Worauf wir hoffen: Roman

Inhaltsangabe zu "Worauf wir hoffen: Roman"


Fred Wiener ist frisch ausgebildeter ehrenamtlicher Mitarbeiter in einem Hospiz und nun bereit, seine erste Sterbegleitung anzutreten. Viele Bücher zu den Themen Psychologie und Tod hat er schon gelesen, doch nichts davon bereitet einen wirklich auf die Praxis vor. Entsprechend aufgeregt ist Fred, als er an der Tür klingelt - Karla Jenner-Garcia steht auf dem Schild. Doch was immer Fred auch erwartet haben mag - Karla reagiert skeptisch.
"Herr Wiener?", fragte Karla und wartete geduldig, bis er wieder zu ihr aufblickte. "Darf ich Sie fragen, warum Sie das machen? Was bringt Sie dazu, fremde Leute zu besuchen, die bald sterben werden?" (...) "Ich hab mal eine Fernsehsendung über Hospizarbeit gesehen", sagte er. "Ich wusste sofort, dass ich das auch machen wollte." --- "Nehmen die denn jeden?" --- Er entschied sich zu glauben, dass das nicht gegen ihn gerichtet war. (S. 14 f.)
Die 60Jährige verhält sich einfach nicht so, wie Fred es vermutet hat. Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstatdium, höchstens noch ein halbes Jahr zu leben - doch Karla ist sich nicht sicher, ob sie diese Art von Sterbebegleitung wirklich will. Fred jedoch lässt sich nicht beirren, bietet seine Dienste an und hat klare Vorstellungen, wie er dieser Patientin die letzten Wochen und Monate in ihrem Leben verschönern kann.
"Ist das Ihr Unterhaltungsprogramm für Sterbende, Herr Wiener?", fragte Karla. "Ich setze eine Liste mit meinen Wünschen auf, die wir dann zusammen abarbeiten? Ein letztes Mal ans Meer? Noch einen Film für die Nachwelt drehen? Ich war noch nie in einem Sexshop oder so?" --- "Warum nicht", sagte er vorsichtig. --- "Dann sind Sie sehr romantisch, Herr Wiener. Wenn ich Listen schreibe, dann sind es welche, auf denen steht, welche Todesarten mir noch weniger gefallen als die, an der ich sterben werde. Ich schreibe Listen mit meinen gebrochenen Versprechen und all den Dingen, an die ich nie geglaubt habe. Ich schreibe eigentlich nur noch Listen. Für alles andere fehlen mir die Worte." (S. 17 f.)
Karla ist stark, spröde und eigensinnig, ohne Familie und Freunde, und hatte schon immer klare Vorstellungen von ihrem Leben - und nun auch von ihrem Sterben. Doch auch wenn Fred allmählich begreift, dass er seine Vorstellungen von einer Sterbebegleitung hier nicht unbedingt ausleben kann, versucht er immer wieder, sich auf seine Art einzubringen. Aber 'gut gemeint' ist nicht immer das hilfreichste Kriterium, und so kommt es bei dem Versuch, Karla mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen, zu einem Bruch. Karla lehnt jede weitere Hilfestellung ab.
"Ich habe eine Schwester, und die ist im Todesfall zu benachrichtigen. Solange ich das noch sagen kann, ist er nicht eingetreten." (S. 19)
Fred Wiener ist am Boden zerstört, und nur die Tatsache, dass sein 13jähriger Sohn Phil Karla weiterhin besuchen kann, tröstet ihn ein wenig. Phil ist nämlich derjenige, der Karlas zahllose Fotos von Konzerten und Musikevents archivieren soll, um sie der Nachwelt zu erhalten. Phil erzählt seinem Vater zwar nicht viel, doch das wenige reicht Fred, um zumindest einen kleinen Eindruck davon zu erhalten, wie es Karla geht. Phil wächst an seiner Aufgabe und diesen sehr besonderen Begegnungen mit der Todkranken, und ganz allmählich verändert sich auch die Beziehung zwischen dem Sohn und seinem Vater. Hausmeister Klaffki ist jedoch schließlich derjenige, der den Kokntakt zwischen Karla und Fred wiederherstellt - in einer Notsituation ruft er den Sterbebegleiter einfach an und bittet um seine Unterstützung. Fred beschließt, fortan vorsichtiger zu sein.
