Truboy: Mein Sommer mit Truman Capote
Zu diesem Buch eine Rezension zu schreiben finde ich nicht so einfach. Man müsste es vom Standpunkt eines Lesers, der noch nie so ein Buch in den Händen gehalten hat sehen und ebenso vom Standpunkt eines eventuell Betroffenen oder Interessierten, der schon sehr viel zu dem Thema gelesen und recherchiert hat. Das sind eindeutig zwei Paar Schuhe.
Es gibt bereits viele Bücher zu dem Thema. Ausgegrübelt, Grübeln stoppen mit vielen Textzusätzen, sogar ein Anti-Grübel-Buch findet sich in der Schnellsuche.
Warum noch ein weiteres fragt man sich.
Ich finde dieses Buch richtet sich in nachvollziehbaren Beispielen und Anleitungen an Menschen, die merken, dass sie zu viel Grübeln. Dabei ist nicht das patholgische Grübeln gemeint, das bereits zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit geworden ist.
Es gibt immer mal Lebensphasen, in denen Grübeln mehr vorkommt oder mehr belastet. Gehört vermutlich auch zum Älterwerden. Für diese Grübler ist das Buch quasi eine Fundgrube an nachvollziehbaren Zusammenhängen. Einfach erklärt ohne Fachsprache und nicht überfrachtet mit Beispielen von anderen Menschen, deren Lebensweg oder Situation eh nicht dem des Lesers entspricht.
Besonders gut finde ich im letzten Kapitel den Vergleich zur Welpenerziehung. Da kann jeder verstehen, dass es mit dem Ändern der Denkgewohnheiten auch nicht auf Anhieb klappt.
Nach all den fürchterlich akademischen Rezensionen, die ich in den letzten Jahren über Houellebecq überflogen hatte, erwarte ich bei »Vernichten«, einem mit reichlich 600 Seiten recht dicken Buch eigentlich das Schlimmste: akademische Kärrnerarbeit, sich durchpflügen im Schweiße des Leser-Angesichts, Migräne und hoffen auf raschen überfliegen des Wälzers.
Weit gefehlt: Der Mann schreibt so leichtfüßig und witzig, dass ich geradezu spielerisch über ellenlange Schachtelsätze hinweg lese, oder auch nur einmal ins Stolpern zu kommen.
Die Story? Ein echter Thriller. Verdammt, warum hat mir das keiner gesagt! Immer wieder nur das Gerede, ob Houellebecq nun politisch korrekt oder neo-konservativ sein. Was mir hier wie Butter (bescheuerte Metapher) durch die Seiten fließt, ist Unterhaltung von Feinsten. Und dann noch diese schrägen Geschichten, die wir alle irgendwie kennen: Streit um ethisch korrekte Ernährung, irgendwie abgeschmierte Computer, Langweile beim Sex in einer ausgelebten Beziehung etc. Der Mann holt uns da ab, wo wir leben. Und entführt uns dann in eine skurrile Fantasiewelt, die so utopisch zu sein scheint wie die Vorstellung, Putin würde die Ukraine angreifen, noch im Januar 2022.
Inzwischen wissen wir es besser. Einzig gewiss ist, dass nichts mehr gewiss ist. Positiver Nebeneffekt: Die Langweile der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts gehört der Vergangenheit an. Und so schaue ich sie mir halt an bzw. lese sie in mich rein, die Vernichten-Fantasiewelt des kettenrauchenden Franzosen.
Mit seinen früheren Büchern soll er ja bereits visionär in die Zukunft geschaut haben. Ist er ein Seher? Nun ja, nicht übertreiben, wie John Brunner, der mit »Schafe blicken auf« in den 70er-Jahren eine faszinierende Endzeitdystopie verfasste, in der Öko-Terroristen ein letztes verzweifeltes Gefecht gegen die naturzerstörende Zivilisation führen, und George Orwell, der nach dem Zweiten Weltkrieg in »1984« eine Vision des Totalitarismus schrieb, ebenfalls zeitlos aktuell. Sie konnten auch in die Zukunft schauen, von Science-Fiction-Autoren Jules Verne oder Hans Dominik mal ganz abgesehen.
Habe ich schon gesagt, dass »Vernichten« leichtfüßig daherkommt? Leichtfüßig, nicht so eine ätzende Betroffenheits-Empörungs-Shitstorm-Prosa, kein Kulturpessimismus oder dergleichen. Leichtfüßig!
Gewöhnlich stürzen sich Literaturkritiker auf die erotischen Stellen, die ihnen der französische Erfolgsautor gleich Fleischhappen vor die Füße wirft. Zugegeben: Seine Muschi- und Fick-Passagen auf den Seiten 68 ff. reichen fast an das Niveau eines deutschstämmigen Amerikaners heran, der vor einem Jahrhundert nach Paris ging, die Damenwelt und die Sternen gleichermaßen liebte. Wie Henry Miller in »Wendekreis des Steinbocks« schwenkt Michel Houellebecq elegant von Genitalen und zur Götterwelt, wobei seine Kenntnisse, was linkshändisches Tantra-Yoga betrifft, speziell bei den Tibetern, von tiefer Sachkenntnis zeugt.
Überzeugt hat mich jedoch eine ganz andere Szene, nur vier Seiten weiter, wenn zu Beratern der Arbeitsverwaltung bemerkt, dass sie zu bemerkenswerten Vorspiegelungen von Optimismus in der Lage seien, geschult in Clown-Workshops, dass sich die psychologische Betreuung von Arbeitslosen in den letzten Jahren stark verbessert haben - die Arbeitslosenquote jedoch nicht gesunken. Letzte Woche las ich diese Zeilen einem hiesigen Arbeitsamtsberater vor, in seinem Dienstbüro: Nicht nur, dass er es bestätigte, der Mitarbeiter outete sich zudem als begeisterter Leser des Franzosen.
Die Hauptfigur des Romans ist in der Oberschicht angesiedelt. Ich erinnere mich an eine Dampferfahrt durch die Kanäle von Straßburg, wo uns der Stadtführer auf eine jener französischen Eliteuniversitäten hinwies, in denen ausschließlich Staatsbeamte »herangezüchtet« werden. Meine Begleiterin zum Europaparlament las in »Rückkehr nach Reims« einer Autobiografie des französischen Soziologen Didier Eribon. Wie die administrative und politische Elite Frankreichs mit den Jahren immer mehr von den Sorgen und Nöten der verarmenden Mittel- und Unterschicht abhob, die Sozialisten den Kontakt zur Arbeiterklasse zugunsten der Rechtsextremen verloren, beschreibt Didier Eribon eindringlich.
Michel Houellebecq ist bei aller intellektuelle Brillanz nicht abgehoben. In seinen Roman fügt er Protagonisten ein, die extremen sozialen Spannungen des modernen Frankreich transportieren. Der Autor weiß sehr wohl um die Sorgen der ganz einfachen Leute und ihre miserablen Jobchancen, die in Nordfrankreich genauso wenig von den Eliten der Gesellschaft ernst genommen werden wie in Ostdeutschland, hier und dort zu Staatsverdrossenheit führen.
Ich habe noch während des Lesens auf die Kritiken geschielt und bin solchermaßen vorgewarnt. Der Autor wird es nicht beim Thriller belassen, sondern abrupt das Genre wechseln, Handlungsfäden aufgeben, Figuren verlassen. Quasi in einem Pentagramm soll er fünf moderne Gesellschaftsgruppen vorstellen, alle gleichsam sinnentleert durch eine Industrialisierung, die den Arbeiter weitgehend überflüssig macht, die Gesellschaft in schlecht bezahlte Handlanger und eine sorglose Elite spaltet - ein Grundthema, das sich in seinem literarischen Œuvre spiegelt.
Im Westeuropa der 60-er Jahre fing die Malaise mit der Krise von Kohle und Stahl, als die Importe aus Asien billiger wurden, schließlich die Werften geschlossen wurden, Elektroindustrie, Textil- und Schuhindustrie bankrott gingen, nach dem Fall der Mauer im Zeitraffer gleiches in Osteuropa. Was blieb, waren Billiglöhne plus jene neue Oberschicht, die von Silicon Valley aus mit technologischem Know-how mal eben übers Wochenende in den Weltraum fliegen kann, während unten auf Erden der Amazonas-Urwald gerodet wird, um den Rohstoffhunger der Massen zu stillen, Lieferung per Mouseklick als Premium-Delivery für jene, die es sich leisten können.
In »Elementarteilchen«, dessen Verfilmung die wesentliche philosophische Themen ausspart aber in ihrer x-beliebigen Seichtheit den Zeitgeist des beginnenden 21. Jahrhunderts in der westlichen widerspiegelt, stellt er u.a. die neu-religiöse Bewegung des »Raelismus« vor. Wozu noch Geschlechtsverkehr, wenn sich mithilfe der Biotechnologie Menschen künstlich reproduzieren lassen? In meinen Augen ein Luxusproblem, das damals meine Freunde in der wohlhabenden Schweiz genauso ernst diskutierten wie das Recht auf Freitod. Zwar waren sie allesamt kerngesund, als wir im Motorboot von Romanshorn aus bei den sündhaft teuren Nachtklubs am Bodensee anlegten. Aber sie sorgten sich: Warum noch schwanger werden, wenn Klonen möglich ist. Warum nicht mit Gift vorsorgen, falls man irgendwann, vielleicht, unheilbar krank sein würde?
Der Franzose ist etwa in meinem Alter. Ich kann nachvollziehen, wenn er in einem FAZ-Interview bemerkt, dass die Gesellschaft mit den Jahren und Jahrzehnten immer unfähiger wurde, zu differenzieren und unterschiedliche Meinungen zu ertragen. Damals in Hamburg auf dem Gymnasium diskutierten wir unter Anleitung des Sozialkundelehrers noch ganz frei über Unterschiede zwischen dem demokratischen Sozialismus der DDR und der sozialdemokratischen BRD, verglichen Pros und Kontras, wie beispielsweise die sehr viel liberalere Abtreibung-Gesetzeslage bei unseren Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs. Heutzutage, im Zeitalter von linksliberaler Political Correctness und neu-rechten Fake News gänzlich undenkbar.
Einige existenzielle Umbrüche haben wird erlebt, der Franzose und ich: Der Fall des Eisernen Vorhangs, die digitale Revolution, den Siegeszug des Internets, einstürzende Zwillingstürme 9/11 live on TV. Doch im Grunde ist alles viel gleichförmiger geworden seit damals, als uns jungen Burschen Flower-Power umgab, als Jimi Hendrix und Janis Joplin »live fast, die young« zelebrierten. Außer Shitstorm bei Facebook, wenn man/frau nicht gendergerecht postet, ist eigentlich alles langweilig geworden.
Der Schreibens überdrüssig sei er geworden, der französische Skandalautor mit dem unaussprechlichen Namen. Alles sei gesagt, alles sei geschrieben. Rückzug ins Private, in den Schoß der Familie, soll sein neuestes Werk »Vernichten« propagieren, schreiben die Kritiker zu Beginn des Jahres 2022, das so langweilig begann wie fast alle Jahrzehnte zuvor.
