließen, was die eher düstere Atmosphäre auflockert.
    Immer wieder kommt es zu Perspektivwechsel in denen die Autorin mit psychologischem Feingefühl das Heranwachsen eines Mädchens in der Ich-Form von der Mutter beschreibt. Das Mädchen scheint Hekla, Mariannes Tochter zu sein, doch irgendwie passt das Ganze nicht zu der Hekla in der Gegenwart und so baute sich immer weiter die Spannung auf und ich wollte unbedingt wissen, wie alles zusammenhängt.
    Besonders gefallen hat mir das atmosphärische Setting, dieses hat die Autorin sehr bildhaft zu Papier gebracht und bildet so einen stimmungsvollen Rahmen für diese fesselnde und geheimnisvolle Geschichte.

    Teilen
  1. Glutrote Lava- unblutiger Krimi

    Autorin
    Eva Björg Ægisdóttir wurde 1988 Akranes geboren. Heute lebt sie in
    Reykjavík. Doch die Liebe zu ihrer Geburtsstadt Akranes ist geblieben und dort spielen auch ihre Krimis. Für ihren ersten Krimi „Verschwiegen“ erhielt sie den renommierten isländischen Blackbird-Award.

    Inhalt
    Durch Zufall wird die Leiche der alleinerziehenden Mutter Marianna auf einem Lavafeld in einer Höhle gefunden. Bereits vor einem halben Jahr war Marianna verschwunden und die Suche nach ihr blieb ohne Erfolg. Man nahm damals an, dass sie Suizid begangen hat. Sie war eine alleinerziehende Mutter der nun 15-jährigen Tochter Hekla.
    Den Fall übernimmt Elma, die bereits damals den Fall bearbeitet hatte. Zusammen mit ihrem Kollegen Sævar und ihrem Chef Hörður ermittelt sie. Doch durch die lange Zeit des Verschwindens werden die Ermittlungen erschwert, Zeugen haben manches nicht mehr richtig in Erinnerung, und schnell stellen sich andere Blickwinkel des Falles ein, die andere Voraussetzungen schaffen.

    Sprache und Stil
    Die Autorin setzt verschiedene Erzählperspektiven ein, die der Geschichte zusätzliche Spannung verleihen. In Rückblenden und in der Ich-Form werden Puzzleteile sichtbar, die sich langsam zu einem gesamten Bild zusammensetzen. Wie war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter? Beziehungsgeflechte werden aufgedeckt und immer bleibt die Frage, wer hat Marianna getötet und warum? Bei der sehr detaillierte Ermittlungsarbeit des isländischen Polizeiteams um die sympathische Kommissarin Elma wird nicht nicht nur versucht den Fall zu lösen, sondern dabei dabei werden unterschiedliche Themen aufgegriffen. Das Ermittlerteam rollt eine Familientragödie auf, stößt auf eine Lüge und auch die fragwürdigen Entscheidungen des Jugendamtes kommen ans Licht. Das LÖKE-System, eine Datenbank der Polizei, kann schließlich hilfreich eingesetzt werden, um aufschlussreiche Daten für Details zu finden. Nebenbei bleibt auch das Privatleben der Ermittlerin und des Ermittlers nicht verborgen.

    Das Personenverzeichnis am Ende des Buches hilft, die Figuren des Romans zuzuordnen.

    Die farbigen Island-Karten im Umschlag des Romans helfen, die geografische Lage der Orte und der Landschaft im Geschehen richtig zu verorten.

    Das Cover zeigte ein typisches grau-weißes Bild Islands mit zwei einsamen Häusern in der Landschaft.

    Fazit
    Eva Björg Agisdóttir ist auch Meisterin in der Darstellung psychologischer, menschlicher Zusammenhänge. Sie geht geschickt falsche Fährten. Sie kennt Island mit seiner Geschichte sehr genau, die erfüllt von Mythen und Legenden ist.
    Eva Björg Agisdóttir ist fasziniert davon und lässt in der Realität mit der imaginären Welt einen hoch spannenden Fall mit unerwarteten Wendungen entstehen.
    Die glutrote Lava sucht als Naturschauspiel ihren Weg - der Krimi ist unblutig.

    Ideale Krimikost für alle Leser*innen, die einmal Island erkunden möchten.

    Teilen
  1. Spannend und raffiniert

    Als im Spätherbst die Leiche der vor sieben Monaten verschwundenen Marianna gefunden wird, stellt sich schnell heraus, dass sie nicht, wie bisher angenommen, freiwillig aus dem Leben geschieden ist, sondern getötet und versteckt wurde. Marianna war alleinerziehende Mutter, alkoholabhängig und nicht unbedingt erziehungsfähig. Aus diesem Grund war ihre inzwischen fünfzehnjährige Tochter Hekla schon früher immer wieder bei einer Pflegefamilie untergebracht. Die Beziehung zwischen Marianna und Heklas Pflegeeltern war eher angespannt, Marianna wollte den Kontakt zwischen ihnen und ihrer Tochter einschränken. Seit Mariannas Verschwinden lebt Hekla dauerhaft bei den Pflegeeltern und fühlt sich dort offenbar deutlich wohler als bei ihrer leiblichen Mutter.
    Kommissarin Elma und ihr Kollege Sævar stellen in Mariannas Fall neue Ermittlungen an. Könnte Heklas Pflegemutter für Mariannas Tod verantwortlich sein? Oder gar Hekla selbst?
    Parallel dazu wird ein Handlungsstrang erzählt, der sich vor fünfzehn Jahren in der Vergangenheit abgespielt hat. Eine junge Mutter liegt auf der Entbindungsstation und ihr will es absolut nicht gelingen, eine Verbindung zu ihrer neu geborenen Tochter zu knüpfen. Diese schwierige Mutter-Tochter-Beziehung verfolgt man in einzelnen Episoden über mehrere Jahre.
    Der einfach scheinende Fall wird für Elma und ihre Kollegen immer undurchsichtiger und komplexer, je mehr Details sie herausfinden. So wird auch der Leser immer wieder auf falsche Fährten gelockt, bis zum überraschenden Ende.
    Spannend und raffiniert konstruiert!

    Teilen
  1. Leiche in der Lavahöhle

    Kurzmeinung: Es geht auch unblutig und unekelhaft!

    Eine junge Frau ist verschwunden, Marianna. Man findet sie in einer Höhle, einer Lavahöhle. Keiner scheint sie zu vermissen, dabei hat sie Angehörige, darunter eine 15jährige Tochter.

    Der Kommentar:
    Der zweite Kriminalroman dieser neuen Krimi-Autorin hat mir zugesagt. Die Story wird nach und nach entfaltet, der Hintergrund zu Marianna tut sich auf. Listig legt die Autorin falsche Fährten und obwohl man spürt, dass da etwas nicht stimmt, geht man ihr auf den Leim. Interessant ist es, dass auch die Ermittler Vermutungen anstellen und man bald denkt, der Fall sei gelöst. Aber dem ist eben gar nicht so.
    Ich mag die Erzählweise, die zwar nicht Hochliteratur ist, aber auch nicht der übliche Schmierenstil sonstiger Kriminalromane. Es geht auch weitgehend unblutig zu, ohne dass Spannung zu vermissen wäre.

    Fazit: Die Ermittler haben Privatleben und Privatgedanken, sind aber nicht so ausgetickt wie andere Ermittlerpaare. Nichts, was nach Aufmerksamkeit schreit oder um jeden Preis Effekthascherei betreibt. Ein ganz gediegener Kriminalroman, dessen Handlung man gerne folgt – niemals langweilig, niemals ekelhaft. Viel Landschaft. So mag ich es. Was hat gefehlt, um den fünften Stern zu bekommen? Vielleicht eine Brise Tempo.

    Kategorie: Kriminalroman. Island.
    Verlag: Kiwi, 2023

    Teilen
  1. Alles Lüge oder was?

    „Ich weiß genau, dass die Menschen auf der Straße keine Richter brauchen – sie urteilen selbst. Und ihr Urteil ist so viel unerbittlicher als das der Justiz.“ (S. 329)

    Mit „Verlogen“ legt die isländische Autorin Eva Björg Ægisdottir den zweiten Teil ihrer „Mörderisches Island“-Krimireihe vor (erschienen wie auch schon Band 1 bei Kiepenheuer&Witsch in der Übersetzung von Freyja Melsted).

    Diesmal begleiten die Leser:innen Ermittlerin Elma und ihren Kollegen Sævar von der Polizei Akranes auf der Suche nach dem Mörder der zunächst als vermisst gemeldeten und dann durch vermeintlichen Suizid ums Leben gekommenen Maríanna. Als ihre Leiche gefunden und untersucht wird, stellt sich schnell heraus, dass es kein Suizid war…Die Suche nach dem Mörder beginnt und zeigt dabei deutlich Schwachstellen in der Polizeiarbeit; dies wird immer wieder durch (Selbst-)Zweifel der Ermittler deutlich. Aber auch Polizist:innen sind eben nur Menschen, die sich von Fehlern nicht freisprechen können.

    Während sich das Netz aus Lügen, Widersprüchen betreffend Maríanna und ihrer inzwischen bei Pflegeeltern lebenden Tochter Hekla immer weiter um die Leser:innen zusammenzieht, sorgt ein zweiter Handlungsstrang aus Sicht einer Ich-Erzählerin immer wieder für Kopfschütteln, Entsetzen, „Schütteln wollen“ zunächst für „Ach, ist ja klar, aus wessen Sicht das geschrieben ist“-Gefühle beim Leser. Aber die Autorin führt ihre Leser:innen scheinbar gerne aufs Glatteis, denn wie schon in „Verschwiegen“ gibt es im letzten Drittel des Buches diesbezüglich eine faustdicke Überraschung, die jedoch (natürlich) dafür sorgt, dass sich alle Fragezeichen in Luft auflösen und man als Leser:in entspannt und mit einem Kopfnicken den Epilog „genießen“ kann.

    Neben der Krimihandlung nehmen die Leser:innen auch wieder an Elmas Privatleben teil, deren Gründe für die Rückkehr von Reykjavik nach Akranes weiter vertieft werden. Das Ende lässt den Schluss zu, dass sie ihr „privates“ Glück peu a peu zurückgewinnt – es soll ihr von Herzen gegönnt sein!

    Alles in Allem hat mich auch der zweite Teil dieser Krimireihe vollends überzeugt – ich mag die gemächliche Gangart, den Blick hinter die Kulissen der Polizeiarbeit, Lokalkolorit etc. mehr als blutrünstige Thriller. Im Zusammenhang mit dem Lokalkolorit möchte ich noch auf die (Klapp-)Karte von Island hinweisen, die es den Leser:innen erlaubt, an die Orte des Geschehens zu „reisen“. Das nenne ich Service!

    Und so ziehe ich 5 eiskalte und klare Sterne aus meinem Rezensionsbeutel und spreche eine absolute Leseempfehlung aus!

    ©kingofmusic

    Teilen
  1. Island und Elma - 2. Fall

    Mein Lese-Eindruck

    ... ist etwas weniger euphorisch als der Klappentext.

    „Verlogen“ ist der 2. Band einer Krimi-Serie um die Ermittlerin Elma. Schon im 1. Band wurde angedeutet, dass sie aufgrund einer privaten Tragödie von der Hauptstadt zurück in ihre Heimatstadt gezogen ist. In diesem Band erfährt der Leser nun den Grund.

    Auch der Kriminalfall, dem sich Elma und ihre Kollegen widmen müssen, schlägt den Bogen zurück zum 1. Band. Die Tatsache, dass vor Jahren eher nachlässig und voreingenommen ermittelt wurde, rächt sich nun. Der Leser begleitet Elma bei ihrer Ermittlungsarbeit, die realistisch dargestellt wird. Elma ist nicht als genialische Einzelkämpferin unterwegs, sondern hier arbeitet ein Team, dem Fehler unterlaufen, das auf falsche Fährten gerät und das sich immer wieder neu orientieren muss.

    Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen: einmal der um Elma und ihre Kollegen und dann, zeitlich versetzt, eine Art Tagebuch um die Entwicklung eines Mutter-Tochter-Paares. In diesem Handlungsstrang erfährt der Leser von den schwierigen Verhältnissen einer Teenager-Mutter und vor allem von deren Unvermögen, eine liebevolle Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen. Da keine Namen genannt werden, darf der Leser spekulieren, um sich dann mit unerwarteten Wendungen konfrontiert zu sehen. Allerdings lässt dann die Spannung nach, weil die Puzzlesteine recht schnell neu gelegt werden können. Diesen Spannungsverlust versucht die Autorin gegen Ende auszugleichen, was ihr nicht ganz gelingt.

    Der Epilog bietet Erklärungen für das Geschehen an, aber einige Handlungselemente, die vielleicht nur der Dramatisierung dienen, bleiben auch hier ungeklärt, die wegen Spoilergefahr nicht genannt werden können. Leider. Unter diesen logischen Brüchen leidet der Krimi, so spannend er auch ansonsten erzählt ist.

