Rückkehr nach Birkenau: Wie ich überlebt habe

Die Dekade von 1940 – 1950 betitelt die Autorin Agnès Poirier als die „magischen Jahre“ von Paris. Warum magisch? Nach der Lektüre dieses faszinierenden Sachbuchs kann ich es für mich beantworten. Paris war schon in den 20iger und 30iger Jahren Treffpunkt von Intellektuellen und Künstlern, hier wurden neue Kunstströmungen geboren und das vergangene Jahrhundert endgültig abgestreift.
Aber unter dem Druck der Besatzung, der Kriegsjahre und der Nachkriegszeit entstand noch etwas anderes. Neue Lebensentwürfe wurden erprobt, Philosophen im Diskurs mit Lebenskünstlern und Intellektuellen, man entwickelte Theorien, das alles in vielen Facetten und Strömungen.
Besonders beeindruckend war für mich, wie die Agnès Poirier diese Atmosphäre, dieses Flair der Stadt einfängt und lebendig werden lässt. Wie ein spannender Roman liest sich diese Kulturgeschichte. Es ist ein Who is Who der Intellektuellen, die bis heute Kunst und Literatur prägen.
Während in anderen europäischen Metropolen durch die Kriegsjahre quasi ein geistiges Vakuum herrschte, versammelten sich Paris die Geistesgrößen dieser Zeit. Hier zeigt die Autorin die Verbindungen, die Freundschaften und Leidenschaften, die Paris zu einem intellektuellen Hot Spot werden ließ.
Auch wenn sich das Buch wie spannend und faszinierend wie ein Roman liest, lädt ein ausführliches Personenregister, eine detaillierte Chronologie und viele Anmerkungen und Literaturhinweise zu einer weiterführende Beschäftigung mit diesem Jahrzehnt ein.
Die Ausstattung des Bandes ist gelungen, ein Lesebändchen in den Farben der „Grande Nation“ und einige historische Fotos runden das Bild ab.
Bei mir hat die Autorin viel Interesse geweckt und einige Biografien aus den Anmerkungen stehen schon auf meiner Leseliste.
„[…] das Glück erlangt man nur über den Einklang seines Wesens mit dem Ton, der es ausdrückt.“ (S. 66)
Hélène Grimaud – den Klassikaffinen Menschen bzw. denjenigen, die keine Klaviermusik hören und zu schätzen wissen – wird dieser Name nichts sagen. Alle anderen sollten von der Genialität dieser in Frankreich geborenen Pianistin zumindest schon mal gehört haben, (mindestens) eine CD von ihr besitzen oder sie im besten Fall sogar schon mal live erlebt haben.
Nun, trotz meines Avatar-Namens hatte ich bisher nur in einschlägigen Fachzeitschriften das Vergnügen mit Frau Grimaud. Aber noch vor Beendigung der Lektüre von „Wolfssonate“ ward die erste CD bestellt, auf deren Lieferung ich jetzt sehnsüchtig warte *g*.
Hélène Grimaud erzählt in ihrer Autobiografie selbstkritisch mit augenzwinkernden Zwischentönen von ihrer Kindheit, ihren Marotten und Eigenarten (so konnte sie beispielsweise Stunden damit verbringen, exakt symmetrische Bücher- und Papierstapel zu bauen sowie Kleidungsstücke so lange zu bügeln, bis wirklich alles daran gleichmäßig gefaltet und zusammengelegt war), ihrer ersten Begegnung mit dem Klavier, ihrem Aufbegehren gegen die klassischen Strukturen und nicht zuletzt ihrem Starrsinn, der sie auch nicht davon abhielt, einem großen Dirigenten und Pianisten wie Daniel Barenboim ein stures „Nein“ entgegenzuschleudern, nur um hinterher von Leon Fleisher respektvolle Bekundungen bzgl. ihres „eigenen“ Weges entgegen zu nehmen.