"Wie geht es jetzt weiter? Haben Sie mit Ihrem Arzt darüber gesprochen?" --- "Mein Arzt weigert sich, mir den genauen Todeszeitpunkt zu nennen. Meinen Sie, ich sollte da mehr Druck machen?" (S. 112)
Durch die anderen Bücher von Susann Pásztor wusste ich bereits, dass man bei ihr vor keinem Thema Angst haben muss. Sie schreibt nicht kitschig, drückt nicht auf die Tränendrüse, hängt nicht an Klischees - sie schreibt einfach ehrlich. Ihr Stil ist - so auch hier - warmherzig, gefühlvoll, unpathetisch, humorvoll, verständnisvoll, menschlich, einflühlsam. Dabei gestaltet sie die Dialoge oft knochentrocken und mit viel hintergründiger Ironie, was mir besonders gefällt. Gerade bei einem solch doch recht ernsten Thema ist dies einmal mehr eine überaus gelungene Mischung.
Phil blieb mit der fremden Frau allein im Wohnzimmer zurück. Er suchte verzweifelt nach etwas, das er sagen konnte, aber das Einzige, was ihm einfiel, war 'Ich bin Phil Wiener, und wer verdammt noch mal sind Sie?', und das ging nicht, denn er war das Kind hier und konnte solche Fragen nicht stellen, auch wenn er gerade das Gefühl hatte, von lauter Irren umgeben zu sein (...) und Phil fand, es war eigentlich ein guter Moment, um sich komplett in Luft aufzulösen oder an einem sicheren Ort abzuwarten, bis er volljährig war." (S. 131 f.)
Dennoch oder gerade deswegen berührt die Geschichte. Dabei wird sie nicht auf das Thema Sterben und Sterbebegleitung reduziert, sondern erzählt vielmehr vom Leben. Von Karla erfährt der Leser nur so viel, wie sie ihn von sich wissen lassen möchte - ihre Antworten sind oft abweisend, manchmal aber auch nicht, und wichtig ist ihr nur, dass sie ihre letzten Wochen selbstbestimmt gestalten kann. Fred und Phil jedoch sind zwei einsame Individuen, die sich mögen, aber nicht so recht wissen, wie sie miteinander reden können. Karla und ihr Sterben dient da unbewusst als Katalysator, denn plötzlich bewegen sich Vater und Sohn aufeinander zu. Und gehen gemeinsam ins Leben.
Lachen und Weinen liegen hier ganz dicht beieinander, und doch fühlte sich das Lesen die ganze Zeit über gut an. Susann Pásztor führt sicher durch die Erzählung, lässt hier kein Gefühl überhand nehmen und sorgt dafür, dass das Buch mit einem Gedanken geschlossen wird: Lust. Auf. Leben.
Ich wünsche mir noch viele, viele Bücher von Susann Pásztor.
© Parden
"Sätze, die meine Mutter mit «übrigens» beginnt, enden nicht gut für mich." (S. 11)
Die Skepsis des Ich-Erzählers Kemi ist berechtigt, denn auf das „Übrigens“ der Mutter zu Beginn des Kinderromans "Wolf" von Saša Stanišić folgt eine Horrorankündigung: eine Woche Ferienlager im Wald mit Schulkameraden, alternativ Ferienbetreuung in der Schule. Da letzteres für Kemi ausscheidet und die alleinerziehende Mutter keinerlei Diskussionsbereitschaft signalisiert, gibt es kein Entrinnen, trotz Kemis Aversion gegen Mücken, Zecken, Brennnesseln, Dickicht, Waldromantik, Lagerfeuer und die Natur allgemein. Ehrlich gibt er zu:
"Mütter sind okay. Ist auch echt nicht einfach mit mir." (S. 15)
Zwei Außenseiter
Zusammen mit 40 Gleichaltrigen geht es im Bus nach Brandenburg, Begleitpersonal inklusive. Kemi macht aus seiner Abneigung sogleich kein Geheimnis:
"«Ich freue mich auf nichts», sage ich gleich als Erster. «Ich lehne die Natur ab.»" (S. 28)
Mit dieser Aussage verunsichert Kemi die Betreuerriege und festigt seine Reputation als notorischer Meckerer, der „alles mit Teilnehmerzahl größer eins verweigert“ (S. 107), stattdessen lieber liest und über die Börse diskutiert. Wäre da nicht Jörg mit seinen großen Ohren, dem uncoolen Rucksack und der altmodischen Ausdrucksweise, Kemi wäre das perfekte Mobbingopfer. So aber steht Jörg im Fokus der Schikanen der drei „Idioten in baugleichen Steppwesten“ (S. 17): Marko und die Dreschke-Zwillinge. Messerscharf analysiert der kluge Beobachter die Lage seines Hüttenpartners Jörg:
"Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein". (S. 34)
Eigentlich ist das Verhalten gegenüber dem netten Jörg, der nie aufmuckt und an jeder Aktivität freudig teilnimmt, wie immer, aber nun kann Kemi nicht ausweichen. Das schlechte Gewissen, weil er ihm nicht beisteht, und die Angst, selbst in den Fokus der Dreierbande zu geraten, verfolgt ihn bis in seine Albträume, in denen ihn ein großer, schlanker, grauer Wolf mit gelben Augen heimsucht.