Doch halt! Es ist Frühling geworden und in der gar nicht so fernen Ukraine sind es einzig Tretminen und Blindgänger, die in den Gärten sprießen. Zu Ostern kommen keine Hasen und bringen Eier, sondern Raketen fallen vom Himmel und wer sich nicht rechtzeitig wegducken kann, wird von Scharfschützen niedergemetzelt. Wir sind alle dabei, online via Livestream, den Hunderte über dem Kampfgeschehen kreisender Satelliten auf unsere Smartphones schicken. Es geht ums Überleben. Und wenn der hässliche Zwerg in seinem Bunker dort drüben auf den Roten Knopf drückt, fallen regnen auch bei uns im ach so so langweiligen Westeuropa die Atombomben vom Himmel.
Michel Houellebecq, wenn du bei deinem letzten Roman noch gedacht hast, es gäbe nichts mehr zu erzählen, die Dekadenz der Gesellschaft würde durch ewigen Fortschritt der Maschinen beschleunigt, dann warst du ausnahmsweise mal kein guter Seher. Ich denke, klammheimlich hast du deinen Schriftsteller-Laptop schon längst wieder hochgefahren und arbeitest an deinem nächsten Roman. »Vernichten«, der Titel deines letzten, passt momentan wie die Faust aufs Auge.
Doch was kommt danach? »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen«. Dieses Lutherzitat sollte dem kettenrauchenden Atheisten ins Poesiealbum geschrieben werden. Obwohl - stets war der Franzose seiner Zeit voraus. Nicht unwahrscheinlich, dass sein nächster Roman im Schrebergartenmilieu spielt, mit lachenden Kinder und Ostkuchen zum Kaffee. Das Leben geht in Zyklen. Auf die Nacht folgt der Tag und auf eine sinnentleerte Konsumperiode vielleicht eine Zeit der Entbehrung, die Sinn stiftet?
Am Tag der Frankreich-Wahl und des des andauernden Bombardements auf die Ukraine während des russischen Osterfests sprach lange in einem Café hier am Postplatz mit einem polnischen Geschäftsmann, der Jared Diamonds »Arm und Reich« las und dem ich das Nachfolgewerk »Kollaps« empfahl, zugleich auf das Faustische des Krieges verwies und Goethes Mephistopheles zitierte: »Ich bin die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« Ob der Vernichtungswille Putins, der eine nie dagewesene Einheit Europas erzeugte, letztendlich zum Wiederentstehen des Jagiellonenreichs führen wird wie zu Shakespeares Zeiten, als im »Hamlet« ein Abgesandter des damals mächtigsten Staates von Europa auftrat, der Personalunion von Polen, Lettland und der Ukraine umfasste, vom Schwarzen Meer bis zu Ostsee?
Spielt die Erzählung wirklich in der Zukunft, im Jahr 2027? Zwar geht es um die Präsidentschaftswahl in fünf Jahren, jedoch ist es ein Gegenwartsroman, den ich hier lese, und ich befinde mich in einer Gegenwart, die eine Zeitenwende darstellt, merke wie ich hin- und herspringe bei der Bewertung. Was mich am Lesen hält ist die stoische Ruhe der Hauptfigur, die moralische Unaufdringlichkeit des Autors und seine ungeheure Belesenheit, die niemals eitel daherkommt. Eigentlich ist es ein langes Selbstgespräch, das der Regierungsbeamte Paul hier vollzieht. Ständig reflektiert und hinterfragt er, was er wahrnimmt, sogar das, was er sagt. Und es wirkt nicht gekünstelt. Das kann nur große Literatur.
Es ärgert mich, wenn ich Rezensionen lese, in denen Kritiker bemängeln, sie seinen durch Houellebecqs neuesten Roman nicht ausreichend »unterhalten«, er amüsiere sie nicht wie in früheren Werken. Genauso unsinnig Kritiken, wonach Handlungsstränge verloren gehen oder Figuren im Nichts verschwinden. Hier waren Rezensenten am Werk, die es gewohnt sind, Seiten zu überblättern, um schnell durchzukommen. Nichts habe sie verstanden!
In »Vernichten« geht es viel ums Sterben, um Pauls Vater, der nach einem Schlaganfall ins Koma fällt, daraus erwacht, jedoch nur noch »Gemüse« ist – ein Schicksal, das die Hauptfigur auch ereilen wird. Eine Metapher für die westeuropäische Zivilisation, um deren Niedergang Houellebecq sich auch in früheren Werken Sorgen macht. Er ist ein Aufklärer, und das, was zynisch herüberkommt, ist im Grunde als Warnung gemeint.
Bemerkenswert, wie elegant Innenwelt und Außenwelt in der Erzählung verknüpft werden. Der Autor beschreibt seine Figuren nicht mit Haarfarbe oder Altersangabe, sondern wesentlich eleganter, so auf Seite 151:
»Sie hatte ›Vater‹ gesagt, nicht ›Papa‹, dachte Paul, vielleicht hatte sie an Weihnachten wirklich Familienprobleme gehabt, sie begann ihm fast sympathisch zu werden, diese dämliche Spießbürgerin.«
Faszinierender Umgang mit personalen Erzählperspektiven. Es Ruhe, dieses Buch zu lesen. Man muss sich Zeit nehmen – und wird belohnt mit jener stoischen Ruhe, die der Autor beim Schreiben an den Tag legt und seinem tragischen Helden dazu verhilft, so gut wie jedes Glück und Unglück gelassen zu ertragen. Kaiser Hadrian, dessen Regentschaft zu den friedlichsten und stabilsten des Römischen Reiches gehörte, soll ein Anhänger der Stoa gewesen sein, jener vom Griechen Zenon begründeten Philosophie der Ruhe und Gelassenheit, die dem chinesischen Zen-Buddhismus nicht unähnlich ist.
Noch einmal zurück zu Henry Miller: Wie nahtlos Houellebecq in seinen Erzählstrom Alltagserlebnisse, Traumsequenzen, Erotisches und Spirituelles verknüpft, erinnert stark an jenen Autor, der einhundert Jahre zuvor von New York nach Paris kam, sich als Autor nur seinem inneren Erleben verpflichtet fühlte, der nach vielen Mühen einen französischen Verleger fand, mit Prozesses wegen angeblicher Pornografie überhäuft wurde, dessen Werke bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Index standen.
Ob der kettenrauchende Franzose Michel seine Bücher gelesen hat? Auf jeden Fall ist er ein würdiger Nachfolger des zu Unrecht als Schmuddelautor diffamierten Henry. Es sind dieser kluge, freigeistige Duktus, dieses Verabscheuen spießbürgerlicher Konvention, der forschende Blick auf die Wahrheit hinten den Masken und die Verehrung des Weiblichen, fast zur Gottheit erhoben, auf jeden Fall im krassen Gegensatz zum Christen-Herrgott, diese einst von Nietzsche und Warburg beschriebenen Dichotomie von apollinischer und dionysischer Kulturgeschichte des Abendlandes, die Houellebecq und Miller gemein ist.
Fast in der Mitte des Buches angelangt möchte ich den Literaturkritikern insofern Recht geben, als dass der Roman zu lang ist – ein Phänomen, das sich auch bei anderen fest etablierten Autoren wie Stephen King zeigt, die sich dem entdeckenden Schreiben hingeben, anstatt zu plotten, zu strukturieren und immer wieder zu überarbeiten, überflüssige Adjektive, Sätze, ja ganze Absätze, Passagen und Figuren in immer neuen Überarbeitungen zu eliminieren, wie es Ernest Hemingway meisterlich verstand. Doch dies nehme ich beim weiteren Lesen zurück.
Wenn in Rezensionen davon die Rede ist, dass Houellebecq lose Fäden zurücklässt und Protagonisten ins Nichts laufen lässt, dann stimmt dies nicht. Es fehlte jenen, die dies behaupten, nur jene stoische Ruhe, derer es beim Lesen guter Bücher bedarf. Der Autor widersetzt sich lediglich dem Dogma modernen Verlagslektoren, wonach Bücher heutzutage »lesertauglich« zu sein haben, es Action und Thrill bedarf. »Ein Buch ist wie ein Freund« heißt es. Spätestens im letzten Drittel der 620 Seiten ist es mir zum freundlichen Begleiter geworden, fühle ich mich wohl in der vom Autor geschaffenen Welt und blicke voll Sorge auf die schwindende Seitenzahl. Viel gäbe es noch zu erzählen über »Vernichten«.
Nicht in allem möchte ich vorgreifen. Nur dies noch: Bis ins Feinste ist es konstruiert und geplant, beispielsweise wenn Bruno zu Beginn des Romans in sein Kinderzimmer kommt, zum ersten Mal seit vielen Jahren, und die Poster an den Wänden betrachtet, die seit seiner Teenie-Zeit dort hängen, so ist auch dies eine Klammer, die zum Ende geschlossen wird, mit tiefem Ernst und Tragik – jedoch mit jener Heiterkeit, die dem Autor zu Eigen ist und das Lesen zum Genuss macht.
„Vernichten“ setzt ein mit einer Reihe rätselhafter, anscheinend unzusammenhängender Terroranschläge, die die Sphäre von Paul Raison erschüttern. Paul ist der Vertraute und Assistent des amtierenden Finanzministers, einer Art grauen Eminenz in der Regierung. Dieser Erzählstrang ist der wichtigste des Romans und handelt vom Wahlkampf um die Präsidentschaft im Jahr 2027.
Ein weiterer Strang handelt von Pauls Vater, einem ehemaligen hochrangigen Geheimdienstler, der nach einem Schlaganfall ins Koma fällt, und prangert die miserablen Zustände in Krankenhäusern und in der Altenpflege an.
Im dritten Strang geht es um die Wiederbelebung von Pauls Ehe mit Prudence, die seit 10 Jahren quasi kontaktlos in derselben Wohnung leben. Zunächst habe ich mich von der sensiblen Schilderung dieser langjährigen Ehe bestechen lassen. Immerhin ist „Vernichten“ mein erster von drei Houellebecqs, bei dem ich NICHT alle 10 Seiten das Bedürfnis hatte, das Buch an die Wand zu schmeißen. Die üblichen hasserfüllten Sexismen und Wichsexzesse bleiben uns in diesem Roman erspart, H. ist offenbar altersmilde geworden. Meine Verblüffung hielt jedoch nicht lange vor. H. geht nicht so weit, das Unglück seiner armseligen Männer auf die patriarchalen Strukturen zurückzuführen, die sie um den Preis ihres Glückes aufrecht erhalten wollen. Es ist ihre Unfähigkeit, intime Beziehungen auf Augenhöhe zu führen, die in die Einsamkeit führt. H. hält dies für naturgegeben, notwendig, ja heroisch. In Houellebecqs Welt sind Männer die Inhaber der Macht und Frauen tun das, was sie „von Natur aus“ am besten können, nämlich lieben, mitfühlen, unterstützen, kommunizieren – und kochen.
Ein vierter Strang dreht sich um Pauls künstlerischen, schwachen, lebensuntüchtigen (weil „unmännlichen“) Bruder Aurélien. Dieser wird durch seine Frau gedemütigt, indem sie nicht von ihm schwanger werden will, sondern den Samen eines Schwarzen aus einer Samenbank vorzieht. Der ultimative Alptraum des weißen Hetero, Houellebecq, wie er leibt und lebt, patriarchalischer Rechtspopulismus pur.
Damit können letztlich auch die vielen klugen, oft brillanten Überlegungen zu gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen nicht versöhnen, mit denen er den Niedergang Europas beschwört. Buchtitel und Einstieg versprachen eine saftige Dystopie – leider versandet dieser Strang in vagen Satanismustheorien ohne jede Auflösung. Am Ende bleibt uns nicht mal die aufopferungsvolle Ehefrau erspart, die buchstäblich mit Todesverachtung ihren sterbenden, nach Verwesung stinkenden Ehemann besteigt – wahre (weibliche) Liebe eben.
