Thema "Vati" von Monika Helfer ab 18. Januar 2020

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Vati: Roman von Monika Helfer
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Klappentext:
Ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber. Monika Helfer umkreist das Leben ihres Vaters und erzählt von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Von dem vielen Platz und der Bibliothek im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen, von der Armut und den beengten Lebensverhältnissen. Von dem, was sie weiß über ihren Vater, was sie über ihn in Erfahrung bringen kann. Mit großer Wahrhaftigkeit entsteht ein Roman über das Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen, eine Suche nach der eigenen Herkunft. Ein Erinnerungsbuch, das sanft von Existenziellem berichtet und schmerzhaft im Erinnern bleibt. „Ja, alles ist gut geworden. Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden.“


Einige von uns halten bereits ein Exemplar dieser Neuerscheinung in Händen und so ergab sich der Wunsch, den Roman miteinander zu lesen.
Selbstverständlich dürfen sich auch andere Leser anschließen:)

Der Roman "Vati" erscheint am 25. Januar 2021

@Barbara62 @RuLeka @ulrikerabe @Literaturhexle
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Seite 57:
Ich bin bereits wieder ganz geflasht vom Schreibstil der Autorin. Mit größter Ruhe und einfachen, kurzen Sätzen beschreibt sie das Leben ihres Vaters, wie es sich in ihren Erinnerungen und aus Erzählungen anderer darstellt. Auch er stammt aus ärmlichsten Verhältnissen. Genau wie ihre Mutter, die wir aus dem Roman "Die Bagage" schon kennen und die das Kind war, das vom Vater nie angeredet wurde, weil jener annahm, ein Kuckuckskind großzuziehen. Harter Tobak.

Monikas Vati hatte es auch nicht leicht. Als Sohn einer ledigen Magd und "des Bauern" durfte er in einer Hütte neben dem Hof wohnen. Offensichtlich war er sehr intelligent. Das fiel auch Baumeister Brugger auf, der ihm viel Lesezeit in der hauseigenen Bibliothek verschaffte, die der kleine Josef aber auch zum Abschreiben der Bücher nutzte, was Familie Brugger dermaßen befremdete, dass sie den Jungen künftig nicht mehr einluden. Versteht ihr das?
Geweckt hatten die Besuche aber seine Liebe zu den Büchern. Sie waren ihm fortan "heilig".

Sein Besuch des Gymnasiums in Salzburg findet 6 Monate vor der Matura ein Ende: Er wird zum Krieg einberufen. In Russland friert er sich ein Bein ab und lernt im Spital seine zukünftige Frau Grete kennen. Später wird er Verwalter im Kriegsopfererholungsheim, das auf der Tschengla in den Bergen liegt. "Das Paradies", wie es die Autorin nennt und ein paar berührende Episoden erzählt.
Nah gegenagen ist mir das Schicksal Ferdinands. Mit wie wenigen Worten man das Schicksal eines jungen Menschen beschreiben kann- und es damit umso intensiver wirken lässt:
[zitat]Schon fast am Ende des Krieges war er eingezogen worden. Und wurde gleich zusammengeschossen und lag im Dreck, und ein Kriegsfahrzeug fuhr ihm über das Bein, und ein nächstes über den Arm. Als er zurückkam, konnte er mit nichts mehr etas anfangen... S.50[/zitat]
Dreiviertel seines Verstandes hat er gleich mit auf dem Feld der Ehre gelassen... Nichts war mehr mit den schönen Dingen. Nicht mal 30 Jahre ist er alt geworden.
Aber Vati Josef hat ihm ein schönes Jahr auf der Tschengla beschert. Abends hat er vorgelesen, so fühlte sich "das Glück" an.

Man ist sofort in der Geschichte angekommen. Vielleicht noch schneller, wenn man die Anspielungen zur Bagage versteht, aber ich denke, sie sind auch ohne deren Kenntnis verständlich. Der Stil ist mehr als geradlinig, lässt alles Überflüssige weg, wirkt dadurch aber umso tiefer. Schaut euch das oben genannte Zitat an. Jedem Grundschüler würde dieser "und"-Stil verboten... Trotzdem trifft die Passage ins Herz.