Ein Koch mit Durchblick
Wäre "Wolf" ein normaler Kinderroman, das Happy End wäre absehbar: die Quäler eingenordet, die beiden Außenseiter beste Freunde und integriert. Aber Wolf ist ebenso „andersig“ wie Jörg oder Kemi, was bei dem 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Saša Stanišić kaum überrascht. Er scheint – wie sein Protagonist – gute und darum realitätsfremde Enden abzulehnen und beschränkt sich stattdessen auf hoffnungsvolle Zeichen und Raum für Fantasie. Niemand kehrt unverändert nach Hause zurück, nicht die Kinder und nicht die Betreuerinnen und Betreuer, die sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigen. Wie in der Schule reagiert auch hier ein Nicht-Pädagoge am hilfreichsten: der coole und empathische Koch mit der abgefahrenen Schläfentätowierung und dem Durchblick, meine absolute Lieblingsfigur.
Ein echter Stanišić
"Wolf" ist mehr als ein äußerst origineller, oft witziger Kinder- und Jugendroman ab frühestens elf Jahren, er ist unbedingt auch für pädagogisches Fachpersonal und Eltern empfehlenswert. Der typisch schräge Stanišić-Humor, seine Sprachspielereien und der lakonisch-pessimistische Blick des selbstreflektierten Kemi machen die schweren Themen Mobbing, Feigheit und Mut, Freundschaft, Gruppendynamik und Wut erträglich, genau wie die sehr zahlreichen atmosphärisch stimmigen, umwerfend gelungenen gelb-schwarzen Illustrationen von Regina Kehn.
Simone Lappert hatte mich enorm mit ihrem Roman "Der Sprung" begeistern können und so wollte ich mehr Stoff von ihr lesen.
In der Geschichte hier geht es um Ada, deren Welt eine andere ist als die unsrige, denn sie hat Angst. Angst vor Krebs, Angst vor einem Unfall, generell Angst zu sterben. Doch wie soll sie da nur wieder rauskommen aus dieser Spirale? Und will sie das überhaupt?
Zunächst einmal benötigte ich etwas Zeit, um in die Handlung abtauchen zu können, denn ich hatte viele Fragezeichen. Ada als Figur konnte ich erst nur schwer greifen, was wohl an dem Nebel aus Angst um sie herum lag, denn so diffus wie ihre Ängste für Außenstehende sind, so diffus war sie mir. Erst mit der Zeit erfährt man wie alt sie ist und die Gründe dafür. Auf den ersten Seiten dachte ich noch sie wäre eine alte Frau kurz vor ihrem Lebensende, aber da hatte ich mich enorm getäuscht.
Juri ist als Figur das komplette Gegenteil von ihr und das obwohl er auch mit sich zu kämpfen hat. Ich mochte ihn auf Anhieb sehr gern und konnte mich enorm mit ihm identifizieren.
Der Autorin gelingt es sehr intensiv und auf leisen Sohlen das Thema Panikattacken und Angstzustände und die Angst davor, dass jemand davon erfährt, zu schildern. Das Dargestellte war berührend und bedrückend zugleich, weil man gefühlt dachte man wäre selbst betroffen.
Fazit: Komplett anders als "Der Sprung" und mal etwas anders. Gern spreche ich eine Empfehlung aus.