Dazu kommt das behäbige, antiquiert wirkende langsame Erzähltempo. Insgesamt hätten 100 Seiten weniger (mindestens!) dem Buch gut getan. Das Dankeswort am Ende überrascht mit der Ankündigung, dass „Vernichten“ Houellebecqs letzter Roman gewesen sein wird.
Dazu zitiere ich Christine Lehnen von DW.com, besser kann man es nicht sagen: „In unzähligen Romanen hat er sein Anliegen erfüllt: die Einsamkeit der männlichen Existenz im Patriarchat in der Literatur zu verewigen. Das ist ihm gelungen. Man möchte nur noch eines rufen: Bravo! – und Adieu.“
Leider keine Leseempfehlung.
Kurzmeinung: Ich kann nicht anders, ich muss alle Sterne vergeben!
Grob gesagt geht es ums Sterben. Und um den Tod. Die beiden unleidlichen Begriffe, die, wie wir ja wissen, aufs Engste verknüpft sind. Grundaussage des Buches: der Tod vernichtet das Leben. Lapidar. Und doch, wie Michel Houellebecq das macht, wie er sein Sujet handhabt, das ist schon grandios, Er schleicht sich von hinten an dich ran.
Was ich an Michel Houellebecqs Romanen bisher (lediglich gelesen: Unterwerfung, abgebrochen: Serotonin) mag, das ist vor allem der jeweilige politische Kontext. In „Vernichten“ wie in „Unterwerfung“ schaut der Autor auf Frankreich. Zwar siedelt er das Romangeschehen beide Male um ein Weniges in der Zukunft an, doch hat er ein scharfes Auge auf die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse im Land. Seine Analysen sind messerscharf.
Im vorliegenden Roman nimmt Houellebecq vor allem den Wahlkampf ins Visier, zeigt die Verflechtungen, Berechnungen und die Manipulationen auf, die die Wahlkampfagenturen aushecken. Politiker werden geschult, jedes Wort, das sie im Interview sagen, wurde gebrieft; der Kandidat wird mit seinem Privatleben unter die Lupe genommen; nichts bleibt vor dem Skalpell verschont: passt, passt nicht, muss verändert werden, verstärkt, darf nie ans Licht kommen, etc. etc. Letztlich geht es immer darum, wie verkaufen wir die Öffentlichkeit für dumm? Laut Houellebecq. Zwischen den Zeilen. Doch da steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit darin. Der Wirtschaftsminister, der den Kandidaten massiv unterstützt, und der eine gute Stimme hat, lernt zuhause Arien zu singen, und rezitiert Gedichte. So kommt sein Timbre noch besser an. Er bekommt auch eine intelligente junge Geliebte, damit er nach einer gescheiterten Ehe bessere Laune ausstrahlt. Das ist Bruno Juge, der Minister, der arbeitsbesessen sozusagen im Ministerium wohnt und dem Paul, dem Protagonisten, als persönlicher Assistent unterstellt ist. Eine gut bezahlte Vertrauensstellung.
Mit Paul kommt die private Komponente ins Buch. Die Familie. Schwelende Konflikte, scheiternde Ehen, ungelöste Fragen, Suizid, Krankheit, Tod. Sex scheint das einzige Verteidigungsmittel zu sein, das einem Mann gegen das Herannahen des Todes zur Verfügung steht. Vergessen wir nicht, es ist ein Houellebecq, den wir lesen! Frauen haben eine dienende Rolle. Sie sind allzeit bereit, ständig am Mann interessiert und erfreuen ihn sexuell. Das machen sie freiwillig und gern und umsonst! Wie Raxanne eben, die Wahlkampfassistentin von Bruno!
Eine einzige Ausnahme ist Solène Signal, die Chefin der Werbeagentur, Präsidentenmacherin, sie ist natürlich unsympathisch und kommandiert alle rum und hat (wahrscheinlich) ein Verhältnis mit ihrem Assistenten, der insofern kein richtiger Mann ist.
„Einem wirklichen Schriftsteller kann es gelingen, uns an den Tod zu erinnern. An unseren ganz persönlichen Tod. Jeder weiß, dass das Leben irgendwann endet. Aber selten machen wir uns klar, dass wir selbst es sind, die sterben werden. Während die Welt ungerührt weiterexistiert. Literatur öffnet uns manchmal für Momente die Augen für diese Wahrheit, vor der wir sie sonst zumeist schließen“. Das sagt Marcel Reich-Ranicki in Fokus Online vom 9.9.2015, geschrieben von Uwe Wittstock:
Hat Houellebecq dies geschafft? Ist ihm diese Auseinandersetzung mit uns selbst gelungen? Die Schilderung einer schlimmen Krankheit, einer sehr seltenen Krankheit sogar, ist dann doch zu selten; so dass man sich zwar entsetzt, aber man identifiziert sich nicht. Man ist nicht angefasst, wie man heute so schön sagt.
Je mehr sich der Autor vom Sog des Privaten einsaugen lässt und uns, die Leser, einzusaugen versucht, desto mehr entfernt er sich von seinem spannenden Ausgangskonzept. Cybermobbing und Cyberterrorismus. Es gerieten dubiose Sektierer in den Fokus der Ermittlungen. Und der Autor stellte mittels seiner Figuren manche Überlegungen an, die der Komik nicht entbehrten. Wiccaisten treten auf. Katholische Aktivisten. Leider bleibt aber dieser Strang lose in der Luft hängen. Gerade noch den Ausgang der Wahl bekommen die Leser am Rande noch so mitgeteilt. Und dass Bruno darauf spekuliert, selber Kandidat zu werden, war von Anfang an keine Überraschung. Der Erkrankte hat das Interesse an Politik verloren. Verständlich. Der Leser aber nicht.
Im Privaten geht es weiter um Krankheit: Apoplexie. Wie geht die Familie damit um? Wie die Öffentlichkeit? Wie das Gesundheitssystem. Hier ist man ständig am Nicken. Liegt doch so vieles gesellschaftlich im Argen. Krankheit und Alter per se scheint ein Angriff auf die Jungen und Gesunden zu sein. Und ein Krankenhaus oder eine Pflegeeinrichtung sind Welten für sich. Abgeschlossene Welten. Es gibt nur Drinnen oder Draußen.
Um sich dagegen Vereinnahmung auf Seiten des Gesundheitswesens (eigentlich Krankheitsverwaltung) einerseits und gegen die Abschiebung in die Unsichtbarkeit und damit in die Nichtexistenz zu behaupten, gibt es nur die Werkzeuge Vermögen und Hingabe. Nur die Wohlhabenden können sich die beste Behandlung sichern, dh. eine menschenwürdige, und nur die Menschen, die jemanden haben, der sie mit Hingabe betreut, haben noch ein lebenswertes Dasein. Und wer pflegt voller Hingabe und Leidenschaft und Opferbereitschaft? Frauen. Und wer wird im Gesundheitssystem ausgenutzt: ausländische Pflegekräfte. Weiblich.
Houellebecqs Roman ist vielfältig und komplex. Und obwohl er mich zuletzt im Regen stehen lässt, wie seinerzeit Steinfests „Das grüne Rollo“, ist er auch genial.
In den Traumbildern, die Houellebecq alle Naselang entlang des gesamten Romans präsentiert, treffen sich jeweils zwei Ebenen, eine Surreale und eine des Horrors. Mit Fug und Recht kann man sie als Verarbeitungsprozeß interpretieren, eine Reaktion des Unterbewusstseins auf die Todesbedrohung.
Am meisten liebe ich die Beschreibungen der Landschaft, die der Sterbende noch einmal intensiv erlebt. Wunderbarst die Hommage an die Natur. Ich kann den Wald atmen. Der gesamte Wald wird von einem Wind gebeugt, stark und doch sanft. Die letzte Phase des Sterbeprozesses wird dadurch symbolisiert, ein Bild der Ruhe: die vollkommene Akzeptanz.
FAZIT: Trotz einiger Abstriche und trotz des vermittelten Frauenbildes, bei dem man nie weiß, wie es gemeint ist, als bloßes Abbild des Realen (Frau trägt ja tatsächlich die Last der Pflege und des sozialen Leben und sie ist Sexdienstleisterin) oder als Wunschbild, es möge so bleiben, ist „Vernichten“ selbstverständlich große Literatur.
Kategorie: Anspruchsvoll. Belletristik
Verlag: DuMont Buchverlag, 2022
Als ungekürztes Hörbuch gehört und hervorragend gesprochen von: Christian Berkel.
Sehr interessantes Sachbuch zum Thema Genetik, das aufzeigt, wie weit die Forschung in diesem Bereich schon ist und wie wir mit genetischen Analysen herausfinden können, was individuell unserer Gesundheit nützt oder schadet. Z.B. gibt es Menschen, denen Koffein, in Maßen, gesundheitlich nützt, während andere es absolut nicht vertragen. Und wenn man abnehmen möchte, macht es je nach den Genen, die man hat, einen Unterschied, ob man eher über die Ernährung (und jeweils über welche) und über Sport zum Ziel kommt.
Sehr verständlich geschrieben, sodass auch Menschen, die sich mit dem Thema noch nicht so viel beschäftigt haben, damit etwas anfangen können. Empfehlung für alle, die sich für Genetik, Naturwissenschaften, Sport, Ernährung oder auch einfach für Individualität und Vielfalt interessieren.
Kleine Einschränkung: das Buch macht sehr neugierig darauf, selbst zu wissen, welche der beschriebenen Genvarianten man hat. Zumindest im deutschsprachigen Raum ist das aber nur sehr teuer und hochschwellig möglich, meist werden von Instituten und Medizinern nur sehr hochschwellige Analysen kleinster Bereiche angeboten.
Das Cover punktet mit angenehmen Farben und einer erfrischenden Schlichtheit. Der Titel hat einen lustigen Unterton, der das Thema nicht ins Lächerliche zieht. Auch das Symbol der Schildkröte passt gut, auch in der Art ihrer Darstellung wie aus einem alten Lehrbuch.
Allein schon das Vorwort finde ich faszinierend. Den Selbstversuch in der U Bahn werde ich nie vergessen.
Vieles was der Autor Rhee Kun Hoo schreibt ist bestimmt von der koreanischen Kultur und Geschichte. Das beeinträchtigt in keiner Weise das Verständnis des Buches und meist wird das auch direkt thematisiert. Nebenbei lernt man Dinge , die mir sonst nie bekannt geworden wären, wie die Abschaffung der traditionellen Methode zur Altersbestimmung in Korea 2023.
Rhee Kun Hoo schreibt eigentlich nichts Neues über das Thema Altern und wie man damit umgeht. Aber so wie er es aus eigener Anschauung präsentiert, ist es schlüssig und authentisch. Bezüglich Krankeheiten rät er nicht den Fokus legen auf was gesund ist, sondern unterlassen was schadet.
Als Fazit für mich: ein lesenswertes Buch was ich vielen älteren Bekannten ans Herz legen kann.
