(Wieder) Zeit für Utopien

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hi people,
nachdem ich mich diese Woche wieder voll in meine türkischen Studien gestürzt habe, was nicht heißt, dass ich es morgen fließend spreche, und dabei festgestellt habe, dass wir einige Lehnwörter aus dem Türkischen haben, beschäftigt mich außerdem der Gedanke, dass drei radikale Strömungen in der Gesellschaft aufgekommen sind, die ihre Spuren entweder hinterlassen werden oder die Gesellschaft sogar ganz umstürzen - und dann war da noch ein Artikel über Annalena Baerbocks Kleidungsstil.

Türkisch:
Gün-t -her heißt nichts anderes als "jeder Tag" her gün ist jeder Tag. Ganz nett wirds in der Koseform "Günni" - das würde ich mal ziemlich frei mit "Tagchen" übersetzen. Und wenn ich im Fernsehen schon mal türkische Mädchennamen gehört habe, war das der da: Yaaamur (yağmur, auf dem g muss so ein Dach sein, das heißt, der Buchstabe wird nicht gesprochen). Das heißt nichts anderes als "Regen".
Keine Sorge, das wars schon mit meinen türkischen "Erkenntnissen".

Augenmerk auf der Mode statt auf der Politik:
Gestern las ich einen Artikel, in dem man sich lobend über den Kleidungstil der Außenministerin äußerte. Ich weiß nicht genau, ob ich empört bin. Man war eine Frau und sie war begeistert. Ich muss sagen, dass ich nicht anti reagierte, als man sich über Michelle Obamas Outfits äußerte. Was geht mich Michelle an? Obwohl ich vllt gerne einen Artikel über Mme Albrights Modestil gelesen hätte ;-). Und was die Mannen angeht, weiß ich, dass ExBK Schröder höchstwahrscheinlich immer sein Haar färbte und Armanianzüge trug (oder von einem anderen Modefuzzidesigner) - aber das wars auch schon. Ich frage mich und euch, muss das sein? Kaum taucht eine Frau in der Chefetage der Politik auf, gehts um Stilfragen. Um Mode. Haben wir nichts anderes zu bereden? Ich finds unverschämt! Und, ja, doch, sexistisch. - Wie denkt ihr?

