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    24. Apr 2024 

    Die Nachtfrauen

    An einem zweiten Buch zu schreiben, ist garnicht so einfach. Das erste war ein Erfolg, was es auch nicht einfacher macht. Vielleicht sollte sie über die Frauen schreiben, an die sie nachts denkt. Als erstes unternimmt Mia eine Reise nach Afrika. Auf den Spuren von Karen Blixen will sie wandeln, nicht nur nachts an ihr Vorbild denken, sondern auf ihren Spuren wandeln. Was soll sie mitnehmen in eine Privatunterkunft. Welche Orte soll sie besuchen? Wird sie das Klima ertragen? Zum Glück reist es sich heute leichter als zu Blixens Zeiten. Wenn sie daran denkt, mit welchem Tross sich Karen auf den Weg gemacht hat.

    Mit was für Frauen beschäftigt sich die Autorin. Viele, die sie gerne kennengelernt hätte, die aber leider nicht mehr leben. Da sind die reisenden Frauen. Sie haben sich teils alleine auf den Weg gemacht, um die Welt zu entdecken. In vorigen Jahrhunderten, in denen so etwas überhaupt nicht üblich war. Wie haben die Frauen es geschafft, die Nase in den Wind zu halten und gleichzeitig den Konventionen zu genügen. Und dann gibt es die Künstlerinnen, die malten, noch viel früher als die, die sich in die Welt wagten. Auch die Malerinnen waren ihrer Zeit voraus und haben große Werke geschaffen, die nicht gebührend gewürdigt wurden.

    Im Laden könnte das Buch wegen seiner ansprechenden Umschlaggestaltung auffallen. Und der Inhalt wird dem Cover durchaus gerecht. Wie Mia ihre eigenen Erlebnisse mit denen der Frauen verknüpft, an die sie denkt. Frauen, die bedenkenswert sind, aber leider doch bis auf Karen Blicken weitgehend unbekannt. Es gefällt zu lesen, mit welcher unerschöpflichen Energie die Frauen ihrer Bestimmung folgten, egal, was ihre Umgebung dazu zu sagen hatte. Ein liebevolles Denkmal setzt die Autorin ihren Nachtfrauen. Auch wenn man sonst eher fiktionalen Stories zugeneigt ist, so dieses Werk so locker und lebendig geschrieben, dass man selbst beginnt, sich für die beschriebenen Frauen zu interessieren. Ein empfehlenswertes Buch, das mal einen Ausflug in ein anderes Genre bietet.

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  1. Cozy-Crime in der Mördervilla

    Annabelle (Annie) wird von ihrer wohlhabenden Tante Frances ins Herrenhaus vom kleinen Städtchen Castle Knoll eingeladen, doch bevor sie sie kennenlernen kann, wird sie tot in ihrer Villa gefunden. Vor 65 Jahren wurde Frances auf einem Jahrmarkt prophezeit, dass jemand sie ermorden würde, deshalb hat sie in ihrem Testament verfügt, wer den Mordfall löst, erbt alles. Die Jagd auf den Mörder beginnt...
    Die Story wird aus Sicht von Annie in der Ich-Perspektive in einem teilweise humorvollen und fesselnden Schreibstil erzählt. Dank Frances Tagebuch, welches Annie glücklicherweise in dem Herrenhaus gefunden hat, hat sie bei der Mörderjagd einen Vorteil und der Leser erfährt die durch die Ausschnitte was seit der Weissagung passiert ist.
    Von der Autorin wurden interessante Charaktere geschaffen, wie z.B. der schrullige Stiefneffe, der ständig an unmöglichen Orten plötzlich auftaucht. Nicht nur Frances mittlerweile gealterten Freunde aus der damaligen Clique, sondern auch einige Dorfbewohner scheinen irgendwie verdächtig zu sein. Ein herrlicher Whodonit, der zum Miträtseln einlädt.
    Manchmal waren Handlungsstränge nicht richtig auserzählt, dadurch empfand ich manche Szenen etwas verworren, trotzdem hat mir dieser wunderbare Cozy-Crime in schöner englischer Dorf-Idylle sehr gut gefallen.

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    24. Apr 2024 

    Eine junge Frau findet sich selbst und ist damit überfordert

    Vida lebt mit ihren Eltern auf der Insel N. im Norden Deutschlands. Sie ist verlobt und soll bald ihren Jugendfreund heiraten, eine Gelegenheit, bei der ihr Bruder Zander wieder zu Besuch kommen wird. Pflichtbewusst hat sie seine Rolle in der Familie und im familiengeführten Betrieb übernommen, als er die Enge auf der Insel nicht mehr aushielt und auf dem Festland seine große Chance witterte.
    Eines Tages zieht eine Fremde ins leerstehende Nachbarhaus ein. Die junge Frau ist unkonventionell und voller Lebensfreude, mit einer Vorliebe fürs Schwimmen in ihren selbstkreierten Fischflossen, einer Meerjungfrau gleich. Vida ist fasziniert, neugierig und fühlt sich schnell zu ihr hingezogen. Die beiden freunden sich an und verbringen viel Zeit miteinander.
    Als Zander vor dem erwarteten Besuchstermin überraschend zurückkehrt und kundtut, dass er bleiben will, überschlagen sich die Ereignisse.

    Meine persönlichen Leseeindrücke
    Ich bekam E-Mail Post vom dtv in der der Roman „Was das Meer verspricht“ angekündigt wurde. Ich hätte das Buch wegen des Titels eher nicht gewählt, aber das Cover fand ich schön und der Klappentext weckte meine Neugierde. Es genügten wenige Sätzen und ich war mir sicher, dass das Buch etwas für mich sein könnte. Und tatsächlich werde ich nicht enttäuscht sondern freudig überrascht! Es fällt mir gleich auf, hier habe ich es mit einer Autorin zu tun, die weiß, was sie schreibt und ich bemerke ihre feine Note des schriftstellerischen Könnens.
    Eingebettet in eine klare Struktur, an einem Handlungsort, den ich mir gut vorstellen kann, erzählt Alexandra Blöchl eine Liebesgeschichte aus der Perspektive der jungen Inselbewohnerin Vida.
    Wie sie das tut, ist überaus angenehm zu lesen und leicht aufzunehmen. Ich finde den psychologischen Aspekt der Entdeckung einer sexuellen Neigung und der sich daraus entwickelten Charakteränderung sehr gelungen. Die Gefühlsbilder, die Alexandra Blöchl vermittelt, passen zum Setting einer abgeschiedenen Nordseeinsel, und die beiden sehr unterschiedlichen Frauen bieten einen ansprechenden Gegensatz.
    Das baut natürlich Spannung auf. Ich habe die dezenten Beschreibungen, in denen sich Vida ihren eigenen Gefühlen stellt, sehr geschätzt und mochte die Dialogpassagen, die den wortkarten Charakter der Insel gut verkörperten. Gleichzeitig mit der Veränderung treten mit kräftigeren Aussagen die Schattenseiten einer unkontrollierten Liebe hervor, die schlussendlich in einer überraschend tragischen Wendung enden.
    Überrascht von der Intensität der Erzählung und vor allem der sehr ansprechenden Sprache, habe ich Alexandra Blöchl im Internet gesucht. Als ich ihre Vita google, wird mir klar, warum das Buch durch eine ganz besondere Qualität besticht. Die Autorin veröffentlichte nicht nur unter ihren Synonymen Anne Sanders und Lea Coplin bereits Bestsellerbücher, sondern wurde als Redakteurin ausgebildet und arbeitete als Volontärin auch bei der Süddeutschen Zeitung.

