Du bist mehr als eine Zahl
Kurzmeinung: Mach-mit-Buch: das Private ist politisch.
Wir brauchen Utopien, sagt Teresa Bücker. Denn wenn man keine Utopien hat, hat man keine Träume und ohne politische Träume, verändert sich nichts. Und sie sagt auch, dass das Private politisch sei und sein müsse und … ach ja, sie sagt Vieles. Und alles ist lesenswert, wenn man die Zeit dazu hat, es zu lesen.
Zeitgerechtigkeit, Zeitverteilung, Zeitkultur, Zeitwahrnehmung, Zeitpolitik, Zeitknappheit, Begriffe, die mir um die Ohren wirbeln. Womit man sich alles beschäftigen kann, wenn man Zeit hat, haha. Scherz beiseite, die Autorin meint es ernst.
Man kann nur etwas verändern, wenn man sich zusammenschließt. So kann mein Leserbrief an Markus Lanz/ZDF, dass ich mir Geschlechterausgewogenheit bei seinen Gästen wünsche, die ja irgendwie auch meine Gäste sind, in meinem Wohnzimmer, nichts bewirken. Er wird gar nicht erst gelesen. Aber die Leserbriefe von euch allen! könnten es. Würden es. Wir müssen irgendwo anfangen. Warum nicht damit? Und wir wünschen uns nicht nur die Geschlechtergerechtigkeit bei Markus Lanz (und allen anderen politischen Talkshows), wir fordern sie geradezu. Das wäre Zeitausgleich! Diese Aufforderung, einen Leserbrief zur gerechten GesprächsZeitverteilung an das ZDF zu schreiben, speziell zunächst einmal zu Markus Lanz Talkshow (wir müssen unsere Kräfte bündeln), meine ich durchaus ernst. Ich habe schon. Die Hälfte der Gäste plus Eins muss weiblich sein. Plus eins, weil der Moderator männlich ist.
Zurück zum Buch: Teresa Bücker beklagt nicht nur das erwerbsarbeitszeitzentrierte Gesellschaftsmodell per se, sondern auch den Freizeitsbeschäftigungszwang durch Social Media.
„Social Media setzt unter Druck“. Denn das Ideal des Beschäftigtseins aus der Erwerbsarbeit schwappt in Social Media und das Freizeitverhalten hinein; nur wer etwas „macht“ und das ständig und abwechlungsreich (und dann darstellt), erreicht Status. Aber Beschäftigtsein als Statussymbol erzeugt gestresste Menschen. „Die ideale Freizeit erfüllt nicht mit Zufriedenheit, sondern sie erfüllt kulturelle Normen“. So sollte es nicht sein!
Carezeiten gehen in der Regel zu Lasten der Frauen. Dies wurde durch die Corona-Pandemie eindeutig demonstriert. Wir sind nicht so weit, wie wir gedacht haben, dass wir es wären. Schlagwort: Gender-Care-Gap. Und auch sonst: Männer müssen generell anfangen, weniger zu arbeiten und sich mehr an der CareArbeit beteiligen. Schließlich haben nicht nur Frauen Kinder und sind auch Männer Kinder (ihrer Eltern!). Denn erstaunlich und erschreckend ist es, dass Männer sich sogar in ihrer Freizeit viel mehr um sich selber kümmern können (Hobbies, Sport, Politik) als Frauen es tun können (Kinder, Pflege der Angehörigen, Haushalt). Männer, die durch Stress mit Herzinfarkt am Arbeitsplatz zusammenbrechen, sind übrigens uncool.
Erwerbsarbeit muss überhaupt anders gedacht werden, eigentlich Erwerbszeit. „Wenn wir den Fokus auf die Erwerbsarbeit legen, stärken wir die Maßstäbe, die auf männlichen und kapitalistischen Lebensentwürfen basieren und versäumen, eigene (andere) Ideen vom guten Leben zu entwickeln“, sagt die Autorin vom Feminismus und auch „Der Reichtum der oberen Einkommensgruppen wächst um ein Vielfaches schneller als der von mittleren und unteren Einkommensgruppen, ohne dass diese Menschen mehr oder härter dafür arbeiten würden.“ Und jeder sollte seinen eigenen Dreck wegräumen. Denn sich Zeit zu erkaufen durch die schlecht bezahlte Arbeit von Care- und Haushaltspersonal ist auch nichts anderes als Ausbeutung.
Der Kommentar:
Es geht um gesellschaftliches Umdenken. Wer sollte Zeit haben für Politik? Alle doch. Oder? Es geht um Macht, um Geld und um Werte. Fast alles, was Teresa Bücker sagt, unterstütze ich. Nur das Gendern in ihren Texten müsste nicht sein, weil es nicht nur ungewohnt ist, sondern das Lesen erschwert. Und die Zeit, die man braucht, um sich eine qualifizierte Ausbildung anzueignen, hat sie nicht mit berücksichtigt.
