Strassenkinder: Im Dschungel der Städte. Jugendbuch ab 14

Inhalt:
Was kann Einer schon tun? ist die Frage die man sich oft stellt, wenn es um ganz alltägliche Sachen geht die man ändern würde. Sich für seine Rechte einzusetzen fällt da vielen schwer, doch darum geht es in diesem kleinen Büchlein gar nicht. Hier geht es darum was Einer schon für die Allgemeinheit tun kann. Gegen den Terrorismus, gegen den Klimawandel und auch gegen den Fremdenhass. Peer Martin stellt diese Frage in vier fiktiven Gesprächen und kommt auf interessante Antworten.
Meine Meinung:
Was kann Einer schon tun? Ist die Frage die auch ich mir schon gestellt habe. Da ging es aber eher um das persönliche Umfeld, doch auch in ganz anderen Bereichen ist die Frage durchaus legitim. Peer Martin stellt sie in seinem Buch vier unterschiedlichen Figuren.
Am befremdlichsten fand ich dabei das erste Gespräch das er mit seinem Hund Lola führte. Doch könnte man dieses auch eher als Selbstgespräch werten und sollte das Buch nicht gleich zur Seite legen.
Danach kommen noch eine junge Frau, eine Au-Pair, ein Flüchtling aus Somalia und auch sein Sohn als Gesprächspartner dran und jedes Gespräch bringt neue Antworten und neue Herangehensweisen.
Der Schreibstil ist für mich hier eher zweitrangig, da das Thema so gut und aktuell ist. Es ist etwas das auf der Seele brennt, doch obwohl manches philosophisch wirkt ist das Buch gut und flüssig zu lesen und das obwohl ich es damit eigentlich nicht so habe.
Peer Martin greift alle aktuellen Themen auf und man merkt das es erst dieses Jahr geschrieben wurde, das macht es umso interessanter. Es ist nicht Schnee von gestern. Auch wenn man sich das manchmal wünscht. Es ist ein Versuch Probleme zu bewältigen und aufzuzeigen das man es schaffen kann, wenn nur einer damit anfängt.
Was kann einer schon tun? Einer kann sich trauen und springen. Ins Unbekannte, aber vor allem über seinen Schatten, wenn das jeder tut, dann kommen wir einer besseren Welt ein Stück näher. Wenn jedoch nur ein paar dieses Buch lesen finden sie vielleicht einen Weg für sich doch etwas zu tun. Also lest es!!!
Aus dem Polnischen von Friedrich Griese
Mit einer Einleitung der Halbschwester Zahava (Laskier) Scherz
und einem Nachwort von Mirjam Pressler
In der Einleitung erzählt Zahava (Laskier) Scherz die Geschichte des Tagebuchs.
Als sie vierzehn Jahre alt war, fand sie ein verstecktes Fotoalbum ihrer Eltern. Ein Mädchen, acht Jahre jung, fiel ihr besonders auf, weil es ihr ähnelte. Sie sprach ihren Vater auf dieses Foto an. So erfuhr sie das erste Mal von Rutka und Heniuś, seinen Kindern und seiner Frau Dorka, die im Holocaust umgekommen war.
Im Jahr 2006 erfuhr Zahava, dass ein Tagebuch ihrer Halbschwester Rutka aufgetaucht sei, das 62 Jahre von der jetzt 82-jährigen nichtjüdischen Polin Stanislawa Sapińska versteckt wurde.
Stanislawa kannte Rutka als junges Mädchen. Sie wusste, dass Rutka ein Tagebuch schrieb, sie erfuhr, dass Rutka über den Kriegsverlauf und über das Schicksal der deportierten Juden gut informiert war. Sie ging davon aus, dass Rutka im Untergrund tätig war. Rutka hätte ihr auch gesagt, dass sie den Krieg nicht überleben würde und so vereinbarten sie ein Versteck für das Tagebuch, sodass Stanislawa es später herausholen und aufbewahren konnte.
Das hat auch funktioniert, da Stanislawa nach dem Krieg in Rutkas Wohnung einzog. Ihrer Familie erzählte Stanislawa erst von dem Tagebuch, als sie 80 Jahre alt wurde. Ihr Sohn war der Meinung, dass es in ein Museum gehört und gab es an das städtische Museum. Nach ein paar Nachforschungen kam man so auf Zahava, die sich ihrerseits nun auch auf Rutkas Spuren machte.
Die Polen nennen Rutka "die polnische Anne Frank", viele polnische Homepages berichten über ihr Leben, junge Leute schreiben Gedichte über sie.