    Fazit
    „Was das Meer verspricht“ ist ein stimmiger Roman über eine junge Frau, die sich sexuell neu findet, und damit überfordert ist. Das Buch ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es nicht immer melodramatisch, hochpoetisch oder gehaltvoll hergehen muss, um den Leser direkt anzusprechen.

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  1. Was sich hinter den Klappen versteckt

    Was versteckt sich hinter dem Schal? Und was hinter den Flügeln der Eule? Und wer hinter dem Handtuch?

    „Guck mal! Erste Sachen“ ist ein Bilderbuch für den Buggy aus der Ministeps-Reihe von Ravensburger, vorgesehen für Babys ab sechs Monaten.

    Meine Meinung:
    Das kleine, handliche Büchlein besteht aus vier Doppelseiten. Auf beiden Seiten sind verschiedene Alltagsgegenstände abgebildet sowie kurze Texte.

    Die Illustrationen von Monika Neubacher-Fesser wirken etwas altbacken und unspektakulär. Sie sind in ihrer Einfachheit für das Alter der Zielgruppe aber passend gestaltet.

    Die Texte von Ava-Barb Yaga mit ihrer leicht verständlichen Sprache sind altersgerecht formuliert, aber etwas redundant. Die Wortwahl ist angemessen.

    Die Gegenstände sind leider wenig variationsreich. Dreimal werden Kuscheltiere gezeigt, mehrfach tauchen Enten auf. Bei der thematischen Umsetzung wäre also etwas mehr Kreativität möglich gewesen.

    Ein Pluspunkt sind für mich hingegen die bunten Filzklappen: Sie bieten sich nicht nur als Elemente zum Tasten an, sondern verbergen auch Details, die sich beim Aufklappen offenbaren. Auch das Cover mit der süßen Eule, das mir gut gefällt, beinhaltet ein solches Element.

    Die textile Aufhängung ist geeignet für die Waschmaschine. Die stabilen Pappseiten sind so beschichtet, dass sie sich gut abwaschen lassen. Damit ist das Bilderbuch absolut tauglich für den Alltag mit Baby und Kleinkind.

    Mein Fazit:
    Obwohl das kleine Buggy-Buch nicht sein komplettes Potenzial ausschöpft, ist „Guck mal! Erste Sachen“ ein solides Bilderbuch fürs Babyalter.

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  1. Mit Tieren auf Tuchfühlung

    Hase, Katze, Hund und Esel: Was machen sie? Und wie fühlen sie sich an?

    „Fühl mal! Lieblingstiere“ ist ein Bilderbuch für den Buggy aus der Ministeps-Reihe von Ravensburger, vorgesehen für Babys ab sechs Monaten.

    Meine Meinung:
    Das kleine, handliche Büchlein besteht aus vier Doppelseiten. Jeweils rechts sind ein Tier mit einem Fühlelement und ein Satz abgebildet. Auf den linken Seiten befinden sich weitere Darstellungen von Tieren und ein kurzer Text.

    Die Illustrationen von Monika Neubacher-Fesser wirken etwas altbacken und unspektakulär. Sie sind in ihrer Einfachheit für das Alter der Zielgruppe aber passend gestaltet.

    Die Texte von Ava-Barb Yaga mit ihrer leicht verständlichen Sprache sind größtenteils altersgerecht. Etwas unglücklich empfinde ich die Verniedlichungsformen der Tiernamen, da ich der Meinung bin, dass solch kleine Kinder zunächst die richtigen Wörter lernen sollten.

    Die Tiere variieren. Die Arten sind nicht zu exotisch ausgewählt und weisen bei einigen sogar einen Alltagsbezug auf.

    Ein weiterer Pluspunkt: Die Bereiche zum Tasten haben jeweils eine andere Oberfläche, sodass es auf jeder Doppelseite etwas Neues zum Erfühlen gibt. Auch das Cover, das mir gut gefällt, beinhaltet ein Element zum Fühlen.

    Die textile Aufhängung ist geeignet für die Waschmaschine. Die stabilen Pappseiten sind so beschichtet, dass sie sich gut abwaschen lassen. Damit ist das Bilderbuch absolut tauglich für den Alltag mit Baby und Kleinkind.

    Mein Fazit:
    Obgleich mich das kleine Buggy-Buch nicht in allen Aspekten voll überzeugt hat, ist „Fühl mal! Lieblingstiere“ ein Bilderbuch, an dem Babys ihre Freude haben dürften.

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  1. Große Erzählkunst

    Tony durchschaut das Gesetz der Straße, hier im Gerichtssaal jedoch, erkennt er keinerlei Zeichen. Er hat Angst. Seine Furcht lässt diesen großen, gewalttätigen Jungen zu ihr aufschauen, seine Sinne sind geschärft. Seine Tatoos hat er, wie empfohlen unter einer Schicht Polyester von Primark verborgen. Er ist gerade fünfundzwanzig Jahre geworden.

    Tess steht da, Rücken gerade, guter Stand, kalkuliert und berechnend. Der Richter beobachtet wie sie heranpirscht. Mögen die Spiele beginnen. Tess wiegt den einzigen Zeugen, der glaubt gesehen zu haben, dass Tony zuerst zugeschlagen hat, in Sicherheit, wickelt ihn ein, stellt sich ein wenig ungeschickt an. Er fühlt sich überlegen, wird Wachs in ihren Händen, formbar, unvorsichtig. Und schon verwickelt er sich in Widersprüche.

    Tess ist Anwältin, hat sich auf Strafrecht spezialisiert. Sie ist zugleich gefürchtet und geachtet, erlaubt sich einfach keine Fehler. Der Weg hierher war hart. Mit einem Stipendium ehrte man ihre vorherigen Leistungen. Die meisten hielten das für Glück. Sie lässt sich ihre Herkunft nicht anmerken. Den prügelnden Vater, der verschwand, bevor Tess alt genug war, um die Hand auch gegen sie zu erheben. Ihr Bruder Johnny wurde mit siebzehn verurteilt, hatte nicht das Glück, würdig vertreten zu werden. Ihre Ma putzt seit Tess denken kann. Sie hat sie selten ohne Uniform und Namensschild gesehen. Johnny und Ma haben sie nach Cambridge gebracht, damit sie sich einrichten konnte. Da saßen sie zu dritt auf ihrem Bett und schauten zu Boden. Es war eine tiefe Liebe zwischen ihnen, das konnte Tess spüren, nur zeigen konnte sie keiner.

    Wärend der ersten Vorlesung sitzt sie zwischen Mia und einem verwegen gutaussehenden Typen. Die Professorin erklärt ihnen, dass jede*r dritte im Saal, das Jurastudium vorzeitig abbrechen wird, jede*r dritte. Das wird nicht Tess sein, nicht in dieser Sache, aber in einer anderen. Tess wird die eine von jeder dritten sein.