Radikalismus:
Letzte Woche redeten wir darüber, ob unsere Verwandten und Freunde und Nachbarn, die wegen der Coronovorschriften auf die Straße gehen, verbal noch erreichbar wären. Ich bin ja immer fürs Miteinanderreden! Allerdings gehören da immer zwei dazu. Einer allein führt einen Monolog.
Ich stelle momentan gerade drei radikale Strömungen in der Gesellschaft fest.
1. Die Coronoleugner - Impfskeptiker - Impfverweigerer
Die Bandbreite ist hier groß. Wo ich in der Impfdebatte stehe bezüglich Impfpflicht, weiß ich nicht genau. Selbst geboostert möchte ich dennoch niemanden dazu zwingen, sich impfen zu lassen. Einerseits. Andererseits. Aber das ist gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass es eben Menschen gibt, die in ihrer Verbohrtheit (Corona gibts nicht, ist harmlos, ist ein Mittel, um den gefügigen Staatsbürger zu bekommen) - und in ihren Aufmärschen jede Regel missachtend, sich radikalisiert haben und einer Debatte nicht mehr zugänglich sind, zusätzlich, dass sie die Presse bedrohen.
2. Die Genderer: Doch, sie sind eine radikale Gruppe. Sie zwingen nicht nur einer Mehrheit ihren Willen auf (das ist genau das gegensätzliche Prinzip einer Demokratie), sondern sie sind auch nicht diskussionsbereit. Ich lese gerade ein Sachbuch, und in einem Sachbuch ist es äußerst störend, wenn bei jedem Substantiv mehrere Begriffe da stehen (Bürger und Bürgerinnen). Ich konstruiere mal einen Satz: Liebe Bürger und Bürgerinnen, wenn ihr die Stoffe der Näherinnen und Näher der Designerinnen und Designer anschaut, dann werden die Ärzte und Ärztinnen unter euch und die Jurstinnen und Juristen unter euch merken, ...blabla". Diese Doppelungen blasen einen Text unnötig auf. Bis man da mal zum Sachverhalt kommt, ist man beträchtlich älter geworden. Und das muss man auch nicht um der Sache willen (Politikum) hinnehmen. Bullshit. Sprache neigt von Natur aus (dh. sich selbst überlassen) zur Vereinfachung, die Genderer aber bewirken das krasse Gegenteil.
3. Die dritte Gruppe ist die, die überall, quasi überall Rassissmus wittert. In den USA wird es hier besonders radikal. Aber auch hier bei uns in Europa tritt bald eine Schieflage ein. Oder ist schon. Denn es wird dabei völlig übertrieben. Ich habe "Drei Kameradinnen" kritisch besprochen. Und schwupps - muss ich mich beschimpfen lassen! Wir sind gegen Rassismus, ja, aber wir sind auch dagegen, uns fürs Weissein zu schämen.
Ich habe gelesen, als jemand schrieb "derjenige, den es trifft, sagt, ob es weh tut". Das stimmt nur eingeschränkt (allerdings ist ein Körnchen Wahrheit enthalten). Es muss immer noch um Tatsachen gehen, nicht um bloße Befindlichkeiten. Nicht jede Ungerechtigkeit im Leben eines farbigen Menschen ist auf Rassismus zurückzuführen. Schließlich leben wir nicht in einer vollkommenen Welt. Leider. Würde ich auch lieber. Ist aber nicht. Die Sachlage erinnert mich an das schwierige Handling von Vergewaltigung. Ein richtiges Anliegen, das juristisches u n d gesellschaftliches Augenmerk verdient. Aber der Schrei "Vergewaltigung" wurde (nämlich von einigen pösen Frauen) auch eine Waffe, die gerne gegen missliebige Lehrer und andere missliebige Männer eingesetzt wurde. So ist es mit dem Aufschrei "Rassismus" auch. Berechtigtes Anliegen, wird aber auch als Waffe eingesetzt. Da gehe ich nicht mehr mit!
Und es sollte mich nicht wundern, wenn es noch mehr radikale Gruppierungen gäbe, die ich hier nicht erwähnt habe und die ich momentan nicht so in meinem Bewusstsein habe.
Dazu träut Kriegsgefahr!!! und ich habe den Slogan vor Augen "was, wenn niemand hinginge".
Die politische Lage macht mir gerade Sorge. Innenpolitisch wegen des an mehreren Ecken aufkommenden Radikalismus. Außenpolitisch wegen Muskelspiels.
Wir brauchen deshalb dringend Romane mit utopischen Aussichten. Einen Roman, in dem es keinen Verkehr mehr gibt, wie wir ihn kennen. Keine Mode und keine Genderer. Äh, ich meine, keinen Radikalismus. Allerdings nicht so wie in 1984. Ich meine nicht Dystopien. Sondern wunderbare Utopien. Eine schöne Welt. Kein CO2 Ausstoß. Keinen Atomabfall. Keine Kriege. Keine Gewalt. Keine Schieflagen. Kein Hunger. Keine Misshandlung von Tieren. Kein Töten von Tieren. Kein Schönheitswahn. Und die Suche nach dem Heiligen Gral ist zumindest filmemässig zu einem guten Ende gekommen!
Gibt es das alles, solange Menschen existieren oder gibt es eine schöne neue Welt nur ohne diesselben? Ich bin ein wenig ratlos. Ach, ich merke, ich rede vom Paradies. Vom Titel her hätte ich da ein Passendes. Ob auch Paradiesisches drinsteht, bezweifle ich. Ich habs nicht gelesen. Ihr?

