Teil 2: Von S. 75 bis S.120

Literaturhexle

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Diskussion zum Buch "Vom Ende einer Geschichte" von Julian Barnes
Teil 2: von S. 75 bis 120
 

Xirxe

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Ich konnte nicht anders, ich habe diesen Teil gestern Abend auch noch gelesen. Mir gefallen Tonys Überlegungen zu Vergangenheit, dem Leben, der eigenen Geschichte. Es gibt so viel darin, was man auf sich selbst beziehen kann, was ich auch wiederholt gemacht und mich gefragt habe, wie es bei mir aussieht. Dazu sind reihenweise Sätze darin, die ich mir eigentlich alle rausschreiben müsste, weil ich sie so gut finde (Ich habe sie jetzt nicht zur Hand, aber etwas habe ich in einer Leseprobe gefunden:
[zitat]Was wusste ich schon vom Leben, ich, der so vorsichtig gelebt hatte? Der weder gewonnen noch verloren hatte, sondern das Leben einfach geschehen ließ? Der die üblichen Ambitionen gehabt und sich allzu rasch damit abgefunden hatte, dass sie sich nicht erfüllten? Der Verletzungen aus dem Wege ging und das Überlebensfähigkeit nannte? Der seine Rechnungen bezahlte, sich möglichst mit jedermann gut stellte, für den Verzückung und Verzweiflung bald bloße Worte waren, die er einst in Romanen gelesen hatte? Ein Mensch, dessen Selbstvorwürfe nie wirklich schmerzhaft waren? Ja, über all das musste ich nachdenken, während ich eine besondere Art der Reue empfand: den Schmerz, der am Ende einem Menschen zugefügt wird, der immer zu wissen glaubte, wie man Schmerzen vermeidet – und der ihm aus ebendiesem Grund zugefügt wird.[/zitat]und [zitat]Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.[/zitat]
Was mich dann wirklich geschockt hat, war sein Brief an Virginia und Adrian. Ich wage es mir kaum vorzustellen, was er bei einem sensiblen und ernsthaften Menschen wie Adrian es war, ausgelöst haben mag. Da klingt so viel Verletztheit durch, dass man glauben könnte, dieser Schreiber hätte damit bis zu seinem Lebensende zu kämpfen. Vielleicht hat Adrian ja auch so gedacht ...
 

Literaturhexle

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Ich konnte nicht anders, ich habe diesen Teil gestern Abend auch noch gelesen. Mir gefallen Tonys Überlegungen zu Vergangenheit, dem Leben, der eigenen Geschichte. Es gibt so viel darin, was man auf sich selbst beziehen kann, was ich auch wiederholt gemacht und mich gefragt habe, wie es bei mir aussieht. Dazu sind reihenweise Sätze darin, die ich mir eigentlich alle rausschreiben müsste, weil ich sie so gut finde (Ich habe sie jetzt nicht zur Hand, aber etwas habe ich in einer Leseprobe gefunden:
[zitat]Was wusste ich schon vom Leben, ich, der so vorsichtig gelebt hatte? Der weder gewonnen noch verloren hatte, sondern das Leben einfach geschehen ließ? Der die üblichen Ambitionen gehabt und sich allzu rasch damit abgefunden hatte, dass sie sich nicht erfüllten? Der Verletzungen aus dem Wege ging und das Überlebensfähigkeit nannte? Der seine Rechnungen bezahlte, sich möglichst mit jedermann gut stellte, für den Verzückung und Verzweiflung bald bloße Worte waren, die er einst in Romanen gelesen hatte? Ein Mensch, dessen Selbstvorwürfe nie wirklich schmerzhaft waren? Ja, über all das musste ich nachdenken, während ich eine besondere Art der Reue empfand: den Schmerz, der am Ende einem Menschen zugefügt wird, der immer zu wissen glaubte, wie man Schmerzen vermeidet – und der ihm aus ebendiesem Grund zugefügt wird.[/zitat]und [zitat]Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.[/zitat]
Was mich dann wirklich geschockt hat, war sein Brief an Virginia und Adrian. Ich wage es mir kaum vorzustellen, was er bei einem sensiblen und ernsthaften Menschen wie Adrian es war, ausgelöst haben mag. Da klingt so viel Verletztheit durch, dass man glauben könnte, dieser Schreiber hätte damit bis zu seinem Lebensende zu kämpfen. Vielleicht hat Adrian ja auch so gedacht ...
Ja! Das sind zwei tolle Stellen! Ich bin froh, dass ich mir jetzt DAS Buch noch gekauft habe. So kann ich nach Herzenslust Unterstreichungen vornehmen.
Dieses Buch bleibt bei mir, das steht fest.

Ich kann nicht mehr nachvollziehen, warum ich Ende 2012, als ich das BUCH zum 1. Mal las, in meinen Aufzeichnungen lediglich das Wort "mäßig " mit 3 Sternchen versehen notiert habe...