    Fazit: Was für ein Debüt. Suzie Miller entführt mich in die Welt der augenscheinlichen Gerechtigkeit. Die Protagonistin ihrer Ich-Erzählung, ist so brilliant, wie perfektionistisch, glaubt alles in ihrem Leben unterliege ihrer Kontrolle und gewinnt daraus eine Sicherheit, die sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht hatte. Ihr Ehrgeiz beflügelt sie zu enormen Erfolgen, die ihren Selbstwert heben. Es könnte nicht besser laufen, doch dann erlebt sie einen Kontrollverlust, der alles infrage stellt, ihr Leben, sie selbst, ihre Arbeit, ihr Glaube an Gerechtigkeit. Ich habe ihr die Geschichte in vollem Umfang abgekauft, genau das passiert jeder dritten Frau. Suzie Miller hat intensive Gefühle in mir ausgelöst, mich miterleben lassen, wie sich das Schreckliche anfühlt und was es mit eine*m macht, das ist große Schreibkunst. Eine riesige Leseempfehlung für diesen feministischen Roman.

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  1. Literarisch, politisch, kritisch und spannend

    „Man hat uns in die Schule geschickt, in die wir gehen mussten, dann auf die Uni zu dem Studium, das wir absolvieren mussten, und später zu dem Arbeitsplatz, an dem wir arbeiten mussten, alles, ohne uns zu fragen. Und man kommandiert uns weiter rum, ohne uns auch nur ein verdammtes Mal in unserem verdammten Leben zu fragen, ob wir das auch wollen ...“ (Zitat Seite 20)

    Inhalt
    Ein angenehm warmer Herbstabend im Oktober 1989, doch Wirbelsturm Félix rast auf Kuba zu. Einige Tage vor seinem Geburtstag, nach zehn Jahren als Ermittler, ist für den Teniente Mario Conde die Zeit gekommen, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch sein neuer Chef, Coronel Alberto Molina, hat einen neuen, politisch brisanten Fall für ihn. El Conde, unterstützt von Sargento „Manolo“ Palacios, muss rasch und sehr diskret ermitteln, nach Möglichkeit unter Einhaltung der Vorschriften. Einige Nächte zuvor war die Leiche eines Kubaners, inzwischen nordamerikanischer Staatsbürger, gefunden worden. Der Ermordete ist Miguel Forcade, ein ehemaliger Vizedirektor im Außenhandelsministerium, der sich 1978 in die USA abgesetzt hatte. Sofort stellt sich El Conde viele Fragen, der Fall interessiert ihn, warum hat man Forcade wieder ins Land gelassen, was unüblich ist. Wollte Forcade tatsächlich nur seinen schwer kranken Vater besuchen, oder hatte er auch noch andere Gründe, nach Kuba zurückzukehren. Forcade scheint eine reine Weste gehabt zu haben, doch der brutale Mord weist auf Rache als Motiv hin.

    Thema und Genre
    Auch in diesem Kriminalroman, dem vierten und letzten Teil des Havanna Quartetts, geht es um das Leben in Kuba 1989, Kunst und Kultur, Politik, die Macht der Parteifunktionäre, Enteignung, Bereicherung, Korruption, aber auch um Familie, Freundschaft und die Sehnsucht nach Liebe.

    Charaktere
    El Conde, über sich selbst: „Er erinnerte sich daran, dass dieser Tag sein offiziell vorletzter als Polizist sein konnte und ganz gewiss sein letzter als Mann von fünfunddreißig Jahren war.“ (Zitat Seite 95)
    Mayer Rangel über El Conde: „Du bist das Schlimmste, das mir in meiner Laufbahn passiert ist, aber der beste Ermittler, den ich je gehabt habe.“ (Zitat Seite 99)

    Erzählform und Sprache
    Die Wahl der Erzählform, der Teniente Mario Conde ist die personale Hauptfigur, ermöglicht es Leonardo Padura einerseits, zusätzliche Spannung in die Handlung mit den vielen offenen Fragen, Möglichkeiten und Vermutungen zu bringen, andererseits erleben wir die persönlichen Zweifel von El Conde, die Wünsche und Hoffnungen der Jugend, die das Leben nicht erfüllt hat, Erinnerungen und verlorene Träume. Mit El Conde werfen wir jedoch auch einen Blick auf das echte Havanna, die kleinen Lokale, Gassen, Plätze und die Menschen, die sich auf einen gewaltigen Wirbelsturm vorbereiten. Durch die Ermittlungen, die Gespräche und Recherchen wird die aktuelle Handlung nach und nach zu einem Gesamtbild, das weit in die Vergangenheit zurückführt.

    Fazit
    Ein spannender, vielschichtiger Abschluss der Tetralogie, ein Eintauchen in ein Meer von Illusionen. Kuba und die alten, auch nach den Umbrüchen immer noch mächtigen Familien, und El Conde und sein Freundeskreis als die kubanische Generation der Mittdreißiger, die ihr Leben hinterfragt und neue Wege sucht. Ein literarischer, politischer Kriminalroman mit eindrücklichen Schilderungen der Gesellschaftsstruktur und der Lebensumstände in Kuba im Jahr 1989.

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  1. Schüsse, Starlets, steife Körper

    Ross MacDonald ist einer der Großmeister des Krimi noir aus den Fünfzigern. Mit "Die Küste der Barbaren" ist ihm ein wahres Juwel gelungen, dass für mich in die Schatzkammer dieser Ära gehört. Dieser Roman ist um Längen besser als manch einer aus der Feder seines Vorbilds Raymond Chandler. Ross MacDonald sorgte dafür, was diesem weitestgehend verwehrt blieb: er machte den ehemaligen bleihaltigen Groschenroman salonfähig, bis hin in die Upperclass der hochgeschraubten Literaturzirkel. In den "Barbaren" ist der Held Lew Archer noch herrlich unanständig und direkt, meiner Meinung nach ein ganzer Mensch in seiner Urform - ganz anders als in den späteren Werken, in denen er eine gesellschaftliche Zähmung hinter sich hat.

    Archer wird in die Künstlerwelt L. A.s gerufen, um dem Studioboss Bassett den aufdringlichen Wüterich Geroge Wall, der auf der Suche nach seiner untreuen Frau Hester ist, vom Leib zu halten. Der unaufgeklärte Tod eines jungen Mädchens namens Gabrielle von vor zwei Jahren, die Hesters Weggefährtin war und mit dem Feuer gespielt hatte, überschattet Archers Job. Hinzu kommt, dass er sich für den Ehemann als Auftraggeber entscheidet und sich mit ihm auf die verschlungene Suche nach der jungen Ehefrau begibt. Schon bald werden sie von zwielichtigen Gestalten heimgesucht, die Wall einen Krankenhausaufenthalt im entlegenen Las Vegas bescheren. Archer bleibt dran und deckt nach und nach das Geheimnis ihres Verschwindens auf. Leider schützt es weder ihn und noch weniger manches Opfer vor weiteren Todesfällen. Am Ende lösen sich Verwicklungen, falsche Verdächtigungen, fehlgeleitete Erpressungen und Mordmotive auf und werden von Archer in saubere Sortierstapel geschichtet. Schließlich sind nicht nur Barbaren entlang der Südwestküste Amerikas unterwegs.

