Josephus-Trilogie

Ein Blick auf verschiedene Generationen einer sardischen Familie, ein Blick vom Gestern ins Jetzt, ein Blick auf die Geschichte und auf ein anderes Land, ein Blick auf Sardinien und auf Italien und auf einen gewissen Konflikt der beiden Länder, ein Blick auf eine andere Mentalität, eine interessante Mentalität, ein Blick auf das Leben, ein Blick auf die Menschen, ein Blick auf eine nicht perfekte Welt und genauso ein Blick auf Versuche des Umgehens mit dieser nicht perfekten Welt. Es wird in einer unaufgeregten Sprache erzählt, nüchtern berichtend, dennoch liegt aber in diesen Worten eine versteckte Emotionalität, und dieses Buch ist auch durchaus interessant, hat einen ganz eigenen Sog. Man kommt ins Sinnieren über das Leben über diesem Buch, denkt über vergangene Generationen nach und ihr Leben und vergleicht. Interessant gemacht von einer Autorin, die als Kind sardischer Eltern in Genua geboren wurde und heute wieder in Sardinien lebt. Es fließen also genügend biographische Elemente in dieses Buch ein. Genauso wird dieser Roman von einer gewissen Melancholie getragen, vielleicht auch eine eng mit Sardinien verknüpfte Melancholie, dennoch liegt auch eine Kraft in diesen Worten, denn trotz aller Melancholie gibt es auch ein vorwärts gerichtetes Denken. Und trotzdem dieses Buch in einer Gegend des Machismo handelt, strotzt es nur so vor interessanten weiblichen Charakteren und ist auch dadurch recht interessant zu nennen. Denn diese weiblichen Charaktere haben es in sich, sie sind eckig, haben Kanten, sind dickköpfig, aber auch weich, haben alles an sich, um interessante und vor allem glaubhafte Charaktere zu sein. Im Original heißt dieses Buch "Terre Promesse", ins Deutsche übersetzt "Gelobtes Land". Vielleicht ein passenderer Titel, denn diese Suche nach dem gelobten Land zieht sich durch die drei Teile des Buches, die drei Hauptprotagonisten sind Suchende. Doch wo liegt dieses gelobte Land, in der verheißungsvollen Ferne oder in einem Selbst?!?!
„Wie schafft man es bloß, an einem solchen Ort zu leben?“
Die Welt ist nicht perfekt. Nicht für Ester, die weg will von Sardinien, weg von der Enge der Insel, der Engstirnigkeit der Mutter, die Ester für den Freitod des Bruders verantwortlich macht. Aber auch am Festland, in Genua, später in Padua, Ester findet mit ihrem Raffaele und der Tochter Felicita kein Glück, weil die Familie anders ist als die Städter. Raffaeles Welt war geprägt vom Krieg, vom Hass gegen den Faschismus, vom Gefangenlager, aber auch von der unbändigen Kraft der Musik.
Felicita, der Tochter fehlt ein Akzent am kleinen a zu ihrem Glück. Selbst als die Familie nach Sardinien zurückkehrt und sich Felicita verliebt. In Sisternes, den Sohn aus reichem Haus, der sie nur für seine Lust benutzt und Felicita das mit Liebe verwechselt.
Und schließlich Gregorio, Felicitas Sohn, das besondere Kind, der Musiker, der den Schritt wagt, nach Amerika zu gehen und dort auch kein Glück findet.
„Wie schafft man es bloß, an einem solchen Ort zu leben?“
Die Welt ist nie perfekt, nicht auf Sardinien, nicht am italienischen Festland, nicht in New York. Auch wenn das Gras überall anders viel grüner scheint als dort, wo man gerade ist. Was Ester nicht schafft, bringt Felicita zustande. Sie findet Befriedigung im Kleinen, auch wenn es lange, lebenslange dauert.