    3,5 von 5*

    Teilen
  1. Mit anderen Augen

    Nach einem Jahr bei der Kripo Akranes hat sich die 33-jährige Ermittlerin Elma überraschend gut in ihrer früheren Heimatstadt eingelebt und die Erinnerung an den Selbstmord ihres langjährigen Partners Davið stehen nicht mehr im Vordergrund. Dass es auch in dem Hafenstädtchen im Westen Islands nicht nur um Verkehrsunfälle und Einbrüche geht, musste sie bereits kurz nach ihrer Rückkehr erfahren, als im ersten Band der Serie mit dem Titel "Verschwiegen" am älteren der beiden Leuchttürme von Akranes die Leiche einer jungen Mutter gefunden wurde. Auch die Fortsetzung "Verlogen" beginnt mit einem Leichenfund, allerdings gut versteckt in einer Höhle im Lavafeld bei Grábrók und stark verwest. Schnell wird ermittelt, dass es sich dabei um die alleinerziehende Mutter der 15-jährigen Hekla handelt, die 31-jährige Maríanna Þórsdóttir, die seit sieben Monaten verschwunden war. Alles schien damals auf einen Selbstmord der immer wieder mit Depressionen und Suchterkrankungen kämpfenden Frau hinzudeuten, weshalb es nur oberflächliche Ermittlungen gab. Zu Unrecht, wie die Obduktion ergibt, denn Maríanna starb durch Schläge:

    "Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit den Ermittlungen noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Leute zu befragen, Dokumente zu prüfen. Alles noch einmal zu machen, aber mit anderen Augen." (S. 71)

    Mehr als nur die Aufklärung eines Kriminalfalls
    Wie auch schon bei "Verschwiegen" unterbricht die 1988 in Akranes geborene und aufgewachsene Autorin Eva Björg Ægisdóttir die Chronologie der Ermittlungen Elmas und ihres 36-jährigen Kollegen Sævar, dieses Mal durch Kapitel aus der Ich-Perspektive einer Mutter von der Geburt ihres Kindes bis zum Alter von 13 Jahren. Mit Augenmaß eingeflochten ist Elmas Privatleben, die Rückblicke in ihre Kindheit, die nicht überwundenen Rivalitäten mit ihrer älteren Schwester, die Bewältigung ihrer Trauer sowie ihre zwiespältigen Gefühle sowohl für ihren Kollegen als auch für ihren liebenswerten Nachbarn Jakob.

    Mit psychologischer Tiefe
    Es passiert gar nicht so oft, dass ich bei Krimireihen am Ball bleibe, aber bei dieser gut geschriebenen Island-Serie wollte ich die Fortsetzung auf keinen Fall verpassen. Nun hat mir "Verlogen" sogar noch etwas besser gefallen als der Vorgängerband, denn das von der dreifachen Mutter Eva Björg Ægisdóttir von allen Seiten beleuchtete Thema „Muttersein“ hebt diesen Krimi aus der Vielzahl der Regionalkrimis heraus. Wieder geht Gründlichkeit bei der Ermittlungsarbeit vor thrillerhafter Rasanz, drängen sich Verdachtsmomente gegen verschiedene Personen auf und wird viel Wert auf Orts- und Charakterzeichnungen gelegt, für die eine Landkarte im Buchdeckel und ein Personenverzeichnis im Anhang hilfreich sind. Die Autorin widmet sich ausführlich verschiedenen Familientragödien und komplizierten Beziehungsgeflechten und wartet im letzten Drittel mit einer für mich umwerfenden Überraschung auf. Auch den Schluss fand ich ausgesprochen gelungen, originell und passend zum Geschehen, auch wenn er vielleicht nicht jedem Krimifan gefällt.

    Keine Frage also, dass ich bei Band drei der Serie, "Verborgen", im Februar 2024 wieder dabei bin.

    Teilen
 

Kanak Sprak

Buchseite und Rezensionen zu 'Kanak Sprak' von Feridun Zaimoglu

Inhaltsangabe zu "Kanak Sprak"

Lesern von "Kanak Sprak" gefiel auch

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:113
EAN:
read more
 

Das Pferd im Brunnen

read more

Rezensionen zu "Das Pferd im Brunnen"

  1. Auf der Suche nach den Wurzeln

    Walja wurde in der Sowjetunion geboren und kam mit acht Jahren nach Deutschland. Nun kommt sie nach Jahrzehnten zurück in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter Nina, um zu ihren Wurzeln zu finden. Wir begleiten sie dabei und lernen Nina und andere Familienmitglieder kennen.
    Alle Frauen der Familie waren unterschiedlich und doch in ihrer Stärke und dem Bestreben, von niemandem abhängig zu sein, sich sehr ähnlich. Hauptsächlich geht es um Nina, in der sich Walja wiederfindet. Walja mit ihrem Kirschmund und den kleinen spitzen Zähnen legte Wert auf ihr Aussehen. Sie war eine harte Frau und eine notorische Lügnerin und wusste sich durchzusetzen. Obwohl sie nicht besonders groß war, schienen alle kleiner zu werden, sobald sie den Raum betrat. Anderen Kindern und Tieren gegenüber kann sie Zuneigung zeigen, ihre eigenen Kinder werden versorgt und müssen ohne Zärtlichkeit auskommen. Erst spät erfährt Walja von Ninas hartem Schicksal, über das sie nie gesprochen hat. Aber auch für ihre Urgroßmutter Tanja und Waljas Mutter Nina ist das Leben kein Zuckerschlecken.
    Die Autorin Valery Tscheplanowa erzählt in klarer Sprache, nicht chronologisch und in kleinen Episoden, die sich erst mit der Zeit zusammenfügen. Vieles wird nur angedeutet, manches lässt sich nur erahnen. Das Leben ist hart und die jeweiligen politischen Systeme zwingen die Menschen dazu, immer wieder mit veränderten Umständen zurechtzukommen.
    Ein beeindruckender Roman über starke Frauen, die ein schweres Leben in Russland haben.

    Teilen
  1. 3
    07. Aug 2023 

    Vier Generationen

    Im Buch geht es um vier Generationen an Frauen und wie ihre Beziehungen untereinander einander im Leben beeinflussen. Die verschiedenen Generationen sind auf Deutschland und Russland verteilt.

    Das Buch ist hauptsächlich in der dritten Person geschrieben und nur gelegentlich aus der Ichperspektive, wenn wir aus der Sicht von Walja lesen. Wir lernen Lena, die Mutter von Walja, Nina, die Großmutter, und Tanja, die Urgroßmutter, kennen. Wir bekommen hauptsächlich von diesen drei Frauen einen Einblick in ihr Leben, dabei erfahren wir von Nina etwas mehr als von den anderen.
    Ich fand es schwer, in die Geschichte reinzukommen, da sie verwirrend war. Es war manchmal nicht klar, wann der Abschnitt zeitlich spielt und von wem es im ersten Moment handelt, da auch mittendrin schnell gewechselt wurde, welche Person in dem Abschnitt betrachtet wird. Die Geschichte läuft auf den Tod von Nina hinaus, sie wirkt aber zwischendrin sehr richtungslos.
    In der Geschichte wird über die generationale Weitergabe von Traumata geschrieben und wie sich Vernachlässigung und Trauma langfristig auf die Kinder und die Familiengebilde auswirken. Es wird über die Inflation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion berichtet, wobei das Buch meiner Meinung nach gut den Schrecken dessen einfangen konnte.
    Das Buch beschreibt eine interessante Familienzusammengehörigkeit, weil wir sehen können, wie unterschiedlich die verschiedenen Generationen die verschiedenen Familienmitglieder wahrnehmen, weil sie ja auch unterschiedliche Erfahrungen miteinander gemacht haben. Außerdem schafft es, ein seltsam liebevolles Bild von Nina zu zeichnen, obwohl sie jede Menge furchtbarer Dinge gemacht und durchgemacht hat. Das Buch zeichnet die eigenen Figuren sehr differenziert.

    Die Themen des Buches haben mir gut gefallen, leider war es jedoch schwer dem Text zu folgen.

    Teilen
  1. 5
    06. Aug 2023 

    Sprachlich und inhaltlich überzeugend

    Valery Tscheplanowa, 1980 in der Sowjetunion geboren und im Alter von acht Jahren nach Deutschland übergesiedelt, hat sich als Schauspielerin auf deutschen Bühnen einen Namen gemacht. In Literaturkreisen kennt man sie noch nicht, doch das dürfte sich nach ihrem Debutroman nun ändern.
    Stark angelehnt an ihre eigene Familiengeschichte erzählt sie von vier Generationen von Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts und damit gleichzeitig vom Alltag im Land.
    Die Ich- Erzählerin Walja begibt sich nach dem Tod von Großmutter Nina auf Spurensuche nach ihrer „ in Stücke geschlagenen Familie, verstreut auf Europa und Russland“.
    Es beginnt mit Urgroßmutter Tanja, die, wie alle Frauen der Familie, früh ihre Kinder bekommt. Ein Sohn stirbt, der Mann fällt im ersten Weltkrieg.
    Die Tochter Nina muss deshalb schon als kleines Kind mithelfen. Eine Kindheit ohne Vater und voller Plackerei lässt diese hart werden gegen sich und ihre Nächsten. Für die Tochter Lena und Sohn Mischa bleibt wenig Liebe und Zärtlichkeit. Ehemann Jura wird sie zwar lieben, aber ständige Streitereien und Schuldzuweisungen treiben ihn aus dem Haus.
    Auch die nächste Frauengeneration wird nicht glücklich. Bei ihrer Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff lernt Lena einen älteren Alleinunterhalter kennen und folgt diesem nach Deutschland. Ein paar Jahre wird sie mit ihrer kleinen Tochter Walja bei ihm in einem Haus an der B77 wohnen, bevor sie sich von ihm trennt.
    Es sind kurze Kapitel, die Momentaufnahmen aus dem Leben der Figuren beleuchten. Dabei geht die Autorin keineswegs chronologisch vor. Erst nach und nach erschließen sich dem Leser so die Charaktere der Figuren und man kann Verständnis für ihr Verhalten entwickeln.
    Tanja ist noch stark in bäuerlichen Strukturen verwurzelt. Sie verbringt die meiste Zeit ihres Lebens in ihrem Häuschen auf dem Land, wühlt und gräbt in der Erde, füttert ihre Hühner und füllt mit ihren eigenen Haaren ihr Totenkissen. Sie betet vor der Ikone an der Wand und lässt ihre Urenkelin heimlich taufen, was zu dieser Zeit in der Sowjetunion verboten ist.
    Nina träumt von einem Studium der Medizin. Stattdessen wird sie ihr Geld als Krankenschwester in der Psychiatrie, im Prothesenwerk und als Kindergärtnerin verdienen.
    Beide , Großmutter und Urgroßmutter, sind starke, beeindruckende Frauen. Stark müssen sie auch sein, ihr Alltag verlangt alles von ihnen. Ein Leben voller Arbeit und Entbehrungen und begrabener Träume. Männer spielen oft nur eine kurze Rolle.
    Dabei erfährt der Leser auch viel von der Realität im Sozialismus. Beengte Wohnverhältnisse, Schlangestehen für das Notwendigste gehören dazu.
    Unterschiede zwischen Deutschland und der Sowjetunion erfahren Lena und Mischa, der ihr nach Deutschland nachfolgt. Der Bruder wird Jahre später frustriert in die Heimat zurückkehren.
    Und als 1991 Gorbatschow entmachtet wird, zerbricht die alte Sowjetunion. „ Für die Menschen aber ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat? Eine kleine, freche Gruppe teilt das große Russland in große Stücke und macht großes Geld, während der Rest den Kopf einzieht und in seiner Erinnerung wohnen bleibt.“
    Die Autorin schafft so, neben ihrer Kritik am sowjetischen System, Verständnis für die Menschen, die darunter leben.
    Mit ihrer bilderreichen Sprache entwickelt Valery Tscheplanowa Szenen, die im Gedächtnis bleiben. Humorvolle, wie jene, als Lena ansteht, um Eier zu kaufen. Je länger sie warten muss, desto höher steigt die Anzahl der Eier, die das Warten rechtfertigen sollen. Am Ende werden es neunzig Eier sein, die Lena stolz nach Hause bringt und am Abend wird mit Freunden gemeinsam in der Küche gekocht, gebacken und gegessen.
    Daneben finden sich auch eindringliche Bilder wie die vom Sterben Ninas. Ganz unsentimental und sachlich beschreibt die Autorin die Abläufe im Körper während des Todes. Trotz dieser Nüchternheit berührt diese Szene ganz stark.
    So überzeugt Valery Tscheplanowa in ihrem Debut nicht nur mit einer fesselnden Familiengeschichte, sondern genauso mit ihrem literarischen Können.
    Man darf gespannt sein auf weitere Bücher aus ihrer Feder.

    Teilen
  1. Das Leben ist ein Kampf

    Walja, geboren im sowjetischen Russland, kommt mit acht Jahren nach Deutschland. Einige Jahrzehnte später macht sie sich mit ihren Erinnerungen auf den Weg, um zu ergründen wer sie ist. Sie findet die Menschen ihrer Familie, jeden beladen mit dem Schicksal seiner Zeit.
    In kristallklarer Sicht erkennen die Protagonistinnen, die verschiedenen Miseren des Lebens in den politischen Systemen und beschreiben sie, jede in ihrer Art.
    Da ist Tanja die Urgroßmutter, allein, fast wortlos, ihr tägliches Leben in harter Arbeit bestreitend. Sie betet heimlich, weil beten in Russland verboten ist.
    Ihre Tochter Nina, die von Kind an arbeiten musste, hat das Leben zornig gemacht. Zu fremden Kindern konnte sie zärtlich sein, doch nicht zu ihren eigenen. Ihr Sohn Mischa ist seiner Schwester Lena in den Westen gefolgt, wo er weder das deutsche Leben, noch die deutsche Sprache "verdauen" konnte, nach Russland zurückkehrte und letztendlich auch seine Schwester wieder zurückholt, in das Vertraute, das von Kind an Verinnerlichte.