Der Vater wollte mit der Familie nach Palästina gehen. Doch der Zweite Weltkrieg durchkreuzte seine Pläne und wie viele andere, hat er die künftige Entwicklung nicht vorhergesehen.
Im August 1943 wurde die gesamte Familie nach Auschwitz deportiert. Seine Frau Dorka, die Kinder Rutka und Heniuś und seine Mutter Dorka kamen sofort in die Gaskammern. Er selbst wurde zu einem Muselmann (ein am Lagerleben zerbrochener Mensch). Wegen seines Berufes kam er noch in das Konzentrationslager Sachsenhausen und musste dort an der geheimen "Operation Bernhard" mitarbeiten. Die amerikanischen Truppen rückten immer näher, die Wachmannschaften und Soldaten flohen, bevor sie alle Häftlinge ermorden konnten.
Der erste Tagebucheintrag von Rutka stammt vom 19.1.43, vier Jahre schon lebt sie in dieser Hölle, wo ein Tag dem anderen gleicht. Sie liest gerne gute, philosophische Bücher, möchte tief in diese eintauchen.
Die ersten Einträge lesen sich wie die eines jungen Mädchens. Sie ärgert sich über Freunde oder Bekannte, geht zum Fotografen, um Bilder von sich machen zu lassen. Sie denkt über ihr Aussehen nach. Hält sich für hübsch, aber auf Bildern schaut sie hässlich aus.
Und plötzlich fragt man sich, ob dies noch dasselbe Mädchen ist, die hier schreibt:
"Ich bin schon derart "vollgesogen" von den Gräueln des Krieges, dass die schlimmsten Nachrichten keinerlei Eindruck auf mich machen [...] Was wird das bloß, lieber Gott. Ach Rutka, jetzt bist du wohl ganz und gar verrückt geworden, du rufst Gott an, so als gäbe es ihn. Der Funken Glaube, den ich einmal besaß, hat sich inzwischen gänzlich verloren, wenn es Gott gäbe, würde er bestimmt nicht erlauben, dass man Menschen bei lebendigem Leib in den Ofen stößt, dass kleinen Kindern mit dem Karabiner der Kopf zertrümmert wird oder dass man sie in einen Sack stopft und vergast..."
Rutka scheint hin und her gerissen. Sie macht sich Gedanken über ihren ersten Kuss, den sie noch nicht erhalten hat. Über Gefühle, die sie nicht näher beschreiben kann. Halt wie ein juunges Mädchen. Dann wieder, wenn sie über die Gräuel des Ghettos berichtet, klingt sie abgeklärt, wie eine Erwachsene. Sie möchte arbeiten.
"Kommunistin sein und nicht arbeiten, das passt nicht zusammen."
Wer die polnische Sprache beherrscht, kann Rutkas Tagebuch auch im Original lesen, denn die Seiten sind in diesem Buch mit abgebildet.
Ich höre von immer mehr Menschen: Es ist genug, ich kann nichts mehr hören, lesen oder sehen vom 2. Weltkrieg. Es ist doch schon so lange her.
Miriam Pressler bringt es in ihrem Nachwort auf den Punkt:
"Sechs Millionen ermordeter Juden ist eine abstrakte Zahl, so kalt und distanziert wie eine statistische Aufzählung, und je öfter man sie hört, umso geringer wird das Erschrecken. Dabei ist es dieses Erschrecken, das wir unbedingt brauchen, damit wir lernen, Gefahren rechtzeitig zu entdecken und beginnenden Fremdenhass im Keim zu ersticken. Wir dürfen Ereignisse, die vielleicht jedes für sich unbedeutend zu sein scheinen, nicht mehr vernachlässigen, wir müssen auch die möglichen Folgen bedenken. Deshalb ist es notwendig, auch ein so kurzes, fragmentarisches Tagebuch eines unbekannten jüdischen Mädchens zu veröffentlichen, das zum Opfer von Ausgrenzung und Verfolgung wurde."
Miriam Pressler bringt uns Rutka in ihrem Nachwort noch einmal ganz nahe. Und wie Miriam Pressler, wünsche auch ich diesem Büchlein noch sehr, sehr viele Leser. Damit nichts vergessen wird. Damit wir uns immer erinnern.
Versuch über das Warten
Richard ist Professor, und das macht einen Großteil seiner Selbstwahrnehmung aus. Er ist Professor, aber er wurde gerade in den Ruhestand verabschiedet. Er ist Professor, und ihm geht darüber der Lebenssinn verloren.