Wer schreibt/entwirft die nächste Utopie? Eine KI?
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Eure Donnerstagswanda
 
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tinderness

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Wien und Wil
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Drei Bemerkungen dazu:
(1) Sich über die Kleidung einer Politikerin auszulassen, ist eine typische Verhaltensweise jener Medien, die Frauen in der Politik mit zweierlei Mass behandeln wollen. Mode entwertet so ihr Handeln. Über die Kleidung von Männern würden man das nie im selben Masse tun. Sie sind über Modelob oder -vorwürfe erhaben.
(2) Ich würde mir nie das Gendern in den Texten madig machen lassen, denn es macht sehr wohl Sinn. Dass dies manche nur unelegant zu tun vermögen, steht auf einem anderen Blatt. Das für die Radikalisierung einer Gesellschaft verantwortlich zu machen, ist nicht nur Humbug, sondern schlicht und ergreifend selbst reaktionär. Dass Frauen in der Sprache nicht vorkommen dürfen - das war jahrhundertelang geübter Radikalismus. Darauf hinzuweisen ein Akt der Selbstverständlichkeit.
(3) Die Sehnsucht nach Utopien ist angesichts der Desolatheit der Welt verständlich: es gibt ja bereits ein weites Spektrum von "Hopepunk" - Filmen und - Literatur. Ob es auch von Überlebenstüchtigkeit zeugt ist, die Desolatheit dieser Welt zu leugnen, das steht auf einem anderen Blatt. Das Gefasel über die positive Kraft des Lebens hatten wir lange genug: so lange, dass das Leben inzwischen beschlossen hat, auf seine Zerstörer einfach zu vergessen.
 
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Renie

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@Wandablue , meine Liebe. Deinen Ausführungen nach zu urteilen, hast Du scheinbar den Kaffee auf. :eek: Es ist aber auch zum Verrücktwerden, was momentan in unserer Republik abgeht. Die drei, von Dir genannten Strömungen beobachte ich auch und sie stoßen mir ebenfalls in unterschiedlichen Ausprägungen auf. (Denkt Euch an dieser Stelle ein grünes Emoji). In Summe sind wir eine Empörungsgesellschaft geworden, die sich über alles und jedes empört. Noch nie hat der Begriff "Political Correctness" solch ein negatives Geschmäckle gehabt, wie in der jetzigen Zeit. Und es gibt immer mehr Menschen, die sich zu den Hütern jener Political Correctness stilisieren.

Das Outfit von Frau Baerbock interessiert mich nicht. Genauso wenig wie mich die Anzüge von Herrn wen auch immer interessieren. Vielleicht würde mir auffallen, wenn Politiker bzw. Menschen der Öffentlichkeit besonders scheußlich oder unangemessen gekleidet sind. Mich ärgert eher, dass Outfits überhaupt eine Nachricht wert sind. Doch solange es Leser / Zuschauer / Zuhörer gibt, die sich solch einen Quatsch einverleiben, wird es auch Meldungen dazu geben.
Nun kann man natürlich das Augenmerk, das auf die Kleidung einer Politikerin gerichtet wird, als sexistisch bezeichnen. Doch der Spieß lässt sich auch umdrehen. Die Klamotten und Frisuren der männlichen Politiker sind langweilig und unauffällig, also absolut nicht erwähnenswert. So ein Mann hat nun mal nicht die Möglichkeiten, die eine Frau hat. Was gäbe es da also groß zu berichten?
Interessieren würde mich aber schon, was passieren würde, wenn der Olaf morgen mit vollem Haar vor der Kamera stünde. Was dann wohl in der Presse los wäre ;)?

Diese Sache mit der Gender gerechten Sprache geht mir auch auf den Keks. Als weibliches Individuum kann ich aus tiefster Überzeugung sagen, dass ich mich nicht durch meine Muttersprache diskriminiert fühle. Ich fühle mich eher durch diejenigen diskriminiert, die mich eines Besseren (in diesem Fall Schlechteren) belehren und mich damit in eine Opferrolle zwingen wollen. Manche Diskussionen führe ich nicht. Und das ist eine davon.
Aber jeder so, wie er möchte, und ich, wie ich will.

Auf das Rassismus-Thema gehe ich jetzt nicht mehr ein, hab schon so viel geschrieben.