    Ein schmales Buch, voll an genauer Beobachtung, Überlegung, Erkenntnis über die Härte des menschlichen Lebens, meisterhaft zu Papier gebracht.
    Szenische Miniaturen, die jede für sich stehen könnte.
    Tiefe Einblicke in die Spielarten menschlichen Daseins, gefasst in Sätzen, die vom Verstehen des Leids und der Verzweiflung zeugen, ebenso, wie von der Groteske und Bizzarerie des sowjetischen Systems.
    Glasklare Fakten einer gnadenlosen Realität, verpackt in Wortschöpfungen und Poesie einer schönen Sprache mit literarischer Qualität.

    Teilen
 

Daldossi oder Das Leben des Augenblicks: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Daldossi oder Das Leben des Augenblicks: Roman' von Sabine Gruber

Inhaltsangabe zu "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks: Roman"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:333
Verlag: C.H.Beck
EAN:
read more
 

Mama Odessa: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Mama Odessa: Roman' von Maxim Biller
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mama Odessa: Roman"

Mit beeindruckender Leichtigkeit spannt Maxim Biller einen Bogen vom Odessa des Zweiten Weltkriegs über die spätstalinistische Zeit bis in die Gegenwart. Alles hängt bei der Familie Grinbaum miteinander zusammen: das Nazi-Massaker an den Juden von Odessa 1941, dem der Großvater wie durch ein Wunder entkommt, ein KGB-Giftanschlag, der dem Vater des Erzählers gilt und die Ehefrau trifft, die zionistischen Träumereien des Vaters, der am Ende mit seiner Familie im Hamburger Grindelviertel strandet, wo nichts mehr an die jüdische Vergangenheit des Stadtteils erinnert – und wo er aufhört seine Frau zu lieben, um sie wegen einer Deutschen zu verlassen. Dennoch scheint ständig ein schönes, helles Licht durch die Zeilen dieses oft tieftraurigen, außergewöhnlichen Buchs.

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:226
EAN:
read more

Rezensionen zu "Mama Odessa: Roman"

  1. 4
    14. Mär 2024 

    Mit Odessa im Herzen

    Aljona und Gena Grinbaum mit ihrem 10-jährigen Mischa nehmen 1971 die Chance wahr – dank Henry Kissinger – aus Odessa auszureisen. Sie ließen Mutters Vater Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, der wunderschöne Bilder nach Fotos von Mischa malte, zurück und haben doch immer Sehnsucht nach ihm und Odessa. Hamburg, Bieberstraße 7 im Grindelviertel wird ihre neue Heimat.

    Erzählt von Mischa, lernen wir auch die neuen Nachbarn kennen: z.B. Frau Ould oder ‚die böse, verlogene, arme, traurige, hinterhältige Martha‘ mit ihrer tragischen Geschichte ihrer Mutter. Wir lesen vom Zerfall der Familie nach 30 Jahren und den Umzug des Vaters nach Othmarschen mit ‚seiner Natzihure‘, sowie eingestreute Kurzgeschichten seiner Mutter und Anekdoten aus Verlagen. (Bei Letzteren hatte der Roman eindeutig autobiographische Züge des Autors.)

    Gefallen haben mir die Erinnerungen an Odessa und die historischen Fakten, die ich noch nicht kannte und die kraftvolle und lebhafte Sprache. Mit dem eigenbrötlerischen Ich-Erzähler Mischa und seinen Frauengeschichten konnte ich jedoch nicht viel anfangen! Vier Sterne gibt es deshalb von mir!

    Teilen
  1. 4
    14. Mär 2024 

    Mit Odessa im Herzen

    Aljona und Gena Grinbaum mit ihrem 10-jährigen Mischa nehmen 1971 die Chance wahr – dank Henry Kissinger – aus Odessa auszureisen. Sie ließen Mutters Vater Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, der wunderschöne Bilder nach Fotos von Mischa malte, zurück und haben doch immer Sehnsucht nach ihm und Odessa. Hamburg, Bieberstraße 7 im Grindelviertel wird ihre neue Heimat.

    Erzählt von Mischa, lernen wir auch die neuen Nachbarn kennen: z.B. Frau Ould oder ‚die böse, verlogene, arme, traurige, hinterhältige Martha‘ mit ihrer tragischen Geschichte ihrer Mutter. Wir lesen vom Zerfall der Familie nach 30 Jahren und den Umzug des Vaters nach Othmarschen mit ‚seiner Natzihure‘, sowie eingestreute Kurzgeschichten seiner Mutter und Anekdoten aus Verlagen. (Bei Letzteren hatte der Roman eindeutig autobiographische Züge des Autors.)

    Gefallen haben mir die Erinnerungen an Odessa und die historischen Fakten, die ich noch nicht kannte und die kraftvolle und lebhafte Sprache. Mit dem eigenbrötlerischen Ich-Erzähler Mischa und seinen Frauengeschichten konnte ich jedoch nicht viel anfangen! Vier Sterne gibt es deshalb von mir!

    Teilen
  1. Ein beeindruckendes Leseerlebnis

    „Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

    Inhalt
    1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

    Thema und Genre
    Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

    Charaktere
    Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

    Erzählform und Sprache
    Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

    Fazit
    Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

    Teilen
 

Weil da war etwas im Wasser: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Weil da war etwas im Wasser: Roman' von Luca Kieser

Inhaltsangabe zu "Weil da war etwas im Wasser: Roman"

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:0
Verlag: Picus Verlag
EAN:
read more
 

Blinde Liebe: Die Verzückung des Brodie Moncur

Buchseite und Rezensionen zu 'Blinde Liebe: Die Verzückung des Brodie Moncur' von William Boyd

Inhaltsangabe zu "Blinde Liebe: Die Verzückung des Brodie Moncur"

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:433
Verlag: Kampa Verlag
EAN:
read more
 

Marschlande: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Marschlande: Roman' von Jarka Kubsova
4.15
4.2 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Marschlande: Roman"

Im Hamburger Marschland lebt ums Jahr 1580 Abelke Bleken. Sie führt allein einen Hof, trotzt Jahreszeiten und Gezeiten. Und sie versucht, sich gegen ihre Nachbarn zu behaupten, in einer Zeit, die für unabhängige Frauen lebensgefährlich ist. Fast fünfhundert Jahre später zieht Britta Stoever mit ihrem Mann und ihren Kindern in die Marschlandschaft. Ihre Arbeit als Geografin hat sie für die Familie aufgegeben, das neue Zuhause ist ihr noch fremd. Sie unternimmt lange Spaziergänge durch die karge Landschaft, beobachtet die Natur und lernt, in Bracks und Deichlinien die Spuren der Vergangenheit zu lesen. Dabei stößt Britta auf das Leben der Abelke, auf Ausgrenzungen und Ungerechtigkeiten, die beängstigend aktuell sind. Fasziniert taucht sie tiefer und tiefer ein – und merkt, wie viel sie im Leben der anderen Frau über sich selbst erfährt.

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:314
EAN:
read more

Rezensionen zu "Marschlande: Roman"

  1. 5
    23. Mär 2024 

    Interessant, nachdenklich stimmend

    In dem Roman „Marschlande“ erzählt Jarka Kubsova über zwei Frauen aus dem Hamburger Marschland.
    Eine von ihnen ist die Hufnerin Abelke Bleken, die im 16. Jahrhundert einen großen Hof von ihren Eltern übernommen hatte. Sie liebte ihre Heimat und lebte für ihre Aufgaben als Bäuerin. Ihr florierender Bauernhof war dem anderen Dorfbauern ein Dorn im Auge, der Neid um ihren Erfolg und Besitz wuchs.
    Ein neues Zuhause findet im Marschland Britta Stöver, die mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Ochsenwerder zieht. Ihre Geschichte spielt in der Gegenwart. Britta, die ihren Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie aufgegeben hat, um sich der Familie zu widmen, ist zuerst mit dem neuen Zuhause und ihren Aufgaben als nur Hausfrau und Mutter unzufrieden. Doch dann entdeckt sie die Hinweise auf das Leben von Abelke Bleken. Die Geschichte der starken Frau, die sich gegen alle Widrigkeiten ihrer Epoche und dem Hass der Mitmenschen stellen musste, fasziniert Britta.

    Es gibt einige Parallelen in den Geschichten der beiden Frauen. Beide mussten um ihre Ziele und Überzeugungen kämpfen, beide zahlten einen hohen Preis dafür.
    Besonders interessant fand ich die Geschichte über die Hufnerin Abelke, die auf historischen Tatsachen beruht. Im Nachwort zum Buch schreibt die Autorin ausführlich darüber. Nicht nur das Schicksal der Bäuerin hat mich bewegt; auch viele historischen Fakten, wie das damalige Deichrecht oder die Enteignung der Bauern, weckten mein Interesse.
    Etwas mehr dagegen hätte ich von der Geschichte über Britta erwartet. Ich hätte viel mehr über ihr bisheriges Leben, über Beweggründe für ihre Entscheidungen erfahren wollen.

    Genossen habe ich die bildhafte Schreibweise der Autorin, die ausdrucksvoll über die Marschlandschaft schreibt:
    (ein) Stück Land, in dem Glück und Unglück sich abwechselten, wie die Gezeiten,
    wo Überfluss und Verderben kamen und gingen, wie Ebbe und Flut.“ (103)

    „Marschlande“ ist ein hochinteressanter, nachdenklich stimmender Roman, sehr zu empfehlen!

    Teilen
  1. Hervorragender Vergangenheitsteil, schwache Gegenwart

    Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen, einmal in der Vergangenheit und einmal in der Gegenwart.
    Den Vergangenheitsteil finde ich unheimlich toll. Man bekommt gut die Gegebenheiten des Landstrichs vermittelt, wie die Leute ticken und wie hart des bäuerliche Leben zu dieser Zeit gewesen sein muss. Und es wird sehr deutlich, wie schwer es vor allem für eine alleinstehende Frau gewesen sein muss, die es schafft einen Hof selbst zu führen und das auch erfolgreich. Abelkes Geschichte hat mich sehr fasziniert und ihr Schicksal mich sehr berührt. Die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren, haben mich wütend gemacht und ich wäre am liebsten durch die Seiten gestiegen und hätte Abelke verteidigt.

    Mit dem Gegenwartsteil habe ich so ein wenig meine Probleme. Er ist mir zu sehr gespickt mit Klischees. Das kann funktionieren, aber es fühlt sich für mich an wie eine Auflistung der größten Frauen-/Familienklischees, die man derzeit so finden kann. Dadurch fällt es mir unheimlich schwer, mich in Brittas Probleme hineinzuversetzen. Ich finde den überwiegenden Teil einfach ziemlich belanglos. Erst am Ende wird für mich ein bisschen dessen sichtbar, wie Brittas Geschichte auch hätte erzählt werden können. Ohne Klischees und ohne Feminismus-Keule.

    Ich finde ja selten ein Nachwort wirklich spannend und meistens lese ich es auch tatsächlich nicht. Aber hier ist das Nachwort wirklich gut gemacht. Interessant und informativ, es hat mich wirklich sehr gelockt sich mit einem mir eher unbekannten Thema auseinanderzusetzen, tolle Anreize zur weiteren Lektüre.
    Aber der Gegenwartsteil - der ist mir einfach zu platt, zu plakativ, zu klischeehaft und auch nicht wirklich interessant. Er kann für mich absolut nicht mit der Geschichte um Abelke Bleken mithalten. Aber alleine für diesen Teil würde ich das Buch noch einmal lesen.

    Teilen
  1. Frauenschicksale

    Die Geografin Britta Stoever hat mit ihrer Familie in Hamburg gelebt und der Kinder wegen beruflich zurückgesteckt. Doch nun zieht sie ihrem Mann zuliebe ins Marschland. Das Energieeffizienzhaus, für das er sich ohne Britta entschieden hat, gefällt ihr nicht und auch sonst kommt sie nicht an. Als sie die Gegend erkunden will, fällt ihr ein Straßenschild „Abelke-Bleken-Ring“ ins Auge. Sie will wissen, wer diese Frau war und stößt bei ihren Recherchen auf eine Hexenverbrennung im 16. Jahrhundert.

    Abelke war eine selbstbewusste und selbständige Frau, die sich von niemanden sagen lassen wollte, wie sie ihr Leben zu führen hat. Als Tochter eines reichen Bauern übernimmt sie den Hof nach seinem Tod und bewirtschaftet ihn ohne Ehemann. Das ist in jener Zeit ungewöhnlich und sie hat auch Neider, weil sie das erfolgreich macht. Doch dann schlägt die Natur zu und schnell ist eine Schuldige ausgemacht. Ein Scheiterhaufen wird aufgebaut und Abelke als Hexe verbrannt.

    Je mehr Britta in die Geschichte von Abelke eintaucht, umso mehr erkennt sie, was in ihrem Leben nicht richtig läuft. Die Differenzen zwischen den Ehepartnern werden immer offensichtlicher und schon bald läuft alles auf eine Trennung hinaus.

    Die Autorin Jarka Kubsova hat einen wunderbaren Roman geschrieben über zwei Frauen, die in unterschiedlichen Zeiten leben und beide ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Der Handlungsstrang um Abelke Bleken hat mir dabei viel besser gefallen als der um Britta Stoever. Abelke widersetzt sich den Gepflogenheiten ihrer Zeit und so kommt es, wie es damals kommen musste. Britta dagegen wollte Familie und Beruf unter einen Hut bringen, auch weil ihr Mann sie bedrängt hat, und hat sich dabei selbst vergessen. Beruflich hat sie durch ihre Auszeit keine Chance mehr in ihrem Job.