Was ein großartiges kleines Buch!
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich stimme in Deine Begeisterung mit ein. Großartig, wie die Autorin es wieder versteht, mit wenigen Worten das Wesentliche zu sagen oder wie sie Worte auf ihre Bedeutung abklopft ( so z.B. der Unterschied zwischen wohnen und hausen).
Mich hat natürlich die Liebe des Vaters zu den Büchern angesprochen. „ Ihm war durch sein ganzes Leben hindurch der Gegenstand ebenso wichtig wie der Inhalt. ... Heilig war ihm das Buch.“ Da spricht er mir aus der Seele ( mir tut auch ein Knick oder sonst eine Beschädigung weh). Und auch hier: „ Er wollte ein Buch nicht nur lesen, er wollte es besitzen.“ Das verstehen wir .
Was für eine Armut herrschte in der Familie, aus der Josef stammt. Einfachste Verhältnisse, trotzdem entwickelt sich der kleine Josef zum gescheitesten Kind im Ort. Gut, dass sich der Pfarrer dann um den Jungen kümmert, wen auch nicht uneigennützig.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Seite 118:
Das ist ja gar kein Buch nur über den Vati. Die Mutti kommt auch darin vor und gar nicht so knapp.
Im Wohnheim hatte Tante Irma das Zepter über die wichtigen Dinge in der Hand, die Mutter kümmerte sich um das Unwichtige wie Vögel und Rehe füttern. Sie war eher flüchtig, sanft und labil.
Als der Vater sich das Leben zu nehmen versucht, bricht sie depressiv zusammen, igelt sich im Schlafzimmer ein. Irma ruft die Geschwister zusammen: Die Grete braucht euch jetzt! Wie schön, dass sie alle auf die Tschengla kommen. Das scheint sie irgendwie aus ihrem Kummer herauszureißen. Endlich kann sie weinen.

Warum hat der Vater sterben wollen? War es wirklich die Angst, wegen der Bücher als Dieb und Betrüger dazustehen? Dieser Grund wirkt auf mich so abstrakt, dass ich das gar nicht glauben kann. Schließlich hat der Mann drei (vier) Kinder, die kann man doch nicht einfach sitzen lassen, noch dazu mit einer schwächelnden Mutter? Die Autorin hat ja nur ihre kindlichen Erinnerungen zur Verfügung. Hat sie viellleicht etwas übersehen? Oder kam beim Vater wirklich noch etwas Dunkles vom Krieg hinzu, das man schwerlich benennen kann?
"Das Schlimmste aber sehe niemand, das sei in der Seele verschlossen und rüttle dort an den Stäben." S.89

Mir gefällt es, wie die Autorin erzählt und von der Gegenwart oder anderen Erinnerungen unterbrochen wird. Sie findet den Faden immer wieder, es ist ein ruhiges voranschreitendes Erzählen mit kleinen Abstechern.

Tschengla war das Paradies, das Glück. Das wird häufig betont. Nicht der Bücherklau macht das Paradies zunichte, nicht der geplante Umbau zum Hotel, sondern die Krebserkrankung der Mutter. Was für ein Schreck! In dieser Situation spürt man, dass auch der Vater gebrochen ist. Er lässt sich die Kinder aus der Hand nehmen, kümmert sich aber offensichtlich um die Mutter. Man stellt sogar ein Bett zu ihr, weil der Mann so große Not hat... Eine Geste, die damals gewiss noch nicht üblich war. Schrecklich, wenn eine junge Mutter von 4 Kindern sterben muss.
"Ohne Mutti ist ohne Würde." Schlimm.

Wunderschöne Formulierungen drücken viel Empathie aus, ohne ins Rührselige abzudriften. Das macht sie wirklich gekonnt.
 