    Der Roman ist gepflastert mit skurrilen Charakteren, einer lebendigen Sprache, die selbst nach siebzig Jahren noch nicht allzu abgenutzt wirkt, und einer begeisternden Bildhaftigkeit, für die es keinen zusätzlichen Kulissenbauer braucht. Großartig! Meine Lieblingssätze sind z. B.: "Draußen erhellte das erste Tageslicht den Osthimmel. In der Brise der Morgendämmerung sah das Wasser des Schwimmbeckens grau und unruhig aus, wie ein eingesargtes Stück Meer." oder "Das Gehirn hinter den blutunterlaufenen Augen tappte dumpf im Niemandsland herum." Solche Passagen lassen mich dahinschmelzen. Und das sage ich - genau wie Archer - "mit einer Stimme, die weich ist, wie mit Tränen gesalzene Butter."

    Ein Muss für alle Genre-Fans. Eine treffsichere Angelegenheit!

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  1. Schwarze Identität

    Der Klappentext sagt es indirekt schon: der Roman lehnt sich an „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ an, eine Ikone der amerikanischen Literatur. Protagonist ist aber nicht der weiße Junge Huck, sondern sein schwarzer Begleiter, der Sklave Jim. Die Perspektive ändert sich also, und der veränderte Blickwinkel schafft einen gänzlich anderen Roman.

    Everett zertrümmert das bekannte Vorbild in seine Einzelteile, um diese Einzelteile dann neu nach seinen eigenen Kriterien zusammenzusetzen. Das ist kein Akt der Missachtung, sondern eher eine Referenz vor dem großen Erzähler Marc Twain, zugleich aber auch eine Art Korrektur.

    "Mein Name gehörte endlich mir!" Zentrales Thema ist natürlich der Blickwinkel eines rechtlosen Schwarzen auf eine weiße Geschichte, aber das eigentliche Thema ist die Entwicklung von Identität gegen alle Widerstände, die die Gesellschaft, die Erwartungen und die pure Notwendigkeit dem schwarzen Menschen auferlegen. Everett verweist hier immer auf die Bedeutung der Bildung, die er im Roman mit dem Symbol des Bleistifts deutlich macht. Dieser Bleistift wurde mit dem qualvollen Tod eines Menschen bezahlt, und umso wichtiger wird er für Jim. Er schreibt und dokumentiert damit die Ereignisse; das Schreiben hat darüber hinaus noch den Wert der ständigen Selbstvergewisserung. Bildung und Wissen sind es, mit denen Jim das Funktionieren der Verhältnisse erkennt, in die er hineingeboren wurde. Und da er das Funktionieren durchschaut, kann er überleben. Pointiert gesagt: Bildung ermöglicht Emanzipation.

    Diesen Aspekt der Bildung zeigt Everett mit der Sprache. Jim spricht wie alle Sklaven in Everetts Buch die „weiße“ Standardsprache. Nur in Anwesenheit von Weißen fallen sie in ihren Slang, weil der Unterwerfung signalisiert - und genau das erwarten die Weißen. Ein bemerkenswerter Kunstgriff Everetts, mit dem er weiße Erwartungen ad absurdum führt!

    Von diesem zentralen Thema aus greift Everett weitere Themen auf wie die Mitverantwortung der Mitläufer, die die Sklavenhaltergesellschaft zwar verbal ablehnen, aber dennoch von ihren Vorteilen profitieren.

    Dieser Blick durch die schwarze Brille ist nicht ganz frei von Unglaubwürdigkeiten wie z. B. der Lektüre der aufgeklärten Philosophen. Diese Unglaubwürdigkeiten nimmt man als Leser aber gerne in Kauf, weil die weißen Denker bei diesem Blick durch die schwarze Brille mit ihrem Gerede von Freiheit und Menschenwürde doch sehr gerupft aussehen. Und nur so kann Everett Jims Prozess der Selbstfindung erzählen.

    Diese andere Geschichte Everetts erzählt von einem Mann, der in ständiger Angst lebt: um sich selber, um seine kleine Familie. Er beneidet den weißen Jungen Huck, der nicht in dieser ständigen Angst vor dem Gelynchtwerden leben darf. Dieser Jim ist ein anderer als Marc Twains Jim, und auch seine Geschichte ist eine andere. In Jims neuer Geschichte werden Fremdzuschreibungen und Erwartungshaltungen offengelegt. Damit entwickelt das Buch einen starken appellativen und aktuellen Charakter.
    Ein Roman, der seine Leser nachdenklich zurücklässt.

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  1. Zwei Seiten einer Medaille

    Der schwedische Journalist und Autor Stig Dagerman (1923 – 1954) hinterließ trotz seines frühen Selbstmords und einer vorausgegangenen Schreibblockade eine erstaunliche Zahl von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Gedichten und Reportagen. Sein bekanntester Roman ist "Bränt barn", "Gebranntes Kind", von 1948, der nun in einer Neuübersetzung von Paul Berf als zweites seiner Werke nach "Deutscher Herbst" im Guggolz Verlag erschien. Auf dem wunderschönen Cover sind zahlreiche brennende Kerzen zu sehen, ein sich im Text wiederholendes Bild. Stig Dagerman kündigte seinem Verleger das Buch als einen Roman an, der „von Liebe und Trauer in einem Arbeiterhaushalt in Söder[malm] handelt."

    Ein Potpourri der Gefühle
    Im Mittelpunkt steht der 20-jährige Student Bengt Lundin, der zu Beginn gerade seine Mutter verloren hat. Deren Tod stürzt ihn, über dessen geistige Verfassung vor diesem Ereignis wir nichts erfahren, in abgrundtiefe Trauer, die in ebenso heftigen Hass umschlägt, als er während der Trauerfeier von einer Geliebten seines Vaters erfährt. Bengts Wut richtet sich nicht nur gegen den Vater und dessen Affäre Gun, sondern auch gegen seine eigene Freundin, die verhuschte Berit, und gegen den schwarzen Hund, den der Vater mitbringt. Als Bengt, Berit, Gun und der Vater auf dessen Vorschlag hin Mittsommer zu viert auf einer Schäre vor Stockholm verbringen, dem Ort, wo sich einige der Schlüsselstellen des Romans abspielen, will Bengt dort seine Rachepläne in die Tat umsetzen, doch es kommt anders:

    "Als sein Stuhl sehr eng neben ihrem steht, merkt er jedoch, wie kurz der Schritt zwischen Hass und Liebe ist, sie sind nur zwei Seiten einer Medaille. Nur wen wir lieben, können wir wirklich hassen." (S. 260)

    Reinheit und Lüge
    "Gebranntes Kind" ist eine überaus fordernde Lektüre, gespickt mit Bildern, Motiven und Gegensatzpaaren. Gefällig oder angenehm zu lesen ist hier nichts, denn nicht nur erweist sich Bengt als schwer gestörter, kranker und sowohl physisch wie psychisch gewalttätiger und unberechenbarer Charakter, auch die anderen verhalten sich abnormal und irrational, ähnlich Co-Abhängigen bei Suchtkranken. Ein Grund dafür liegt in der Ehrfurcht, die sie vor dem Studenten empfinden, aber auch Mitleid und Angst sind im Spiel. Bengt seinerseits kennt nur Verachtung, niemand kann vor seinen strengen Maßstäben über „Reinheit“ bestehen, niemand ist wie er:

    "Es gibt nur einen Menschen auf der ganzen Welt, dem du vertrauen kannst, und dieser Mensch bist du selbst." (S. 152)

    Zwischen die Kapitel in personaler Erzählweise, hauptsächlich aus Bengts Sicht, stehen seine Briefe an sich selbst und andere, in denen er sich die Welt und seine Gefühle zu erklären versucht. Ausgerechnet er, der angeblich die Verlogenheit so sehr hasst, ist der größte Lügner von allen – und findet auch dafür eine Rechtfertigung:

    "Wer rein ist, darf mit dem, der unrein ist, alles machen. Denn wer rein ist, hat recht." (S. 41)

    Sein eigenes Opfer
    Wohlfühlliteratur ist "Gebranntes Kind" ganz und gar nicht, doch sind die Entsprechungen von Bengts Seelenzuständen mit der Sprache Stig Dagermans großartig: einerseits die knappen, pistolenartigen Sätze, die Bengts Fieber innerer Zerrissenheit widerspiegeln, andererseits die pathetisch-selbstgerechten Briefe und schließlich die zarten Sätze in den intensivsten Momenten der Leidenschaft.

    Bengt als unsympathischen Protagonisten zu beschreiben, wäre untertrieben, vielmehr erzeugte er ein durchgehendes Gefühl von Übelkeit und Widerwillen bei mir. Genau das macht diese beeindruckende psychologische Studie über einen Jugendlichen in einer existenziellen Krise jedoch gleichermaßen zeitlos wie empfehlenswert.

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  1. Ein typischer und urtümlicher bayrischer Regionalkrimi

    Dieser Regionalkrimi umfasst 46 Kapitel und spielt sich in der Umgebung von Bad Tölz ab. Der Schreibstil ist sehr leicht, bildhaft und zügig zu lesen. Dabei ist die Atmosphäre meiner Meinung nach ruhig und zeitweise gefühlvoll. Ich bin sehr gut in diesen Krimi hinein gekommen da mich die Story sogleich ansprach. Die Protagonisten sind zum Teil skurril dargestellt. Franz Joseph Bernrieder, von dem die Story erzählt, war mir mit seiner urigen bayrischen Art gleich sympathisch weil er Dialekt redet und nicht nur er sondern fast alle Protagonisten. In diesemBuchist der Dialekt präsent. Ich persönlich bin aber noch sehr gut beim lesen mitgekommen. Ich persönlich fand auch gut dass der Autor zusätzlich die verschiedenen Hintergründe der Charaktere beschreibt so konnte ich mir ein gutes Bild von jedem machen. Dies ist ein typisch bayrischer Krimi den ich am liebsten in einem Rutsch durchgelesen hätte. Er hat alles was solch ein Buch ausmacht - Spannung, Witz, Charme und das bayrische Flair das allgegenwärtig ist. Im ersten Drittel kam mir die Story wie eine Erzählung vor, ja sie erinnerte mich vom Erzählstil fast schon an ein Märchen. Da der Autor sehr bildhaft schreibt konnte ich mir die Szene lebhaft vorstellen. Die Story hat sehr viel Lokalkolorit zu bieten inklusive Lederhosen und Dirndl und Hüten aus Gamsbart. Auch etwas Geschichte darf da natürlich nicht fehlen. Mit seinem ganz eigenen Stil zog mich dieses Buch in seinen Bann. Immer wieder wollte ich wissen wie die Story wohl weitergeht. Noch vor der Hälfte des Buches zieht die Spannung an und der Krimi wird meiner Meinung nach aufregender zu lesen. In dieser Story gibt es gleich mehrere "Fälle" die eigentlich nicht's miteinander zu tun haben - eigentlich. Aber nach und nach verbinden sich diese Handlungsstränge was das ganze interessant macht. Mir gefiel sehr dass Kommissar Franz Joseph Bernrieder auch Gefühl zeigte und gerade da wo die Story für mich persönlich emotional und bedrückend wurde. Aber dieser Krimi hat mich auch amüsiert und ich durfte zwischendurch durchaus lächeln und schmunzeln. Das letzte Drittel ist spannend zu lesen und das Ende war zwar für mich persönlich fast schon vorhersehbar aber trotzdem war es für mich berührend. Dies ist der erste Band einer fünfteiligen Reihe. Er ist in sich abgeschlossen. Es ist ein sehr guter Auftakt zur Reihe. Die kurzweilige Story hat mich persönlich vollkommen überzeugt und zählt zu meinen Lesehighlights. Ich vergebe daher sehr gerne fünf Sterne.

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  1. Keine Liebesgeschichte für Jedermann

    Da ich schon viel von Ali Hazelwood gehört, aber bisher noch nichts von ihr gelesen hatte, wollte ich mir dieses Buch unbedingt mal ansehen. Da es bei Thalia zudem hochplatziert auslag und als Taschenbuch erhältlich war, habe ich schlussendlich zugegriffen.

    Nun, das Buch war nicht ganz das, was ich erwartet hatte, aber ich habe mich schnell an den Schreibstil gewöhnt und fand ihn schließlich sehr angenehm und kurzweilig zu lesen. Was mich allerdings sehr gestört hat, war teilweise die Übersetzung. WTF in einem deutschen Buch ständig englisch zu lesen emfpinde ich sehr mühsam. Es ist doch völlig okay "Was zum F..." statt "What the F" zu schreiben? Es verliert seine Bedeutung dadurch ja nicht.
    Die Charaktere waren ganz okay, obwohl eigentlich von Anfang an feststand, worauf das Ganze hinausläuft. Ich mag es eigentlich lieber, wenn "Enemies to Lovers" etwas weniger offensichtlich stattfindet. Dennoch waren sämtliche Akteure der Geschichte sehr sympathisch und es hat mir wirklich Spaß gemacht zu Lesen.

    Kommen wir zum Spicy-Teil der Geschichte. Da finde ich, dürfte das Buch etwas mehr Warnungen vertragen. Da ich mich häufig auf AO3 (FanFiction-Seite) herumtreibe und inzwischen sehr viele, sehr schräge Kinks kennenlernen "durfte", wusste ich im Voraus worauf es wohl hinauslaufen wird. Da in diesem Fall m.E. ein doch eher spezieller Kink bedient wurde, wurde bestimmt der/die eine oder andere negativ überrascht. Ich meine für Leute, die sich mit den Alpha/Omega-Universen und dem ganzen Werwolf-Spice auseinandersetzen und das gerne lesen, ist Bride wahrscheinlich eher jungfräulich. Aber für jemanden, der sich in dieser Welt nicht auskennt, könnte es wirklich befremdlich sein.

    Alles in allem konnte ich am Ende den Hype um das Buch nicht ganz nachvollziehen. Es war okay, ja, aber nicht herausragend und wohl auch nicht das besten Werk von Ali Hazelwood.

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  1. So unvorhersehbar, wie das richtige Leben

    "Krummes Holz" von Julia Linhof ist ein Roman über die Geschichte zweier Geschwister.

    "Gibt es die alte Welt überhaupt noch, wenn man in der neuen längst ein anderer geworden ist?"