    Dieser Roman lässt sich sehr angenehm lesen und hat mir gut gefallen.

    Teilen
  1. Unvorstellbares Leid einer starken Frau

    Zwei Frauen, die 500 Jahre voneinander trennen, doch beide leben in den Vier- und Marschlanden in Ochsenwerder. Britta versucht ihren eigenen Weg zu finden und stößt dabei auf die schicksalhafte Geschichte von Abelke Bleken, die als alleinstehende Hofbesitzerin keinen leichten Stand in einer Gesellschaft voller alter Bräuche und Vorurteile hatte.

    Jarka Kubsova hat einen unvergleichlichen Schreibstil. Besonders der Blick in die Vergangenheit nimmt einen gefangen und vermittelt ein Gefühl für das harte Leben auf dem Land. Man riecht förmlich den schweren Dunst in den Häusern, fühlt sich vom Nebel auf dem Land umfangen und empfindet die Last der Protagonisten. Was ein Brack ist, habe ich erst durch die anschauliche Beschreibung des von der Flut geschlagenen Wasserloches erfahren. Besonders aber die Frauen in Gegenwart und Vergangenheit spielen eine besondere Rolle.

    Das Nachwort zum Roman hätte ich mir am Anfang als Einleitung gewünscht, da hier viele Erklärungen gegeben werden, warum der Blick auf die handelnden Frauen so besonders ist.

    "Frauen erlitten im Zuge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus einen einzigartigen Prozess sozialer Degradierung, der für das Funktionieren des Kapitalismus bis heute grundlegend ist."
    1580 lebte Abelke Bleken als Hofbesitzerin in den Marschlanden. Zu dieser Zeit mehr als ungewöhnlich, dass eine unverheiratete Frau ein großes Hufnerhaus bewirtschaftete. Zudem war sie auch noch erfolgreich und durchaus den Männern in der Landwirtschaft qualitativ überlegen. Doch ihr Können in der Landwirtschaft und das Gespür für die Natur weckt auch Neider. Als eine große Flut viele Häuser und Ernten zerstört, kann Abelke ihr Getreide retten, weil sie rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hat. Um so grausamer ist es, dass sie die geschuldete Deichreparatur in dem gesetzten Zeitraum nicht bewerkstelligen kann. Die darauf folgenden Ereignisse wirken in der heutigen Zeit albtraumhaft und beschämend.

    In der Gegenwart zieht die Mittvierzigerin Britta mit ihrer Familie ins Vier- und Marschland nach Ochsenwerder. Die alten Geschichten vom Ort und die heimeligen historischen Häuser gefallen ihr sehr. Zufällig wird ihr Interesse für Abelke Bleken geweckt und sie beginnt mit eigenen Recherchen. Doch das vermeintlich wohltuende Landleben birgt auch negative Seiten. Immer öfter fühlt sich Britta allein in der fremden Umgebung. Ihre Bekannten aus Hamburg sind fern und ihr Mann zeigt wenig Verständnis für ihre Sorgen und Bedürfnisse. Anders als Abelke, die ihr Leben stets selbst in die Hand nehmen musste, wirkt Britta unselbstständig und hadert oft mit sich selbst.

    Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gelingt nur bedingt. Abelkes Leben ist beeindruckend und ihr Schicksal zeigt, wie sehr die Obrigkeit mit Menschenleben gespielt hat, um eigene Interessen durchzusetzen. Bei Britta hatte ich teilweise das Gefühl, dass hier stark mit Klischees gearbeitet wurde. Sie konnte ihre beruflichen Ziele nicht verfolgen, weil sie sich um ihre Kinder kümmern musste und ihr Ehemann rücksichtslos eigene Interessen in den Vordergrund gestellt hat. Hier wurde allerdings nur oberflächlich geschildert, warum sie in diese Situation geraten ist. Für die Kinder haben sich beide entschieden und es fehlt eine Erklärung, warum Britta sich nicht rigoroser positioniert hat.

    Den Ansatz der Autorin, Frauenschicksale aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, finde ich sehr gelungen, um das Interesse an feministischen Themen zu wecken und zur Diskussion anzuregen. In diesem Roman hätte mir Abelkes Geschichte ausgereicht, die von einer Erzählerin begleitet und Vergleiche zur heutigen Zeit ziehen könnte.

    Teilen
  1. Frauen in Landschaft

    Kurzmeinung: Misogynie durch alle Zeiten hindurch

    In dem Roman „Marschlande“ zeichnet die Autorin wie schon in ihrem Debütroman „Bergland,“ zwei, chronologisch versetzte Frauenschicksale in eine bestimmte Landschaft.
    In dem Roman „Marschlande“ wendet sich Jarka Kubsova diesmal dem Deichland zu, irgendwo hinter Hamburg,. Die Landschaft ist karg, der Boden ist es nicht. Die Höfe hinter den Deichen, in den Marschen sind jedoch von Wind, Wetter und vor allem den Sturmfluten der Nordsee bedroht. Mensch und Natur. Wessen Interessen behalten die Oberhand?

    Der Kommentar:
    Während in dem Roman „Bergland“ die Belegschaft des zu bewirtschaftenden Innerleithofs quasi dieselbe bleibt in Vergangenheit und Gegenwart und nur die Generationen wechseln, gibt es in den Marschlanden keine organische Weiterführung eines Marschhofes.
    Abelke Bleken, eine selbständige Bäuerin aus dem 16. Jahrhundert, hat keine Nachkommen. Sie führt ihren Hof alleine und vor allem erfolgreich und wird mittels der schändlichen Praxis von Aberglauben und Verleumdung der Hexerei angeklagt, enteignet, gefoltert, verbrannt. Ihr Land geht an die Deichgrafen. Missgunst, Misogynie und Neid führten zu ihrem Untergang, sowie eine Rechtsprechung, die mit Gerechtigkeit nichts am Hut hat.
    Dass wirtschaftliche Interessen sowie die übliche Misogynie aller Zeiten die treibende Kraft waren an der tragischen Ermordung der Abelke Bleken, ist im Nachwort von „Marschlande“ sehr schön nachzulesen

    „Frauen erlitten im Zuge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus einen einzigartigen Prozeß sozialer Degradierung, der für das Funktionieren des Kapitalismus bis heute grundlegend ist. Sie wurden zunehmend auf Reproduktionsarbeit – also auf Kindererziehung, Kochen, Haushaltsführung – festgelegt. Und das geschah parallel zu einer vollständigen Abwertung dieser Tätigkeiten.“

    Während der Roman „Bergland“ mich von vorne bis hinten faszinierte, konnte mich „Marschlande“ nicht völlig abholen. Zum einen finde ich Romane über Hexenverfolgung zutiefst anstrengend, problematisch und kaum zu ertragen, zum anderen ist der Gegenwartsstrang etwas blass. Die Stoevers, die in die Marschlande zugezogen sind, vertragen sich nicht mehr so richtig. Britta Stoever tut sich schwer mit dem Ankommen, tut sich schwer in ihrer Ehe, tut sich schwer in der Konfrontation mit ihrem zum Macho mutierenden Ehemann etc. Im Zuge ihrer Emanzipierung verfolgt sie die Geschichte der Abelke Bleken. Das ist der Zusammenhang. Das ist nicht schlecht gewählt, nur Britta selbst lässt sich erstaunlicherweise lange Zeit so ziemlich alles gefallen.

    Weil die Gemeinheiten im 16. Jahrhundert und seine Brutalität schwer zu ertragen sind, ist der zweite gegenwärtige Erzählstrang durchaus auch ein Mittel, die Leser durchatmen zu lassen und ihnen eine Pause zu gönnen, aber eigenartiger Weise gehen die Themen der Zeit, - Klima, Migration, Wokeismus, etc. etc. - an den Marschländern völlig vorbei; sie beschäftigen sich immer noch mit den gängigen Rollen der Geschlechter und arbeiten sich daran ab. Leben die Marschländer hinter dem Deich oder hinter dem Mond?

    Doch sowohl in dem einen wie in dem anderen Erzählstrang geht es um Misogynie, das eine Mal ganz unverholen, das zweite Mal etwas abgefedert, aber immer noch gesellschaftlich gebilligt.

    Im Prinzip habe ich außer der Genderei des Nachworts kaum etwas zu kritisieren, grundsätzlich mag ich die Marschlande, ich frage mich freilich, ob diese Doppelchroniken von „Frau/en in Landschaft“ das Genre ist, auf das sich die Autorin spezialisiert. Sie macht das sehr gut, ohne Frage, doch ich würde gerne mal noch etwas anders von ihr lesen.

    Fazit: Gut. Aber schwer zu ertragen. Das genderte Nachwort gibt Punktabzug. Wieder die Frage: wer gendert hier, die Autorin oder die Lektorin?

    Kategorie: Historischer Roman
    Verlag: S. Fischer

    Teilen
  1. 5
    26. Aug 2023 

    Zwei starke Frauen - damals und heute

    Jarka Kubsova gelang mit ihrem Debut „ Bergland“ ein fulminanter Erfolg. Ich war von diesem Buch ebenfalls sehr begeistert, dementsprechend hoch waren meine Erwartungen und sie sind nicht enttäuscht worden.
    Auch im neuen Roman stehen wieder zwei starke Frauen im Zentrum der Geschichte, doch dieses Mal trennen sie Jahrhunderte.
    Britta, eine Frau Mitte Vierzig, ist gerade mit ihrem Mann Philipp und den beiden Kindern in die Marschlande vor den Toren Hamburgs gezogen. Obwohl mit dem eigenen Haus auf dem Land eigentlich ein Traum in Erfüllung gegangen ist, fühlt sich Britta nicht wohl hier. Sie hat Schwierigkeiten im Dorf anzukommen und ihre Arbeit als Teilzeitkraft füllt sie nicht aus. Ziellos beginnt sie die Umgebung zu erkunden. Dabei stößt sie auf das Schicksal von Abelke Bleken, die im selben Ort lebte und im Jahr 1583 als Hexe verurteilt und verbrannt wurde. Britta beginnt zu recherchieren und entdeckt dabei Parallelen zu ihrem eigenen Leben.
    Kapitelweise wechselt Jarka Kubsova von der Gegenwart in die Vergangenheit. Schon die Eingangsszene, in der der Aufbau des Scheiterhaufens beschrieben wird, erschüttert und packt gleichermaßen.
    Abelke war eine stolze und eigensinnige Frau, die ohne einen Mann ihren großen Hof bewirtschaftete. Neidisch und voller Misstrauen wird ihr Erfolg von der männlichen Nachbarschaft beäugt. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Intrigen sorgen dafür, dass Abelke ihren Hof verliert, doch sie will sich davon nicht unterkriegen lassen. Aber ihre Gegner geben nicht auf und denunzieren sie als Hexe. Damit ist Abelkes Untergang besiegelt.
    Die Autorin hat für diesen Roman intensiv recherchiert. So gelingen ihr nun eindrucksvolle Bilder und Szenen vom Alltagsleben und den dörflichen Strukturen zu jener Zeit. Die Bauern hier hatten es nicht leicht. Überschwemmungen, Hagel und Frost machten oft ihre ganze Arbeit wieder zunichte. Doch für eine Frau war es noch ungleich härter. Sie musste zwar genauso zupacken wie mancher Mann, doch dabei sollte sie brav und geduldig im Hintergrund bleiben. „ Die Sache ist die: Man kann Frauen viel wegnehmen, man kann ihnen sehr viel antun, aber solange sie das mit sich machen lassen, bleibt es dabei.“ heißt es im Roman. Und weiter: „ Der gefährliche Moment für Frauen ist oft erst der, wenn sie anfangen, sich zu wehren.“
    Die Lebenssituation von damals kann man nicht mit der von heute vergleichen. Aber Britta stellt durch die „ Bekanntschaft“ mit Abelke ihr eigenes Leben zusehends in Frage. Hat sie nicht für die Familie ihre eigene Hochschulkarriere als Geographin geopfert? Und wird das überhaupt von ihrer Umgebung gewürdigt? Ungleichheit und Benachteiligungen erleben Frauen auch heute noch. Und sie stoßen oft auf Unverständnis, wenn sie aus ihrer Rolle fallen und Neues wagen möchten.
    Mit diesem feministischen Ansatz verknüpft die Autorin die beiden Lebensläufe.
    Die Geschehnisse in der Vergangenheit haben mich dabei stärker berührt. Es ist erschreckend zu lesen, was Abelke ertragen musste. Dabei spielen Neid und Missgunst der Nachbarn sowie der damalige Aberglaube eine große Rolle. Die tiefer liegende Motivation war aber die Gier der Oberen nach Landbesitz.
    Die Figur der Abelke Bleken ist historisch verbürgt; mehr zum historischen Hintergrund erfährt der Leser im äußerst informativen Nachwort der Autorin.
    Der Roman liest sich leicht, plastische Szenen und eindrucksvolle Landschaftsbeschreibungen sorgen für Atmosphäre.
    „ Marschlande“ ist ein spannender und bewegender Roman über zwei selbstbewusste Frauen, dem ich viele Leser wünsche.

    Teilen
  1. 4
    13. Aug 2023 

    Sehr guter Stoff

    Das Buch ist sehr geschmackvoll gestaltet. Der Titel ist gut gewählt und das Titelfoto passt ausgesprochen gut zum behandelten Stoff. Das Thema des Buches ist meines Erachtens sehr aktuell und sehr wichtig.