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RuLeka

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Warum hat der Vater sterben wollen? War es wirklich die Angst, wegen der Bücher als Dieb und Betrüger dazustehen? Dieser Grund wirkt auf mich so abstrakt, dass ich das gar nicht glauben kann.
Das erscheint mir Grund genug. Er hat damit ja die Existenz seiner Familie aufs Spiel gesetzt und das wegen einer „ Spinnerei“. Womit soll er seine Familie durchbringen, wo sollen sie wohnen ? Er kennt Armut und da wollte er schließlich raus. Also Existenzangst, Schuldgefühle und Scham scheinen mir in der Situation Grund genug.
Natürlich ist seiner Familie damit nicht weitergeholfen, doch so rational denkt man hier wohl nicht.
Oder kam beim Vater wirklich noch etwas Dunkles vom Krieg hinzu, das man schwerlich benennen kann?
"Das Schlimmste aber sehe niemand, das sei in der Seele verschlossen und rüttle dort an den Stäben." S.89
Da mag sicher auch was mitspielen und wie Du schreibst, wir haben es hier mit Erinnerungen der Autorin zu tun, die damals noch ein Kind war.
 
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„Wenn alles schiefgeht, kann ich mich immer noch umbringen.“
Oder : „ Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf.“ Galgenhumor oder Pessimismus?
 
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Tschengla war das Paradies, das Glück. Das wird häufig betont.
Für die Kinder muss es schön gewesen sein auf dem Berg, in der Natur. Das Leben hier oben verlief sicher ruhig. Nur wenn die „ Kundschaft“ da war, kam Leben in die Bude.
Wobei die „ Kundschaft“ aus lauter Kriegsversehrten bestand, die man sonst nicht sehen wollte. Aber die Kinder wachsen wie selbstverständlich mit ihnen auf. ( Erinnert mich an den autobiographischen Roman von Joachim Meyerhoff „ Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, der auf dem Gelände einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufwuchs.)
 
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Natürlich ist seiner Familie damit nicht weitergeholfen, doch so rational denkt man hier wohl nicht.
Wenn man fast 4 Kinder hat, muss man aber doch weiter denken. Die Schmach bliebe doch auf ihnen sitzen...
Es wird die kindliche eindimensionale Urteilskraft sein und die Nähe zum Krieg. Näher werden wir an die Beweggründe kaum herankommen.
„Wenn alles schiefgeht, kann ich mich immer noch umbringen.“
Oder : „ Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf.“ Galgenhumor oder Pessimismus?
Zumindest wird der Freitod als potentielle Lösung in Betracht gezogen...
Wobei die „ Kundschaft“ aus lauter Kriegsversehrten bestand, die man sonst nicht sehen wollte.
Das empfand ich schon hart.
Als der Umbau zum Hotel anstand, sollten die Versehrten sogar weg von der guten Feriensaison in die schlechteren Jahreszeiten - um mehr Geld mit den Sommerfrischlern zu verdienen.
 
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Ende:
Die Autorin fährt mit den Episoden aus ihrem Leben fort. Die Zeit in der Südtirolersiedlung muss hart gewesen sein, nachdem man die Freiheit, die Harmonie und die Weite auf der Tschengla kennengelernt hatte. Kein Wunder, dass die Jahre auf dem Berg als "das Paradies" geheiligt werden. Trotzdem ist es ehrenwert, dass Tante und Onkel die drei mutterlosen Kinder aufnehmen - in ihrer kleinen Wohnung. Noch dazu dürfen sie im Wozi schlafen, einem Raum, der sonst nur selten betreten wird. Der einzige, der die Eindringlinge tyrannisiert, ist der große Cousin, der selbst Leid und Gewalt durch seinen Vater erfährt und das vielleicht irgendwie weitergibt. Wie lakonisch es auf Seite 122 heißt, dass sie nichts mehr von ihm gehört hat.Man hat sich aus den Augen verloren.