Als Marthas Vater stirbt, ist sie acht Jahre alt. Ein soziales Netz gibt es Anfang des 20. Jahrhunderts in der Schweiz nicht, so dass die sechs Kinder der Familie voneinander und von der Mutter getrennt werden, um als Verdingkinder auf verschiedenen Bauernhöfen unterzukommen. Die Mutter konnte ihre Kinder allein ohne Mann nicht ernähren. Martha kommt auf den Hof der Bürgi, wo sie sich ganz unten in der Hierarchie einordnen muss. Sie bekommt wenig zu essen, keine Liebe und regelmäßige, unangenehme Pflichten zu erledigen. Martha versucht sich damit zu arrangieren. Wenn es ganz schlimm wird, hat sie den Lehrer, der ihre Interessen bei den Bürgis vertritt und zumindest für das Notwendigste sorgt. Diese Jahre als Verdingkind haben Martha gestählt und hart gemacht – zu sich und anderen. Wirkliche Chancen bekam sie trotz überdurchschnittlicher Intelligenz und großem Fleiß nicht. Als sie alt genug ist, arbeitet sie in der Strickerei, heiratet früh den um zehn Jahre älteren Schuhmacher Jakob. Sie ist patent, ehrgeizig und fleißig, sie bekommt zwei Söhne, Toni und Peter. Die Jungen müssen wie nebenbei groß werden. Martha hat alle Hände voll zu tun, auch weil sie zusätzlich zu allem anderen ihren kranken Mann in der Werkstatt ersetzen muss. Mutterliebe bleibt auf der Strecke. Es ist ein karges, hartes Frauenleben, das Hartmann hier eindrücklich schildert und dass den heutigen Leser schockiert. Doch Hartmann beschränkt sich nicht auf das bewegende Schicksal Marthas. Er geht weiter in der Zeit, beschreibt das Leben ihrer Söhne. Auch sie müssen sich den Unbilden der Zeit beugen, müssen ihre Ausbildung zu Gunsten wirtschaftlicher Notwendigkeiten zurückstellen. Beide heiraten sehr unterschiedliche Frauen, bekommen Kinder. Eines dieser Kinder, Marthas Enkel Bastian, nimmt den Faden auf und bringt diese bewegende Familiengeschichte zu Papier.
Hartmann schreibt unprätentiös, fast lakonisch, distanziert und in einfacher Sprache. Trotzdem hallen die Inhalte im Leser wider. Ohne jegliche Sentimentalität vermag es der Autor, das im Grunde ebenso tragische wie für damalige Zeiten fast alltägliche Schicksal einer in Armut geborenen Frau zu beschreiben. Wie wirken sich erlebte Härten auf Marthas weiteres Leben aus, auf das ihrer Söhne, ihrer Enkel? Es wird deutlich, dass Marthas Erlebnisse in den nachfolgenden Generationen Wurzeln schlagen, dass sich angeborene oder erlernte Verhaltensweisen nicht eben abstreifen lassen. Hartmann erzählt chronologisch, manches wird nur kurz angerissen, manches ausführlich dargelegt, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass die Quellenlage Fragen offenlässt, die er nicht fiktionalisieren wollte. Der Autor schildert sachlich, ohne zu werten. Dieser Roman wird niemanden kalt lassen. Die Lektüre führt zwangsläufig dazu, dass man auf die eigene Familiengeschichte zurückblickt, dass man Verständnis für seine Vorfahren entwickelt, für ihr Leben, ihre Fehlentscheidungen und Härten.
Große Leseempfehlung für alle Leser authentischer Familiengeschichten. „Martha und die Ihren“ ist ein Roman, der breite Leserschichten erreichen sollte und für Diskussionen bestens geeignet ist.
Martha lebt mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen in der Schweiz. Da der Vater wegen eines Unfalls nicht mehr in der Lage sie zu versorgen, fehlt es an allen Ecken und Kanten, die Familie ist auf Zugaben der Nachbarn angewiesen.
Als der Vater stirbt, greift der Staat ein, Martha und ihre Geschwister werden aufgeteilt, sie ist nun ein Verdingkind in einer anderen Familie. Dort muss sie sich um den behinderten Jungen der Familie kümmern, was keine leichte Aufgabe ist. Sie fühlt sich schlecht dabei, weil sie ihn dominieren muss, ansonsten liefe er weg und es könne schlimmeres geschehen. Das Gefühl nicht zur neuen Familie zu gehören bleibt, doch Martha entwickelt einen großen Ehrgeiz in der Schule und schafft es früh eine Anstellung zu finden, wo sie sogar ein wenig Geld zur Seite legen kann. Sie erfüllt sich einen Traum und kauft sich ein Fahrrad.
Als sie dann später heiratet merkt sie schnell, dass auch hier Arbeit bis zur Erschöpfung an der Tagesordnung stehen. Ihr Mann kränkelt und sie übernimmt, trotz Kind, der kleine Toni ist mittlerweile geboren, einen großen Teil der Aufgaben des Mannes.
Liebe verteilt Martha dabei nicht, wie auch, denn in ihrem eigenen Leben vermisste sie diese ja schon in ganz jungen Jahren.
Im weiteren Verlauf der Handlung durchlebt der Leser, wie sich dieser Umstand durch die weiteren Generationen frisst.
Durch „Martha und die Ihren" verarbeitet der Autor Lukas Hartmann die Lebensgeschichte seiner eigenen Großmutter. Meiner Meinung nach ist ihm dies außerordentlich gut gelungen. Als Leser kann man sich gut in die einzelnen Charaktere hineinversetzen, obwohl der Erzählstil eher nüchtern gehalten ist. Es wird aufgezeigt, wie Wunden in den weiteren Generationen immer wieder zu Problemen führen. Er zeigt aber auch, wie die Nachkommen diesen Teufelskreis unterbrechen, und es vielleicht besser machen können. Doch, auch das wird klar, das Leben hält nicht immer das für einen bereit was man sich wünscht. Oder besser gesagt, dass was man für das Beste hält, muss nicht immer das Beste sein.
"Verdingkinder wurden sie oft wie Sklaven oder Leibeigene behandelt und für Zwangsarbeit ohne Lohn und Taschengeld eingesetzt. Wie Augenzeugen berichten wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt." (Wikipedia)
Nach dem viel zu frühen Tod des Vaters werden Martha und ihre Geschwister der Mutter weggenommen. Die Mutter, die im Armenhaus unterkommt, wird sie nie wiedersehen, genauso wie ihre Geschwister. Die 8-jährige Martha selbst kommt zu einer Bauernfamilie ins Berner Umland, wo sie hart arbeiten muss und nur, wenn sie Glück hat, genug zu Essen bekommt. Doch Martha ist fleißig, und als sie älter ist, beginnt sie als Fabrikarbeiterin in einer Spinnerei und später dann als Ehefrau eines Schusters. Keinerlei Schwäche zeigen, das prägt Marthas Leben, und so erzieht sie auch später ihre Kinder. Selbst als Marthas Ehemann viel zu früh verstirbt, kämpft sie weiter für sich und ihre Kinder. Jedoch geht die Kaltherzigkeit der Mutter vor allem am Ältesten nicht spurlos vorbei. Erst Marthas Enkel rebellieren und wagen, von einem freieren Leben zu träumen.
Meine Meinung:
Dieses Buch umfasst das Leben von Matha und deren Familie über drei Generationen. Martha ist die Großmutter des Autors. Es ist die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als der kranke Vater verstirbt. Da die Mutter ihre sechs Kinder nicht ernähren kann, werden sie aus der Familie herausgerissen. Selbst wenn das Leben von Martha hart ist in ihrer neuen Familie, hätte sie es noch weitaus schlimmer erwischen können. Verdingkinder wurden sie damals in der Schweiz genannt. Sie mussten oft Schläge und Misshandlungen erdulden. Man schätzt, dass von 1800 bis in die 1960er-Jahre zwischen 4 und 10 Prozent der damaligen Kinder verdingt wurden. Einige Kinder kamen dabei sogar ums Leben. Andere, so wie Martha, sind für ihr weiteres Leben gezeichnet. Es ist vor allem die Liebe, die diesen Kindern fehlt und die sich bei ihren eigenen Kindern fortsetzt. So kann Martha nicht nur ihren Mann, sondern vor allem ihren ersten Sohn Anton nie richtig lieb haben. Sie erträgt nicht einmal seine Nähe. Während sie sich schnell wieder in die Arbeit der Schusterei stürzt, kümmert sich Schwägerin Hedwig wie eine Mutter um den Säugling. Und trotzdem folgt danach Peter ein zweites Kind. Doch auch in Marthas Familie wiederholt sich das gleiche Schicksal. Ihr kränklicher Ehemann verstirbt viel zu früh, allerdings sind ihre Kinder schon älter. Sie muss die Schusterei verkaufen, denn Frauen dürfen nicht einfach so Schuhe herstellen. Der hier erwähnte Anton (Toni), Lukas Hartmanns Vater, der sich sein Leben lang nach der Liebe seiner Mutter sehnt. Er selbst dagegen lässt sich als junger Mann vieles, was ihm widerstrebt, nicht gefallen. Oft haben sein Vater und er heftige Auseinandersetzungen. Allerdings kommt irgendwann die Zeit, als er mehr über Marthas Leben erfahren möchte. Erst ab da begreift er, wie sich die Verletzungen der früheren Martha wie ein roter Faden von Generation zu Generation ziehen. Ein wenig enttäuscht bin ich, weil man doch recht wenig über Marthas Leben hier in dieser Geschichte erfährt. Dagegen nimmt das Familienleben ihres Sohnes Toni einen großen Raum ein. Wahrscheinlich liegt es daran, dass der Autor einfach viel zu wenig von der verschlossenen, alten Martha erfahren hat. Denn er selbst hat von seiner Großmutter als Kind relativ wenig gehabt. Was natürlich an Marthas verschlossenem Wesen lag. Erschreckend ist zu erleben, wie ein Schicksalsschlag doch ganze Generationen prägen wird. Hier musste ich vor allem an meine Eltern denken, die von ihren vom Krieg verletzten Eltern geprägt wurden. Es wäre sicher schön gewesen, wenn der Autor einiges noch ausführlicher dargestellt hätte. Allerdings wäre diese Familiengeschichte dann sicher zu ausufernd geworden. Für mich bleibt es ein empfehlenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt und dem ich gerne 5 von 5 Sterne gebe.
Familiengeschichten sind oft wertvolle Quellen für Historiker und Sozialwissenschaftler, da sie Einblicke in die sozialen und kulturellen Verhältnisse vergangener Zeiten geben. Das Dokumentieren der Familiengeschichte unterstützt die genealogische Forschung und kann helfen, Familienstammbäume und historische Ereignisse zu vervollständigen.
Genau das hat Lukas Hartmann in seinem Roman „Martha und die Ihren“ umgesetzt.
Der Roman beginnt mit der Geschichte von Martha, einem klugen, jungen Mädchen, das schon früh die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben entwickelt. Doch trotz ihres Talents ist Marthas Leben von Anfang an von Entbehrungen geprägt. Die Familie lebt in Armut, und der Vater ist schwer krank. Nach seinem Tod verschlechtert sich die Situation dramatisch. Die Mutter und ihre sechs Kinder werden auseinandergerissen, und Martha wird als Verdingkind in eine fremde Familie gegeben.
Exkurs Verdingkind:
"Verdingkind" ist ein Schweizerdeutscher Begriff, der Kinder bezeichnet, die aus ihren Familien genommen und bei anderen Familien untergebracht wurden, oft um auf Bauernhöfen oder in Haushalten zu arbeiten.
Die Praxis der "Verdingkinder" (Pluralform) wird heute als dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte anerkannt. In den letzten Jahren hat die Schweizer Regierung dieses Unrecht anerkannt, sich entschuldigt und Entschädigungen an die Opfer geleistet.
