Unser Fazit

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Meine Rezension, wie ich sie gerade auf meinem Blog gepostet habe:

[zitat]Von der Struktur her ist “Shylock” eine Chimäre: ein unentschlossenes Mischwesen aus Theaterstück und Roman, in meinen Augen nur halbwegs geglückt.

Durch die Aufteilung in Akte erinnert das Buch an Shakespeares Drama, auch die dialog- und monologlastige Sprache lässt das Theater anklingen. Dieser Klang hat für mich jedoch deutliche Misstöne – die Sprache fühlt sich unnatürlich an für die modernen, zum Teil jugendlichen Charaktere.

Viele dieser Charaktere sind meines Erachtens ohnehin zu provokant überzogen, zu wenig differenziert und authentisch für einen Roman.

In einem Theaterstück hat jeder Charakter nur eine begrenzte Zeit, um dem Zuschauer sein Wesen und seine Motive zu vermitteln, deswegen ist dort eine gewisse Vereinfachung und Übersteigerung unumgänglich, aber in einem Roman fällt diese Notwendigkeit weg. Wird dennoch vereinfacht und übersteigert, werden aus Charakteren schnell Parodien oder Klischees, und genau das passiert hier meiner Meinung nach.

Der Kunstsammler Simon Strulovitch nimmt die Rolle des Shylock ein, seine frühreife Tochter Beatrice die Rolle von Shylocks Tochter Jessica. Das verwöhnte reiche Social-Media-Sternchen Anna Livia Plurabella Cleopatra Eine-Schönheit-ist-eine-ewige-Freude-weiser-als-Salomon Christine (der Name ist Programm) gibt die Portia, während ihr Bekannter D’Anton das moderne Äquivalent des Kaufmanns Antonio darstellt. Auch bei anderen Charakteren kann man erahnen, welcher Charakter aus “Der Kaufmann von Venedig” ihnen Pate gestanden hat.

Die beiden Frauengestalten in “Shylock” fand ich sehr fragwürdig: sie gehen extrem (!) jung sexuelle Beziehungen ein und haben beide einen Vaterkomplex mit inzestuösem Unterton. Strulovitch denkt beängstigend oft darüber nach, wie verführerisch seine Tochter ist.

Interessanterweise tritt Shakespeares Shylock selber in der Geschichte auf.

Am Anfang hielt ich ihn für reines Gedankenspiel des bekennenden Shakepeare-Liebhabers Strulovitchs. Aber im Laufe des Buches interagieren auch andere Charaktere mit Shylock, er ist also ein Mensch aus Fleisch und Blut – gleichzeitig ist er ebender Shylock aus dem Venedig des 16. Jahrhunderts.

Wie das möglich ist, bleibt unerklärt, und Strulovitch hinterfragt es kaum.
Sei’s drum, denn die Dialoge zwischen Shylock und Strulovitch – scharfsinnig, manchmal humorvoll, immer zum Nachdenken anregend – sind für mich das Highlight und Herzstück des Buches.

Shylock ist immer noch der Shakespeare-Shylock, wie er leibt und lebt: sein Sprachrhythmus, sein ätzender Humor, sein zwiespältiges Wesen. Strulovitch neidet ihm seine Kompromisslosigkeit, und letztlich ist er deswegen dazu verdammt, Shylocks Schicksal zu wiederholen.

Aber so sehr ich die Dialoge zwischen Shylock und Strulovtich auch genoss, stellte sich doch irgendwann Überdruss ein.

Ihre Gespräche drehen sich immer wieder um dasselbe Thema, aus demselben Blickwinkel.

Es geht um das Judentum, das traditionelle sowie das moderne, und das jüdische Selbstverständnis in einer nicht-jüdischen Gesellschaft. An sich ein hochinteressantes Thema, aber es dreht sich zu sehr um sich selbst und verliert dadurch an Substanz. Strulovitch, der antisemitische Vorurteile beklagt, unterteilt die Menschen rigoros in “die Christen” und “die Juden”, ohne sich einer Doppelmoral bewusst zu sein.