Onkel Theo ist ohnehin eine seltsame Gestalt: Er geht zur Arbeit. Ansonsten raucht und trinkt er. Katha toleriert das.
Niemand spricht mit den Kindern über ihre Eltern. Es ist so, als hätten sie nie welche gehabt (allerdings ist dieses Schweigen auch der Zeit geschuldet: Man sprach mit Kindern nicht über wichtige Dinge oder über Gefühle). Gerade dieser Onkel Theo hat aber eines nachmittags das Bedürfnis, Monika sein Bedauern über die Situation auszudrücken. Man darf noch staunen. Dass der starke Mann zugibt, dass er sich auf dem See umbringen würde, wenn Katha stürbe... Da scheint doch ein Herz in ihm zu schlagen.

Interessant auch die Nebengeschichten: Onkel Walter mit seinen käuflichen Geliebten, Onkel Sepp, der auf eine solche reinfällt, Tante Irma mit ihrem blinden Koloss, von dem sie nicht loskommt...
Eine große Familie schreibt viele bunte Geschichten.

Vati ist aus dem Gleis geraten. Im Kloster versucht er, wieder Tritt zu bekommen. Ergebnislos, bis die Familie ihm eine neue Frau beschafft. Rührend! Es hat funktioniert.
Die Autorin kann natürlich nur aus ihrer Perspektive berichten. Dass der Vater inmitten von neuen, ungebrauchten, "heiligen" Büchern sterben darf, würde man als Kunstgriff betrachten, wenn man es nicht besser wüsste.

Das Buch hat mir sehr gefallen. Es kommt wirklich an den Vorgängerroman "Die Bagage" heran und schildert einen anderen, der Autorin eine Generation näheren Teil Ihrer Familie. Sehr gelungen, wie ich finde.
 