In dieser neuen Umgebung fühlt sich Martha nicht wirklich zu Hause. Sie bleibt immer eine Außenseiterin, eine Fremde, die sich nur schwer integrieren kann. Ihr wird die Hauptaufgabe übertragen, sich um den behinderten Sohn der Familie zu kümmern. Diese Verantwortung ist für Martha eine große Belastung, aber sie prägt auch ihr weiteres Verhalten und entwickelt in ihr eine bemerkenswerte Ausdauer und Stärke.
»Wenn man es zu etwas bringen will«, sagt sie später zu Jakob, »muss man selbst aufsteigen durch Fleiß und guten Willen. Und meinem Kind werde ich diesen Grundsatz beibringen.« (S. 74)
Marthas Einstellung spiegelt ihren Glauben wider, dass persönlicher Erfolg und Eigenverantwortung der Schlüssel zu einer besseren Zukunft sind. Diese Werte möchte sie ihrem Sohn vermitteln, in der Hoffnung, dass die nächste Generation sie ebenfalls annimmt.
Der Verlauf der Geschichte und damit Marthas Leben wird erst durch ihren Enkel Bastian durchbrochen. Als Enkel hat Bastian einen emotionalen und zeitlichen Abstand zu den direkten Ereignissen und beteiligten Personen. Dies erlaubt ihm, die Situation objektiver zu betrachten, ohne die unmittelbare emotionale Betroffenheit, die sein Vater empfindet. Da Bastian einer anderen Generation angehört, bringt er eine andere Perspektive und Lebenserfahrung mit, die es ihm ermöglicht, Zusammenhänge zu erkennen, die seinen Vorfahren verborgen blieben.
Bastian, der Autor, besucht seine Großmutter im Altersheim und erfährt so ihre Geschichte, die er schließlich aufschreibt.
„Immer wieder staunte er, woher seine Familie kam, und wenn er allmählich den Drang seines Vaters besser verstand, um jeden Preis voranzukommen, so verurteilte er innerlich doch, was Toni dafür alles aufgab.“ (S. 264)
Lukas Hartmann erzählt seine Geschichte in chronologischer Reihenfolge. Sein Stil ist zurückhaltend, sachlich und lässt Emotionen nur sparsam zu. Der Roman besticht durch seine detaillierte und lebendige Schilderung der historischen Kontexte und die tiefgehende Charakterentwicklung. Hartmanns Fähigkeit, historische Ereignisse mit persönlichen Geschichten zu verbinden, verleiht dem Roman Tiefe und Authentizität.
Fazit
Der Roman "Martha und die Ihren" von Lukas Hartmann hat mich tief beeindruckt. Besonders hervorzuheben ist, dass der Autor seine eigene Familiengeschichte aufgeschrieben hat und uns somit einen authentischen und berührenden Roman präsentiert. Die Erzählung zeigt emotionale Tiefen wie Verlust, Liebe, das damalige Frauenbild und das Leben auf dem Land.
Die Perspektive von Martha, der Protagonistin, hat mir besonders gefallen. Hartmann gelingt es, die Herausforderungen und Veränderungen des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll darzustellen. Die Themen des Romans erinnern mich sehr an Robert Seethaler "Ein ganzes Leben", der ebenfalls sehr emotional und aufwühlend ist. Beide Romane spielen in der Schweiz, was mich zu der Frage bringt: Ist dieses Leben auf dem Land nur in der Schweiz so vorstellbar? Wie wäre es bei uns gewesen? Diese Überlegungen lassen mich noch tiefer über die erzählten Geschichten nachdenken.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen,und ich werde ihn definitiv für unsere nächste private Lesekreisrunde vorschlagen.
Der Schweizer Autor Lukas Hartmann, Jahrgang 1944, ist bekannt für seine historischen literarischen Porträts. Hier nun erweist er sich als Chronist in eigener Sache. In „ Martha und die Ihren“ hat er seine eigene Familiengeschichte verarbeitet; die titelgebende „ Martha“ ist seine Großmutter.
Die wuchs als zweitjüngstes Kind in ärmlichen Verhältnissen auf. Als der Vater nach einem Arbeitsunfall bettlägerig ist, wird die Lage für die achtköpfige Familie noch härter. Und nach dem Tod des Vaters ist die Mutter nicht in der Lage, allein für ihre Kinder zu sorgen. So kommt die achtjährige Martha als Verdingkind auf einen kleinen Bauernhof im Berner Umland. Auch ihre fünf Geschwister werden anderen Familien zugeteilt, Martha wird sie nie wiedersehen.
„ Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.“
Ein Schicksal, das sie mit vielen Kindern und Jugendlichen in der Schweiz teilte.
Martha lebt nun bei der frommen Familie Bürgi, doch sie wird nie wirklich zur Familie gehören. Für das bisschen Essen und für den Schlafplatz in einer winzigen Kammer muss sie hart arbeiten. Doch sie darf zur Schule gehen und findet einen Fürsprecher in ihrem Lehrer. Der erkennt früh Marthas Intelligenz, aber den Besuch der Oberschule kann er nicht durchsetzen, dafür fehlt das Geld.
Mit seiner Unterstützung findet Martha eine Anstellung in einer Strickerei in Bern und damit einen Weg heraus aus der Abhängigkeit. Sie lernt den Schuster Jakob kennen, die beiden heiraten und bekommen zwei Söhne, Toni und Peter. Nach dem frühen Tod ihres Mannes setzt Martha alles daran, dass sich das, was sie in ihrer Kindheit erleben musste, nicht wiederholt. Ihre Söhne sollten es besser haben, vor der Schande, „armengenössig“ zu sein, bewahrt werden, nie Hunger leiden müssen.
Das ist Marthas Ehrgeiz und das bestimmt ihr Leben. Dafür geht sie eine zweite Ehe ein und dafür ist sie bereit, unablässig zu arbeiten und auf alles Unnötige zu verzichten. Doch was sie sich selbst abverlangt, erwartet sie auch von ihren Söhnen. Für Muße und für Gefühle ist kein Platz. Das harte Leben hat auch sie hart werden lassen. Martha hat kaum Liebe und Zuwendung erfahren und ist deshalb auch nicht in der Lage, eine zärtliche und liebevolle Mutter zu sein.
Das erfahren ihre Söhne und auch die geben das mütterliche Erbe weiter. Toni, der Älteste, hat den gleichen unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg wie seine Mutter. „ Erst das würde die Familie davon erlösen, dass sie von einem Verdingkind abstammte.“ Er kämpft um eine berufliche Position, der er nicht gewachsen ist. Das macht ihn unglücklich und für seine Familie schwer erträglich. Gerade sein ältester Sohn Bastian, in dem man unschwer den Autor erkennen kann, leidet unter dem väterlichen Ehrgeiz und kämpft vergeblich um dessen Anerkennung.
Toni hat sein steter Kampf und die Unfähigkeit, Schwäche zuzulassen, zu viel Kraft gekostet. Er stirbt früh.
Erst die Enkelgeneration schafft tatsächlich den Aufstieg und sie erst kann es sich leisten, ihren künstlerischen Neigungen nachzugehen. Bastian wird seinen Lehrerberuf aufgeben und sich fortan dem Schreiben widmen. Was bei Martha nur ein Traum war „ Ich würde Blumen malen in allen Farben“ und bei Toni nur ein Hobby neben der Arbeit, nämlich das Trompetenspielen, wird beim Enkel zum Broterwerb.
Denn dieser Roman zeigt an vielen Beispielen, was ein Aufwachsen in ärmsten Verhältnissen bedeutet: Verlorenes Potential, ein Leben unterhalb seiner Möglichkeiten, auch auf der emotionalen Ebene.
Versöhnlich stimmt die Annäherung Bastians an seine Großmutter. Bei Besuchen im Altersheim wird ihm Martha von ihrer Vergangenheit erzählen und dadurch kann er mehr Verständnis für seine Familie aufbringen. „Trug er etwas von ihr in sich, war es möglich, dass auch sein Vater unter diesem Erbe litt.“
Lukas Hartmann ist nicht der Versuchung erlegen, aus Martha eine Heldin zu machen. Sie ist zäh und tüchtig, aber ebenso streng und dominant. Auch die anderen Figuren werden mit ihren Schwächen und Fehlern gezeigt. Der Leser hadert deshalb öfter mit ihren Verhaltensweisen und Handlungen. Doch alle verdienen unser Mitleid und Verständnis und unsere Achtung. Sie führen ein unspektakuläres Leben, das es trotzdem wert ist, aufgeschrieben zu werden.
Lukas Hartmann erzählt ohne literarische Raffinessen; streng chronologisch und in einer einfachen und nüchternen Sprache. So wie es für Schnörkel und Poesie im Leben von Martha und den Ihren keinen Platz gab, so findet sich auch davon wenig im Text. Trotz der lakonischen Erzählweise vermag der Autor beim Leser Gefühle wecken und Empathie für seine Charaktere schaffen.
Auf weniger als dreihundert Seiten hat Lukas Hartmann eine berührende Familiengeschichte über drei Generationen hinweg entwickelt. Dabei hat er sich auf das Wesentliche beschränkt; Wichtiges breiter erzählt, anderes gerafft. Der Autor lässt Leerstellen, erzählt nicht alles aus, muss er auch nicht.
Für Marthas Werdegang hat er sich Zeit gelassen; sie ist die zentrale Figur im Roman, von der aus alles seinen Lauf nimmt. Ihr Schicksal ist prägend für die nachfolgenden Generationen. Dazu passt der Titel des Romans „ Martha und die Ihren“.
Lukas Hartmann hat viele Bücher geschrieben, dies ist wohl sein persönlichstes und für mich sein bestes. Es ist ein Buch, das den Leser auch auf sich selbst zurückwirft, Familienstrukturen besser verstehen lässt und Verständnis schafft für die Generationen vor uns.
Ein Buch, dem ich sehr viele Leser wünsche und das sich wunderbar für Diskussionen in Lesekreisen eignet.
Lukas Hartmann, 1944 in Bern geboren, erzählt in diesem Roman die Geschichte seiner Großmutter Martha, beginnend Anfang des 20. Jahrhunderts und endend in der Nachkriegszeit nach dem 2. Weltkrieg.
Martha wächst in armen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Brunnenbauer, stirbt früh und läßt Frau und sechs Kinder mittellos zurück. Wie damals in der Schweiz üblich, werden Mutter und Kinder getrennt und die Kinder auf verschiedenen Bauernhöfe als sog. Verdingkinder verteilt. So kommt auch Martha mit erst acht Jahren zur Familie Bürgi. Dort muß sie sich um den behinderten 14jährigen Sohn der Familie kümmern. Völlig überfordert von dieser Aufgabe vertraut sie sich ihrem Dorfschullehrer an, woraufhin der behinderte Sohn ins Heim kommt. Dennoch bleibt Marthas Leben bei den Bürgis hart und entbehrungsreich.
Martha ist eine gute Schülerin, intelligent, lernt schnell. Ihr Lehrer setzt sich erneut für sie ein, so dass sie eine Anstellung in der Strickfabrik in Bern erhält. Dort arbeitet sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr und bis zu ihrer Heirat mit dem Schuhmacher Jakob.