„Ein Pianist ist ein Architekt, der sich des Rhythmus als Grundmaterial bedient.“ (S. 165)
Hélène Grimaud beschränkt sich in ihrer Autobiografie aber nicht nur auf ihren musikalischen Werdegang, sondern öffnet den Leserinnen und Lesern auch das Tor zu ihrem Inneren. Hier wird schnell deutlich, wie zerrissen und hart sie gegenüber sich selber ist. So erfährt die Leserschaft z. B. von ihrer Vorliebe, sich selbst Schmerzen zuzufügen (auch hier wieder Symmetrie: war das eine Knie kaputt, musste auch das andere herhalten usw.). Und so widmet sie einen Abschnitt im Buch ihren Händen – dem ultimativen „Werkzeug“ eines jeden Pianisten – die sie in früheren Jahre auch gerne verletzt hat. Es ist eine Abrechnung mit sich selbst, eine Entschuldigung…
Dazwischen erweist sie sich als ausgewiesene Expertin der Legenden, der Mythen, der Sagen sowie der Lebensweise des Wolfes und lässt die geneigte Leserschaft an ihrem Wissen teilhaben. Hier kommt nämlich neben der Liebe zur Musik noch ein weiterer Aspekt ihres Lebens ins Spiel, mit dem sie sich ähnlich fanatisch beschäftigt: der Aufzucht von Wölfen (sie betreibt ein eigenes Wolfscenter unweit New Yorks) und der Aufklärungsarbeit bzgl. dieses überaus sozial kompetenten Tieres (in manchen Dingen kompetenter als der Mensch…).
Und so drückt sie kurz vor Schluss ihres großartigen Buches die Essenz dessen aus, was sie empfand, als sie 2001 stolze Besitzerin ihres ersten Konzertflügels wurde.
„Ich hatte die Wölfe. Ich hatte die Musik. Ich hatte die Musik der Wölfe im Mondschein und in meinem Spiel die ganze Animalität, die den Künstler rettet.“ (S. 236)
Und so bleibt mir, liebe Leserinnen und Leser, am Schluss nichts weiter, als eine unbedingte und absolute Leseempfehlung abzugeben. Die letzten Takte dieser Wortsymphonie überlasse ich noch einmal Hélène Grimaud – ist ihren (fast) letzten Worten doch nichts mehr hinzuzufügen:
„Was möchte ich Ihnen vermitteln? So wie der Wolf die Erde besitzt und der Fisch den Ozean, wie die Vögel den Himmel und wie die Götter das Feuer besitzen, so muss auch der Mensch sein Element finden, das fünfte Element, das einzige, aus dem wir niemals ausgeschlossen sein werden. Die Kunst ist dieses Element, ohne dass wir unser Leben lang, unglückliche Waisen, umherirren; ohne dass wir uns von der Natur und vom Kosmos entfernen, weil wir taub, blind, gefühllos, unempfindlich werden.“ (S. 255)
»Das rote Adressbuch« habe ich überraschend als Rezensionsexemplar bekommen, worüber ich jetzt im Nachhinein sehr froh bin, da es eine wirklich schöne, berührende Geschichte enthält, die mir wahrscheinlich noch lange im Kopf bleiben wird.
Erzählt wird meistens aus der Sicht von Doris (unserer Protagonistin), gegen Ende des Buches dann manchmal auch von Jenny (ihrer Großnichte). Die Kapitel sind immer mit »Das rote Adressbuch« und dem jeweiligen Namen der Person, die in dem Kapitelvorkommt, betitelt.
Wenn ich dieses Buch mit anderen Büchern vergleiche, die ich in letzter Zeit gelesen habe, dann ist festzustellen, dass ich »Das rote Adressbuch« ziemlich flott verschlungen habe, was sicher daran liegt, dass die Kapitel recht kurz gehalten sind, weswegen ich schnell in den "Ach,-wieso-nicht-noch-ein-Kapitel?-Modus" gefallen bin.
~ »Der Mensch will immer so alt wie möglich werden, aber wissen Sie was, es ist überhaupt nicht schön, die Letzte zu sein. Dann hat das Leben keinen Sinn mehr, wenn alle anderen tot sind.« ~
(S. 69)
Der Schreib- und Erzählstil ist ein sehr ruhiger, aber durchaus flüssiger. Inhaltlich findet man hier vor allem bedrückende Themen, die etwas melancholisch stimmen. Doris erzählt nämlich von ihrer Jugend- und Erwachsenenzeit in Schweden, Frankreich und Amerika, die alles andere als erheiternd war. Zwischendurch liest man dann von der 96-jährigen Doris aus der Gegenwart. Man kann sich also gut vorstellen, dass auch diese Kapitel nicht so rosig zu lesen sind, denn mit ihren 96 Jahren ist Doris schon ziemlich angeschlagen und hat, nachdem fast alle ihre Freunde, Bekannten und Verwandten gestorben sind, nicht mehr so viel zu lachen ...
Man verfolgt als Leser also Doris' ereignisreiches, turbulentes, aber teilweise auch sehr trauriges, enttäuschendes Leben in Rückblicken und Briefen, die sie ihrer geliebten Großnichte Jenny vermacht.
Dieser großartige Schreibstil, gepaart mit diesen bestürzenden und spannenden Ereignissen, haben es geschafft, dass ich dauergefesselt war und das Buch am liebsten auf einmal verschlungen hätte. Es finden sich zwischendurch auch immer wieder ein paar weise Sätze, die nachdenklich stimmen. Ein paar davon habe ich mir für meine Sammlung schöner Zitate herausgeschrieben.