RuLeka

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Trotzdem ist es ehrenwert, dass Tante und Onkel die drei mutterlosen Kinder aufnehmen - in ihrer kleinen Wohnung.
Ob das heute so selbstverständlich wäre, wohl kaum. Obwohl man mehr Platz und Geld hätte. „ Die Bagage“ hält zusammen.
Allerdings sieht man Erziehung heute auch anders. Drei mutterlose Kinder aufnehmen ist eine gewaltige Aufgabe. Es ist nicht damit getan, ihnen Unterkunft und Essen zu geben.
(allerdings ist dieses Schweigen auch der Zeit geschuldet: Man sprach mit Kindern nicht über wichtige Dinge oder über Gefühle).
Heute würde man versuchen, das Geschehen aufzuarbeiten, dass es wichtig wäre, sieht man ja daran, wie verloren sich die Kinder fühlen. Es ist, als ob sie zu Vollwaisen geworden wären. Der Vater war nach dem Tod einfach weg, hat sie nicht besucht. Unvorstellbar! „ Ich vermisste unseren Vater und Gretel vermisste ihn auch. Und Renate vergaß ihn. Nicht einmal zu Weihnachten besuchte er uns.“
Die Kinder auseinandergerissen; der kleine Bruder gerät deshalb auch in Vergessenheit.
und als sie den Vater wiedersehen im Kloster, da ist er geschrumpft, nicht nur körperlich. Und die Autorin erkennt anscheinend woran das liegt. Auf der Tschengla hat ihm seine Funktion als Leiter des Heims Größe gegeben, aber nur äußerlich. „ Hier im Kloster muss er sich zeigen, wie er ist, hier gibt es keine Verstellung.“
Ergebnislos, bis die Familie ihm eine neue Frau beschafft.
Solche Männer waren verloren ohne Frau, die sich um sie und den Rest kümmert.
„...aber wir fürchteten uns nicht bis zur Wortlosigkeit, denn auch der Schrecken hatte einen Namen.“ Für solche Sätze bewundere ich die Autorin. Wie sie die Erkenntnis, dass Angst und Schrecken schon ein wenig gebannt werden können, wenn man sagen kann, wovor man sich fürchtet.
Interessant, dass Monika Helfer beim Schreiben ihrer Texte immer noch der Vater als Korrektor im Nacken sitzt. Er hilft ihr anscheinend dabei, Dinge präzise und klar auszudrücken.
Interessant auch die Nebengeschichten: Onkel Walter mit seinen käuflichen Geliebten, Onkel Sepp, der auf eine solche reinfällt, Tante Irma mit ihrem blinden Koloss, von dem sie nicht loskommt...
Eine große Familie schreibt viele bunte Geschichten.
Da gäbe beinahe jede Figur wieder ein Buch. Doch so wie Monika Helfer im Interview sagt, ist sie mit ihrer Familie fertig. Vielleicht nur noch...
Sie erzählt aber auch davon, wie schwierig es ist, sich dem Vater so zu nähern. Will man als sein Kind, das man auch im Alter noch ist, dem Vater und seinen Geheimnissen so nahe kommen?
Es gab eine Zeit, so mit 15 / 16 Jahren, da störte sie alles an ihm .
„ Und dann auf einmal war‘s vorbei. Ich war gesund. Geheilt von der Wutkrankheit. Er regte mich nicht mehr auf...., ich bemitleidete ihn nicht, ich überschätzte ihn nicht, ich unterschätzte ihn nicht.“
Sie war erwachsen, führte ein eigenständiges Leben und da kann sie ihm verzeihen, ihn verstehen, ihn akzeptieren, wie er ist.
So weit sollte jeder im Verhältnis zu seinen Eltern kommen .
Mein Urteil über dieses Buch ähnelt dem Deinen. Es ist im gleichen Stil geschrieben wie „ Die Bagage“, hat die gleichen Qualitäten, die gleiche Dichte und gefällt mir ebenso.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Drei mutterlose Kinder aufnehmen ist eine gewaltige Aufgabe. Es ist nicht damit getan, ihnen Unterkunft und Essen zu geben
Absolut! Man sucht sich seine Paten auch unter diesem Aspekt aus: was wäre wenn, und hofft natürlich, dass der Fall nie eintritt. Häufiger wären wohl die Großeltern gefordert- die gab es im Buch aber nicht mehr.
Die Familienbande wiegen trotz aller Armut und Bescheidenheit schwer. Das zeigte sich ja ebenfalls, als die Geschwister nach Josefs Suizidversuch zusammen kamen. Beeindruckend. Wo findet man das heute noch? Alle wohnen weit verstreut und jeder sieht zuerst seine eigenen Sorgen...
Heute würde man versuchen, das Geschehen aufzuarbeiten, .....
Das hast du sehr gut zusammengefasst. Erstaunlich, dass Monika diese Kindheit so gut überstanden hat. Der "verwöhnte" Richard jedoch hat sich das Leben genommen. Das schreibt sie irgendwo in einem Nebensatz. Das läuft es einem eiskalt den Rücken herunter...

Das Interview muss ich mir noch gönnen:)
 

Barbara62

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19. März 2020
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14.402
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Seite 57:
Ich bin bereits wieder ganz geflasht vom Schreibstil der Autorin. Mit größter Ruhe und einfachen, kurzen Sätzen beschreibt sie das Leben ihres Vaters, wie es sich in ihren Erinnerungen und aus Erzählungen anderer darstellt. Auch er stammt aus ärmlichsten Verhältnissen. Genau wie ihre Mutter, die wir aus dem Roman "Die Bagage" schon kennen und die das Kind war, das vom Vater nie angeredet wurde, weil jener annahm, ein Kuckuckskind großzuziehen. Harter Tobak.

Monikas Vati hatte es auch nicht leicht. Als Sohn einer ledigen Magd und "des Bauern" durfte er in einer Hütte neben dem Hof wohnen. Offensichtlich war er sehr intelligent. Das fiel auch Baumeister Brugger auf, der ihm viel Lesezeit in der hauseigenen Bibliothek verschaffte, die der kleine Josef aber auch zum Abschreiben der Bücher nutzte, was Familie Brugger dermaßen befremdete, dass sie den Jungen künftig nicht mehr einluden. Versteht ihr das?
Geweckt hatten die Besuche aber seine Liebe zu den Büchern. Sie waren ihm fortan "heilig".