Soweit die ersten Kapitel des Romans, die im Verhältnis zum Rest der Geschichte viel Raum einnehmen. In kurzen Sätzen und in sachlicher, beinahe distanziert wirkender Sprache erzählt der Autor von den Härten des Lebens, dem dieses zarte, kluge und doch so zähe Kind und die junge Frau Martha ausgesetzt ist. Die schnörkellose, fast emotionslose Sprache Hartmanns ist durchaus gewohnungsbedürftig, führt aber dazu, die raue Wirklichkeit umso intensiver nachvollziehen zu können. Als Leser empfindet man Sympathie für die Protagonistin.
Im weiteren Verlauf des Romans wird die Geschichte chronologisch geraffter erzählt. Die Jahre vergehen wie im Flug. Jakob der Schuhmacher stirbt jung, wie seinerzeit Marthas Vater, hinterläßt sie mit zwei Söhnen, Toni und Peter. Martha gelingt es, die Kinder bei sich zu behalten, sie müssen nicht "verdingt" werden. Ihre Söhne Toni und Peter wachsen jedoch wenig liebevoll auf. Alles wird Marthas Ziel, durch harte Arbeit und Gehorsam der Armut zu entkommen, untergeordnet. Die anfängliche Sympathie des Lesers für Martha schwindet. Relativ fassungslos ist man angesichts der Härte Marthas sich selbst und ihren Kindern gegenüber. Die Söhne heiraten ihrerseits. Toni arbeitet sich zum Büroangestellten hoch, die Enkel Bastian ( = der Autor Lukas Hartmann ) und Ferdi werden geboren.Toni aber opfert für sein berufliches Fortkommen seine Gesundheit und sein Familienleben, seine Ehe ist nicht glücklich. Der zweite Weltkrieg ist vorüber, Martha ist alt geworden und über die Zeit hart und verbittert.
Durch die ausführliche Darstellung der Kindheit Marthas als Verdingkind wird nun sehr deutlich, warum Martha und später auch ihr erster Sohn Toni zu den Menschen geworden sind, die sie am Ende ihres Lebens sind: verhärtet duch den ständigen Existenzkampf, kaum fähig, liebevolle Zuneigung zu zeigen. Anders ergeht es dem zweiten Sohn Marthas, Peter, dessen Ehe glücklich erscheint, und der mehr als Toni auf Distanz zu Martha geht. Im Verhältnis zwischen Martha und ihrem Sohn Toni scheint sich ein Muster durch diese Familie zu ziehen. Es gilt, der Armut zu entfliehen und um jeden Preis "etwas aus sich zu machen". Den Enkeln Bastian und Ferdi gelingt es dagegen, sich frei von den Prägungen ihrer Vorfahren zu entwickeln und der Leser schöpft Hoffnung, dass in der dritten Generation endlich ein selbstbestimmtes, glücklicheres Leben gelingen wird.
Die Geschichte von Martha und den Ihren wird trotz des reduzierten Sprachstils plastisch vermittelt, ohne die Protagonisten auf- oder abzuwerten. Sehr viel steht zwischen den Zeilen. Der Leser zieht unwillkürlich Parallelen zum eigenen Leben, zu den eigenen Großeltern, Eltern, Geschwistern und Kindern. Kann man den durch die Kindheit erfolgten Prägungen entkommen, warum gelingt dies dem einen Geschwisterkind, während ein anderes Kind den Prägungen so stark verhaftet bleibt ? Wie wirken sich äußere Umstände wie mangelnde staatliche Sozialfürsorge, harte durch Krieg und Hunger gekennzeichnete Zeiten auf die eigene Geschichte, die charakterliche Entwicklung aus ? Wie selbstbestimmt waren die eigenen Eltern/Großeltern, wie selbstbestimmt ist das eigene Leben ?
Lukas Hartmann gibt mit diesem Roman einen bemerkenswert mutigen Einblick in seine eigene Biographie und verarbeitet seine Geschichte zu großartiger Literatur. Zudem gewinnt der Leser mit der Schilderung des Schicksals des Verdingkindes Martha einen Eindruck vom unrühmlichen Kapitel dieses Teils der Schweizer Geschichte.
Der Roman hat mir sehr gefallen. Ich vergebe 5 Strene und eine große Leseempfehlung.
Bis zur Einführung der Invalidenversicherung, dem Ausbau der Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie der obligatorischen Arbeitslosenversicherung in den 1960er- und 1970er-Jahren war die soziale Absicherung in der Schweiz überwiegend außerstaatlich organisiert: in den Familien, Kirchen, Firmen oder Gewerkschaften. Eines der dunkelsten Kapitel in der neueren Schweizer Geschichte ist auf diese fehlende Sozialstaatlichkeit zurückzuführen und dauerte von 1800 bis in die 1960er-Jahre: die behördlich angeordnete Fremdunterbringung von Kindern, das sogenannte Verdingwesen.
Das Verdingkind
Auch die Großmutter väterlicherseits des 1944 geborenen Schweizer Autors Lukas Hartmann erlitt das Schicksal eines Verdingkinds. Nachdem ihr Vater durch einen Arbeitsunfall zum Pflegefall geworden war, konnte die Mutter zunächst die Verdingung ihrer sechs Kinder abwenden. Nach dessen Tod jedoch wurden sie rasch auf verschiedene Pflegefamilien im Berner Umland aufgeteilt, auch die Zweitjüngste, die erst achtjährige Martha:
"Die Kinder müssen mitgehen, auch wenn sie die Leute nicht kennen, denn darunter sind solche aus anderen Dörfern, aber nur Männer. Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden." (S. 17)
Martha kommt zur Bauernfamilie Bürgi, gläubige „Stündeler“ aus einer evangelischen Gemeinschaft. Obwohl sie im Gegensatz zu vielen anderen Verdingkindern weder körperlichen noch sexuellen Missbrauch erfährt, muss sie doch hart arbeiten, leidet als letzte am Tisch unter Hunger, erfährt keinerlei Zuwendung und bleibt eine Fremde.
Alles opfern für den Aufstieg
Wäre "Martha und die Ihren" ein leichter Unterhaltungsroman, aus dem um seine Kindheit betrogenen, entwurzelten Verdingkind würde eine liebende Ehefrau und Mutter, die ihrer Familie die Wärme und Geborgenheit schenkt, die sie selbst so schmerzlich vermisst hat. Stattdessen macht das Schicksal aus ihr jedoch eine zähe, harte und dominante Frau, die weder Nähe noch Schwäche zulassen kann, und der kein glückliches Leben beschieden ist. Nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, eines kränkelnden Schusters, für den sie heimlich die Werkstatt führte, steht sie mit den beiden ihr fremdgebliebenen Söhnen erneut vor dem Nichts. Selbst als sie durch das Milchgeschäft ihres zweiten Ehemanns und mit dem von ihm ererbten Haus bescheidenen Wohlstand erlangt, kommt sie nicht zur Ruhe.
Marthas Dämonen gehen über auf ihren älteren Sohn Toni, der wie sie nur für die Arbeit und den sozialen Aufstieg seiner Familie lebt und daran zugrunde geht. Gegen seine Strenge, sein kleinbürgerliches Leben und die patriarchalisch geprägte Ehe lehnt sich sein ältester Sohn Bastian auf, hinter dem sich der Autor versteckt.
Bewegung durch Öffnung
Erst mit dem Abstand der Enkelgeneration gerät etwas in Bewegung: Angeregt durch die bruchstückhaften Erzählungen seiner Großmutter im Altersheim beginnt Bastian, Martha und die Folgen ihres Traumas auf ihre Nachfahren zu verstehen – als Voraussetzung für die eigene Gesundung.
Chronologisch, mit viel psychologischem Gespür und einem mit seiner knappen Nüchternheit hervorragend zu den Figuren passenden Stil erzählt Lukas Hartmann über drei Generationen und die langen Schatten der Vergangenheit. Besonders gut gefallen hat mir, dass er mit viel Wärme, besonders für die weiblichen Familienmitglieder, erklärt, anstatt zu werten oder gar anzuklagen. Es gelingt Lukas Hartmann hervorragend, Denkprozesse über die eigene Familie aus veränderter Blickrichtung in Gang zu setzen, damit wir im besten Falle verstehen, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Was kann man mehr verlangen von Literatur?
"Man holt sie ab, eines nach dem andern, auf freundliche Weise oder auf missmutige.(...) Die Kinder werden verdingt (...). Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden."
In einem kleinen Dorf nahe Bern Anfang des 20. Jahrhunderts stirbt der Vater einer achtköpfigen Familie . Die Mutter kann sich und die sechs Kinder nicht mehr ernähren,. Von bitterer Armut und dem Hungertod bedroht wird die Familie auseinandergerissen, Die Kinder kommen getrennt voneinander auf Bauernhöfe und müssen dort als sogenannte Verdingkinder für Kost und Logis arbeiten. Die kleine Martha, klug und fleißig, muss in der Bauersfamilie, in der sie geduldet, nicht erwünscht ist, in einer Welt voller emotionaler Kälte, Hunger und harter Arbeit ihren Weg gehen. Zeit für persönliche Entwicklung oder Hobbys bleibt ihr nicht. Doch Martha scheitert nicht an ihren Aufgaben, sie kämpft sich durch, geht früh in der Strickfabrik arbeiten, auch wenn sie das Talent für einer weiterführende Schule gehabt hätte. Sie heiratet einen kränkelnden Schuster, bekommt zwei Kinder, die sie mit den gleichen Ansprüchen groß zieht: Macht was aus euch, arbeitet hart und seid strebsam. Sowenig Liebe und Zuneigung sie erfahren hat, so wenig kann sie an ihre Kinder weitergeben. Ihr ältester Sohn, der sensibel und weniger gemütsstark ist, verhärtet unter den Ansprüchen der Mutter und der fehlenden Zuneigung. Auch Tonis Ziel ist es, im Leben voran zu kommen, es zu etwas zu bringen und jemand zu sein.
Erst Marthas Enkel erkennt, was für einen Preis seine Großmutter und sein Vater für die Sicherheit und den Wohlstand, den sie sich erarbeiteten, bezahlen mussten. Später besucht Bastian, der älteste Enkelsohn, seine Großmutter Martha und kommt mit ihr in Kontakt. Martha öffnet sich ein stückweit und erzählt ihm aus ihrem Leben. Und so kann Bastian nicht nur die das eigene Verhältnis zum Vater besser reflektieren, sondern auch das des Vaters zu Martha besser verstehen.
Lukas Hartmann hat mit "Martha und die Ihren" seiner Großmutter ein Denkmal gesetzt, ohne sie zu glorifizieren. Indem er die eigene Familiengeschichte über drei Generationen aufgezeichnet hat, gibt er uns einen tiefen, ehrlichen Einblick in das harte, entbehrungsreiche Leben seiner Großmutter und ihrem Streben, die Vergangenheit und damit den Hunter und die Armut hinter sich zu lassen. Dabei hat er sie sehr real und reflektiert dargestellt, sie nicht zu einer Heldin stilisiert. Sie war ein schwieriger Mensch, unnachgiebig zu sich und ihren Angehörigen, nicht der liebenswerte, zugängliche, mütterliche Typ. Die Traumata, die Martha seit frühester Kindheit mit sich herumgetragen hat, gibt sie an die nächste Generation weiter. Um die Anerkennung und Aufmerksamkeit der Mutter zu bekommen, strebt ihr Sohn Toni ihr nach, macht ähnliche Fehler und verzweifelt letztlich daran. Erst die Enkel, hier besonders der älteste Bastian, schaffen es, sich von den Ansprüchen frei zu machen.