Gesellschaftliches Umdenken geht langsam, aber es ist nicht unmöglich. Es erfordert eine Lobby. Aber es ist keine Utopie. Wir könnten mit einem Leserbrief an Markus Lanz anfangen: wir fordern mehr öffentliche Gesprächszeit für Frauen. Eine Quote. Da Lanz schon ein Mann ist und unheimlich viel Redezeit selbst vereinnahmt, müssen mehr Frauen als Männer in die Runden kommen, damit ihre Stimmen mehr gehört werden als bisher, denn wer führt denn Kriege? Frauen nicht!
Fazit: Gesellschaftliches Umdenken ist möglich und wünschenswert. Wo fangen wir an? Auch kleine Schritte wie Leserbriefe können helfen.
Kategorie: Sachbuch. Gesellschaft. Feminismus.
Verlag: Ullstein, 2022
Cover:
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Auf dem Cover lacht den Betrachter eine optimistische Verena Bentele an. Dieses sehr persönliche Foto schafft gleich ein vertrautes Verhältnis und stellt die Autorin sympathisch dar.
Inhalt:
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Der Corona-Virus hat bewirkt, dass einige Missstände deutlich stärker bemerkbar sind, als zuvor. Dies gilt nicht nur im Gesundheits- sondern auch im Sozialbereich. Die Autorin Verena Bentele ist eine blinde ehemalige deutsche Biathletin und Skilangläuferin, die seit 2018 VDK-Präsidentin ist und sich sehr stark als Mitglied der SPD im Bereich Sozialpolitik engagiert. In diesem Buch zeigt sie neue Denkansätze auf, mit denen sie beispielhaft aufzeigt, wie einzelne, gesellschaftlichen Bereiche verbessert werden können.
Mein Eindruck:
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"In unser aller Leben gibt es Situationen, in denen wir auf Unterstützung angewiesen sind: von unserem Umfeld, aber eben auch vom Staat. Ein funktionierender Sozialstaat und eine gerechte Gesellschaft sind wir, wenn wir zusammenhalten, füreinander eintreten und uns gegenseitig helfen. So haben alle Menschen die Möglichkeit, ihre Potenziale auszuschöpfen." (S. 9)
"Wenn es gut geht, erweist sich das Virus als ein Weckruf für starke Sozialsysteme, wenn nicht, wird es den Beginn einer beispiellosen Spaltung der Gesellschaft markieren. Je größer die Angst um die Zukunft, um den Job, um eine bezahlbare Miete und um die Rente, desto schneller und aggressiver verteidigen die Einzelnen ihren Besitzstand, auch wenn sie damit andere abhängen." (S. 11-12)
Diese beiden Zitate zeigen sehr gut, worum es Frau Bentele mit ihrem Buch geht: Sie möchte mehr Solidarität unter den Menschen schaffen und generell für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen. Dieses Vorhaben hat mich zunächst sehr neugierig gemacht und ich war auf die Lösungsansätze sehr gespannt. Die Gedankengänge zu den einzelnen Themen, wie z. B. Gesundheitssystem,Pflege, Lohnpolitik, Steuern, Altersvorsorge, Rente und Vermögensverteilung sind sehr eindrücklich und für Laien verständlich geschildert. Ich konnte sie gut nachvollziehen, wenngleich ich nicht allen zustimmen konnte. Auf jeden Fall hat mich ihr Engagement stark beeindruckt und ich finde es gut, dass sie einfach andere Denkwege eröffnet anstelle eines "Das haben wir immer schon so gemacht.". Ich hatte beim Lesen einige "Aha"-Effekte. Schade finde ich jedoch, dass viele Themen nur kurz angerissen und nicht weitergedacht werden. Mir fehlte es hier an Tiefe und damit an verwertbaren Argumenten für ihre Thesen. Sie selber schreibt: "Die Vorschläge, die ich gemeinsam mit meinen beiden Co-Autoren entwickelt habe, sind sehr konkret. Um einen klaren Impuls zu geben, wurden höchst komplexe Sachverhalte stark verkürzt, sodass einige Aspekte nicht berücksichtigt werden konnten. Unsere Absicht ist es, politisch interessierten Lesern die Welt der sozialen Sicherungssysteme und deren Bedeutung näher zu bringen und eine Diskussion über Probleme und deren Lösungen anzustoßen. Dabei haben wir uns vor allen Dingen darauf konzentriert, die Struktur sozialer Sicherungssysteme darzustellen und Vorschläge zu ihrer Verbesserung zu entwickeln." (S. 77)
Somit war es auch nur ihre Absicht, dass der Leser sich selbst ein Bild der Lage machen kann und aktuelle Situationen neu zu überdenkt. Und dies ist ihr bei mir auf jeden Fall gelungen. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass es hier mehr Statistiken oder Bilder zur Verdeutlichung der vorgestellten Modelle gegeben hätte.
