Über die Gefährdungen durch das Lesen, insbesondere bei Frauen

tinderness

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„Die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen erzeugt Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Worte Hypochondrie, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbnis im Bluthe, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper.“ schreibt der evangelische Theologe Karl G. Bauer. Das jedenfalls berichtet kulturgeschwätz. Ist das tatsächlich wahr? Ja, ich hab es im Internet gelesen.
 

Die Häsin

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Mich erinnert das an den Roman "Aus guter Familie" (1895) von Gabriele Reuter. Ich weiß nicht, ob man das Buch kaufen kann, im Projekt Gutenberg kann man es online lesen oder runterladen. Die Hauptfigur Agathe ist, wie der Titel sagt, ein Mädchen aus einer bürgerlichen, gutsituierten Beamtenfamilie. Aus verschiedenen Gründen - es würde hier zu weit führen - heiratet sie nicht, lebt noch als Dreißigjährige im elterlichen Haushalt. Da sie sich entsetzlich langweilt, nimmt sie sich eines Tages ein Buch über Naturgeschichte von Ernst Haeckel vor, das sie im elterlichen Bücherschrank gefunden hat. Sie ist begeistert von den Evolutionstheorien, der Vielfalt in der Natur. Als sie sich von den Eltern weiterführende Lektüre zum Thema wünscht, schließt der erschrockene Vater das Buch vor ihr weg. Der ganze Bücherschrank wird abgeschlossen. "Junge Mädchen fassen dergleichen ganz falsch auf." Statt weiterer Bücher bekommt sie eine Blumenpresse geschenkt, sie soll "entzückende Lampions" damit herstellen. Da sie sich zum Gehorsam verpflichtet fühlt, macht sie keine weiteren Versuche, sich Bücher zu besorgen, obwohl sie todunglücklich ist (wenige Jahre später bekommt sie, nach einer unglücklichen Liebesgeschichte, einen Nervenzusammenbruch und muss ins Sanatorium).

Gabriele Reuter wurde mit diesem Buch zur Berühmtheit. Sie schrieb noch einige weitere Bücher, in denen es um Frauenthemen ging, so auch einen Roman, der in einem Heim für ledige Mütter spielt.
 

Die Häsin

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Schönes Bild, überhaupt sind diese alten Zeichnungen nach der Natur oft wunderschön - zum Beispiel auch die Studien von Maria Sybilla Merian über Insekten.

Ich zitiere die betreffende Stelle aus Gabriele Reuters Buch, habe sie vom Projekt Gutenberg:

<<
Agathe konnte es nicht glauben.
Von einer so großartigen neuen Welt-Anschauung kehrt man nicht einfach zu der langweiligen Tagesordnung zurück.
Ach, Männer, die sich hier vertiefen – die weiter forschen und grübeln durften – die Glücklichen! Die Glücklichen! Denen brauchte freilich die dumme Liebe nur etwas Nebensächliches zu sein! Am Ende fand auch sie in den neuen Gedanken ihren Frieden. Sie sah doch nun, daß es so sein mußte – daß die Natur unerhört grausam war, daß Millionen Keime fortwährend untergingen, damit die andern Raum bekämen, sich zu entwickeln. So war sie eben auch einer von den schwächlichen, unnützen Keimen – was war da weiter? Daß es eine solche Verschwendung gab, hatte sie allerdings vorher auch schon gewußt. Aber sie bezog das nie auf sich, sie hatte immer für sich selbst einen Platz außerhalb der Natur gesucht und mit einem Gotte gehadert, der Wunder thun konnte und nur keins ihr zu Liebe thun wollte!

(...)

– Ob Papa, ihr wohl die drei Bücher schenken würde? Oder nur zwei? Er war so entsetzlich erstaunt gewesen, als sie ihm ihren Wunschzettel überreichte.
»Du willst ja gewaltig hoch hinaus,« hatte er lächelnd gesagt. »Was willst Du Dir denn für unverständliches Zeug in Dein kleines Köpfchen packen?«
»Ach Papa – ich muß mich ein bißchen bilden!«
»Nun ja – dagegen bin ich durchaus nicht.«
»Die natürliche Schöpfungsgeschichte habe ich ganz gut verstanden.«
»So – die hast Du also gelesen? Das war recht überflüssig. Ein andermal fragst Du mich, ehe Du Dir etwas aus meinem Bücherschrank holst. Verstanden? Junge Mädchen fassen dergleichen Werke oft ganz falsch auf.«

(...)