Sein Besuch des Gymnasiums in Salzburg findet 6 Monate vor der Matura ein Ende: Er wird zum Krieg einberufen. In Russland friert er sich ein Bein ab und lernt im Spital seine zukünftige Frau Grete kennen. Später wird er Verwalter im Kriegsopfererholungsheim, das auf der Tschengla in den Bergen liegt. "Das Paradies", wie es die Autorin nennt und ein paar berührende Episoden erzählt.
Nah gegenagen ist mir das Schicksal Ferdinands. Mit wie wenigen Worten man das Schicksal eines jungen Menschen beschreiben kann- und es damit umso intensiver wirken lässt:
[zitat]Schon fast am Ende des Krieges war er eingezogen worden. Und wurde gleich zusammengeschossen und lag im Dreck, und ein Kriegsfahrzeug fuhr ihm über das Bein, und ein nächstes über den Arm. Als er zurückkam, konnte er mit nichts mehr etas anfangen... S.50[/zitat]
Dreiviertel seines Verstandes hat er gleich mit auf dem Feld der Ehre gelassen... Nichts war mehr mit den schönen Dingen. Nicht mal 30 Jahre ist er alt geworden.
Aber Vati Josef hat ihm ein schönes Jahr auf der Tschengla beschert. Abends hat er vorgelesen, so fühlte sich "das Glück" an.

Man ist sofort in der Geschichte angekommen. Vielleicht noch schneller, wenn man die Anspielungen zur Bagage versteht, aber ich denke, sie sind auch ohne deren Kenntnis verständlich. Der Stil ist mehr als geradlinig, lässt alles Überflüssige weg, wirkt dadurch aber umso tiefer. Schaut euch das oben genannte Zitat an. Jedem Grundschüler würde dieser "und"-Stil verboten... Trotzdem trifft die Passage ins Herz.

Was ein großartiges kleines Buch!

Du hast das Wesentliche bereits gesagt. Auch ich empfinde es als großen Vorteil, "Die Bagage" gelesen zu haben, aber Voraussetzung ist es nicht. Die kurze Auffrischung war für mich gut und für alle, die den Vorgänger nicht kennen, müssten die Informationen reichen.

Mir hat sehr gut gefallen, wie Monika Helfer auf Seite 30 oben über Armut schreibt: dass es nämlich bedeutet, dass einem nicht einmal die Schuhe, die Socken, der Regenschirm und die Kappe gehören. Es ist eine Art von Armut, die man sich kaum noch vorstellen kann.

Sicher war allen klar, dass der Sohn der ledigen Magd vom Bauern war. Trotzdem bestand keinerlei Grund, Mutter und Sohn finanziell zu unterstützen. Auch der Pfarrer scheint da nicht nachgehakt zu haben, fragte lieber den Baumeister. Am Ende war es wohl die Kirche, die für die Ausbildung sorgte, in der Hoffnung, Priesternachwuchs heranzuziehen.

Besonders fand ich auch die Stelle, in der Monika Helfer über das eigene Schreiben nachdenkt:

Nicht das Schreiben macht mich müde, auch nicht das Erinnern. Ich will müde sein. Ich setze die Müdigkeit professionell ein. Ich musss näher an die Träume heraunrücken, noch nicht Schlaf, aber auch nicht mehr wach, dann funktioniert das Erinnern besser... (S. 37)

Und weiter vorn über den Wahrheitsgehalt ihres Romans:
mehr wahr als erfunden (S. 9)

Wie auch bei der Bagage musste sie einen Tod abwarten: Wenn ich mich recht erinnere, war es damals der Tod der Tante, jetzt ist es der Tod der Stiefmutter.
 
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