    Jirika kehrt nach Jahren der Abwesenheit auf den Gutshof seiner Eltern zurück. Hier trifft er auf seine Schwester, die aber nicht gerade froh darüber scheint, dass er sich erst jetzt hier blicken lässt. Von seinem Vater fehlt jede Spur und seine Großmutter hat sich durch ihre Demenz auch total verändert. Einzig Leander scheint etwas zugänglicher gegenüber Jirika zu sein, doch gerade mit dessen Nähe, kann er nicht umgehen.

    Diesen Debütroman habe ich wirklich mit Genuss gelesen, denn er ist sprachlich ein Fest. Der Autorin gelingt es einfach wunderbar, diese aufgeladene Atmosphäre in Worten einzufangen. Ganz zart wird ein Spannungsbogen aufgebaut, der sich in einem wahrhaftigen Gewitter entlädt.

    Beim Lesen weiß man nicht, wo einen die Geschichte eigentlich hinführt. Wird es unheimlich, dramatisch oder eine Liebesgeschichte. Genau wie im richtigen Leben.

    Bei Jirika brechen beim Heimkommen Erinnerungen auf, wie das krumme Holz unter der sengenden Sonne. Auch die anderen Figuren fand ich sehr interessant.

    Ich habe das Buch wirklich sehr gern gelesen und mich in diesen drückenden, schwülen Sommer entführen lassen. Ich empfehle es gerne weiter.

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  1. Lebensbilder

    Mein Lese-Eindruck:

    Der Autor spürt dem Leben seines Urgroßvaters nach. Die Quellenlage ist natürlich schlecht und beschränkt sich auf einige wenige Daten, die der Autor in Kirchenbüchern und einigen amtlichen Dokumenten fand. Wie lebte der Urgroßvater Nesje, der Heumacher, der 40 Jahre lang als erster Mäher und Knecht auf dem Hof seines Grundherrn Frondienst leistete? Und nach Ableistung dieses Dienstes sein gepachtetes Land urbar machte und bebaute?

    „Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel - zu seiner wie zu meiner Zeit.“ Sehr poetische Worte, die den Urgroßvater aus der Vergangenheit und Vergessenheit ins Heute bringen.

    Der Autor zeichnet das Bild eines rechtschaffenen Mannes, der seinen Pflichten verlässlich nachgeht und die Sache seines Grundherrn zu seiner eigenen Sache macht. Nesje kennt seinen Platz in der sozialen Hierarchie, und er ist nicht neidisch, „Er war zufrieden damit, der zu sein, der er war.“ Aber Nesje hat Träume: er möchte eines fernen Tages sein eigenes Land bewirtschaften, um seinen Kindern ein Auskommen zu sichern.

    Der Autor nimmt auch die Verwandten, die Geschwister seiner Frau, in den Blick. Auch sie arbeiten hart und ringen dem kargen Boden das zum Überleben Notwendige ab. Das Überleben wird schwieriger: die Löhne gehen zurück, der Fjord ist leergefischt, und das Getreide wird wegen der kurzen Vegetationsperioden nicht jedes Jahr reif. Nesje erkennt, dass er trotz harter Arbeit niemals die guten Tage erreichen wird, von denen er träumt.

    Immer mehr Menschen entziehen sich der Armut und der Unfreiheit in Norwegen und wandern aus nach Amerika, dem Land, in dem Milch und Honig fließen und in dem sie ihre Träume vom guten Leben hoffen verwirklichen können. Der Autor begleitet sie, und als Leser liest man von Träumen, die zerplatzen und der Realität – z. B. dem beginnenden Maschinenzeitalter - nicht standhalten können.

    Diese Geschichten erzählt der Autor im kargen, wortarmen Ton einer Saga. Die Figuren hält er auf Distanz zum Leser und lädt nicht zur Identifikation ein. Das Handeln seiner Figuren stellt er fast chronikhaft vor, wobei er niemals wertet. Aber im Mittelpunkt steht der Urgroßvater Nesje, der seiner Heimat treu bleibt. Wenn der Autor viele Seiten lang die mühsame Kunst des richtigen Mähens schildert, merkt man seinen Respekt vor diesem Mann und seinem harten und mühseligen Leben.

    Ein sehr packendes und bewegendes Lebensbild.

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  1. Von Fluch und Segen des Tourismus

    Kurzmeinung: Dieses Büchlein hat mich sehr berührt. Ein Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2024.

    Eine Insel im Irgendwo verortet, das heißt, sie könnte überall sein. Eine Insel, die irgendwann einmal von Touristen entdeckt aus ihrem idyllischen Dornröschenschlaf erwacht. Sie wird zunächst als Geheimtipp gehandelt, doch allmählich kommt die Tourismusschwemme. Die Besucher stellen Ansprüche, wollen Komfort und eben das, was sie überall bekommen. Die Inselbewohner liefern. Indem sie jedoch die Ansprüche der Gäste bedienen, verliert die Insel das, was einst ihren Reiz ausmachte und die Gäste bleiben weg. Desaster.

    Der Kommentar und das Leseerlebnis:
    Die Autorin reduziert die wenigen Menschen, die der Insel die Treue halten auf ihre Funktionen, der Hausmeister, die Bäckerin, die Frau des Generals, der Barkeeper, die Fischerin, die Krankenschwester und die Doktorin, die eigentlich eine Dichterin ist. Auch die Handlung wird reduziert auf Begebenheitsorte, die Bar, das gelbe Haus, der Sommerpalast, der Strand, etc. Die Reduktionen, die die Autorin vornimmt, wirken zusammen mit der lyrischen Sprache ungemein reizvoll. Ich bin verliebt in das Büchlein, das einfach alles, was ein guter Roman braucht, auf komprimiertem Raum darstellt: men sieht in den Hintergrund der Personen, kennt ihre Hoffnungen und Wünsche von einst und erlebt das trostlose Leben jetzt, in dem man innerlich nur überlebt, in dem man stoisch an seinen Alltags-Pflichten festhält: Instandhaltung und Versorgung. Mit wenigen Mitteln und ohne pathetische Innenschau bringt die Autorin das Innenleben der Menschen an den Tag und zum Leuchten. Einfach, in dem sie beschreibt, was sie tun. Die spärliche Interaktion der Menschen enspricht dem, was man von wortkargen eigenbrötlerischen Insulanern erwartet. Karge Herzlichkeit. Das, was übrig ist an Menschlichkeit. Thea Mengeler gelingt die Darstellung von Einsamkeit, Verfall, Menschlichkeit, Hoffnung, Wunschdenken mit unglaublich leichter Feder! Natur und Dekadenz. Verlust. Mehrere Kapitel „Einige Verluste,“ sind nichts weiter als Aufzählungen, die Autorin bleibt konsequent dem Konzept von Reduktion treu – und dennoch sind diese kurzen Kapitel besonders berührend.

    Thea Mengelers „Nach den Fähren“ ist voller Melancholie, die teilweise auf den Erinnerungen "der Übriggebliebenen" fußt und teilweise auf die nicht totzuschlagende Hoffnung, die ein Mensch in sich trägt. Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Obwohl es nicht explizit ausgesprochen wird, ist der Roman auch eine Ohrfeige an den unsere Umwelt rücksichtslos ausbeutenden und zerstörerischen Massentourismus.