    Britta ist eine moderne, gut qualifizierte Frau Mitte Vierzig und durchlebt ein typisches Frauenschicksal unserer Zeit: Sie heiratet, bekommt Kinder und damit beginnt die berufliche Gefährdung sowie in gewisser Weise auch ein sozialer Abstieg, die zeitliche und finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann im repräsentativen Job. Der Umzug heraus aus Hamburg in die Marschlande verschärft diese Situation. Am neuen Wohnort entdeckt sie zunehmend die Geschichte der Frauen in diesem Landstrich, allen voran von Abelke, die im 16. Jahrhundert als Hexe verbrannt wurde.

    Die Autorin erzählt abwechselnd aus Brittas und Abelkes Perspektive und die zwei erzählten Zeiten entfalten immer mehr Parallelen. Inhaltlich ist die Entwicklung der Geschichte sehr überzeugend und leider auch sehr realistisch. Eine sehr deutliche Herausarbeitung der Tatsache, dass Frauen seit Beginn der frühen Neuzeit, teils wie selbstverständlich und teils bewusst, in existenzgefährdenden Situationen hineingetrieben werden. Es wird auch deutlich, dass trotz gewisser Errungenschaften, sich am grundsätzlichen Problem nicht viel geändert hat. Aus der Erzählung, wie auch aus dem sehr ausführlichen und sehr guten Nachwort, geht hervor, dass die Frauensolidarität historisch schon immer da gewesen ist, nur bewusst unterbunden worden bzw. durch Anpassungsverhalten und erst Recht in unseren individualistischen Zeiten wieder verloren gegangen ist. Sie ist jedoch wichtig, um an der grundsätzlichen Wahrnehmung und Stellung von Frauen - sowohl historisch betrachtet als auch für die Gegenwart - etwas verändern zu können.

    Jarka Kubsova hat ein wichtiges Buch geschrieben mit einem sehr guten Ansatz. Lediglich die stilistische Umsetzung hat mich mit voranschreitendem Lesen nicht fesseln können. Sie schafft über detaillierte Beschreibungen einerseits eine sehr dichte und sensible Atmosphäre. Andererseits fehlte mir etwas die Abwechslung in der Schreibweise. Sehr angenehm finde ich, dass es kein militant-feministisches Buch geworden ist. Die genaue Beschreibung dessen, was war bzw. ist, reicht schon aus, um zu berühren und sich auch evtl. wiederzufinden. Sehr gute Idee, das Thema im Nachwort noch außerhalb der Erzählung zu erläutern. Insgesamt eine Leseempfehlung meinerseits.

    Teilen
 

Kochen im falschen Jahrhundert: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Kochen im falschen Jahrhundert: Roman' von Teresa Präauer
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Kochen im falschen Jahrhundert: Roman"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:170
EAN:
read more

Rezensionen zu "Kochen im falschen Jahrhundert: Roman"

  1. 3
    14. Okt 2023 

    Quiche und Crémant...

    Der Roman eines Abends und einer Einladung zum Essen. Voll mit Rezepten für ein gelungenes Leben und einen misslingenden Abend, der immer wieder neu ansetzt, schlau, witzig, heiter, gleichzeitig begleitet von den unterschwelligen oder ganz offen artikulierten Aggressionen der Beteiligten. In ihren Gesprächen verhandeln sie die ganz großen und kleinen Themen, von den ›Foodporn‹-Bildern im Internet über Kochen, Einkaufen und Wohnen als soziale Praktiken. Zunehmend wird der Abend komischer, tragischer, erotischer – dabei werden einzelne ›heutige‹ Begriffe diskutiert, während die Gastgeberin keine besonders talentierte Gastgeberin ist und sich immer wieder ins falsche Jahrhundert versetzt fühlt. Nebenbei wird in Anekdoten eine Geschichte der Waren, Speisen und des Kochens erzählt. (Verlagsbeschreibung)

    Von diesem Roman versprach ich mir eine unterhaltsame Gesellschaftssatire, zumal einige Rezensionen anderer Leser:innen dies durchblicken ließen. Bekommen habe ich - ja, was eigentlich? Feingeschliffene Gegenwartsbeobachtungen definitiv, ein Mosaik verschiedener, sich auch überlagender Themen, oft nur angerissen und nicht vertieft, verschiedene denkbare Szenarien desselben Abends, Gedankenblasen einer gehobenen bildungsbürgerlich-intellektuellen Schicht, Unverbindlichkeiten im Miteinander distanziert bleibender Charaktere - und noch mehr, insgesamt ein Potpourri, das mich am Ende etwas ratlos zurücklässt, weil sich bis zum Schluss nicht fassen ließ, worauf der Roman (die Novelle?) eigentlich hinauswill.

    Fünf Personen treffen sich zu einem Abendessen: die Gastgeberin, der Partner der Gastgeberin, die Ehefrau, der Ehemann, der Schweizer. Die Namen bleiben ungenannt, was zu der erwähnten Distanziertheit beiträgt. In verschiedenen Szenarien - der Abend beginnt dadurch stets auf Neue - kommen einzelne oder alle Gäste zu spät zur Einladung. Gemein ist allen Szenarien, dass literweise Crémant durch die Kehlen rinnt, ergänzt durch Rotwein. Der Alkoholpegel steigt dementsprechend, die Hemmungen fallen, es kommt zu Äußerungen, die ansonsten vielleicht nicht gefallen wären. Allerdings entwickelt sich daraus nichts Dramatisches, der Abend plätschert im Grunde vor sich hin, das Spotlight wechselt zwischen den Charakteren, wodurch der Leser / die Leserin einzelne Gedanken und Empfindungen auffängt ohne sich jedoch länger damit befassen zu müssen.

    Womit ich persönlich gar nichts anfangen konnte, waren die zahllosen Jazztitel und -Sänger:innen, die mir allesamt nichts sagten, weil ich diese Musikrichtung nicht mag. Wer sich in der Szene auskennt, kann vielleicht die Stimmung des Abends besser nachempfinden. Auch die immer wieder eingestreuten Namen von Designer:innen, Modelabeln und Künstler:innen sagten mir leider nichts, weshalb ich womöglich einigen Anspielungen nicht folgen konnte. Es wird aber deutlich, welch oberflächlichen Werten in dieser gesellschaftlichen Schicht Bedeutung beigemessen wird, auch hinsichtlich der optimierten Präsentation in den sozialen Medien. Dies wird allerdings zwar detailliert geschildert, so dass man gepostete Bilder nahezu vor sich sehen kann, jedoch m.E. nicht wirklich kritisch hinterfragt.

    Passend zur Einaldung zum Abendessen - das Herstellen einer Quiche beispielsweise kann ein abendfüllendes Programm sein, wenn die Gastgeberin so wie hier diesbezüglich unerfahren ist, es aber perfekt hinbekommen will - werden hier immer wieder auch Erinnerungen an Essensszenarien aus früheren Zeiten eingestreut. Sei es nun die gutbürgerliche Kost der Großeltern, kulinarische Reiseerlebnisse, oder auch der immerwährende eigene Versuch, einfache Rezepte perfekt zu inszenieren und als Foto zu verewigen. Teilweise endlose Aufzählungen. Aber was soll mir das sagen?

    Möchte ich zu den Leuten dieses Abends dazugehören? Nein. Crémant als Weichspüler des Abends? Bitte sehr, wer will, gerne - ich vertrage nicht viel Alkohol. Sind das wirkliche Freund:innen, die hier aufeinandertreffen? Definiere Freundschaft. Für mein Empfinden: nein. Der Roman treibt irgendwie ziellos durch den Abend, zeigt die verlogene Oberflächlichkeit dessen auf, wonach die Charaktere streben und was sie vorgeben zu sein, aber - ja, und? Und der Titel erschließt sich mir leider auch nicht.

    Es bleibt: Ratlosigkeit.

    © Parden

    Teilen
  1. Essen ist fertig...

    …oder auch nicht. Denn das lässt bei der Gastgeberin ein bisschen auf sich warten. Zusammen gekommen sind in der neuen Wohnung der Einladenden, ihr Lebensgefährte, die Ehefrau mit ihrem Ehemann sowie der Schweizer.
    Dabei muss die Gastgeberin so einiges im Laufe des Abends „aushalten“. Das Ehepaar die viel zu spät zum Abendessen erscheinen, der Schweizer, der die Wohnung mit nassen Schuhen betritt, der Partner, der Gastgeberin, der das gute Geschirrtuch dazu benutzt am Boden etwas aufzuwischen oder die Ehefrau, die so einiges am Geschirr auszusetzen hat. Doch sie macht gute Miene zum bösen Spiel und alle gemeinsam versuchen sie die Zeit bis zur Hauptspeise mit unterhaltsamen Gesprächen zum Weltgeschehen zu überbrücken.

    Teresa Präauer stellt die Szenen bzw. die Dialoge zwischen den Protagonisten treffend und pointiert dar. Der Autorin gelingt es in den Gesprächen der Beteiligten gesellschaftliche Phänomene und Verhaltensweisen kritisch und bisweilen ironisch darzustellen. Bei einigen Aussagen habe ich mich manchmal sogar leider selbst erkannt.
    Schade fand ich, dass am Tisch die meiste Zeit eine latent aggressive Stimmung herrschte und ich mich gefragt habe, weshalb die Gastgeberin diese Menschen eingeladen hat, wenn sich die Gäste untereinander doch anscheinend gar nicht mögen.
    Teresa Präauer gelingt es hingegen diese aggressive Stimmung für den Leser spürbar zu machen. Doch hat mich sehr fasziniert.

    Fazit:
    Ein unterhaltsamer Roman, der mit einer gewissen Ironie gesellschaftliche Gepflogenheiten ins Visier nimmt.

    Teilen
 

Der Anfang vom Ende

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Anfang vom Ende' von Mark Aldanow
3.7
3.7 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Anfang vom Ende"

Autor:
Format:Kindle Ausgabe
Seiten:652
EAN:
read more

Rezensionen zu "Der Anfang vom Ende"

  1. Politik und Ideologie

    Mark Aldanows Roman „Der Anfang vom Ende“ fasziniert besonders als Zeitzeugnis, denn er betrachtet den Niedergang Europas und die Gräueltaten der in Sowjetrussland, Deutschland, Spanien und Italien erstarkenden Diktaturen aus einer gleichzeitigen Perspektive, die ersten Teile des Romans entstanden laut dem sehr informativen Nachwort von Übersetzer Andreas Weihe immerhin schon 1936. Liest man „Der Anfang vom Ende“ also weniger als Roman, sondern eher als historisches Dokument, dass nicht nur Bezug auf historische Personen und Ereignisse nimmt, sondern vor allem auch die verschiedenen Perspektiven, ideologischen Geisteshaltungen und politischen Ansichten einander gegenüberstellt und vergleicht, dann ist der Roman eine sehr gewinnbringende Lektüre. Aldanow ist äußerst belesen, zahlreiche Bezüge zur russischen Literatur bevölkern den Text, sodass man sich sehr über die ausgezeichneten Anmerkungen des Übersetzers freut. Auch wenn das ständige Hin- und Herblättern den Lesefluss etwas störte, möchte ich die vielen Hinweise doch nicht missen, da sie die Lektüre sehr ertragreich machten.

    Wenn ich aber das Faszinosum der Entstehungszeit dieses durchaus in seinen Kernaussagen noch immer aktuellen Romans ausklammere, bleibt eine eher trockene Lektüre zurück. Aldanow baut ein Figuren-Sextett auf, zwischen dem die eher limitierte Handlung hin- und hergleitet. Es gibt einen kranken, alten Revolutionär mit Decknamen, einen peinlich-verliebten Botschafter mit gelben Augen (diese werden ca. 100 mal zu oft erwähnt), einen alternden, kreuzworträtselnden General, einen Schriftsteller, der sich am liebsten selbst reden hört, aber nichts Gescheites mehr zu Papier bringt, einen anarchistischen Mörder und eine betörende Nadia, der alle älteren Herren zu Füßen liegen. Der Roman folgt den Geschicken dieser Figuren, aber der Fokus liegt ganz klar auf den ideologischen, philosophischen und politischen Einstellungen der älteren Männer, die diese vorzugsweise bei einem der unzähligen Abendessen oder auch einer weiteren Soirée sehr ausführlich zum Besten geben. Zwar sind diese Einschätzungen überhaupt nicht uninteressant und vor allem perfekt auf die jeweilige Figur zugeschnitten, aber unterhaltsam ist die Lektüre solcher als Gespräch getarnten Traktate dennoch nicht. Irgendwann setzt eine gewisse Ermüdung und Redundanz ein, ohne den Handlungsstrang des Mordes und der Gerichtsverhandlung wäre der Roman schon sehr langatmig geworden.

    Dieser Hang zur ausufernden Mitteilsamkeit wird denn auch nicht die Handlung oder die Figuren ausgeglichen. Aldanow interessiert sich kaum für einen Spannungsaufbau und seine Figuren sind charakterlich nicht sehr interessant, sie dienen mehr als Vehikel für eine zu äußernde Meinung. So verschwindet die Hälfte der genannten Protagonisten zwar gewaltsam, aber auf merkwürdige Weise recht unspektakulär aus dem Roman. Bei aller Innensicht und evozierter Bedrohung lässt einen der Roman doch recht unbeteiligt zurück. Er ist – auch wenn es ein seltsames Wort ist, um Literatur zu beschreiben – irgendwie unterkühlt.

    Die Lektüre von „Der Anfang vom Ende“ empfiehlt sich dennoch, wenn man sich für die historische Komponente und die politische Diskussion begeistern kann. Als Roman ist er sicherlich hervorragend konzipiert, er kann nur leider nicht fesseln.