~ Madame hat mir beigebracht, dass der Mensch die unterschiedlichsten Erscheinungsformen annehmen kann. Dass das Erwartete nicht immer auch das Richtige sein muss, dass es viele Wege gibt auf dieser Reise, die für uns alle gleich endet. Mit dem Tod. Dass wir an viele Kreuzungen kommen, die schwere Entscheidungen erfordern, aber der Weg dahinter wieder gerade verläuft. Und dass Kurven nicht immer gefährlich sein müssen. ~
(S. 32)
Wer gerne über die Liebe liest, es aber nicht kitschig mag, ist beim roten Adressbuch goldrichtig. Mit Lundbergs ruhiger und einfühlsamer Schreibweise trifft sie wahrscheinlich den Geschmack von sehr vielen Lesern. Ich für mich habe diese traurig-schöne Geschichte sehr genossen und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Inhalt auch für andere Leser ein großer Genuss ist.
Ein Kleid das Hoffnung und Kraft zum Überleben gibt
"Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon." (Max Mannheimer)
März 1944 die 19-jährige Ginette Kolinka wird zusammen mit Teilen ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Eine schreckliche Zugfahrt unter viel Hunger, Entbehrungen und Tod muss sie überstehen. Was sie nicht ahnt, ist das sie getrennt werden und nach der Trennung sich nie wiedersehen werden. Unter viel Hunger, Folter und Entbehrungen durchlebt sie die letzten Monate bis Kriegsende in Birkenau, ehe es zum Todesmarsch geht. Hunger, Kälte und die Angst vor dem Tod retten ihr durch viel Zufall das Leben. Unter anderem hat auch ein Kleid von Simone Veil ihr maßgeblich Hoffnung geschenkt. Lange konnte Ginette nichts von ihren Erlebnissen schildern, erst als man Zeitzeugen für Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" suchte, konnte sie sich öffnen. Heute begleitet sie Schulklassen an den Ort des Grauen und erzählt ihnen wie dieser Ort wirklich aussah und was dort geschah.
Meine Meinung:
Das eindrucksvolle Cover mit dem Kleid und dem Haupttor von Birkenau ist sehr bewegend. Ich wollte dieses Buch deshalb unbedingt kennenlernen, war jedoch etwas enttäuscht wegen der Kürze dieses Lebensberichts. Der Schreibstil zwar bewegend, doch eher etwas nüchterner gehalten wie ich es sonst von anderen Lebensberichte von Überlebenden kenne. Natürlich war Ginette Kolinka nicht so lange in Birkenau wie mancher andere Zeitzeuge. Trotzdem kann sie von wirklich vielen schrecklichen und brutalen Vorfällen berichten, die sie in dieser Zeit am eigenen Körper erleben musste. Das die inzwischen fast 95-Jährige aber auch ein paar Gedächtnislücken hat, kann ich sehr gut nachvollziehen und sie macht da auch keinen Hehl daraus. Trotz allem hätte ich mir ab und an ein bisschen mehr Tiefgang gewünscht. Irgendwie hat mich dieses Buch nicht so emotional bewegt, wie andere Lebensberichte, die ich zuvor gelesen habe. Am schlimmsten fand ich den Todesmarsch, den sie gegen Ende schildert und dessen Vorstellung mich alleine schon sehr erschüttert. Dass die Wiederkehr nach Birkenau ihr am Anfang Angst gemacht hat, kann ich sehr gut verstehen. Dass man als Besucher nicht mehr alles spüren und nachvollziehen kann, was dort passiert ist, kann ich eher nicht sagen. Bei meinem Besuch habe ich sehr wohl das Elend gespürt, was von diesem Ort ausgeht. Ich denke, wenn man mit offenen Ohren und Augen dort hingeht, dann spürt man sehr wohl, was von diesem Ort ausgeht. Zumal, wenn man so viel über den Holocaust gelesen hat wie ich zum Beispiel. Ich jedenfalls finde es gut, dass sie heute noch Schulklassen nach Birkenau begleitet. Auch wenn sie hier in diesem Buch eindrucksvoll von ihren Erlebnissen berichtet, hätte ich doch ein bisschen mehr als nicht mal 100 Seiten eines E-Books erwartet. Trotzdem berichtet sie hier, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, von einigem, was sie mitmachen musste. Ein bisschen mehr Emotionen und weniger Nüchternheit hätte dem Buch aber noch gutgetan. Deshalb von mir leider nur 4 von 5 Sterne.