Fazit:
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Denkansätze, um mehr Solidarität und Gerechtigkeit in Deutschland herbeiführen zu können - leider mit zu geringer Tiefe
Optimistisch, inspirierend, generationenverbindend!
"Du bist mehr als eine Zahl" von Irène Kilubi ist ein Sachbuch, das ich so richtig verschlungen habe. Es liest sich locker-flockig-angenehm und ist gleichzeitig tiefgründig, professionell und sehr spannend!
Es hat mich von der ersten Seite an mit seiner optimistischen, inspirierenden Botschaft angesteckt. Frau Kilubi hat als Kind aus einer Familie mit Fluchterfahrung schon früh sehr viel Verantwortung übernehmen müssen, so hat sie z.B. schon als Volksschülerin ihre Mutter mit Übersetzungstätigkeiten im Umgang mit Behörden oder Ärzten unterstützt. Dadurch hat sie schon früh die notwendigen Skills entwickelt, um dann als junge Erwachsene schon in ihren 20ern sehr verantwortungsvolle Positionen in großen Unternehmen übernehmen zu können - und ist genau da mit dem Thema konfrontiert worden, dass ihr aufgrund ihres jungen Alters erst einmal nicht von allen so viel zugetraut wurde und sie sich mehr beweisen musste als andere.
Auch von Diskriminierungserfahrungen auf ihrem Weg hat sie sich schon als Kind nicht unterkriegen lassen und hat beispielsweise als Zehnjährige nach einer ersten diskriminierungsbedingten Abweisung selbständig und ohne ihre Mutter den Direktor eines zweiten Gymnasiums besucht und überzeugt, sie in die Schule aufzunehmen. Hut ab vor dieser Resilienz und diesem Glauben an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten!
Vor diesem Hintergrund setzt sich Frau Kilubi mit Leidenschaft und Herzblut für ihr Anliegen ein: dass es auch gesellschaftlich und in Unternehmen und Institutionen wichtig sei, Menschen nicht nur aufgrund ihres Alters zu beurteilen, sondern den ganzen Menschen zu betrachten, mit all seinem Potential. Dabei gelingt es ihr hervorragend, den Spagat zwischen Berücksichtigung der Individualität jedes Einzelnen und trotzdem Sensibilisierung für die möglichen Gemeinsamkeiten einer Generation zu schaffen und damit beide Seiten zu verbinden.
Gleichzeitig regt sie auch im Buch durch Fragen und praktische Übungen immer wieder zur Reflexion der eigenen Glaubenssätze an, z.B.: Wenn viele Medien auf einmal eingesetzt und schnell zwischen diesen gewechselt wird und sich jemand davon überfordert fühlt, muss das zwangsläufig mit dem Alter der Person zu tun haben? Vielleicht fühlen sich ja viele, und auch jüngere, davon überfordert?
Frau Kilubis persönliche Gedanken werden professionell durch die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, Stimmen aus ihrer Community, Fallbeispiele und Anregungen für praktische Übungen und innovative Konzepte ergänzt (z.B. Reverse Mentoring - auch Jüngere können Mentor*innen für Ältere sein, speziell in den Bereichen, in denen sie ihnen individuell voraus sind).
Das Buch ist für alle empfehlenswert, die sich differenziert mit den Themen Individualität und individuelle Potentiale, Altersgruppen und -generationen, Altersdiskriminierung und Generationentraining auseinandersetzen möchten und die sich für einen weiten, vielfältigen Blickwinkel auf das Thema interessieren.
Ganz besonders möchte ich das Buch allen ans Herz legen, die beruflich mit diesen Themen zu tun haben, etwa im Personalbereich, denn es sensibilisiert nicht nur für das Thema, sondern enthält auch viele praktische Anregungen, die im Unternehmensumfeld ausprobiert oder umgesetzt werden können, z.B. zu den Themen Jobcrafting, Shadow Board, Mentoring & Reverse Mentoring, Appreciation of Wisdom, neue Arbeitsmodelle, Werte und vieles mehr.
Im Sinne der Inklusion aller - auch derer, denen die verwendeten Generationsbezeichnungen sowie die modernen, englischen Fachbegriffe zu dem Thema noch nicht so geläufig sind - enthält das Buch außerdem am Ende eine Beschreibung der typischen Merkmale der beschriebenen Generationen sowie ein umfangreiches Glossar.