Als der fünfjährige Josef Tomulka im Juli 1930 mit seiner Mutter und den Großeltern umzieht, hofft er darauf, dass nun alles besser wird. Denn der kleine Junge wird lieblos erzogen. Seine Mutter scheint sich nicht besonders für ihn zu interessieren, sein Großvater schlägt ihn und die Oma grantelt ständig herum. In seiner neuen Nachbarschaft lernt er den jungen SA-Mann Wilhelm Reckzügel kennen, der sich des Kindes fürsorglich annimmt und ihn nicht nur vor dem Großvater schützt. Doch schnell wird klar, dass dieser Einsatz alles andere als selbstlos ist, denn Wilhelm erzieht Josef mehr und mehr zu seinem willfährigen Handlanger. Erst als der Junge von seiner Mutter nähere Details zu seinem für ihn unbekannten Vater erfährt, beginnt er, Schritt für Schritt an Wilhelms guten Absichten zu zweifeln...
"Josses Tal" ist der kürzlich erschienene Debütroman der 74-jährigen Angelika Rehse, die laut Klappentext des Pendragon Verlags in einem Umfeld von Heimatvertriebenen aufwuchs und zu ihrem Roman von den "erzählten und lang verschwiegenen Geschichten der Generation ihrer Eltern" inspiriert wurde. Dieser persönliche Bezug der Autorin, der auch im Nachwort noch einmal deutlich wird, ist das große Plus des Buches, denn Rehse begleitet ihre Figuren mit Empathie und Gewissenhaftigkeit.
Der Haupthandlungsstrang des Romans befasst sich mit der Zeit zwischen 1930 und 1943. Umfasst wird sie von einer Rahmenhandlung im Juli 2004, die gleichzeitig Ausgangssituation für das weitere Geschehen ist. In ihr reist eine Frau namens Helen in einen norwegischen Nationalpark, um dort Klarheit über den Tod ihrer Urgroßmutter Else zu erhalten. Denn für diesen ist offenbar Josef Tomulka verantwortlich, der in Norwegen mittlerweile Josse genannt wird und dort ein Eremitendasein pflegt. Mit der Begegnung der beiden beginnt nicht nur der Roman, sondern auch dessen größtes Problem: die Figurenzeichnung. Denn nach einem kurzen Abtasten verfällt Helen sofort in das familiäre "Josse", dabei ist der Mann, der ihr gegenübersitzt, doch vermeintlich Mitschuld am Tod Elses.
Auch der Rest der Figuren ist - mit Ausnahme von Josefs Mutter Helene - eindimensional und eher holzschnittartig gezeichnet. Da gibt es den schlagenden Großvater, die grantige Großmutter, den smarten, aber bösen SA-Mann, seinen liebenswerten hinkenden Bruder Werner als Gegengewicht und den qua seines Alters naiven Josef, der alles aufsaugt, was Wilhelm ihm vorbetet. Die Mutterfigur ist hingegen als einzige wohltuend ambivalent. Sie ist mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert, schwach und zeigt selten einmal Liebe. Doch dann gibt es plötzlich Szenen, in denen sie förmlich ausbricht, einem Pfarrer in aller Öffentlichkeit ihre Meinung geigt und wehmütig von einer besseren Zukunft träumt. Bedauerlich ist, dass diese Figur nach den ersten etwa 100 Seiten mit einer Ausnahme kaum noch eine Rolle spielt. Denn Josefs Familie findet eigentlich nicht mehr statt, seitdem er Tag für Tag bei den Reckzügels verbringt. Ansonsten sind Grautöne in den Figuren nicht zu erkennen.
Ein weiteres Problem ist, dass sich der Roman nicht ausreichend Zeit für die Opfer der Geschichte nimmt, sich für sie nicht wirklich interessiert. Protagonist Josef ist zwar anfangs auch ein Opfer des manipuliativen Nazis, entwickelt sich aber mit zunehmender Dauer zu einem Täter, denn Josef belauscht und denunziert Gegner der Nationalsozialisten mit Hingabe, so dass meine Empathie für den Jungen immer stärker abnahm. Eigentliche Opfer wie Else, um die es ja laut Helen und Josse gehen sollte, tauchen nach knapp 300 Seiten zum ersten Mal auf - und verschwinden sang- und klanglos wieder.