    Teilen
  1. Gesellschaftspanorama Europas der 1930er Jahre

    Sage und schreibe dreizehn Mal wurde Mark Aldanow für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Wie kann es sein, dass mir der Name zuvor noch nie untergekommen ist? In seinem informativen Nachwort würdigt Andreas Weihe, der den Roman nach achtzig Jahren ins Deutsche übersetzte, als Meisterwerk und nennt Aldanow in einem Atemzug mit solch literarischen Größen wie Bunin und Nabokov. Für mich galt es also, eine Wissenslücke zu schließen - zumindest ist hierzu mit der Lektüre des knapp 650 Seiten umfassenden Werkes nun ein Anfang gemacht.

    Positiv hervorheben möchte ich, dass die Ausgabe des Rowohlt Verlages dank eines erhellenden Vorwortes von Sergej Lebedew sowie des bereits erwähnten Nachwortes sowie umfassenden Erklärungen und Erläuterungen zum Text viel dazu beiträgt, das Werk der deutschen Leserschaft nahezubringen. In formaler Hinsicht ist zudem das angenehme Schriftbild positiv hervorzuzuheben.

    Der Titel "Der Anfang vom Ende" bezieht sich wohl auf einen großen epochalen Umbruch in den 1930er Jahren, deren besondere Stimmungslage zwischen den beiden Weltkriegen hier im Vordergrund des Geschehens steht. Es sind drei ältere russische Agenten durch deren Brille wir Einblicke in diese Umbruchszeit gewinnen. Sie begegnen einander im Zug von Moskau nach Paris und haben alle einen besonderen Auftrag für ihr Heimatland zu erledigen, das ein gewisses Interesse hat, bestehende machtvolle Kontakte beizubehalten. Aldanow liefert brilliante Psychogramme dieser drei Protagonisten namens Wislicenus, Kanjarow und Tamarin. Hier geht es um eine Art Gesellschaftsportrait; den Austausch über zeitgenössische politische und revolutionäre Themen und Ideen. Es gibt allerdings eine weitere wichtige Handlungsebene: Wir stoßen dort auf den Sekreatär des französischen Schriftstellers Vermandois: Alvera. Wenn ich ehrlich bin, hat mich dieser zweite Handlungsstrang weit mehr angesprochen. Wir lesen eine Art Neuauflage von Dostojewskis "Schuld und Sühne", in der Alvera zum Mörder des Schriftstellers wird.

    Insgesamt betrachtet, stellte die Lektüre des umfangreichen Werkes für mich eine große Herausforderung dar. Die verschiedenen Handlungsebenen konnte ich nicht so recht integrieren und insbesondere mit dem Erzählstrang rund um die drei russischen Agenten habe ich mich recht schwer getan - auch wenn ich einige der Diskussionen recht interessant fand. Aber es blieb bei Passagen, die mich fesselten, während ich mich mitunter etwas zum Weiterlesen "zwingen" musste. Dennoch denke ich, dass Mark Aldanow sicher ein gelungenes Gesellschaftsparama der 1930 er Jahre schreibt, sein schriftstellerisches Können steht für mich außer Frage. Ob dies allein jedoch ausreicht, um mögliche weitere Übersetzungen aus seinem Gesamtwerk zu lesen, sei dahin gestellt. Mit der Lektüre stark historisch angehauchter Werke entferne ich mich weit von meiner Comfortzone. Das ist auch mal okay, aber wird sicherlich eher ein gelegentlich erfolgendes "Experiment" bleiben - nur in meinem Fall versteht sich.

    Teilen
  1. Ein wiederentdeckter Klassiker

    Ein wiederentdeckter Klassiker

    Mark Aldanows Werk erschien im Original bereits im Jahre 1943, die Handlung des Romans ist allerdings früher angesiedelt, um 1930 und spielt hauptsächlich in Paris.
    Einleitend darf der Leser sich auf ein Vorwort von Sergej Lebedew freuen, dass ich sehr erhellend und faszinierend empfand. Um ehrlich zu sein, machte genau dieses Vorwort Lust auf den Roman, doch meine Erwartungen wurden nicht ganz erfüllt. Mich erwartete dann doch etwas anderes, doch der Zeitgeist und die Aktualität blitzen dennoch durch, und das bei einem Werk, dass 80 Jahre alt ist. Hut ab!

    Worum geht es? Die eigentliche Handlung setzt bei einer Zugfahrt an, dort lernt man die drei wichtigsten Personen kennen.
    Der Zug, aus Moskau kommend, hat Berlin zum Ziel, und seine Insassen sind größtenteils schon etwas älter. Ein sowjetischer Botschafter und seine Schreibkraft sind darunter, allesamt haben sie großes geleistet, sich einen Namen gemacht, und alle drei, Wislicenus, Kangarow und der Offizier Tamarin, sind ausgesandt die Interessen ihres Landes zu verfolgen in einer Zeit des Umbruchs. Russland hofft, die Kontakte wieder aufnehmen zu können.
    Die Unterhaltung dieser Männer könnte fast 1:1 in der heutigen Zeit stattgefunden haben.
    Die Handlung wird durch den Umstand, dass alle drei Männer ein Auge auf die Sekräterin Nadeschda geworfen haben, zwar ein wenig aufgelockert, doch mir persönlich war es oft ein wenig zu albern, mit dem liebestollen Geplänkel. Die Vorstellung, dass drei alte, intelligente Männer, sich so verhalten, erschien mir etwas abwegig, vorfallen wenn man ihre Stellung bedenkt.

    Der zweite Handlungsstrang des Romans gefiel mir allerdings ausnehmend gut. Und zwar geht es hier um den Sekretär Alvera, der für einen berühmten französischen Schriftsteller arbeitet. Als Alvera einen Mord begeht, dessen Motiv man als Leser gar nicht richtig nachvollziehen kann, bei dem sich herausstellt, das es auf der Grundlage des berühmten Werkes von Dostojewskis beruht, bietet dies einen interessanten Ausgleich, zu den drei Herren, die zwar eigentlich alle ein gemeinsames Ziel vor Augen haben, sich aber überhaupt nicht grün sind.

    Auch wenn mich einige Passagen ein wenig ermüdet haben, der Roman umfasst etwas mehr als 609 Seiten, muss ich ihm seine Brillanz, vor allem unter der Berücksichtigung der Zeit, in der er verfasst wurde, zugestehen. Dass er nun immer noch aktuelle Züge aufweist, ist zwar nicht der weisen Voraussicht des Autors geschuldet, imponiert aber trotzdem.
    "Der Anfang vom Ende"gehört zurecht zu einem für uns neu entdeckten Klassiker!

    Teilen
  1. Ein wertvolles Zeitzeugnis russischer Exilliteratur

    Mark Aldanow (1886 – 1957) verließ seine russische Heimat bereits 1919 und lebte dann überwiegend bis zu seinem Tod in Frankreich. Er war Zeitgenosse literarischer Größen wie Iwan Bunin (der ihn wiederholt für den Literaturnobelpreis vorschlug) oder Vladimir Nabokow. Der vorliegende Roman wurde 1943 in den USA unter dem Titel „The Fifth Seal“ erstveröffentlicht.

    Der Rowohlt Verlag hat dieses Werk nun nicht nur erstmalig ins Deutsche übertragen, sondern es auch aufwändig und leserfreundlich mit vielen zusätzlichen Informationen ausgestattet. Zu erwähnen ist hier die hervorragende Übersetzung von Andreas Weihe, der auch zahlreiche Anmerkungen zum Text sowie ein Nachwort beigesteuert hat. Wer sich für Kunst und Berühmtheiten der Zeit interessiert, wird zahlreiche Erwähnungen und Erklärungen finden, die zu weitreichenderen Recherchen einladen. Darüber hinaus stimmt das überaus kluge Vorwort des russischen Autors und Journalisten Sergej Lebedew auf den Roman ein, indem Lebedew dessen Relevanz für das Verständnis der aktuellen Russlandpolitik aufzeigt. Das Schriftbild hat eine angenehme Größe, auch Französisch gehaltene Textstellen werden komplett übersetzt. Kompliment für diese Leserfreundlichkeit!

    In einem Zugabteil treffen sich drei hochrangige Funktionäre der russischen Regierung, die aufgrund ihres Lebensalters dem Vaterland bereits unter verschiedenen Systemen gedient haben. Ihr Ziel ist Paris, jeder hat seinen eigenen geheimen Auftrag. Der Bolschewismus brodelt an vielen Stellen Europas, der Traum von der kommunistischen Vorherrschaft ist längst nicht ausgeträumt. Bei den drei Herren handelt es sich um den Berufsrevolutionär Wislicenus, den hochrangigen Diplomaten Kangarow und den Berufsoffizier Tamarin. Mit von der Partie ist die Botschaftssekretärin Nadeschda, die mehr oder minder von den drei Herren verehrt wird. Die Männer treffen im Laufe der nächsten Jahre immer wieder in Paris zusammen, sie müssen miteinander kooperieren, obwohl sie lebhafte Antipathien gegeneinander hegen. Gemeinsam ist ihnen die Angst vor dem unkalkulierbaren Stalin-Terror, der in der Heimat um sich greift und dem schon manch alter Weggefährte unschuldig zum Opfer fiel. Markant dabei: Die Methoden, unliebsame Dissidenten auszuschalten, unterscheiden sich heute kaum von den damals üblichen.

    Als Leser begleiten wir diese drei Männer durch Europa, ein Großteil der Handlung ist im Paris der 1930er Jahre angesiedelt, wodurch wir einen vielschichtigen Blick auf die gehobene, privilegierte Pariser Gesellschaft erlangen, zu der auch der vermeintlich kommunistische Schriftsteller Louis Vermandois gehört, dessen Ruhm die Größe seines Geldbeutels bei weitem übersteigt. Seine Mäzenin, die Gräfin de Ballancombe, lädt regelmäßig zu opulenten Gesellschaften oder künstlerischen Salons ein, bei denen sich die russischen Protagonisten immer wieder begegnen dürfen. Ein weiterer Handlungsstrang behandelt die Mordtat des anarchistischen Schreibers Alvero, die an Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ denken lässt und sich mit moralischen wie juristischen Dissonanzen auseinandersetzt. Der Übersetzer bezeichnet diesen Mordfall als Novelle innerhalb des Romans.

    In der Tradition der großen russischen Romane bildet „Der Anfang vom Ende“ die Epoche der politisch wie gesellschaftlich bewegten 1930er Jahre ab. Jedes Kapitel wird aus der Sicht einer Figur erzählt. Dazu gehören Erinnerungen, Gespräche, Begegnungen, Innensichten, vergangene wie aktuelle Erlebnisse, die nicht chronologisch geordnet sind. Durch dieses bunte Potpourri an Perspektiven und Stimmungen werden Widersprüche, Wünsche und Sehnsüchte der Figuren aufgedeckt, die sich der Gefahr, in der sie latent schweben, bewusst sind. Aldanow widmet sich auch seinen Nebencharakteren mit großer Sorgfalt. Die Figurendarstellung macht den Roman, der zum Ende hin seine Spannung enorm zu steigern weiß, lebendig und kurzweilig.

    Es ist faszinierend, wie früh der Autor als Zeitzeuge die Schattenseiten des Bolschewismus sowie seine Entwicklung zur Stalin-Diktatur kritisiert und Parallelen zu anderen faschistischen Regierungen in Deutschland, Spanien und Italien herausgearbeitet hat. Dabei ist die Tonlage des Romans vielseitig und leicht zugänglich. Die Bandbreite bewegt sich von ernsten politischen, teils kontroversen, Diskussionen über gesellschaftsphilosophische Gedanken hin zu leichtfüßigen, fast komischen Szenen und Dialogen. Diese gelungene Balance aus Historie mit hochaktuellen Bezügen und Humor habe ich überwiegend als sehr spannend und unterhaltsam empfunden. Manche Ausführungen hätten allerdings auch etwas kürzer sein dürfen. Immer wieder tauchen unglaublich weitsichtige, nachdenkenswerte Gedanken im Text auf, die die verschiedenen politischen Systeme gegeneinander abwägen und bewerten. Was war das für ein Gefühl, im demokratischen, wohlständigen Frankreich zu sitzen, während in großen Teilen Europas und Russlands die Faschisten ihr Unwesen trieben und Kriege wüteten?

    Ich halte den Roman für eine gelungene Wiederentdeckung und gebe gern eine Leseempfehlung für diesen russischen Klassiker!