Milena Agus hat mit ihrem Roman „Eine fast perfekte Welt“ eine besondere Liebeserklärung an Sardinien geschrieben. Wie schon in ihren anderen Romanen (Die Frau im Mond, Die Flügel meines Vaters) sind vor allem ihre Frauenfiguren komplex und kompliziert. Diese Frauen handeln nicht immer nachvollziehbar, bewegen sich oft am Rande des Absonderlichen, perfekt unperfekt , getrieben von Sehnsüchten und dem Bestreben nach Erfüllung. Milena Agus beschreibt, aber sie bewertet nicht, lässt den Leser allein mit der Interpretation, was manchmal schwerfällt. Ester, Felicita, die alte (Groß)mutter, Felicitas Freundin in Cagliari, sie alle stehen der kargen Schönheit, der schroffen und pittoresken Insel Sardinien in nichts nach.
"Eine fast perfekte Welt" von Milena Agus ist ein tolles Lesevergnügen. Auf knapp 200 Seiten schildert die Autorin eine Art Familiengeschichte im Zeitraffer.
"Wie schafft man es bloß, an einem solchen Ort zu leben?"
In Sardinien zu leben, Armut, wenig Komfort, keine Entfaltungsmöglichkeiten, strenge Familiensitten ... es ist kein Wunder, dass Ester sich schon als junges Mädchen weg träumt. Wie schön muss es woanders sein! Vor allem könnte man in der ferne, weit weg von Sardinien, endlich glücklich werden!
Wir begleiten Ester zu verschiedenen Orten Italiens, aber nirgends ist das Glück. Letztendlich überwiegt das Heimweh, denn nur in Sardinien kann man glücklich werden, und wir reisen zurück.
Esters Tochter hingegen ist von klein an überall glücklich, denn überall gibt es einzigartige Dinge, Farben, Gerüche, denen Glück innewohnt.
Dieser Roman hat nicht nur einen wunderbar humorvollen, manchmal schon fast ironischen Schreibstil, er berührt mit Schicksalsschlägen, mit Wendungen und mit wunderbaren Romanfiguren.
Ich habe laut gelacht, hier und da fassungslos gelesen, ab und zu ein Tränchen weggewischt, oft aber das Buch in den Schoß gesenkt, um nachzudenken.
Hält mir die Autorin da ganz geschickt den spiegel vor´s Gesicht? Erkenne ich mich da wieder? Ist "Glück" und die Fähigkeit "glücklich zu sein" angeboren? Muss man naiv und blauäugig sein, um überhaupt glücklich sein zu können? Warum verbinden wir ein "glückliches Leben" so oft mit einem bestimmten Ort? Was braucht der Mensch überhaupt, um glücklich zu sein?
So ein warmherziger, berührender Roman, der fesselt, raffiniert immer wieder an den entscheidenden Punkt kommt, habe ich schon sehr lange nicht mehr gelesen.
Für mich ist dieses Buch eine ganz besondere Perle. Ich hoffe inständig, dass ich manche Zeile noch längere Zeit mitnehmen kann, wenn nicht, werde ich es wohl wieder und wieder lesen.
Warum habe ich noch nie von Janet Lewis gehört? Warum habe ich nie eins ihrer Bücher gelesen? Sie ist eine Ausnahmeautorin und hat ein ganz besonderes Buch geschrieben. Vermutlich sogar mehrere, das werde ich herausfinden.
„Die Frau, die liebte“ ist ein historischer Roman von ganz besonderer Güte. Es geht mitten hinein ins Frankreich des 16.Jhd., eine Familie von Großbauern verheiratet zwei Kinder, Martin und Bertrande sind beide elf Jahre alt.
Detailreich und einfühlsam wird hier eine längst vergangene Zeit lebendig, Ambiente, Figuren und Gebräuche werden einem wie ein Film vor Augen geführt.
Später entwickelt sich das Ganze sogar noch zu einem verzwickten Familiendrama. Ist der Mann, der nach elf Jahren wieder auf den Hof kommt, tatsächlich Martin? Bertrande hat Zweifel.
Dieses Buch ist eine Entdeckung und ein Kleinod, ein Klassiker, der (In den 40er Jahren geschrieben) kein bisschen verstaubt wirkt, sondern im Gegenteil, ein historisches Thema zu einem Thriller entwickelt, der zudem noch großartig erzählt ist.
Ich bin begeistert.
An einem Vormittag im Januar 1539….