Shylock vertritt den Standpunkt des traditionellen Judentums, während Strulovitch sich als moderner Jude über die Religion erhaben fühlt. Doch als seine Tochter einen Christen heiraten will, nimmt Strulovitch auf einmal antiquierte Vorstellungen an.

Und hier wird die Geschichte absurd.

Aus dem Drama wird eine Posse: die meisten nicht-jüdischen Charaktere zeigen sich auf einmal plump antisemitisch – Plurabelle und D’Anton lachen hysterisch über Schmähbegriffe wie “Hakennase”, Beatrices Liebhaber Graham zeigt den Hitlergruß –, und Strulovitch ist fest entschlossen, besagtem Liebhaber die Vorhaut zu rauben und ihn dadurch quasi zum Juden zu machen.

Durch konstruierte Ereignisse ergibt es sich, dass D’Anton für die Sache einstehen muss.

Die Vorhaut stellt also das Pfund Fleisch dar, das Shylock im Originaldrama von seiner Nemesis Antonio fordert, aber das ergibt absolut keinen Sinn: welchen Sinn macht es für Strulovitch, die Vorhaut eines anderen Mannes als Ersatz zu akzeptieren? Dadurch wird der Liebhaber seiner Tochter jedenfalls nicht zum Christen – wobei die Vorstellung, dass man einen Mann durch Beschneidung zum Christen machen kann, natürlich von vorneherein absurd ist.

FAZIT

Im Grunde lässt sich das Originaldrama herunterbrechen auf:

Einem Juden wird viel Unrecht getan. Er muss sich tagtäglich herumschlagen mit Vorurteilen, hat dadurch auch echte Nachteile und fühlt sich gedemütigt. Als sich eine Chance bietet, sich an einem seiner Peiniger zu rächen, bringt sein Zorn ihn dazu, maßlos in seiner Grausamkeit zu werden.

Aus einer modernen Adaption hätte man viel machen können, aber für ich ist die Umsetzung leider nicht gelungen.[/zitat]
 
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Renie

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Beim Hogarth Projekt handelt es sich ja um eine Auftragsarbeit: Namhafte Autoren wurden für ein Shakespeare Stück verpflichtet. Das muss man eben können, denn man ist in seiner Freiheit einerseits eingegrenzt, andererseits will man ja trotzdem Erfolg haben.
Ich habe keine Ahnung, wie streng die Vorgaben sind, die ein Autor erhält, der bei diesem Projekt mitmacht. Gemessen an Howard Jacobson muss es so gut wie keine Vorgaben gegeben haben. Ich denke, er hat das Original zum Anlass genommen, um sich über die Vorurteile, die zwischen Juden und Christen vorherrschen (die Christen haben aus Sicht der Juden in diesem Buch auch ihre Eigenheiten), lustig zu machen. Dabei hat er sich sehr "großzügig" an die Vorlage gehalten. Bei einem anderen Buch, das ich im Rahmen dieses Projektes gelesen habe, war es wieder anders. Da hielt sich der Autor ganz eng an das Original, hat nur einen modernen Schauplatz und spezielle Charaktere gewählt. Insofern glaube ich nicht, dass die Autoren Vorschriften bekommen, wie die Nacherzählung aussehen soll. Was ich auch gut finde.
 
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Literaturhexle

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Insofern glaube ich nicht, dass die Autoren Vorschriften bekommen, wie die Nacherzählung aussehen soll.
Das glaube ich auch nicht.
Ich meinte eher, dass das Thema fixiert ist, weil es ja eine Auftragsarbeit ist. Wenn dir dann nicht der große Wurf einfällt, hast du Pech...
Der Autor ist in seiner Kreativität dabei eingeschränkt. Doch an Ideen hat es Jacobsen ja nicht gemangelt :confused:
 