Brauchte ich diese 5 Lebensjahr noch für ein tieferes Verständnis? Vielleicht. Aber es ist auch ein Buch, das man nicht einfach so weglesen darf, es benötigt Zeit. Wenn man sie sich nimmt, ist es absolut lohnend!
 
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@Xirxe
Die Sprüche sind wirklich toll. Sie spiegeln meist mein eigenes empfinden wieder, man selbst hat zu vielen Dingen mittlerweile ja nun ebenfalls eine andere Sicht als damals. Julian Barnes gibt das sehr gut wieder.
Auf Seite 100 ist beispielsweise einer der mir persönlich gut gefallen hat.

@Literaturhexle
Ich empfinde es auch in diesem Abschnitt immer noch so, dass Adrian einen enormen Anteil hat an dieser Geschichte. Wenn man bedenkt wie früh er aus dem Leben geschieden ist und wie intensiv Tonys Gedanken immer noch in diese Richtung gehen. Wobei ich einräumen muss, dass diese Eindrücke meinerseits im ersten Teil ausgeprägter waren.
Schon interessant wie unterschiedlich die Wahrnehmung zu ein und demselben Buch sein kann....

Auf das Blutgeld bin ich nun auch gestoßen.......Veronicas Mutter hat nach so vielen Jahren noch immer ein schlechtes Gewissen wegen dieses Wochenendes. Aber wozu das Geld? Wobei ich ehrlich gesagt mehr auf das Tagebuch gespannt bin. Wie ihr seht kann ich mich aus meinem Fokus um Adrian kaum lösen........einige Seiten dieses Abschnitts habe ich noch vor mir, bin sehr gespannt
 
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Helmut Pöll

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Ja! Das sind zwei tolle Stellen! Ich bin froh, dass ich mir jetzt DAS Buch noch gekauft habe
Da stimme ich zu, @Literaturhexle . Was mich verwundert hat, dass nach Adrians Selbstmord im Grunde ein Zeitsprung von 40 Jahren bis zu Tonys Pensionierung steht. Im Grunde wird der Großteil seines Lebens im Zeitraffer auf 15 Seiten abgehandelt: Hauskauf, Hochzeit, Scheidung, Geburt und Heranwachsen der Tochter.

Tony blickt mit einer gewissen Melancholie auf dieses Leben, das irgendwei eintönig erscheint, nach seiner Schilderung nie besonders schlimm gewesen ist, aber eben auch keine besonderen Höhen hatte. Die Zeit, in der er sich wohl besonders lebendig gefühlt hat, war die Zeit mit seinem Schulfreund Adrian.
 

Sassenach123

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Da stimme ich zu, @Literaturhexle . Was mich verwundert hat, dass nach Adrians Selbstmord im Grunde ein Zeitsprung von 40 Jahren bis zu Tonys Pensionierung steht. Im Grunde wird der Großteil seines Lebens im Zeitraffer auf 15 Seiten abgehandelt: Hauskauf, Hochzeit, Scheidung, Geburt und Heranwachsen der Tochter.

Tony blickt mit einer gewissen Melancholie auf dieses Leben, das irgendwei eintönig erscheint, nach seiner Schilderung nie besonders schlimm gewesen ist, aber eben auch keine besonderen Höhen hatte. Die Zeit, in der er sich wohl besonders lebendig gefühlt hat, war die Zeit mit seinem Schulfreund Adrian.

Interessant finde ich in dem Zusammenhang, dass Tony sein Leben zwar hinterfragt, aber eher unter dem Aspekt was er besser hätte machen können.
 

Xirxe

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Vielleicht steht sein Hinterfragen unter der Prämisse: Wo blieb die Leidenschaft? Die, über die man in der Jugend ohne Grenzen zu verfügen schien, die Leidenschaft, mit der man für seine Ideen, seine Werte, seine Lieben einstand und auch kämpfte. Bei Tony war sie praktisch in seinem ganzen Leben nicht mehr existent, man nahm Alles, wie es kam. Adrian stand hingegen für seine Überzeugungen sein, auch wenn seine Leidenschaft(en) nicht so nach außen getragen wurden.
 

Helmut Pöll

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Vielleicht steht sein Hinterfragen unter der Prämisse: Wo blieb die Leidenschaft? Die, über die man in der Jugend ohne Grenzen zu verfügen schien, die Leidenschaft, mit der man für seine Ideen, seine Werte, seine Lieben einstand und auch kämpfte.
So sehe ich das auch. Barnes beschreibt sehr eindringlich, wie es vielen geht. In der Jugend herrscht allgemeine Überzeugung, dass das eigene Leben eine Sensation werden wird, aber oft zerfließt es eben so wie das von Tony Webster. Was sagt Tony? Das Einzige, was ihm geblieben ist, ist das Aufräumen der eigenen Wohnung und die Blibliothek des Krankenhauses, um die er sich kümmert.

Adrian stand hingegen für seine Überzeugungen sein,
Zumindest denkt Tony das sehr lange.
 
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