Bertrande de Rols ist 11 Jahre alt, als sie mit dem gleichaltrigen Martin Guerre verheiratet wird. Mit 14 Jahren beginnen sie miteinander zu leben. Doch als junger Mann verlässt Martin das Elternhaus, seine Frau und seinen mittlerweile geborenen Sohn. Die Heimkehr nach vielen Jahren der Sehnsucht erfüllt Bertrande voller Glück. Doch dieses Glück hält nicht lange an, denn dieser Mann ist so ganz anders als Martin je war. Voller Zweifel löst Bertrande ein Geschehen aus, das sie letztlich nicht mehr beeinflussen kann.
Schon 1941 hat die amerikanische Autorin Janet Lewis den Roman „Die Frau, die liebte“ verfasst. Einer der berühmtesten Rechtsfälle Frankreichs diente ihr als Vorlage. Die Schriftstellerin, die hauptsächlich Gedichte schrieb, bedient sich auch in diesem sehr kurzen Roman einer dichten, lyrischen Sprache. Sie verweilt bei der Beschreibung eines brennenden Holzscheits, eines ausgeprägten Gesichts, der alltäglichen harter Hände Arbeit
Janet Lewis schreibt aber auch von einer Zeit, in der Frauen ihren Männern untergeordnet waren und Söhne ihren Vätern. Der Sohn flieht nach einem Streit mit dem Vater aus dessen strengen Regiment über Haus und Hof. Martin verlässt aber auch Bertrande „als ihre Schönheit und Jugend auf dem Höhepunkt waren“, lässt sie beschämt und verletzt zurück.
„…und wenn er zurückkam, falls er denn nach dem Tod seines Vaters zurückkam, wäre seine Autorität so groß wie jetzt die seines Vaters, und ein Aufbegehren gegen die Behandlung, die sie von ihm erfahren hatte, wäre dann in höchstem Maße unangemessen.“
Und die Rückkehr ist spektakulär. Die Tage sind voller Freude und Zärtlichkeit. Mit jedem Tag mehr allerdings wachsen Bertrandes Zweifel an der Identität des Heimkehrers. Es ist ein unerhörtes Dilemma, ein quälende moralische Frage, die Bertrande beantworten muss. Den Schein und damit nicht nur ihr Glück, sondern auch das vieler anderer zu wahren? Oder die Wahrheit um der Wahrheit willen aufzudecken? Richtig zu handeln, Recht zu haben? Zeitlos ist diese Frage, immer noch.
Cover:
-------------------------
Das Cover sieht von der Farbgebung für mich eher nach einem Thriller als nach einem Krimi aus. Dennoch finde ich die Mischung von Wasser und Blut zu einem Cocktail für das Thema gut geeignet. Mich hat es auf jeden Fall angesprochen.
Inhalt:
-------------------------
Rhys Lloyd wird am Morgen des Neujahrsschwimmens tot im See "Mirror Lake" gefunden. Er war ein bekannter Opernsänger, Einheimischer und auch Gründer einer Ferienanlage mit Luxus-Lodges, genannt "The Shore". An Silvester hatte er dort eine große Party veranstaltet, zu der nicht nur die Bewohner der Siedlung, sondern auch die Einheimischen aus dem Dorf eingeladen waren.
Da die Leiche auf der walisischen Seite gefunden wurde, Lloyd jedoch seinen Erstwohnsitz in London hatte und dort seine Vermisstenmeldung einging, müssen die walisische Ermittlerin Detective Constable Ffion Morgan und Detective Constable Leo Brady von der englischen Polizei zusammenarbeiten. Dies bringt einige Überraschungen und Spannungen mit sich.
Mein Eindruck:
-------------------------
"Leo weiß nicht, wie Rhys Lloyd gestorben ist, aber eines ist ihm klar: Unter der Hochglanzfassade von The Shore schlummert eine vollkommen andere Geschichte."
Dies war mein erster Krimi der Autorin und ich war positiv überrascht. Der Beginn ist recht gemächlich und die Tatsache, dass Leo und Ffion sich in der Gerichtsmedizin begegnen und dort feststellen, dass sie kurz zuvor noch ein One-Night-Stand unter falschem Namen hatten, hat etwas Amüsantes. Doch entgegen meinen Erwartungen steigerte sich sowohl die Beziehungsgeschichte zwischen den Ermittlern als auch die Mordermittlung im Laufe der Handlung und endete für mich auf überraschende und unkonventionelle Weise.