Die Familiengeschichte wird chronologisch und stellenweise sehr gerafft erzählt und hat mir insgesamt sehr gut gefallen. Marthas Geschichte weckt in gleichem Maße Verständnis wie Unverständnis, man wünscht sich für sie und die Ihren einen anderen Weg, eine andere Möglichkeit miteinander umzugehen. Und trotzdem liest man gebannt weiter. Für mich hatte das Buch keine Längen, ich hätte mir tatsächlich lieber noch 150 Seite mehr gewünscht, um einiges etwas mehr auszuschmücken oder mehr darüber zu erfahren. Der zweite große Gewinn ist die Selbstreflexion, zu dem das Buch einlädt. Dass man über die eigene Familiengeschichte nachdenkt und vielleicht auch mit Eltern und Großeltern ins Gespräch kommt. Sprachlich ist das Buch eher schlicht. Der Vorteil ist, dass man schnell in das Buch und den Lesefluss findet und dass die reduzierte Art des Erzählens gut zu Marthas emotionsarmen, kargen Leben passt. Dennoch hätte ich mir etwas mehr sprachliche Finesse gewünscht, an einigen Stellen ausführlichere Beschreibungen der Situationen und ein paar mehr Emotionen.
Alles in allem kann ich das Buch jedem empfehlen, der gerne Geschichten mit komplexer Familiendynamik liest, der selbst ein schwieriges Verhältnis zu Eltern oder Großeltern hat und der gerne nachvollziehen möchte, warum unsere (Groß-)Eltern so wurden, wie sie heute sind.
Lukas Hartmann erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte seiner Großmutter väterlicherseits: "Martha und die (der) Ihren."
Zunächst steht die junge Martha im Mittelpunkt des Geschehens. Da ihr Vater früh verstirbt und ihre Mutter die Familie mit den 6 Kindern nicht alleine ernähren kann, werden diese auf andere Bauernhöfe verteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das in der Schweiz, die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in der Nähe Berns, übliche Praxis. Martha wird ein sogenanntes Verdingkind - eine Schmach, die ihr ganzes Leben bestimmt.
Sie kommt zu einer Familie mit 5 Kindern und muss sich hintenan stellen - eine winzige Schlafkammer, kaum genug zu essen, zudem muss sie auf Severin aufpassen. Wahrscheinlich leidet er an Trisomie 21 und überfordert Martha, die nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen muss. Eigentlich eine Zumutung. Gegen alle Widerstände setzt sie sich durch und beginnt in der Spinnerei zu arbeiten - ist fleißig und gönnt sich keine Pausen. Ihre größte Angst ist wieder arm zu werden, sie setzt alles daran, um zu etwas Wohlstand zu gelangen.
Als sie selbst Mutter wird, leidet der kleine Toni unter ihrem Arbeitseifer. Toni ist der Vater des Autors, wobei dieser die Namen seiner Familie bis auf "Martha" geändert hat, wie er im Nachwort erklärt. Statt Toni Liebe und Zuneigung zu schenken, muss Martha für ihre Familie sorgen, da ihr Mann erkrankt ist, so dass sie die Schusterarbeiten nebst Haushalt mit übernehmen muss.
In ihrer Geschichte spiegelt sich vor allem auch die Last wider, die auf den Frauen gelegen hat. Martha durfte nur heimlich arbeiten, da die Bauern Schuhe, geflickt von einer Frau, die das Handwerk nicht gelernt hat, nicht angenommen hätten. Hinzu kommt die schwierige politische Situation, im Rest Europas herrscht Krieg und auch die neutrale Schweiz ist von der Lebensmittelknappheit betroffen.
Der Preis, die Armut zu besiegen, bringt auf Seiten Marthas zwar unbedingten Arbeitseifer, Fleiß und Geschick mit sich, allerdings auch ein Zurückstecken aller persönlichen Wünsche und Träume. Es ist unglaublich, was diese Frau alles geleistet hat - gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihren Kindern Liebe oder auch nur Wärme und Lob zu schenken. Sie selbst hat es nicht erfahren, wie soll sie es weitergeben.
Dieser Mangel bestimmt auch Tonis Leben, der ebenfalls unfähig ist, seinen Sohn Bastian (= Lukas Hartmann) zu loben, ihm seine Liebe zu zeigen. Auch Toni schuftet, um finanziellen Wohlstand zu erreichen, ohne seine eigenen Bedürfnisse und Interessen zu berücksichtigen. Erst Bastian kann sich aus dieser Spirale befreien.
Der Roman zeigt sehr deutlich, wie sich Marthas Lebensumstände auf die nächste und auch noch die übernächste Generation auswirken. Zwar hätten ohne ihren Arbeitswillen ihre Kinder vielleicht das gleiche Schicksal erlitten wie sie selbst, doch die psychischen Auswirkungen der mangelnden Aufmerksamkeit begleiten sie lebenslang und sie geben diese Erfahrungen weiter.
Sehr authentische Figuren, allerdings bleiben sie distanziert. Der Autor wählt eine sehr nüchterne, sachliche Sprache und rafft auch große zeitliche Abschnitte, um alle drei Generationen darstellen zu können. So habe ich den Roman mit Interesse gelesen, ohne wirklich in die Geschehnisse emotional involviert zu sein.
Die Frage, inwiefern das Schicksal meiner Vorfahren mein eigenes bestimmt, beantwortet Hartmann für seine Familie väterlicherseits allerdings sehr glaubwürdig.
Eine Familiengeschichte über drei Generationen - wie Herkunft und Lebensumstände auch die Kinder und Enkel beeinflussen können
Geht es nicht vielen so? Man möchte die Familiengeschichte aufschreiben? Der schweizerische Autor Lukas Hartmann hat es getan und die Lebensgeschichte seiner Großmutter Martha aufgeschrieben, die auch die seiner Familie ist.
Martha ist ein kluges kleines Mädchen, das schon früh lesen und schreiben kann, aber von Anfang an 'nicht auf Rosen gebettet' ist. Die Familie ist arm, der Vater krank und als er stirbt, wird es erst richtig schlimm. Mutter und sechs Kinder werden getrennt, Martha als Verdingkind (-Ding-) in eine fremde Familie gegeben, wo sie nie ganz heimisch wird und immer eine Fremde bleibt. Ihr wird hauptsächlich die Aufgabe übertragen, sich um den behinderten Sohn zu kümmern, was Martha überfordert, aber auch ihr weiteres Verhalten prägt und ihr Durchhaltevermögen weckt.
Weiter geht es mit einem Leben voller Arbeit, kranken Ehemännern, zwei Söhnen, bei denen es Martha schwer fällt, Liebe zu zeigen und das alles in einer ziemlich distanzierten Erzählweise und einer schlichten emotionslosen Sprache, so dass ich als Leserin das Gefühl des Abstands zu den Personen hatte. Es geht chronologisch voran, was das Lesen leicht macht und es gibt sowohl mir zu geraffte als auch detaillierte Passagen.
Dass so ein Leben wie das von Martha auch auf die Erziehung der Söhne und ihre Entwicklung durchschlägt, liegt nahe und erklärt vieles. Wir erfahren einiges über den Verlauf ihres Lebens, Heirat und Kinder, die Probleme mit der Versorgung der alten Eltern und wie es schließlich für Martha nach einem Leben voller Arbeit endet. Aber wenigstens baut sie zum Schluss eine Beziehung zum Enkelsohn Bastian auf (der Autor selbst) und erzählt ihm einiges aus ihrer Vergangenheit - ein Lichtblick ebenso wie die Pläne der beiden Enkel für die Zukunft.
Fazit
Wer gerne Familiengeschichten liest und sich an distanzierter Erzählweise nicht stört, dem kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Ein ganz großer Pluspunkt: es regt an, über Verschiedenes nachzudenken, die eigene Familiengeschichte noch einmal zu beleuchten, zu überlegen, was einen beeinflusst und geprägt hat, welche Wege es gibt, sich davon zu befreien oder ungute Prägungen zu verarbeiten. - Was will man mehr von guter Literatur?
Dass die Schweiz ein Alpenidyll der Sonderklasse ist oder jemals war, darf man natürlich nicht glauben. Doch wie sehr Armut und ein Schicksalsschlag das Leben dort prägen konnten, zeigt Lukas Hartmann mit seinem neuen Roman. Er arbeitet darin die Lebensgeschichte seiner Großmutter Martha auf und zeigt, wie sehr in der Kindheit erfahrene Kälte den Lebensweg auch kommender Generationen prägen kann. Martha wird früh in eine Rolle genötigt, die sie gar nicht ausfüllen kann und für die es auch keinerlei Unterstützung oder Belohnung gibt. Die Emotionen aller Art, die sie sich danach für immer versagt, beeinflusst auch die Erziehung ihrer beiden Kinder.Ihre Söhne erfahren wenig Liebe, erst mit dem Enkel kann sie über das sprechen, was war und auch dann nur in kurzen Momenten. Es wird dem Autor nicht leicht gefallen sein, so tief in die eigene Familiengeschichte einzutauchen. Ich finde, dass er die selbst auferlegte Aufgabe sehr gut gemeistert hat. Das Buch gibt dem Leser viele Anregungen, auch über den eigenen Werdegang nachzudenken. Es ist in meinen Augen auf jeden Fall lesenswert.
Der neue Roman von Lukas Hartmann schildert – chronologisch erzählt - seine eigene Familiengeschichte, ausgehend von seiner Großmutter Martha, die sich mit unbändigem Willen aus bitterer Armut hochgekämpft hat.
Nach dem Tod ihres Vaters wurde Marthas Familie auf behördliches Geheiß auseinander gerissen. Alle 6 Kinder wurden als sogenannte Verdingkinder auf fremde Familien verteilt, ohne dass sie Kenntnis vom Verbleib der Geschwister erhalten hätten. Hartmann zeichnet Marthas Weg nach, der sie von einem gescheiten kleinen Mädchen zu einer harten und herrischen Frau gemacht hat, die allein in einem Altenheim stirbt. Dabei wird, jeweils in der personalen Perspektive, der erzählerische Staffelstab jeweils an das älteste Kind der Generation weitergegeben – zunächst an Marthas Sohn Toni und danach an Tonis ersten Sohn Bastian, der für den Autor selbst steht.
Stück für Stück treten die Deformierungen zutage, die das Verdingkind Martha erlitten hat und an ihren ältesten Sohn weitergibt. Beide stellen den Aufstieg über alle anderen Werte, was einerseits zu enormer Angepasstheit, Obrigkeitshörigkeit und Selbstüberforderung führt und andererseits zu einem gefühlsarmen Familienleben, unter dem vor allem Tonis Frau Lena und Marthas Enkel Bastian und Ferdi leiden. Aber auch Lenas Familie ist von Lieblosigkeit geprägt; ihr Vater steht exemplarisch für die arme Landbevölkerung der wohlhabenden Schweiz, die ums schiere Überleben kämpfen muss. Mit beeindruckender Klarsichtigkeit zeigt Hartmann, wie das übermächtige patriarchale System des Landes ungemildert in die Familien hineinreicht, die Männer verformt und die Frauen unterdrückt.