Die Täterperspektive der Nationalsozialisten und HJ wird hingegend detailliert ausgeleuchtet. Hierbei gelingen Angelika Rehse allerdings Szenen unheimlicher Intensität, insbesondere bei der Bücherverbrennung in Berlin im Mai 1933. Der gerade einmal achtjährige Josef partizipiert aktiv an ihr und als Leser:in meint man fast, den Qualm riechen zu können. Ein wirklicher Horror! Ohnehin ist es der Schreibstil, mit dem Rehse überzeugt. Denn "Josses Tal" liest sich überwiegend flüssig, spannend und unterhaltsam, so dass einem die 400 Seiten viel kürzer vorkommen. Vorausgesetzt, man stört sich nicht an den zahlreichen Dialogen.
Nachteilig ist in diesem Zusammenhang allerdings die pausenlose Ausformulierung der Gedanken der Figuren. Durch die vielen Dialoge gibt es eigentlich schon genug Satzzeichen, doch die mit je einem Anführungszeichen eingeleiteten Gedanken stören den Lesefluss doch das ein oder andere Mal. Hinzu kommt, dass Angelika Rehse hier durchaus mehr Vertrauen in die Leserschaft hätte haben können, denn es macht ja gerade den Reiz eines Romans aus, selbst in die Figuren zu blicken und nicht ständig gesagt zu bekommen, was diese nun gerade denken und fühlen.
So ist "Josses Tal" ingesamt ein zwar unterhaltsamer, aber auch etwas ärgerlicher Roman geworden. Nicht abzusprechen ist ihm der gute Wille, die auch für die Kinder schreckliche NS-Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, und ein Aktualitätsbezug, denn auch heute sehen sich Menschen jeden Alters Manipulationen jeder Art ausgesetzt. Die Umsetzung kam mir allerdings durch die blasse Charakterisierung und Eindimensionalität der Figuren zu didaktisch vor.
Angelika Rehse hat mit über 70 Jahren ihren Debutroman vorgelegt „ Josses Tal“. Die Eltern der Autorin stammen aus Schlesien und sie selbst wuchs zwischen Heimatvertriebenen auf. Von ihnen hörte sie Geschichten von der alten Heimat und dort in Schlesien hat sie auch ihren Roman angesiedelt. Eine intensive Recherche vor Ort, in Archiven und Bibliotheken ging dem Schreiben voraus.
Die Rahmenhandlung setzt ein im Jahr 2004. Helen ist ins norwegische Lillehammer gereist, um Näheres über den Tod ihrer Urgroßmutter zu erfahren. Ein Hinweis lieferte eine Postkarte vom September 1945, geschrieben von Josef Tomulka. Dieser Josef, genannt Josse, lebt seit langem als Einzelgänger in diesem abgeschiedenen Tal in Norwegen und aus dessen Perspektive wird uns sein Leben
geschildert.
„Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit häuslichen Brauntönen bemalt.“
Josse kommt als uneheliches Kind zur Welt. Im Dorf wird er gehänselt und für seinen Großvater ist die Tatsache eine unverzeihliche Schande, die er den Jungen täglich spüren lässt. Auch von der Mutter und der Großmutter gibt es keine Zuwendung, keine liebevolle Geste. Im Jahr 1930 zieht der fünfjährige Josse mit seiner Mutter und den Großeltern in das kleine Dorf Dorotheenthal in Niederschlesien. Am neuen Wohnort lässt sich der Makel des unehelichen Kindes vielleicht leichter verheimlichen.
Und hier findet der Junge in Wilhelm Reckzügel, einem Medizinstudenten, einen Beschützer und Fürsprecher. Josse fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben geschätzt und geliebt. Auch Wilhelms Familie kümmert sich um den vernachlässigten Jungen und nach dem Tod seiner Mutter nehmen sie ihn bei sich auf.