Die Handlung ist abwechselnd aus der Sicht vieler Personen und aus unterschiedlichen Zeitebenen heraus erzählt. Jedoch stehen Zeit, Ort und Person immer zu Beginn des Kapitels, sodass keine Verwirrung aufkommt. So reiht sich nach und nach ein Puzzleteil ans andere. Viele Dorfbewohner, aber auch die Bewohner von "The Shore" hatten Gründe, Lloyd umzubringen. Und auch Ffion steckt mehr in dem Fall, als ihr und auch ihrem Ermittlungspartner Leo lieb ist.
Schicht für Schicht offenbaren sich mehr Geheimnisse und mir hat es Spaß gemacht mit zu rätseln. Und als ich dachte, es wäre zu Ende, lässt die Autorin eine Bombe platzen, mit der ich nicht mehr gerechnet hatte.
Dieser Krimi gefiel mir sehr gut, weil er das Zwischenmenschliche sehr gut beobachtet und herausstellt, viele Dialoge sehr tiefgründig und auch humorvoll sind und weil auch ein Stück walisischer Kultur und Sprache mit einfließt. Ich hätte mir als Anhang eine Aussprachehilfe bzw. eine Liste der gängigen walisischen Wörter aus dem Roman gewünscht, aber auch ohne diese Hilfe war alles verständlich, da Ffion meistens die Übersetzung mitgeliefert hat.
Die Beziehungsentwicklung zwischen Ffion und Leo gefiel mir auch sehr gut. Sie unterstützen sich gegenseitig, lernen sich immer mehr kennen, ohne dass es in eine klischeehafte Romanze ausartet. Die letzten Sätze bilden den perfekten Anstoß für eine Fortsetzung, auf die ich mich sehr freue!
Fazit:
-------------------------
Vielschichtiger Krimi über die Grenze Wales-England mit überraschenden Wendungen und einem sympathischen Ermittlerduo
Rhys Lloyd gibt eine Silvesterparty um den Bau seines exklusiven Feriendorfes an einem malerischen See in Nordwales mit reichlich Champagner zu feiern, doch am nächsten Morgen treibt seine Leiche im See. DC Ffion Morgan von der walisischen Polizei und DC Leo Brady, Ermittler von der Cheshire Major Crime Unit, bekommen es mit einem ganzen Dorf voller Verdächtiger zu tun.
Das Opfer wurde in den unterschiedlichen Rückblenden sehr unsympathisch dargestellt, sodass sich bei jedem Dorfbewohner sowie den Ferienhaus-Besitzern nach und nach ein Mordmotiv herauskristallisiert.
Die beiden Ermittler sind sehr unterschiedliche aber interessante Charaktere. Ffion eher bodenständig und manchmal etwas ruppig. Leo dagegen ist ein Sensibelchen und nimmt sich manches zu sehr zu Herzen. Trotzdem harmonieren die beiden sehr gut und ihr Umgang miteinander bescherte mir so manches Schmunzeln.
Die Autorin zaubert dem Leser mit ihrem bildlichen Schreibstil eine schöne und atmosphärische Winterlandschaft um den malerischen See vor Augen. Und das traditionelle Eisschwimmen am Neujahrstag jagte mir einen Kälteschauer über den Körper.
Der Spannungsbogen flacht im Mittelteil etwas ab und die unterschiedlichen Rückblenden und Perspektiven empfand ich teilweise als verwirrend. Doch danach steigert sich das Tempo und zahlreiche Twists sorgen für gute Unterhaltung. Und wer meint den Täter ausfindig gemacht zu haben, erlebt zum Schluss noch eine Überraschung.
Der Schreibstil ist großartig. Clare Mackintosh konstruiert in raffinierten Worten einen klassischen, wunderbar verwickelten “Wer wars?”-Krimi, ganz nach Art der Größen des Genres wie Agatha Christie. Mit feinen bösen Spitzen führt sie ganz nebenher die verlogene neureiche Gesellschaft vor, mit Gespür für schlagfertige Dialoge und skurrile Beobachtungen. Das höfliche Lächeln bröckelt, dahinter kommen Neid, Missgunst, Eifersucht und alte Rachegelüste zum Vorschein – und das macht einfach Spaß.