Die Schnörkellosigkeit und Knappheit von Hartmanns Stil gefiel mir sehr – auf dichten 293 Seiten schildert er die Geschichte dreier Generationen. Mit wenigen sparsamen Strichen zeichnet er lebendige Bilder - und obwohl er so zurückgenommen schreibt, entsteht doch viel Nähe zu den Figuren. Hartmann verzichtet auf jegliche Heroisierung: Vor allem Martha, aber auch ihr Sohn Toni sind höchst fehlbare Menschen. Das Verhalten der Figuren, ohne Beschönigung benannt, macht es manchmal schwer, nicht ins Urteil zu gehen. Ihr Handeln erscheint oft kurzsichtig, hart und lieblos, aber wird nachvollziehbar aus dem Familienhintergrund und der daraus resultierenden schädlichen Prägung. Der Roman erinnert an eine Weisheit, die allzu leicht vergessen wird: Niemand ist zu verstehen ohne die Kenntnis seiner/ihrer Geschichte.
Entsprechend erzeugt der Text, trotz der vordergründigen Sachlichkeit des Erzählstils, große emotionale Anteilnahme und oftmals sehr ambivalente Gefühle. Unweigerlich zieht man Parallelen zum eigenen Leben, zur eigenen Familiengeschichte. Gleichzeitig drängen sich Reflektionen über die Definition von Wohlergehen, Glück und Lebensleistung auf; vielleicht relativiert die/der Eine oder Andere die Einschätzung der eigenen Situation oder gewinnt eine komplexere Sicht auf Eltern oder Großeltern.
Der Roman zeigt: Armut ist nicht nur ein materielles Missgeschick, sie ist vor allem auf der psychisch-emotionalen Ebene fatal. Menschen, die in Armut aufwachsen, bekommen von allem zu wenig, was sie für den Rest ihres Lebens beeinträchtigt. Über die persönlichen und historischen Bezüge hinaus hat der Roman daher für mich auch immense Gegenwartsrelevanz: Kinderarmut muss auch in unserer Zeit unbedingt energisch bekämpft werden, denn ihre Beschädigungen tragen generationenweit.
Ein Buch mit hoher Resonanz. Große Empfehlung.
Bei der EU-Behörde in Brüssel bearbeiten einige der Beamten den Beitrittsprozess einiger Balkanstaaten. Allerdings geht es nicht so schnell voran wie von den Kandidaten insbesondere Albanien gewünscht. Der Präsident Albaniens hat gewissermaßen die Schnauze voll. Er will doch derjenige sein, der sein Land nach Europa führt. Doch der Apparat ist so langsam und immer gibt es neue Forderungen. Der Pole Adam, der kurz bevor das sozialistische Regime in Polen viel im Widerstand war, hofft in seinem Freund Mateusz, der inzwischen Staatsführer von Polen ist, einen Verbündeten zu haben. Doch weit gefehlt. Mateusz verfolgt andere Ziele.
Mit diesem Roman hat der Autor eine Fortsetzung seines preisgekrönten Romans „Die Hauptstadt“ geschaffen. Und dieser Band ist für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Man begibt sich erneuten in die Mühlen der Brüsseler Europapolitik. Strukturen, die nicht leicht zu durchschauen sind. Klare Worte spricht am ehesten der Präsident Albaniens, dem der Verhandlungsprozess zu langsam geht. Er muss seinem Volk etwas bieten. Welche Idee einer seiner Berater, ein Dichter, ein Quereinsteiger, hervorbringt, ist beinahe unglaublich und schräg und gerade damit einnehmend. Dass sich daraus ein Kriminalfall entwickeln kann, war wirklich nicht vorhersehbar. Die diplomatischen Kanäle laufen heiß und größerer Schaden muss abgewendet werden.
Vermutlich konnte der Autor beim Schreiben des Romans nicht wissen, welche Bedeutung die Beitrittsersuchen der Balkanstaaten inzwischen gewonnen haben. Es wäre einem beim Lesen sicher nicht so gegenwärtig gewesen, wie hingehalten sich die Staaten vorkommen, wenn es nicht in der derzeitigen politischen Situation noch einmal deutlich geworden wäre. Gerade deshalb ist die Lektüre von besonderem Interesse. Die Trägheit des Prozesses, die Eigenheiten der Beamten hier und dort, Ausschnitte aus der Geschichte Albaniens. Gerne liest man von ungewöhnlichen Persönlichkeiten. Intrigante Staatenlenker, denen wenigstens relativ aufrechte Beamte gegenüber stehen, die sich wie im wahren Leben meist nicht durchsetzen können. Besonders zu Beginn ist es eine Freude vom Aberwitz des Beamtenapparates zu lesen und so manches Mal zu schmunzeln. Ein wenig fraglich ist es allerdings, ob der weitere Verlauf so gelungen ist, denn auch da könnte die Entwicklung inzwischen weiter sein. Vielleicht könnte sich die Frage stellen, ob gewisse Absichten anderer Staaten hinter den Ereignissen liegen, nur ein vager Gedanke, der vielleicht etwas weit hergeholt ist. Unter dem Eindruck des gesamten Werkes handelt es sich jedoch um eine tolle Groteske über den Politikbetrieb, dessen Ausuferung sich irgendwie nicht wieder einfangen lässt.
„So geht Politik. Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du symbolische Handlunge, dahinter die Technik.“ (Zitat Pos. 1276)
Inhalt
Begonnen hat alles mit dem Helm des Skanderbeg. Es ist ein ungewöhnlicher Helm mit einem Ziegenkopf auf dem Helmscheitel, zu sehen im Weltmuseum in Wien und ein Symbol für die Geschichte der Skipetaren in Europa. Der Ministerpräsident von Albanien hatte vor seiner Wahl versprochen, sich dafür einzusetzen, dass Albanien Mitglied der Europäischen Union wird. Nun sollen auf Grund der Weigerung Frankreichs nicht einmal die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Genau das ist der Moment, in dem Ismael Lani, sein Pressesprecher, den Ministerpräsidenten an Skanderbeg, ihren Nationalhelden, erinnert und Fate Vasa, Künstler und ebenfalls enger Berater des Ministerpräsidenten, die Idee aufnimmt und weiterführt. Albanien fordert die österreichische Regierung auf, den Helm zurückzugeben, was abgelehnt wird. Doch kurz darauf wird der Helm aus dem Museum in Wien gestohlen und rückt so in der Mittelpunkt der Ereignisse rund um die geplante Balkan-Konferenz über eine mögliche EU-Erweiterung.
Themen und Genre
In diesem Roman geht es um Europa und die Europäische Union, um die Politik mit ihren Spielchen und Intrigen, aber auch um gesellschaftliche und persönliche Konflikte, Freundschaft, Familie, Beziehungen. Ein Kernthema ist die wechselvolle Geschichte des Westbalkans.
Charaktere
Auch in diesem Roman bringt der Autor seine unterschiedlichen Figuren auf den Weg, einige völlig unabhängig voneinander, andere gemeinsam, oder ihre Wege kreuzen sich im Laufe der Handlung. Mit charmant-bissiger Eleganz definiert er Charaktere, ihre Wünsche, Träume, oder den Verlust derselben. „Wir sind, sagte er, auf der Stelle tretend einen Schritt weiter.“ (Zitat Pos. 5861)
Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt während der Jahre 2019 und 2020 und wird ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Erzählungen über Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefinden haben. Wir folgen den Hauptfiguren, die abwechselnd im Mittelpunkt der Handlung der einzelnen Kapitel stehen. Der Autor lässt sich Zeit, er schickt seine Figuren los, zeigt sie auch in ihrem persönlichen Umfeld, lässt uns an ihren Alltagsproblemen, Zweifeln und Sehnsüchten teilhaben, gleichzeitig führt er uns mit kritischem Witz durch die vielen Facetten der europäischen Politik. Doch der Schein trügt. Gerade hat man es sich noch im unterhaltsamen Lesevergnügen gemütlich gemacht, neugierig, mal schmunzelnd, mal nachdenklich, folgen wir den Entscheidungen und Wirrnissen der einzelnen Figuren, da wenden sich die Ereignisse und es beginnt ein rasanter Showdown.
Fazit
Was mit „Die Hauptstadt“ begann, wird mit diesem facettenreichen Roman, der auch sprachlich begeistert, genial und großartig weitergeführt.
Vorsicht, weckt Begierden!
Schon das Cover eine kleine Provokation. Da sitzt das Kind, nur mit einer Shorts bekleidet, im Bette und raucht. Brille auf der Nase, konzentriert die Papiere auf seinen angozogenen Knien lesend. Später werde ich aufgeklärt, dass es sich hierbei um Truman himself handelt, im zarten Alter von 25 Jahren. Na also! Aber nur kurz bleibt der Eindruck des braven Jünglings, eines harmlosen "Truboys", bestehen, denn Anuschka Roshani stellt uns gleich auf den ersten 70 Seiten mit der Chronolgie des Scheiterns ihre zuvor vorgebrachte Chronolgie des Gelingens wieder in Frage.
Schnell hat man ein Bild voller Widersprüche vor Augen. Auf der einen Seite eine feminine Erscheinung mit zarten Gesichtszügen und fipsiger Stimme, der man jegliches Gewicht absprechen möchte, andererseits der glühende Schriftsteller, hochbegabt und detailversessen.
Auf der Suche nach den verlorenen Kapiteln eines skandalumwitterten Buches, dessen vorab gedruckte Auszüge die High Society veranlasste, ihr Schoßhündchen mit einem Tritt aus dem Olymp zu jagen, begibt sich unsere Autorin zu den letzten Zeitzeugen und Weggefährten Truman Capotes, der mit seinem Hundertsten Geburtstag, aber auch mit seinem vierzigsten Sterbejahr, uns heuer die Ehre gibt, neu- und wiederentdeckt zu werden.
Die studierte Verhaltensbiologin (hat sie deshalb die richtigen Knöpfe bei mir gedrückt?), Wahlzüricherin und Journalistin begibt sich dazu in die USA, an die Ostküste, aber auch an die Westküste, um Trumans Ziehtochter Kate Harrington, seinem Lektor Gordon Lish, Bob Colacello, intimer Begleiter Andy Warhols und damit auch im Dunstkreis um Capote, den Biografen Gerald Clarke, sowie Don Bachardy, Lawrence Grobel und die Nachlassverwalterin Luise Schwartz zu interviewen. Bei diesen Gesprächen geht es nicht nur um unseren Titelhelden, vielmehr schafft es Roshani mit einem feinen Gespür für ihr Gegenüber, der Vollständigkeit des Gesagten und der Einstreuung ihrer eigenen Gedanken ein ganzheitliches Gefühl für eine Annäherung an Capote und seine Zeit.
Spätestens ab der Information, dass Capote und Harper Lee sich aus Kindertagen kannten und eine ihrer Romanfiguren Truman zum Vorbild hatte, war meine Neugierde geweckt. Eine schwierige Kindheit, eine Begabung die Menschen mit seinen Werken für sich einzunehmen und die Sehnsucht nach Geborgenheit, trieb Capote in die interessantesten Ecken des Establishments und der Künstlerszenen, trieb ihn aber auch in die Alkohol- und Drogensucht. Dieses Spiel verlor er 1984.
Roshani überwindet die Distanz von der nüchternen Sachbuchautorin zur Erzählerin ihrer eigenen Träume, ihrem Vorbild nachzuspüren, ihn zu vervollständigen. Mich hat sie mit ihrer Leidenschaft für das Thema überzeugt, ich habe mich über ihren Erfolg gefreut, aber hauptsächlich brenne ich jetzt für Capotes Werke. Mit freundlicher Unterstützung des Kain & Aber Verlags stürze ich mich auf den Tatsachenroman "Kaltblütig", mit dem Capote erstmals die Wege des New Jounalism betrat und halb Amerika in die Buchläden trieb.