– – Auf ihrem Weihnachtstisch fand Agathe (...) einen Prachtband mit bunten Bildern: die Flora von Mitteldeutschland, zum Gebrauch für unsere Töchter, – daneben eine geschnitzte Blumenpresse.
»Siehst Du, liebes Kind,« sagte ihr Vater freundlich, »hier habe ich ein sehr hübsches Werk gefunden, das besser für Dich paßt, als die Bücher, die Du da aufgeschrieben hast. Ich blätterte in den Sachen – sie wollten mir gar nicht für mein Töchterchen gefallen. Hier findest Du eine Anweisung, wie man Blumen trocknet – daraus fabriziert Ihr ja jetzt allerliebste Lichtschirme! Das wird Dir auch Spaß machen!«

>>

Wohlgemerkt ist Agathe zu diesem Zeitpunkt, wenn ich mich richtig erinnere, um die 30; sie hat zum Beispiel einem Dienstmädchen beigestanden, das um den Nachstellungen von Agathes Bruder zu entgehen, einen Riegel an der Zimmertür haben wollte - sie weiß sehr gut Bescheid. Aber als unverheiratete höhere Tochter hat sie von nichts was zu wissen und auch nichts zu wissen wollen. Ein so eingesperrtes Leben führt bei einem sensiblen Menschen entweder in Depression oder hysterische Zustände.
 

Literaturhexle

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Danke für diesen Thread!!!
Alles noch gar nicht sooooo lange her. Man bekommt die Motten, wenn man sieht, wie Mädchen und Frauen in ihren Chancen und Interessen beschnitten wurden.

Und im Ausgangstext auch noch die Sorge, Bildung und Lesen würden zu Hypochondrie führen und sich negativ auf die Geschlechtstheile auswirken...
Ohne Worte. Und die Welt halt dem klugen Doktor geglaubt!
 

otegami

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Sorry, aber bei Theologe klingeln bei mir sowieso die Alarmglocken! War da vielleicht Angst dabei, dass Frauen sich zu viel Wissen aneignen könnten? Es ist doch viel 'praktischer', wenn die Frauen dumm gehalten werden - dann kann alles mit ihnen gemacht werden. (Sie wissen es ja nicht besser! Sie müssen es einfach glauben!)

Die ganze 'Angst' wird schön versteckt unter der Sorge, die sich angeblich der Verfasser solcher Schrift um die Weiblichkeit macht. Bei so einer Verlogenheit klappt bei mir das Messer in der Tasche auf!
 

Die Häsin

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Sorry, aber bei Theologe klingeln bei mir sowieso die Alarmglocken! War da vielleicht Angst dabei, dass Frauen sich zu viel Wissen aneignen könnten? Es ist doch viel 'praktischer', wenn die Frauen dumm gehalten werden - dann kann alles mit ihnen gemacht werden. (Sie wissen es ja nicht besser! Sie müssen es einfach glauben!)

Die ganze 'Angst' wird schön versteckt unter der Sorge, die sich angeblich der Verfasser solcher Schrift um die Weiblichkeit macht. Bei so einer Verlogenheit klappt bei mir das Messer in der Tasche auf!
Es ist ein uralter Topos, dass Frauen "näher an der Natur" seien als Männer - ich habe das in der klassischen Literatur unzählige Male mehr oder weniger wörtlich so gelesen. Begründet wird das natürlich mit der Gebärfähigkeit und dem Hormonzyklus. Die Kehrseite dieses Glaubens ist, dass zur Verkopfung ausschließlich Männer imstande seien. Im "Doktor Faustus" von Thomas Mann, den wir gerade in der Leserunde Weltliteratur lesen, ist die gelehrte Disputantenrunde allgegenwärtig - geistvolle Köpfe, die sich zu philosophischen Diskussionen treffen. Alles selbstverständlich Männerköpfe. In der Leonardo-Biographie, die ich unmittelbar vor dem Faustus gelesen habe, war es das gleiche. Im Kreise der Denker und der Gelehrsamkeit haben Frauen traditionell nichts verloren.
(Ich erinnere mich übrigens gerade an die Tolkien-Biographie, die ich vor ein paar Jahren gelesen habe. Damals war ich ziemlich entsetzt darüber, wie Tolkien seine Frau aus seinem gesamten intellektuellen Leben, das einen Großteil seines Lebens überhaupt ausmachte, ausgeschlossen hat. Wenn er von der Arbeit an der Uni nach Hause kam, nahm er das Abendessen ein und verschwand sofort wieder in die nächste Kneipe zum Stammtisch, wo man unter Männern Gedichte rezitierte und Elbensprachen erfand. Nach seiner Pensionierung fand Tolkien sich bereit, mit seiner Frau nach Brighton umzuziehen - er hasste Brighton, aber, so sagte er selbst, die ganzen letzten Jahrzehnte seien eine Zumutung für seine Frau gewesen, und den Lebensabend werde er nach ihren Vorgaben gestalten. Ich verehre Tolkien für seine Leistung, aber dazu fällt mir jetzt auch sonst nichts mehr ein.)
 