Obwohl sich hier durchaus echte Abgründe auftun, würzt Clare Mackintosh die Geschehnisse doch immer mit genug Humor, um eine schöne Balance zwischen Spannung und Unterhaltung zu erreichen. Die walisischen Schauplätze werden mit viel Atmosphäre heraufbeschworen, was das Ganze wunderbar abrundet. Das schreit geradezu nach einer Verfilmung mit viel Kunstnebel.
Die Spannung wird rasch aufgebaut und hält sich bis zur Auflösung auf hohem Niveau. Und die ist ein kleines Meisterwerk – damit hatte ich nicht gerechnet, doch auch hier fühlte ich mich (durchaus positiv) an die Werke von Agatha Christie erinnert! Das ist genial ausgeklügelt, geradezu brillant: jeder Wendung enthält wiederum unerwartete Abzweigungen.
Die kratzbürstige DC Ffion Morgan hat das Zeug zur neuen Lieblingsermittlerin: Sie ist klug, sie ist furchtlos, sie ist kompliziert, sie hat echte Schwächen und Fehler – und mit DC Leo Brady steht ihr ein Partner zur Seite, der ihr genug Kontra gibt und sie gut ergänzt. Auch die Verdächtigen werden komplex und überzeugend gezeichnet, inklusive ihrer Marotten und ihrer kleinen wie großen Geheimnisse. Viele davon entpuppen sich als gebrochene Menschen, die sich nur noch an die schöne Fassade klammern.
Fazit:
Ein wunderbar 'klassischer' Krimi: Hier ist das Opfer, hier ist die begrenzte Anzahl der möglichen Mörder:innen – wer wars und warum? Das Buch unterhält mit intelligent geschriebener Spannung, stimmigen Charakteren und einer Prise Humor.
Diese Geschichte dreht sich um grundverschiedene Menschen: Jo, eine Feldbiologin, die das Brutverhalten der Indigofinken beobachtet. Gabe, ein wortkarger Mann, der an einem Stand im Wald Eier verkauft. Ursa, ein verwahrlostes Kind, das behauptet, es sei eigentlich ein Alien namens Eerpüd-na-asru.
Ursa steht eines Tages verdreckt und hungrig vor Jos Haus und will nicht mehr gehen. Wohin auch? Sie habe ja auf der Erde keine Eltern und auch keine Adresse. Jo bittet ihren Nachbarn Gabe um Hilfe, aber der ist ebenfalls überfragt. Fest steht: Beide wollen nicht ohne Weiteres ein fremdes Kind aufnehmen! Aber es scheint niemand sonst gewillt, die Verantwortung zu übernehmen. Und so bleibt Ursa mal bei Jo, mal bei Gabe, bis sie sich immer weniger vorstellen können, das Kind wieder gehen zu lassen.
Fremde, die unabhängig von Blutsverwandtschaft ineinander eine neue Wahlfamilie finden? Das ist so beliebt, dass es mitunter sogar als eigenes Subgenre (‘Found Family’) angesehen wird. Es ist also an sich nichts Neues, aber Glendy Vanderah gibt ihm mit warmherzigem Charme ihre eigene Note.
Wer ist Ursa wirklich, woher hat sie die blauen Flecken? Hat sie noch Familie? Werden Jo und Gabe sie ganz offiziell aufnehmen dürfen? Das sind behutsame Fragen, die man als Leser:in auch mit Geduld und Sorgfalt erforschen möchte. Aber gegen Ende überschlagen sich die Geschehnisse mit dramatischer Action, was für mich nicht mehr zum ruhigen, warmherzigen Ton der Geschichte passt. Vor allem ganz am Schluss überschreitet es für mich die Grenzen der Glaubwürdigkeit, da dachte ich mir: Niemals. Niemals würde das so passieren. Mehr kann ich dazu nicht sagen, ohne zu spoilern.