    Teilen
  1. 4
    24. Jul 2023 

    Innenansichten aus Europa zweier Diktaturen und lauer Demokrati

    In seinem Roman “Der Anfang vom Ende” schickt Mark Aldanov eine lose Gruppe von Russen aus dem nachrevolutionären Russland in den Westen, genauer, nach Frankreich (meistens Paris). Auf der Zugfahrt u.a. durch das frühfaschistische Deutschland lernen sie sich kennen und bleiben im Folgenden während ihrer Jahre in Frankreich in relativ losem Kontakt zueinander.
    Als zusätzliches Personal des Romans führt Aldanov zudem noch einige französische Figuren ein, die sich im Wesentlichen um den Schriftsteller Vermandois scharen bzw. in irgendeiner Beziehung zu ihm stehen.
    Diese etwas zusammengewürfelte Gruppe von Figuren der 30er Jahre nutzt Aldanov dazu, um über Einblicke in deren Innenleben dem geistigen Zustand Europas in dieser Zeit eines heraufziehenden Krieges und zweier strikter und auf den ersten Blick gegensätzlicher Diktaturen nachzuspüren.
    Es ist deshalb ein Roman, in dem nicht die Handlung im Mittelpunkt steht. Denn davon gibt es relativ wenig. Viel wichtiger sind die Innenansichten der Figuren, in denen sie oft monologisch ihre Situation angesichts der politischen Lage überdenken. Die russischen Vertreter treten dabei nicht ansatzweise als Verteidiger oder Missionare auf vom dem, was gerade in ihrem Land passiert ist: ein breit angelegtes gesellschaftliches Experiment (die bolschewistische Revolution), und das dazu dienen sollte, allüberall Nachahmer zu finden und die Welt nachhaltig zu verändern. Moskau steht für sie für die Bedrohung durch Observation und mögliche Verurteilung zu Lager oder sogar schlimmer, so wie es mit vielen Kollegen zeitgleich vor Ort tatsächlich geschieht. Die französischen Vertreter zeigen sich als nur sehr lau interessierte Beobachter dessen, was da in Russland geschieht. Ihre „linke“ Orientierung beschränkt sich auf Skepsis gegenüber Reichtum und kommt bei weitem nicht an eine revolutionäre Orientierung heran. Und so leben die Menschen in Frankreich als Nachbarn eines faschistischen, auf Krieg ausgerichteten Regimes und schauen mit wenig Interesse auf das weiter entfernte diktatorische Sowjetregime genauso wie sie für den Gegenentwurf Demokratie wenig Begeisterung und Einsatz zeigen. Überzeugungslosigkeit ist vielleicht das, was alle miteinander prägt und die Gesellschaft so in eine Katastrophe führt.
    Diese Analyse Aldanovs ist so ungemein aktuell, dass die Neupublikation dieses vergessenen Romans nicht besser zeitlich platziert sein könnte. Man muss den Roman als gesellschaftlichen Analyseroman lesen und von ihm nicht die literarische Aufarbeitung der 30er Jahre in Frankreich/Russland suchen, dann ist er wirklich ein Glanzstück russischer Exilliteratur und mehr als wert, den Lesern heute neu angeboten zu werden. Ich gebe dicke 4 Sterne.

    Teilen
  1. Stimme eines Zeitzeugen im Exil

    Europa Ende der 1930er Jahre. Den Menschen über 30 ist die Erinnerung des 1. Weltkriegs noch im Kopf und trotzdem rüsten sich die Länder erneut für den Kampf. In Spanien tobt der Bürgerkrieg (1936-1939), das faschistische Italien hat Abessinien (Äthiopien, 1935) überfallen und in Deutschland schickt sich ein Malergeselle an, die Welt zu erobern.
    Es ist die Zeit der Neuordnungen, der Gesellschaftsreformen und der Suche nach diplomatischen Beziehungen. Stalin hat seine Sowjetische Union fest im Griff, sogenannte Säuberungswellen durchlaufen das Land und versetzen die Menschen in Angst und Schrecken.

    Es ist das Ende der Zwischenkriegszeit, als sich ein Zug von Moskau Richtung Westen auf dem Weg macht. Das Ziel ist Paris und an Bord befinden sich drei Herren aus sehr unterschiedlichen Kreisen, doch alle mit russischem Auftrag im Gepäck. Botschafter Kangarow soll diplomatische Beziehungen knüpfen, das Militär in Form des ehelmailgen Weißgardisten Tamarin soll die Spanier in ihrem Krieg strategisch unterstützen und die Aufgaben des schwerkranken Bolschewisten Wislicenus bleiben unklar. Er arbeitet im Untergrund, doch wird der Jäger bald auch zum Gejagten.

    Alle Drei hoffen, in Paris in Vergessenheit zu geraten, nur die junge, hübsche Botschaftssekretärin Nadja träumt von einer Schriftstellerkarriere in ihrer russischen Heimat. Das Leben in der Stadt der Lichter geht seinen Gang, Freud und Leid liegen dicht beieinander.

    Aldanow beleuchtet die Gesellschaft in Paris ausführlich und nimmt sich Zeit, uns die Geschichte des französichen Schriftstellers Vermandois und seines Sekretärs Alvera, der schließlich einen Doppelmord begehen wird, zu erzählen. Es mutet wie ein Abschweifen von unseren eigentlichen Protagonisten an, doch wird bald deutlich, dass Aldanow exemplarisch die Irrungen und Wirrungen des Menschen im Angesicht der großen Unsicherheiten, die sich aus allen Richtungen anbahnen, wiedergibt und letztendlich auch unsere Hauptfiguren trifft.

    Der 1896 in Kiew geborene Aldanow emigrierte schon 1919 selbst nach Paris, seiner jüdischen Abstammung geschuldet 1940 nach New York. Als Exilrusse verstand er die Sorgen und Nöte seiner Landsleute und hat mit diesem Roman ein Portrait seiner Zeit gezeichnet, das keine abgeklärte Rückschau ist, dafür vielmehr eine prophetische Weitsicht aufweist, die einem angesichts imperialistischer Bestrebungen aus dem Osten, kalte Schauer über den Rücken laufen lässt. Denn ähnlich Stalin, lässt auch Putin keine Zweifel an seinem Machtstreben.

    Ein Vorwort von Sergej Lebedew vom Oktober 2022 und ein Nachwort von Andreas Weihe, der auch aus dem Russischen übersetzt hat, ordnen Text und Autor zielsicher ein. Lebedew schürte Erwartungen in mir, die der Roman scheinbar nicht einhalten wollte, doch mit ein wenig Bedenkzeit, war auch dieser Zwiespalt überwunden. Aldanow ist mir verständlicher als der viel bekanntere Boris Pasternak. Aldanow hat mich gut und nachvollziehbar unterhalten.

    Die großen "Qs" im Text, mit ihren extralangen Unterschwüngen waren eine zwar seltene, dafür aber umso willkommener Augenoase für mich. Allerdings haben mich die auch in wörtliche Rede gesetzten Gedanken (gleiche Zeichensätze) manchmal aus dem Tritt gebracht. Ebenso die fränzösichen Textpassagen, die zwar auf der selben Seite, aber immer in der kleineren Schrift einer Fußnote übersetzt wurden, spielten dann wieder Ping Pong mit meiner Sichtachse.

    Teilen
  1. 3
    20. Jul 2023 

    Allzu philosophische Analyse

    Der Roman des Exilrussen Aldanow spielt Ende der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Hitler ist bereits an der Macht, der Krieg ist schon zu ahnen. In der Sowjetunion ist die Zeit des Großen Terrors angebrochen.

    Vier Russen sitzen in einem Zug nach Westen: Der Sowjet-Botschafter für die Niederlande, Kangarow-Moskowski, mit seiner Entourage: Tamarin, eine zaristischer General, Wislicenus, Geheimdienstler mit kryptischem Auftrag, und Nadeschda Iwanowna, die junge Sekretärin des Botschafters. Jede Figur steht für einen bestimmten Typus Sowjetbürger, jede von ihnen ist in unterschiedlichem Grad indoktriniert, am meisten Nadeschda, die im Sowjetstaat aufgewachsen ist.

    In Paris begegnen sie dem alten Schriftsteller Vermandois; er steht für die linken Intellektuellen des Westens, die mit dem sowjetischen „Experiment“ sympathisieren und sich die vergangenen Gewaltexzesse ebenso schönreden wie Stalins Säuberungen. Vermandois´ junger Sekretär nun, Alvera, ist ein figurgewordenes Dostojewski-Zitat. Das Ensemble wird vervollständigt durch eine ideologisch flexible Gräfin von altem Adel mit ihrem mondänen Salon und einen Anwalt mit politischen Ambitionen, dessen liberales Weltbild unserem am nächsten kommt.

    Alle Russen sind von Paris und dem freien Leben dort bezaubert, wahren jedoch nach außen eine überlegen-kritische Haltung dem dekadenten Westen gegenüber. Die Franzosen sind offen fasziniert von den exotischen Russen und deren Trinkfestigkeit. Wodka und Champagner spielen eine große Rolle im Roman – die beiden Getränke repräsentieren die unterschiedlichen Kulturen.

    Bald eskaliert die Handlung um Alvera, die sich für mich ein wenig fremd im Roman anfühlte. Denn allem Drama zum Trotz liest Aldanows Roman sich alles andere als dramatisch. Sein Roman verortet sich eher in der Vormoderne, sein Duktus ist breit angelegt und lehnt sich an die russischen Klassiker an. Aldanow stellt seine Protagonisten in verschiedene gesellschaftliche Situationen und lässt sie ausführlich diskutierten und monologisieren. Vor allem Vermandois ist in der Lage, ad hoc jede beliebige Meinung überzeugend zu vertreten. Umso überraschender wirkt es, als ausgerechnet er am Ende Integrität und Würde hochhält – ein Hinweis auf Aldanows Selbsteinschätzung?

    Der Roman verarbeitet die brennenden Fragen jener Zeit – der dekadente Pomp der Monarchie; die Schwächen und Stärken von Demokratie vs. Diktatur; den Wahnsinn des Bürgerkriegs und das Wesen der menschlichen Natur, an dem letztlich jede Ideologie scheitern muss. Die Zeitenwende vom Humanismus hin zu all den destruktiven Ismen, die ihm folgen sollten, wird von allen Romanfiguren mehr oder weniger klar erkannt. Jede Figur im Roman sieht das Verhängnis kommen, das in der Sowjetunion begann und nun von Deutschland weitergetragen wird. Die Angst vor den Konsequenzen für das eigene oder nationale Wohl verhindert, dass die Gefahr benannt und gebannt wird. Auch vor dem Wesen von Stalins Herrschaft verschließt der Westen die Augen. Aldanows frühe Klarsicht bezüglich der politischen Versäumnisse fand ich beeindruckend.

    Als der Roman zum ersten Mal veröffentlicht wurde, 1942 in den USA, schlug er ein wie eine Bombe – denn er war der erste, der es wagte, die Parallelen zwischen Sowjetregime und Faschismus aufzuzeigen. Für uns, 80 Jahre später, ist diese Erkenntnis weder schockierend noch neu. Dennoch haben mich einige Szenarien im Roman mit ihrer Hellsichtigkeit überrascht.

    Aldanows Sprache gefiel mir gut in ihrer kunstvollen Lebendigkeit; ich mochte die warmherzige Ironie seiner Figurenzeichnung. Allerdings sind ihm die Diskussionen seiner Protagonisten ein wenig wirr und deutlich zu lang geraten. Ihre Erörterungen lesen sich oft so akademisch, dass bei mir Langeweile aufkam. Ich habe den Roman nicht ungern gelesen, hätte mir aber letztlich mehr Klarheit, mehr Dynamik und weniger Philosophie gewünscht.

    Teilen
  1. Drei typische Vertreter des Stalinregimes in Paris

    Hochintellektuell, politisch, philosophisch, gesellschaftskritisch, für mich langweilig und verworren

    Leider habe ich mich mit diesem Buch schwer getan und daran ist nicht die Handlungsarmut Schuld, auch nicht die vielen inneren Monologe, sondern für mich war in diesen keine klare Linie erkennbar. Zudem hat das Vorwort des russischen Schriftstellers Lebedew in mir falsche Erwartungen geweckt, es sei ein 'Werk, das den Mechanismus einer moralischen und historischen Katastrophe erforscht.' (10). Zwar wird dies thematisiert, ergab für mich aber kein deutliches Bild, sondern ein verworrenes. Zu viele Gedanken, zu viele Themen und dann auch noch eine Mordgeschichte mit Gerichtsverhandlung à la Dostojewski – ein imitierter Raskolnikow - , die zwar etwas Spannung hineinbrachte, deren Funktion im Buch für mich aber nicht erkennbar war.

    Aldanow, Exilrusse, schrieb das Buch in den Dreißigern in Paris, aber es enthält zweifellos Sätze, Gedanken, Einsichten, die auf die heutige Zeit übertragbar sind. Nur sind sie leider in einem Wust anderer Gedanken und Vorkommnisse für mich zu versteckt gewesen und darin untergegangen.

    Drei ältere Russen – Vertreter des Stalinregimes - reisen mit dem Zug von Moskau nach Paris, jeder mit seiner speziellen Aufgabe: der Diplomat Kangarin mit Ehefrau, der Militär Tamarin, der später nach Spanien in den Bürgerkrieg abkommandiert wird und der Berufsrevolutionär Wislicenus, dessen wirklichen Namen man nie erfährt und der möglicherweise eine geheime Aktion durchführen soll. Dabei ist auch Nadeschda, die junge hübsche Sekretärin, die allen dreien gut gefällt.

    Wir verfolgen ihren Weg in der Pariser gehobenen Gesellschaft, wo auch der Schriftsteller Vermandois verkehrt, der mit den Kommunisten sympathisiert, aber in seiner Einstellung ein wenig schwankend ist. Nicht nur tauchen wir in die gedanklichen Innenwelten der Personen ein, es werden auch die Salongespräche ausführlich dargestellt. Dabei ergibt sich für mich kein klares Bild. Das mag zwar der Realität entsprechen, hätte aber für einen Roman mehr erkennbaren roten Faden haben dürfen. So war es mir leider zu viel an politisch-philosophischem Gerede. Aldanow schreibt selber, dass die Gedanken Kangarows 'sprunghaft, verworren und chaotisch' sind (540) und so empfinde ich das für viele Stellen im Buch.

    Fazit
    Meine Einschätzung: Aldanow kann schreiben, aber als Leser sollte man nicht das Gefühl haben, mit Gedanken überschüttet zu werden.