Wilhelm ist schon früh überzeugter Nazi, marschiert in SA- Uniform durchs Dorf und versucht Josse parteikonform zu beeinflussen. Er nimmt den Jungen mit nach Berlin, wo dieser stark beeindruckt ist vom Spektakel der Bücherverbrennung. Und als Hitlerjunge mit seiner Kluft fühlt sich Josse endlich respektiert und dazugehörig. „ Ab heute würde ihn keiner mehr spöttisch ansehen,…Ab heute würde er einer von ihnen sein.“
Wilhelm, mittlerweile aufgestiegen in der NS- Hierarchie - kein einfacher SA- Mann mehr, sondern Hitlers Schutzstaffel, der SS, zugehörig - will aus seinem Dorf ein Vorzeigeort machen, frei von etwaigen Feinden des Reiches. Dabei soll ihm Josse helfen. Der Junge wird bereitwillig zum Spitzel, belauscht Nachbarn und Bekannte und meldet jede kritische Äußerung, jedes fehlende Hitlerbild, jedes auffallende Verhalten. Skrupel hat er anfangs keine. Wie gern macht er alles, was Wilhelm, sein großer Freund und Wohltäter, von ihm verlangt.
Doch bei seinen Spitzelaktionen bekommt er vieles zu hören und zu sehen , was ihm zu denken gibt. Und mit zunehmenden Alter sieht er auch Wilhelm kritischer, fühlt sich missbraucht als „ Handlanger“. Doch es wird nicht leicht, sich aus Wilhelms Machtbereich zu lösen.
Der Roman zeigt eindrucksvoll, wie leicht Menschen zu manipulieren sind. Gerade bei jungen, noch ungefestigten Menschen ist es ein Leichtes, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie in bestimmte Richtungen zu führen und zu lenken. In diesem speziellen Fall ist es umso perfider, weil Josse ein Kind war, das aufgrund seiner lieblosen Umgebung umso dankbarer auf jede Freundlichkeit reagiert hat.
Doch die Autorin will das nicht als Rechtfertigung verstanden wissen. Josse erkennt, spät erst zwar, dass sein Tun falsch war und zieht die Konsequenzen. Noch im Alter trägt er schwer an der Schuld, die er auf sich geladen hat.
Der Roman liest sich leicht und bringt uns trotzdem sehr eindringlich die gesellschaftliche Entwicklung in Nazi- Deutschland nahe. Anders als in der Großstadt bekommen die Menschen in Dorotheental die aktuellen Geschehnisse nur von weitem mit. Doch die schleichenden Veränderungen sind auch im Dorf spürbar. Die Kinder machen begeistert bei der Hitler- Jugend mit. In der Schule gilt ein anderer Lehrplan und im Dorf bestimmt der Ortsgruppenleiter. Wer sich dagegen stellt, wird zum Außenseiter und gerät ins Visier der örtlichen Nazis.
Das Buch packt den Leser von Anfang an. Gebannt und voller Empathie verfolgt man das Schicksal dieses Jungen, erlebt seine Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen. Mögen manche Wendungen auf den ersten Blick etwas zu konstruiert sein, werden sie doch glaubhaft und nachvollziehbar geschildert.
„ Josses Tal“ ist ein lesenswertes und wichtiges Buch, das ich gerne, auch jungen Lesern, empfehle.
Dem Roman ist ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt: „ Die traurige Wahrheit ist, dass das Schlimmste von den Menschen begangen wird, die sich niemals dazu entscheiden, gut oder böse zu sein.“
Und die Seele kann den Körper verlassen
Inhalt
Im Zentrum der Geschichte stehen drei Personen, aus deren Perspektive in der Er/Sie-Form die Handlung abwechselnd erzählt wird.
Karla Jenner-García ist eine Frau über 60 Jahre und unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Die Chemotherapie hat sie abgebrochen, ihr bleiben noch etwa 5-6 Monate zu leben. Sie ist schmal, blass und geht immer barfuß.
Jahrelang hat sie in Ibizia und Formentera gelebt, zuletzt Immobilien mit ihrem spanischen Mann verkauft, so dass sie keine finanziellen Nöte hat.
Da sie keine Familie und den Kontakt mit ihrer Schwester vor 40 (!) Jahren abgebrochen hat und nicht in ein Hopiz will, hat sie sich für eine Sterbebegleitung zuhause entschieden.
Fred Wiener übernimmt diese Aufgabe, ein ca. 40 Jahre alter Mann, geschieden, übergewichtig und überpünktlich. Es ist seine erste Sterbebegleitung - sein Versuch einen Sinn im Leben zu finden?
"Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, Anfahrtszeiten so großzügig zu kalkulieren, dass ihm bei der Ankunft noch genügend Zeit zur Orientierung bleib. Das gab ihm Sicherheit." (S.7)
Ihr erstes Zusammentreffen, in dem Fred sich angestrengt bemüht, eine Unterhaltung zu bestreiten, verläuft schwierig.
"Tun sie mir den Gefallen und hören Sie bitte mit dieser Scheißkonversation auf." Sie sagte es nicht unfreundlich, aber bestimmt." (S.14)
Karla bleibt unzugänglich, lässt sich aber zunächst auf die Begleitung ein.
Phil Wiener ist Freds Sohn und ein Einzelgänger, ein 13-jähriger, der Gedichte liest und verfasst.
Er hat sich bereits als Achtjähriger ein ein "Wörterkrankenhaus" ausgedacht, es
"bestand aus einer dreibändigen handschriftlichen Sammlung von Wörtern, die Phils Meinung nach vorübergehend längerfristig oder, wenn sie unheilbar erkrankt waren, auch endgültig aus dem Verkehr gezogen werden mussten." (S.26)
Er lebt nach der Scheidung seiner Eltern bei seinem Vater, seine esoterisch veranlagte Mutter schickt ihm Wachstumselixier und versucht, ihn mit positiver Energie per Telefon zu versorgen. Phil hasst es und bringt in seinen Gedichten seine Gefühle deutlich zum Ausdruck.
Karla war in den 80/90er Jahren ein Groupie der Band "The Grateful Dead" und hat unzählige hochwertige Fotographien aus dieser Zeit, die Phil digitalisieren soll. So lernen sich beide kennen und behutsam baut sich eine Freundschaft zwischen den beiden auf, da Karla Phil so sieht, wie er wahrgenommen werden möchte und er ihren Wunsch nach Ruhe akzeptiert.
Gleichzeitig verändert sich auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn.
Auch Karla schreibt Gedichte, Wortlisten, die mehr über sie verraten, als die Gespräche, die sie führt.
"otto verschont
gudrun vertraut
meiner kunst nicht vertraut
zweimal abgetrieben
mit dem fotografieren aufgehört
joaquín verlassen
chemo besseres wissen
weitere idiotische fehlentscheidungen
vielleicht sterbebegleiter engagiert
kinderarbeitgeberin geworden" (S.79)
Zwei Kapitel sind aus der Perspektive von Karlas Schwester Gudrun verfasst, die Leser*innen ahnen, welche Familientragödie sich abgespielt hat - Mutter weggelaufen, Vater Alkoholiker, Schwester frisst sich einen Schutzwall an, Karla muss für den Vater tanzen...der Rest bleibt offen und der Fantasie der Lese*innen überlassen.
Im Haus, in dem sich Karlas Wohnung befindet, wohnt auch Leo Klaffki, allein stehender, älterer Herr und bekennender Werder-Fan und Hundebesitzer, der sich ebenso um sie sorgt und an Freds Seite steht. Genauso wie die junge Reno, in die sich Phil verliebt. Sie lassen sich nicht von Karlas spröder und zugänglicher Art abschrecken.
Fred startet einen Versuch, die Schwestern an Weihnachten zu versöhnen. Ob das gelingen kann? Ob Karla diesen Übergriff verzeiht?
Bewertung
Susann Pásztor hat selbst eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist ehrenamtlich tätig (Quelle: Klappentext). Diese Erfahrung wird im Roman erlebbar.
Das Ende Karlas ist absehbar und der Sterbeprozess wird sensibel und sehr berührend geschildert, Szenen, die wirklich ans Herz gehen, ohne kitschig zu sein.
Ein trauriger, aber auch sehr schöner Roman, der ohne erhobenen Zeigefinger deutlich macht, dass das Sterben zum Leben gehört und jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, selbst zu entscheiden, wann und wie er gehen möchte.
"Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster", damit die Seele den Körper verlassen kann.
Neben der Thematik Sterben (begleiten) steht die Beziehung zwischen Phil und seinem Vater im Fokus. Die Arbeit für Karla eröffnet dem Jungen die Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu finden, festigt sein Selbstvertrauen und der Vater erkennt das Potential seines Sohnes. Doch auch Fred geht nicht unverändert aus dieser Begleitung hervor, die Erfahrungen erweitern auch seinen Horizont.
Ein lesenswerter Roman, der lange nachhallt.
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