Die Geschichte lebt vor allem von den Charakteren, die alle auf die ein oder andere Art entwurzelt sind. Im Laufe des Buches erfährt man mehr über ihre Hintergrundgeschichten, und sie entpuppen sich als liebenswerte, schlüssig gezeichnete Figuren.
Insgesamt habe ich das Buch mit kleinen Abstrichen gern gelesen!
Intensive Familiengeschichte vor nordischer Kulisse
Die Mutter der beiden erwachsenen Brüder Olof und Carl liegt im Sterben. Sie bittet darum, ihre letzten Tage im Ferienhaus in den Schären zu verbringen zu können, wo die Familie einst viele Ferientage verbrachte. Auch soll Carl, der schon vor Jahren im Streit in die USA auswanderte, zu ihr ans Sterbebett kommen. Der Ehemann/Vater starb bereits, als die beiden Söhne noch Kinder waren. An dessen Stelle ist „Onkel Tom“ getreten – welche Rolle dieser für die Mutter gespielt hat, bleibt lange im Unklaren.
Die Familienverhältnisse sind kompliziert, das weiß der Leser schnell. Worin die konkreten Probleme bestehen, wird allerdings erst nach und nach klar. Zunächst gibt es nur kurze Andeutungen, die des Lesers Neugier wecken. Das meiste erfahren wir durch Ich-Erzähler Olof, der insbesondere versucht, der verqueren Bruderbeziehung auf den Grund zu kommen. Carl, eigentlich zwei Jahre jünger, war schon immer der Stärkere, Schnellere, der, den die Mutter besonders liebte, was er für sich selbst ziemlich radikal auszunutzen wusste. Doch Vorsicht: Eine Medaille hat zwei Seiten und auch Olof hat sich seinem Bruder gegenüber nicht immer loyal verhalten.
Die Ebenen wechseln sich ab. Da werden einerseits die Tage auf der Schäreninsel beschrieben. Carl ist mit Clara verheiratet, ihre zwei lebhaften Söhne haben sie mitgebracht. Die Jungen wirbeln die Gemeinschaft auf und sorgen für Ablenkung. Ihre Aktivitäten setzen zusätzliche Erinnerungen frei. Trotzdem kann man immer wieder die Eifersucht, die Konkurrenz, die schwelenden Konflikte zwischen Carl und Olof spüren, die ab und an auch durchbrechen. Eine weitere Ebene führt in die Vergangenheit der Familie. Viele Erinnerungsfetzen, Gespräche und Gedanken über gemeinsam Erlebtes komplettieren nach und nach das Bild.
Was macht das Buch so besonders? Es ist der ruhige, reflektierte, teils poetische Stil des Erzählers, der sich ernsthaft bemüht, der Vergangenheit auf den Grund zu gehen und Stolpersteine zu definieren. Was ist in seinem Leben schief gelaufen? Warum arbeitet der Bruder erfolgreich in den Staaten, während er selbst unmotiviert einer relativ ungeliebten Tätigkeit nachgeht? Was hat zum Bruch zwischen Carl und der Mutter geführt? Warum kann Olof selbst keine erfüllte Partnerschaft leben? Olof präsentiert uns seine Erinnerungen, die nicht immer mit denen anderer Beteiligter übereinstimmen, was einen ungeheuren Sog erzeugt. Erstaunlich, dass wenige Seiten so viel Intensität erzeugen können, ohne je ins Kitschige oder Triviale abzudriften. Das nenne ich Erzählkunst.
Es geht auch um die Themen Tod und Abschied – vom Leben, vom Elternhaus, von der Kindheit. Der lakonische Erzählfluss ließ mich sehr gut in die Stimmung eintauchen, auch die Insel, das Meer, die Natur ringsherum werden sehr bildhaft beschrieben. Zentral ist jedoch der Bruderkonflikt, der einige Überraschungen bereithält.
Dieser kleine Roman ist eine absolute Perle! Einmal begonnen, kann man nicht mehr aufhören zu lesen. Ich bin froh, ihn endlich aus meinem Bücher-Vorrat befreit zu haben. Er wird es mit Sicherheit auf meine persönliche Jahresbestenliste schaffen.
Ganz große, riesige Lese-Empfehlung!
Teilen