    Fazit: Ein Juwel.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Wallstein, 2024

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  1. 4
    23. Apr 2024 

    Twain goes Tarrantino

    Auf den ersten Blick scheint der neue Roman von Percival Everett eine woke Korrektur von Mark Twains Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ zu sein. Im Interview stellte Everett jedoch klar: „Huckleberry Finn hat keine Mängel, die ich korrigieren will; [James] spricht an, was Mark Twain nicht hätte ansprechen können". Twains umstrittene Ikone des amerikanischen Literaturkanons wird erweitert: Die Nebenfigur Jim rückt ins Zentrum und wird zum Erzähler.

    Das Buch hält sich zunächst eng an Twains Grunderzählung, in der ein weißer Junge vor seinem gewalttätigen Vater flieht und einen versklavten Schwarzen trifft, der ebenfalls auf der Flucht ist, weil er verkauft werden soll. Wir erleben bekannte Episoden wieder, aber die Umkehrung der Perspektive verändert alles. In Huckleberry Finn erscheint die Flussfahrt, obwohl durchaus gefährlich, wie ein Abenteuer. Für Jim ist dieselbe Reise mit extremen Gefahren verbunden, er muss ständig fürchten, „zu Tode gehängt zu werden oder Schlimmeres".

    Jims Plan ist zunächst, in den Norden zu gehen, Geld zu verdienen und Frau und Kinder freizukaufen. Auf der Flucht beginnt er, eine Art Tagebuch zu führen. Es geht um die subversive Macht von Sprache und Bildung – im Roman beherrschen alle Sklaven die Standardsprache, aber James lehrt seine Kinder, die „korrekte falsche Grammatik“ anzuwenden, wenn sie mit Weißen sprechen. Sprache als Schutzraum - aber Jim denkt mehr als das: „Mit meinem Bleistift schrieb ich mich selbst ins Sein.“ Er will die Macht über sein eigenes Narrativ.

    In der Mitte des Romans nimmt Everetts Version eine andere Richtung als das Original. Es wird klar, dass „James“ etwa 20 Jahre später spielt als Huckleberry Finn, nämlich kurz vor dem Bürgerkrieg - den James eher skeptisch sieht: „Was auch immer zu diesem Konflikt geführt hatte, die Befreiung der Sklaven war ein Nebenmotiv und würde ein Nebenergebnis sein.“ Dieses Misstrauen den Weißen gegenüber durchdringt den ganzen Roman.

    Eine der abweichenden Szenen sticht besonders heraus. James wird als neuer Tenor von den Virginia Minstrels gekauft, weiße Sänger, die sich die Gesichter schwärzten und „schwarze“ Songs sangen. Das Problem: Schwarze dürfen nicht auf der Bühne auftreten. Mit Jim treibt Everett das absurde Spiel auf die Spitze: Ein Schwarzer, der sich als Weißer ausgibt, der einen Schwarzen spielt. Rasse als künstliches Konstrukt, wie es deutlicher nicht geht.

    Ebenso entlarvt Everett den Voyeurismus, der vielen Südstaaten-Epen zugrunde liegt. Schwarze Leidensgeschichten sind beim weißen Publikum beliebt.„Weiße lieben es, sich schuldig zu fühlen.“ Nur bewegt das nichts. Im Interview sagte Everett: „Ich habe Sklaverei-Romane so satt. Was sagt man am Ende eines Sklaverei-Romans? Ich habe meine Meinung geändert?“

    Aber auch die Trope des läuternden Leidens der Sklaverei, den durch Leiden erworbenen Adel der Seele, will Everett dekonstruieren. Everetts James ist nicht der Jim des Originals, der leidet, ohne Hass auf seine Peiniger zu empfinden. Der Roman macht klar, dass Leiden deformiert und nicht läutert. Er zeigt uns Schwarze, denen die Unterwürfigkeit in Fleisch und Blut übergegangen ist und solche, denen Jim nicht trauen kann, weil sie zu Komplizen ihrer Herren geworden sind.

    Der Jim des Romans findet im Lauf der Story zu einer gesunden Wut, die er im Interesse seines Überlebens bislang unterdrücken musste. Wir erleben einen Prozess der inneren Selbstermächtigung. Der Jim des Originals bekommt seine Freiheit am Ende von den Weißen geschenkt. James jedoch, wie er sich nun selbst nennt, ist im Feuer des Leidens keineswegs zum Heiligen geworden (wie eine andere vielkritisierte Romanfigur, Harriet Beecher-Stowes Onkel Tom), sondern hat sich zu Stahl verhärtet. An der Stelle wird der Roman zur Rachephantasie und erinnert entfernt an Django Unchained.

    So ernsthaft die Themen, so leicht lässt der Roman sich lesen. Kurze Kapitel erzeugen Tempo und der Text ist immer wieder so witzig, wie man es von einem Autor erwarten kann, der sich selbst als „krankhaft ironisch“ bezeichnet.

    Sehr gestört hat mich zunächst James vorgebliche Gelehrtheit. Bei seinen imaginären Diskussionen mit den Denkern der Aufklärung spricht Everett aus James´ Mund wie ein Bauchredner durch seine Puppe. Allerdings ist Everett konsequent in seiner Übersteigerung: Gleich einem Superhelden weiß und kann James alles – hier sind wir stilistisch wieder bei Tarrantino. Zum Finale hin gibt das, um mit unserem Kanzler zu sprechen, ordentlich Wumms.

    Fazit: Der Perspektivwechsel in dieser altbekannten Geschichte erlaubt Einblicke, die Twain bei aller Liberalität nicht geben konnte – nicht weil er Rassist war, sondern weil er nicht schwarz war. Das Abenteuer wird zur Sozialstudie – Parallelen zur Gegenwart dürfen gezogen werden.

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  1. Gefühlvoller Roman zum Entspannen

    Im Roman "Neue Träume am Strand" von Susanne Oswald geht es um Bentje, die aus ihrer Wahlheimat Hamburg zurück zu dem Ort kehrt, wo sie aufgewachsen ist, nämlich nach Kiekersum, ein Städtchen an der Nordseeküste.
    Bentje möchte dort in ihrem Urlaub ausspannen. Doch gleich zu Beginn bekommt Bentje ein verlockendes Jobangebot von ihrem Vorgesetzten gemacht.
    Sie besucht ihre großmütterliche Freundin Finna, um mit ihr Tee zu trinken und gemeinsam zu stricken. Stricken ist Bentjes Hobby, wobei ich schon das Gefühl habe, dass sie eher kleine Kunstwerke anfertigt als nur 08/15 Stricksachen. Finna erzählt Bentje, dass sie darüber nachdenkt zu ihrem Sohn nach Australien zu ziehen und ihre Pension "Das Lüttje Glück" zu verkaufen.
    Bentje muss sich nun entscheiden, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Nimmt sie das Jobangebot an oder bleibt sie vielleicht in Kiekersum, um Finnas Pension zu übernehmen? Zusätzlich spielt auch noch ihr Jugendfreund Jasper eine Rolle.
    Als kleinen Bonus gibt es am Ende des Buches ein paar Strickanleitungen sowie ein Rezept für einen Apfelkuchen. Beides gefällt mir sehr gut.
    Ich vergebe für diese Geschichte 5 von 5 Sternen und eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Ein schöner Roman, um mal für ein paar Stunden dem hektischen Alltag zu entfliehen.