Gehen, ging, gegangen.
Weil er selber gerade gehen musste, nimmt er sie erst gar nicht wahr – die Geflüchteten, die protestieren, weil sie schon wieder gehen sollen.
Die keine Heimat finden, nirgendwo, weil sie keiner haben will.
Dass er sich dann doch mit ihnen beschäftigt, ist erst reiner Egoismus. Weil er sich langweilt. Weil er eine Aufgabe braucht. Weil er, der jetzt alle Zeit der Welt hat und sie nicht haben will, mit jemandem über das Wesen der Zeit sprechen möchte.
“Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind.”
Also erstellt er in penibler Vorbereitung einen umfangreichen Fragenkatalog, packt Notizbücher und Stifte ein und zieht los. Nur ein Forschungsprojekt – eine Möglichkeit, sich auch als Rentner noch den eigenen Wert als Wissenschaftler zu beweisen.
Sympathisch ist Richard zunächst nicht. Er ist ein Mensch, der rigide an seinen Vorstellungen festhält und dabei sehr wenig auf die Vorstellungen anderer Menschen eingeht. Nur allzu vage und oberflächlich bemüht sich der Bildungsbürger darum, ein guter Mensch zu sein.
Seine Betroffenheit ist verwaschen und halbherzig, mehr Selbstzweck als echtes Mitleid(en).
Richards Versuch, sich das Schicksal der Geflüchteten aus seiner klassischen Bildung heraus zu erklären, scheitert kläglich. Auch dass er seine eigene Erfahrung als entwurzelter DDR-Bürger mit den Erfahrungen von Menschen vergleicht, die den Krieg in seiner brutalsten Form erlebt haben, hat den schalen Beigeschmack des Egoismus.
Kurz: Richard steht über lange Passagen viel zu sehr im Mittelpunkt. Dabei entfaltet der Roman überall dort eine überaus starke Eindringlichkeit und Wirkung, wo den Geschichten der Geflüchteten Raum gegeben wird.
Dort wirkt er authentisch und unverbrämt, dort regt er zum Nachdenken an und erweckt Emotionen. .
Für mich war die vorherrschende Emotion Zorn.
Nicht nur Zorn auf die Kriegstreiber in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, , sondern auch Zorn auf die europäische Bürokratie, die sie zu einem menschenverachtenden Spießrutenlauf zwingt, der oft von vorneherein vergeblich ist. Nicht zu vergessen: Zorn auf die Menschen, die alle Flüchtlinge vorverurteilen.
Genau diesen Menschen würde ich das Buch gerne als Pflichtlektüre verordnen.
Richard verkörpert in den ersten Kapiteln viele ihrer Vorurteile und Fehlinterpretationen. (Ja, da ist er manchmal sogar zu offensichtlich ein Stellvertreter für diese Menschen.)
Je mehr er sich jedoch mit den Geflüchteten beschäftigt und sie als Menschen sieht statt als Forschungsobjekte, desto mehr begreift er, wie unzureichend sein Fragekatalog ist, und beginnt, endlich auf einer Augenhöhe mit ihnen zu sprechen. Es entstehen Freundschaften, die Richards rigide Vorstellungen der Welt aufbrechen.
Awa, Raschid, Rufu, Osaboro, Ithemba und viele mehr… Ihre Geschichten sind das Herzblut eines Buches, das nicht perfekt ist, aber durchaus lohnende Lektüre.
Was mir in diesem Buch ein wenig zu kurz kommt ist die Frage, wie Menschen aus einem ganz anderen Kulturkreis damit umgehen, wenn sie sich hier einleben wollen und sollen – was für ein Konfliktpotential darauf entsteht, und wie Integration dennoch möglich ist. .
FAZIT
Richard, seines Zeichens emeritierter Professor der Altphilologie, wird aufmerksam auf den Protest und Hungerstreik einer Gruppe von Geflüchteten in Berlin. Da ihm mit seiner Berentung der Lebenssinn abhanden gekommen ist, beginnt er im Alleingang ein Forschungsprojekt, bei denen er die jungen Männer zu ihrem Leben und ihrer Flucht befragt.
Die Geschichte ist großartig, wenn tatsächlich die Geschichten der Geflüchteten im Mittelpunkt stehen – und nicht Richard mit seinem Hintergrund als ehemaliger DDR-Bürger / Ehebrecher / Philologe, denn in diesen Passagen verliert das Buch viel an emotionaler Wucht.