Nun zu den Büchern. Mir fallen spontan keine Utopien ein. Ich bin eher der Dystopie-Leser - vermutlich gibt es mir ein gutes Gefühl, dass es immer noch schlechter gehen kann, oder ich sehe eine Dystopie als Warnung an, was passieren kann, wenn man gegen den Schwachsinn in dieser Welt nicht angeht. Oder wie mein Göttergatte immer zu sagen pflegt: "Man darf den Idioten nicht die Welt überlassen."
Ich schätze aber, dass viele Dystopien auch als erstrebenswerte Lebensform durchgehen - je nach dem, welcher Idiot die jeweilige Dystopie liest.;)
 

Literaturhexle

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Was hast du dir wieder Mühe mit deiner Plauderei gegeben, Wanda!

Ich bin in vielem deiner (und Renies) Ansicht. Das Gendern nervt mich insbesondere dort, wo ich noch Artikel und Verben anpassen muss. Das macht einen Text dann richtig umständlich. Solange es nur Leser*innen sind, kann ich mittlerweile damit leben.

Dass man sich über Baerbocks Kleidung mokiert, finde ich auch wieder typisch. Die Männer sind mit Anzug, Hemd und Krawatte komplett. Frau hat mehr Möglichkeiten, die A.B. wunderbar zu nutzen weiß. Sie sieht gut aus, kleidet sich mit Stil, ist deutlich jünger als der Durchschnitt.... Das kann die Presse schon mal irritieren. Ich hoffe, dass das nur anfängliche Nachrichten sind und man sich nach einer Eingewöhnung aufs Fachliche konzentriert. Ja, es ist wohl sexistisch. Aber Männer und Frauen kann man auch nicht völlig gleich machen. Angela hat mit Sicherheit auch mehr Zeit in Makeup und Frisur investiert als ihre männlichen Kollegen. Ursachenforschung erspare ich mir.

Beim Rassismus-Thema bin ich komplett bei dir. Da wird meines Erachtens das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht.

Ich lese weder Dystopien noch Utopien. Interessiert mich einfach (noch?) nicht.
 

Emswashed

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Ach Wanda, soviele Themen auf einmal, wo soll ich da anfangen? Aber nein, eigentlich nicht. Es beschreibt genau die Unruhe, die uns alle mehr oder weniger umtreibt und die sogennanten Nachrichten beherrschen.
Es lenkt uns ab, es lenkt uns von wirklich Wichtigem ab.
Der Ärger über die Coronaleugner und Impfgegner, die womöglich unsere Intensivbetten belegen.... leknt ab, von der jahrzehntelangen Misswirtschaft und Zusammenstreichungen im Gesundheitswesen.
Rassismusvorwürfe lenken ab von Wohnungsnot, prekären Arbeitverhältnissen und Nazigesinnung im Polizeiapparat.
Und die Genderdebatte ist die allerfrecheste überhaupt. Sie lenkt nämlich ab vom Neusprech der Politik und Wirtschaft. Anstatt uns zu erklären, was Grüne Energie bedeutet (schließlich kommt der Strom ja auch nicht gelb aus der Steckdose), sollen wir lieber im Dschungel der *innen und er/sie verloren gehen, pfft.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Sprache verändert sich im allgemeinen von unten nach oben. Und es gibt in unserer Sprache durchaus solche Veränderungen, die ich neugierig beobachte. Ihr habt sie zum Teil sogar schon selbst angewendet. Es gibt z.B. die Wortbeugung "erwartbar" gar nicht, es müsste "zu erwarten" heißen, aber die Endung hat sich eingeschlichen und nach anfänglichem Zögern befinde ich sie für gut. Zwar: nimmt sie was weg von der Schönheit der Sprache, aber sie vereinfacht auch und warum nicht.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Und die Genderdebatte ist die allerfrecheste überhaupt. Sie lenkt nämlich ab vom Neusprech der Politik und Wirtschaft. Anstatt uns zu erklären, was Grüne Energie bedeutet
Zum Beispiel. Bei deinem Beitrag, liebe Ems, bräuchte ich mehr als zwei Daumen, um sie hochzuhalten. Der Feminismus steckt im Gendern fest. Veränderungen brauchen wir auf dem Gebiet Führungspositionen, Medien (wie wird über Politikerinnen berichtet), Gehaltsunterschiede bei gleicher Arbeit. Das wäre ein echter Schritt in die richtige Richtung. und dgl. mehr.
 

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