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Renie

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Mein Fazit: Es ist nun schon eine Weile her, dass ich dieses Buch beendet habe. Im Gegensatz zu vielen von Euch, habe ich irgendwann aufgegeben, die Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen dem Kaufmann und Shylock zu finden. Jacobson hat den Kaufmann von Venedig sehr großzügig ausgelegt. Die wenigen Parallelen bzw. Zitate aus dem Original waren wohl eher dem Hogwarth Projekt geschuldet.
Für mich stand das Thema "Judentum und die Anderen" klar im Vordergrund. Auch, wenn man sagen kann, dass aufgrund der historischen Entwicklung, mittlerweile ein anderer Umgang mit fremden Religionen herrscht, haben sich doch viele Vorurteile und Klischees in unsere Denkweise eingebrannt. Das Buch hat mich tatsächlich ein wenig sensibilisiert. Ein Beispiel: Neulich bin ich in einem Roman von einem zeitgenössischen Autor über den Begriff "eine Frau mit jüdischem Aussehen" gestolpert. Vor "Shylock" hätte ich diesen Begriff überlesen. Jetzt frage ich mich, was zum Teufel jüdisches Aussehen bedeutet bzw. warum ein moderner Autor (muss Anfang 30 Jahre alt sein) heutzutage diesen Begriff wählt. Das ließe sich doch sicher anders beschreiben.
Mir hat Shylock gefallen. Ich habe das Buch als Satire empfunden. Und Satire darf übertreiben. Sehr gelungen fand ich die Gespräche zwischen Shylock und Strubovitch(? ich habe den Namen vergessen). Die haben viel Tiefgang in dieses Buch gebracht. Manchmal zuviel. Aber ehe ich im Tiefgang abgesoffen bin, hat Jacobson mit ein wenig Klamauk und Slapstick für ein paar Lacher bei mir gesorgt. Daher war das Buch für mich eine gute Mischung.
Von mir wird es daher bei der Rezi 4 Sterne geben.
 

Literaturhexle

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Neulich bin ich in einem Roman von einem zeitgenössischen Autor über den Begriff "eine Frau mit jüdischem Aussehen" gestolpert.
Das kann aber kein deutscher Autor gewesen sein! Wir Deutschen sind aufgrund unserer Geschichte sehr stark sensibilisiert, weil wir uns gerade den Juden gegenüber schuldig gemacht haben. Andere Nationalitäten (USA) gehen da vielleicht entspannter mit um. Da ist "jüdisches Aussehen" vermutlich ähnlich zu werten wie "asiatisches Aussehen"? Das passt natürlich nicht, wenn es auf große Ohren und Hakennase hindeuten soll...
Das ist aber eine bloße Vermutung, weil ich gerade in der amerikanischen Literatur, die oft ja von jüdisch-stämmigen Autoren verfasst wurde, aus unserer Sicht recht lockere Formulierungen diesbezüglich gefunden habe.
 

Xanaka

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12. Juli 2015
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Um ehrlich zu sein, hätte ich den Roman nicht beendet, wenn ich ihn nicht hier in der Leserunde besprechen müsste.
Shylock und Strulovitch haben mir zu Anfang gut gefallen, doch die Dialoge der beiden traten durch die Beschneidung später in den Hintergrund.
Anhand des Klappentextes habe ich persönlich andere Erwartungen gehabt. Die Handlung folgt zwar dem was angekündigt wurde, aber die Umsetzung dessen war überhaupt nicht meins.
Als Nicht-Kenner des Stücks habe ich nicht erkennen können, wo die Parallelen sind, aber das empfand ich nicht als tragisch.
Habe aber definitiv das Gefühl, dass die Umsetzung ins moderne für mich so nicht funktioniert

Du sprichst mir aus der Seele bzw. aus dem Herzen - dem ist nichts hinzuzufügen!
 
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milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich muss mich dem Fazit von Xanaka und Sassenach123 anschließen. Ohne die Leserunde hätte ich das Buch irgendwann auch zur Seite gelegt.

Ich finde es sehr bezeichnend, dass alle, die das Original nicht gelesen haben, sagen "Mit Kenntnis des Originals hätte ich es wohl besser verstanden", und alle, die es gelesen haben, meinen, die Kenntnis des Originals hätte sie nur verwirrt. Für mich zeigt das, dass der Roman so oder so ziemlich wirr und inkohärent ist.
 

parden

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