    Was mich auch gestört hat, waren die vielen Stellen im französischsprachigen Original, die zwar als Fußnoten übersetzt waren, aber den Lesefluss störten, ebenso wie die Anmerkungen hinten, die die allzu vielen Verweise Aldanows auf literarische, politische und sonstige Personen und Sachverhalte erklärten.

    Ich hätte mir mehr klarer erkennbare Mosaiksteinchen gewünscht, die zu einem besseren Verständnis der gegenwärtigen Weltlage beitragen, dem 'Gefühl der absoluten moralischen Katastrophe, die über Russland hereingebrochen ist, …' (Lebedew 17).

    Teilen
  1. Interessant, entdeckenswert, lesenswert

    „Zu allen Zeiten haben die moralischen und politischen Bankrotteure verkündet, dass es nicht ihre Schuld war, wenn ihr Experiment schiefging, dass ihnen die Zukunft gehört, dass die Nachwelt ihnen recht geben, das die Geschichte ihr Urteil noch sprechen wird.“ (Zitat Seite 313)

    Inhalt
    Drei Herren im fortgeschrittenen Alter reisen gemeinsam in einem internationalen Botschaftswaggon mit der Bahn von Moskau nach Paris. Allerdings liegen unterschiedliche Aufgaben vor ihnen. Der Ökonom und Diplomat Kangarow-Moskowski blickt auf eine Parteikarriere in diversen politischen Konstellationen zurück. Nun wurde er endlich in den diplomatischen Dienst berufen und tritt in einer kleinen Monarchie den Posten als bevollmächtigter Gesandter an. Der ebenfalls mit einem Diplomatenpass mitreisende Agent, Spion, Revolutionär Wislicenus kann den Botschafter nicht ausstehen, doch in den kommenden Jahren treffen sie bei gesellschaftlichen Gelegenheiten immer wieder aufeinander. Was die beiden Herren mit dem dritten Mitreisenden gemeinsam haben, dem erfahrenen Militärexperten Konstantin Alexandrowitsch Tamarin, der dienstlich nach Paris reist, ist das Wissen, dass ein neuer Krieg knapp bevorsteht, dazu die innere Sorge, dass die stalinistischen Säuberungen in der Heimat auch sie treffen könnten und eine heimliche oder weniger heimliche Schwärmerei für die junge Botschaftssekretärin Nadeschda Iwanowna. Der bekannte, früher sehr erfolgreiche französische Schriftsteller Louis Etienne Vermandois steht ideologisch dem Kommunismus nahe, brilliert bei den Abendgesellschaften als literarisch gebildeter, sprachgewandter Redner und hält seine Zuhörer generell für dumm und ungebildet. Er schreibt gerade an einem geplanten Roman über das antike Griechenland, während sein Sekretär Alvera heimlich eine Waffe kauft und den perfekt nach Dostojewski inszenierten Mord plant. Sie alle drehen sich in diesen prägenden Jahren wie ein Karussell im Kreis. Sich ihren persönlichen Zweifeln an früheren Überzeugungen und ihrem Platz in der aktuellen politischen Lage stellend, klammern sie sich fest, hoffend, nicht zu stürzen.

    Thema und Genre
    Dieser Roman ist ein eindrückliches, vielschichtiges Zeitbild der späten 1930er Jahre, ein sozialkritischer, politischer Gesellschaftsroman mit überlegt und gekonnt gewählten Figuren, die nachvollziehbar für die jeweilige Meinung und das entsprechende Verhalten stehen und die Darstellung einer Vielfalt von essentiellen Themen ermöglichen. Es geht besonders um die Darstellung der unsicheren politischen Situation dieser Jahre, Russland unter Stalins Diktatur, Deutschland unter dem Führer Adolf Hitler und seinen Nationalsozialisten, Spanien im Bürgerkrieg. Auch die Literatur ist ein wichtiges Thema.

    Charaktere
    Es sind Figuren zwischen Hoffnung und Resignation, in ihren Ansichten und Bewertung des eigenen Verhaltens im großen weltpolitischen Zusammenhang rückblickend zerrissen und zweifelnd. „Wieder überkamen ihn die alten, inzwischen fast schon vertrauten schwermütigen Gedanken, dass alles umsonst gewesen war, dass das ganze Leben ein Irrtum war, dass von den früheren Überzeugungen fast nichts mehr übrig war, bei niemandem.“ (Zitat Seite 312)

    Erzählform und Sprache
    Ort der Handlung ist überwiegend die Stadt Paris in den späten 1930er Jahren. Die Handlung als Ganzes wird fortlaufend geschildert, wobei auch Zeiträume ereignislos übersprungen werden, dies aber für den gesamten Figurenkreis. Doch obwohl die Ereignisse im Leben der einzelnen Protagonisten chronologisch erzählt werden, besteht dieser Roman aus aneinander gereihten Episoden, Teilchen, die sich nicht unbedingt zusammenzufügen, sondern die Zerrissenheit dieser Jahre zeigen. Sie bleiben es Bruchstücke, die dennoch einem gemeinsamen Spannungsbogen folgen. Die Geschichte um Alvera, dem jungen Sekretär des Schriftstellers Vermandois, und den von ihm geplanten, perfekten, skrupellosen Mord nach literarischem Vorbild, wechselt zeitlich mit den andren Handlungssträngen ab, ist jedoch eine eigenständige, in sich abgeschlossene Erzählung.

    Fazit
    Es sind die langen inneren Monologe der einzelnen Figuren, ihre unterschiedlichen Bewertungen der politischen Situation, aber auch die intensive Hinterfragung des eigenen Lebens, sowie die literarischen und philosophischen Aussagen, die diesen Roman so interessant, spannend und lesenswert machen. Denn hier handelt es sich um ein Zeit- und Gesellschaftsbild direkt aus den 1930er Jahren, mit authentischen Beobachtungen und Aussagen, und nicht um den Bericht von heutigen Historikern oder Politwissenschaftlern. Was Mark Aldanow damals nicht ahnen konnte ist, wie sehr sich alles gerade jetzt, etwa neunzig Jahre später, wiederholt.

    Teilen
  1. Russische Exil-Literatur. Ein Zeitzeugnis.

    Kurzmeinung: Interessant, einmal einen Blick in die russische Exil-Literatur zu werfen.

    Mark Aldanow (1886 in Kiew-1957 in Nizza), ein Schriftsteller, dessen Werke man unter die russische Exilliteratur rechnet, hat mit dem erstmals in deutscher Fassung vorliegenden Roman „Der Anfang vom Ende“ einen sozialpolitischen Roman geschrieben, der sich kritisch gegenüber dem Kommunismus/ Bolschewismus in der Sowjetunion ausspricht und auch gegen den deutschen Nationalsozialismus ins Feld zieht. Als der Roman 1943, mitten im Krieg, in New York unter dem Titel „The Fifth Seal“ erschien, wurde er vielbeachtet und bekam ihn frenetisch feiernde Rezensionen. Für die damalige Zeit sprach Mark Aldanow offene Worte.

    Zum Inhalt:
    Vier alternde Männer ziehen Resümee, philosophieren, politisieren und denken über ihre Vergangenheit nach und vage an ihre Zukunft, da ihnen schwant, dass davon nicht viel übrig bleibt. Kangarow ist ein Diplomat, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängt und mit unklarer Order von Moskau nach Paris geschickt wird. Gleichzeitig fungiert er als Botschafter in einem nicht näher erklärten, daher fiktiven kleinen Königreich. Im Ausland liest er in den französischen Zeitungen mit Entsetzen von den in Moskau begonnenen stalinistischen „Säuberungen“, die nicht vor Lenins einstigen Kampfgenossen haltmachen.

    Auch Wislicenus, ein Berufsrevolutionär, von dessen Revolutionsgeist nicht viel übrig geblieben ist, um nicht zu sagen gar nichts, fürchtet, von diesen Säuberungen erwischt zu werden. Doch Tamarin, ein alternder General, weiß, dass der Soldat beziehungsweise das Militär immer gebraucht werden wird, ganz gleich, welche politischen Ziele oder Ideale die obersten Heeresführer im Sinn haben mögen. Ihn verschlägt es in einer letzten Mission in das vom Bürgerkrieg erschütterte Spanien.

    Ein in Paris gockelnder alter Schriftsteller, weit in seinen Siebzigern, Mr Vermendois, einst berühmt, muss jedem nach dem Mund reden, um seine nicht mehr so beliebten Schriften unters Volk zu bringen, er muss mit den Wölfen heulen, um seinen Lebensstandard aufrechterhalten zu können. „Wenn man unter Wölfen ist, muss man mit den Wölfen heulen“, das ist eigentlich der Leib-und Magenspruch des Diplomaten Kangarow, aber er trifft viel mehr auf den Schriftsteller zu. Denn verlegt, veröffentlicht und bezahlt zu werden hängt nicht nur mit der Qualität seines Schaffens zusammen, wie er wohl weiß, sondern vor allem mit seinem sozialen Status. Eine letzte Lesereise ist ein Fiasko, er scheint finanziell am Ende, da erhält er ein verlockendes Angebot aus Russland .

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Die geneigte Leserin braucht eine geraume Zeit, um im Roman richtig anzukommen und mit den Figuren warm zu werden. Sie erscheinen eben doch aus einem anderen Jahrhundert, daher gestelzt und geziert in ihrem Auftreten und ihrer Redeweise und sie haben den Blick stets auf sich selbst gerichtet; außerdem sind sie sich überraschend ähnlich und verfügen über wenige individuelle Züge. Sie sind auch nicht als Charakterbilder gedacht, sondern stehen für ihren Stand. Militär. Politiker. Berufsrevolutionär.

    Mark Aldanow flicht in die Reden und Diskussionen der alten Herren gefühlt flächendeckend die französische und russische zeitgenössische Kultur ein, wovon zahlreiche Fussnoten zeugen. Wer sich also in der Kultur/Literatur des 19. Jahrhunderts und des gerade angehenden 20. Jahrhunderts zu Hause fühlt, wird viele alte Bekannte treffen oder, wenn er sich dort nicht auskennt, viele Hinweise erhalten, denen er bei Bedarf nachgehen kann. Diese Verweise und Fußnoten finde ich interessant. Dem damaligen Leser waren diese Bezüge freilich aus dem Effeff bekannt. Er brauchte keine Fußnoten, die Zeitgenossen verstanden jede Anspielung. Vorteil oder Nachteil? Leider doch ein Nachteil für den heutigen Leser.

    Der Roman ist eigentlich handlungsarm und spult sich undramatisch ab. Der Fokus liegt auf den politisch-philosophischen Diskussionen aller mit allen, wobei der Schriftsteller Vermendois derjenige mit den klarsten und erhellendsten Gedanken ist, aber auch derjenige, der die längsten Monologe hält. Er erklärt dies sich selbst und seiner Zuhörerschaft damit, dass er schließlich zu den gesellschaftlichen Events eingeladen wird, um zu parlieren, er ist also eine Art Gesellschafter. Zu den heutigen Partys lädt man ein oder zwei extrovertierte Spaßvögel oder Ulknudeln ein, die Stimmung machen, damals jemanden, der geistreich parlieren kann – und das tut Vermendois: er kaut mir ein Ohr ab.

    Das Undramatische, Unaufgeregte hat zwar auch einen gewissen Sog, aber das Gedankengut der vier Herren allein kann heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Wir wissen heute eben all das, was Mark Aldanow damals kaum zu denken und auszusprechen wagte.

    Ich bin deshalb geneigt, „Mehr Drama, Baby“ hineinzurufen in den Roman, weiß aber, dass meiner Aufforderung kaum Folge geleistet werden wird. Oder vielleicht hat Aldanow aus der Zukunft meinen Ruf doch gehört, denn er schreibt eine Mörderposse in den Roman. Ein sehr junger Mann plant den perfekten Mord. Obwohl man mir sagt, dass diese „Novelle“ im Roman spezifisch russisch ist, eine Hommage an Dostojewski, der beschriebene Attentäter soll ein Aldanowscher Raskolnikow sein, bleibt dieser Mord plus Prozess meines Erachtens ein Fremdkörper im Text. Dostojewski ist sowie so nicht mein Fall.

    Zu meiner großen Überraschung erweist sich am Ende der eitle Gockel Vermendois als einziger Held, fast wider Willen. In einer Gemengelage von Trägheit, Dummheit, Scharfsichtigkeit und Idealen, ist er der einzige, der fast ständig gegen seine eigenen Interessen handelt und endlich sogar die Fahne der Tugend hochhält. Vivat auf die Literatur! Ob sich Aldanow mit Vermendois identifizierte?

    Das Vorwort des Romans ist wuchtig, das Nachwort informativ. Aber ich bewerte den Roman, nicht sein Zubehör.

    Fazit: Der Roman „Der Anfang vom Ende“ ist ein hochwertig komponierter Roman, das schon, der jedoch aufgrund seiner plakativen Figuren und seiner rein auf die Vergangenheit bezogenen politisch-philosophischen Dialoglastigkeit, heute nicht mehr punkten kann und quasi überholt ist. Sowohl über den Nationalsozialismus wie auch über den in der Sowjetunion praktizierten Kommunismus, wissen wir schließlich Bescheid. Auch die Handlungsarmut und der weitgehende Verzicht auf dramatische Effekte sind unmodern. Als literaturgeschichtliches Zeitzeugnis bleibt der Roman jedoch zeitlos und wertvoll.

    Kategorie: Exilliteratur.
    Verlag: Rowohlt, 2023

    Teilen
 

Seiten