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  1. Netter Wohlfühlroman

    Beth hat sich mit ihrer Gärtnerei einen Lebenstraum erfüllt. Als bei den Vorbereitungen für ein Baumhaus im neuen Outdoor-Camp, das nebenan entsteht, ein dicker Ast auf einem ihrer Folientunnel landet, versucht Jack, der Leiter des Camps, die Wogen zu glätten, trotzdem gibt es etwas Zoff.

    Jack hat keine einfache Vergangenheit hinter sich, genauso wie die Jugendlichen, die in der Outdoor-Camp kommen. Beth als alleinerziehende Mutter mit Zwillingen kämpft sich mit ihrer Gärtnerei durch, und hat zum Glück viel Unterstützung durch ihre Geschwister. Beth und Jack kommen sich nach und nach näher, bis sich Jack als eine Filmgesellschaft einen Film über Applemore, das Camp und die Gärtnerei drehen will, mit seiner Vergangenheit auseinander setzten muss.

    Das Cover finde ich schön bunt, es macht auch gleich deutlich, dass es um eine Gärtnerei geht. Was mir nicht so gut gefallen hat, dass am Anfang die Rede davon war, dass viele im Dorf gegen das Outdoor-Camp wären, und plötzlich niemand mehr etwas dagegen sagt... Da hat es mir etwas gefehlt, wie die Einwohner sich davon überzeugt haben, dass es kein Unheil ist mit dem Camp.

    Insgesamt ein netter, teilweise etwas vorhersehbarer Wohlfühlroman ohne großen Tiefgang.

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  1. Ein herausragendes Buch über ein anrührendes Schicksal

    Kya Clark ist ein Mädchen, das nach und nach mitten im Marschland von seiner Familie im Stich gelassen wird.
    Sie lernt, mitten im Marschland im Einklang mit der Natur zu leben und sich allein zu versorgen, entwickelt sich dabei allmählich zur Frau und findet ihre erste großen Liebe. Als sie auch von dieser großen Liebe enttäuscht wird, zieht Kya sich immer mehr von den Menschen zurück, für die sie nur das Marschmädchen ist.
    Durch die Untersuchung eines Todesfalls gerät Kya als Tatverdächtige ins Viser der örtlichen Polizei. Es scheint sofort festzustehen, dass das Marschmädchen eine Mörderin ist, weil sie alleine lebt und so ganz anders ist.

    Ihr Schicksal, wie sie sich immer weiter durchschlägt und gegen alle Widrigkeiten behauptet, ist meisterhaft geschildert und hat mich sehr berührt. Ich habe beim Lesen so sehr mitgefiebert, ob sie Gerechtigkeit erfährt oder es bei der Vorverurteilung der Andersartigen bleibt. Findet Kya entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch ihr Glück?

    Ein Buch, dass auch nach dem Lesen noch sehr lange nachwirkt.

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  1. Kein Vergleich mit "Die Firma"

    REZENSION – Wir erinnern uns: Nach seinem Romandebüt „Die Jury“ aus dem Jahr 1989 gelang dem amerikanischen Schriftsteller John Grisham (69) zwei Jahre später mit seinem Thriller „Die Firma“, erfolgreich verfilmt 1993 mit Tom Cruise, bereits der internationale Durchbruch und machte ihn zum Bestseller-Autor, so dass er noch im selben Jahr seinen Beruf als Rechtsanwalt aufgeben konnte. Fast im Jahresrhythmus veröffentlichte er daraufhin weitere Justizthriller, mit denen er eine Gesamtauflage von 275 Millionen Exemplaren erreichte, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden. Im Februar erschien nun beim Heyne Verlag Grishams neuer Roman „Die Entführung“, der sowohl im englischsprachigen Markt als auch bei uns als „große Fortsetzung des Weltbestsellers »Die Firma«“ angekündigt wurde und 15 Jahre später spielt.
    Der Rechtsanwalt Mitch McDeere, der seine damalige Anwaltsfirma - lediglich eine Fassade und Geldwaschanlage für die Mafia - hatte auffliegen lassen, ist nach Jahren der Flucht inzwischen Partner bei der weltweit größten Anwaltskanzlei in Manhattan mit Filialen in vielen Ländern. Glaubte sich der junge Familienvater nach so langer Zeit in Sicherheit, werden er und seine Frau erneut Zielscheibe des Verbrechens: Mitch übernimmt das Mandat eines großen türkischen Unternehmens, dem die libysche Regierung unter Diktator Muammar al-Gaddafi nach dem Bau einer Autobahnbrücke in der Wüste vier Millionen Dollar schuldig bleibt. Um sich vom Bauprojekt ein genaues Bild zu verschaffen, reist er mit der in der Londoner Filiale angestellten Rechtsanwältin Giovanna, Tochter des römischen Filialleiters Luca, nach Libyen. Nach einer Lebensmittelvergiftung kommt Mitch ins Krankenhaus, weshalb Giovanna allein, allerdings mit bewaffneter Begleitung, zur Brücke fährt. Auf dem Weg dorthin werden die Begleiter von Terroristen getötet und Giovanna entführt. Die anonym bleibenden Entführer fordern von der Anwaltskanzlei hundert Millionen Dollar Lösegeld.
    So weit, so gut. Doch warum dieser neue Band unbedingt als Fortsetzung zum Bestseller „Die Firma“ angenommen werden soll, wissen wohl nur der Autor und seine Verlage. Denn außer einigen für die Handlung des aktuellen Romans völlig unwichtigen Bezügen zum einstigen Bestseller hat „Die Entführung“ überhaupt nichts mit diesem zu tun. Lediglich die Protagonisten Mitch McDeere und seine Ehefrau treten hier erneut auf. Doch da die Handlung des neuen Romans im Kern absolut nichts mit der des alten zu tun hat, auch die Charaktere der Protagonisten in keiner Weise weiter ausgeprägt werden, darf man „Die Entführung“ getrost als eigenständigen Roman und die Verlagsaussage „große Fortsetzung“ als reine Werbung ansehen. Hoffte man vielleicht, damit an den früheren Erfolg der 1990er Jahre anknüpfen zu können, dürfte sich dieser „Trick“ bei den Lesern eher negativ auswirken, da man bei einem Vergleich unweigerlich vom Ergebnis enttäuscht sein muss.
    „Die Entführung“ ist kein von Grisham gewohnter Justizthriller, da es hier nicht um juristische Tricks zur Lösung eines Rechtsstreits geht. Andererseits ist der Roman aber auch kein echter Politthriller, da die politisch-globalen Zusammenhänge, die sich bezüglich des Gaddafi-Regimes, der labilen Situation in Libyen und - daraus folgend - der politischen Abhängigkeiten und Konfliktsituation westlicher Länder, im Roman nur oberflächlich angerissen werden. Es bleibt somit ein reiner Spannungsroman, der durch einige brutale Szenen angereichert ist. Doch selbst die Spannung bleibt teilweise auf der Strecke, der Roman wirkt gelegentlich langatmig und die Handlung löst sich durch ihr völlig überraschungsfreies Ende letztlich in Wohlgefallen auf. Grisham hätte seinen Roman besser um 150 Seiten zu einer Erzählung kürzen sollen. Der einstige Welterfolg seiner „Firma“ dürfte ihm bei der „Entführung“ sicherlich versagt bleiben.

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