Wandablue

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Sorry, aber bei Theologe klingeln bei mir sowieso die Alarmglocken! War da vielleicht Angst dabei, dass Frauen sich zu viel Wissen aneignen könnten? Es ist doch viel 'praktischer', wenn die Frauen dumm gehalten werden - dann kann alles mit ihnen gemacht werden. (Sie wissen es ja nicht besser! Sie müssen es einfach glauben!)

Die ganze 'Angst' wird schön versteckt unter der Sorge, die sich angeblich der Verfasser solcher Schrift um die Weiblichkeit macht. Bei so einer Verlogenheit klappt bei mir das Messer in der Tasche auf!
Das ist doch uralt, dieser Text. Da hatte man noch ein ganz anderes Weltbild. Vergleiche mal dein (unser) Bild von Tieren. In hundert oder zweihundert Jahren wird man auch sagen, dass unser Umgang mit ihnen barbarisch war.
 

otegami

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Nach seiner Pensionierung fand Tolkien sich bereit, mit seiner Frau nach Brighton umzuziehen - er hasste Brighton, aber, so sagte er selbst, die ganzen letzten Jahrzehnte seien eine Zumutung für seine Frau gewesen, und den Lebensabend werde er nach ihren Vorgaben gestalten. Ich verehre Tolkien für seine Leistung, aber dazu fällt mir jetzt auch sonst nichts mehr ein.)
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Leben noch viele Frauen in der heutigen Zeit mitmachen würden!
 
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Literaturhexle

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Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Leben noch viele Frauen in der heutigen Zeit mitmachen würden!
Nee, auf keinen Fall! Die gesamte Sozialisation verläuft anders und das ist gut so. Wir müssen allerdings auch Verständnis für die Entwicklung in anderen Ländern haben. Man kann unser Frauenbild streng muslimisch geprägten Ländern nicht aufzwingen (auch wenn man das aus feministischen Gründen möchte). Auch viele Frauen dürften sich dort überfordert fühlen, wenn sie von heute auf morgen Geld verdienen und sich gleichzeitig um Haus und Kinder kümmern müssten. Es ist ein Prozess. Am Anfang muss Gleichberechtigung und vor allen Dingen Bildung stehen. Sie erschließt Möglichkeiten!
 

otegami

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Wir müssen allerdings auch Verständnis für die Entwicklung in anderen Ländern haben. Man kann unser Frauenbild streng muslimisch geprägten Ländern nicht aufzwingen (auch wenn man das aus feministischen Gründen möchte). Auch viele Frauen dürften sich dort überfordert fühlen, wenn sie von heute auf morgen Geld verdienen und sich gleichzeitig um Haus und Kinder kümmern müssten. Es ist ein Prozess. Am Anfang muss Gleichberechtigung und vor allen Dingen Bildung stehen. Sie erschließt Möglichkeiten!
Stimmt! Dafür ist es aber nötig, dass man sich für andere Kulturen interessiert und sich auch drüber informiert!
Fällt mir doch glatt dazu der Dokumentarfilm 'Marco Polo - Entdecker oder Lügner' gestern um 21.00 Uhr auf ZDF INFO ein: als Marco Polo 1324 starb, verlangte ein Geistlicher auf dem Sterbebett von ihm, dass er seinen 'Lügen' abschwöre. (Hat er aber nicht gemacht, sondern erklärt, dass er nur die Hälfte von seinem Erlebten erzählt hatte! Es hätte ihm sowieso niemand geglaubt.)
Das, was er von China berichtet hatte, war nicht bekannt - somit konnte es in den Augen der meisten gar nicht wahr sein! (Hochinteressant, wie auch Teile aus seinem Bericht verfälscht wurden, weil sie in die westliche Vorstellung von Sitte und Moral nicht gepasst hatten.)
Empfehlenswert dazu auch die Bücher, die ich in den 80ern verschlang:




Hachja, Gary Jennings hat tolle Bücher geschrieben!


gehört heute noch zu meinen Lieblingsbüchern!
 
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tinderness

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Ich wäre vorsichtig, solche Texte mit dem Hinweis auf eine "andere Zeit" relativieren zu wollen. Menschenrechte (und auch Tierrechte) sind aus meiner Sicht kein intellektuelles Spiel und abstrakter Diskussionsgegenstand, sondern sie haben Universalcharakter: historisch und gegenwartsbezogen, individuell wie gesellschaftlich. Sie sind immer und überall gültig. Die Behandlung von Menschen und Tieren wechselt in der Geschichte und zwischen Gesellschaften allerdings; es ist ein ewiges Auf und Ab zu beobachten und von einem generellen Fortschritt der Menschheit kann man wohl nicht sprechen. Ich wäre deshalb auch vorsichtig, mich auf einen überlegenen (und mithin überheblichen) Standpunkt zu stellen, etwa im Gestus des "wir sind ja da schon viel weiter": analysiert man die soziale Situation der Frauen heute genauer, so wird man wohl eine ziemlich tiefe Verwerfung erkennen.
 
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