Sommertag (S. 105 - 120)

Querleserin

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Sommertag und dann eine solch deprimierende Geschichte...
Otto repräsentiert einen "klassischen" Wendeverlierer.
Nachdem er sich als Schreiner selbstständig gemacht hat, hat sich finanziell übernommen, wobei seine Frau vor allem das?Held mit vollen Händen ausgegeben hat, hat den Überblick über Kredite verloren, die ihm großzügig angeboten wurden (Kapitalismuskritik?).
Irgendwann ist er pleite, kann keine Rechnungen mehr bezahlen, wird gepfändet.
Als Reaktion beginnt er zu trinken, verliert seinen nächsten Job wegen seines Alkoholismus und jetzt steht erneut eine Kündigung an, sogar die Gänse sollen gepfändet werden.
Er sieht keinen Ausweg mehr und erhängt sich.
Keine gelingt es erneut die Verzweiflung Ottos sprachlich intensiv erlebbar zu machen. Kein Hoffnungsschimmer - nirgendwo.
 

Literaturhexle

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Keine gelingt es erneut die Verzweiflung Ottos sprachlich intensiv erlebbar zu machen. Kein Hoffnungsschimmer - nirgendwo.
Sprachlich ist das wirklich ein sehr hohes Niveau. In wenigen Seiten kann man sich in die Menschen und die Handlung einfühlen. Krien verurteilt und wertet nicht. Sie schildert nur. Diese Abwärtsspirale von Otto steht stellvertretend für viele Menschen, auch und gerade in den NBL: der Tag, als sein Ruin begann, ist auf den Tag des Mauerfalls datiert. Auf den Tag also, über den Deutschland sich so freute...

Maggie und er sind jetzt vom Leben abgeschnitten, nicht einmal fürs Sommerfest reicht es. Die Tochter kommt nicht mehr. Otto schämt sich sogar, dass er ihr nichts bieten kann... sehr trostlos.

Habt ihr den Satz auf S. 112 gesehen:[zitat]sein Großvater war also im Westen gefallen. Genau wie Ich, dachte Otto.[/zitat]
Das tut fast körperlich weh, diese Diskrepanz aus ursprünglicher Hoffnung, Freude am Konsum, an Reisen,... und jetzt das krachende Scheitern.

Was mir nicht ganz klar Ist, ist die Leichtigkeit Ottos im Angesicht der Rechnungen. Er haut eine Rechnung Maggie um die Ohren (ja, sie hat besonders große Freude am Geld ausgeben gehabt), steht auf wie in Trance und fühlt sich leicht. Hat er da schon seinen Freitod beschlossen? Es scheint fast so. Der Gerichtsvollzieher kommt zwar am selben Tag. Aber die Entscheidung hat er meines Erachtens schon früher getroffen.
 

Querleserin

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Ottos Leichtigkeit im Angesicht der Rechnungen. Er haut eine Rechnung Maggie um die Ohren (ja, sie hat besonders große Freude am Geld ausgeben gehabt), steht auf wie in Trance und fühlt sich leicht. Hat er da schon seinen Freitod beschlossen? Es scheint fast so. Der Gerichtsvollzieher kommt zwar am selben Tag. Aber die Entscheidung hat er meines Erachtens schon früher getroffen.
Ich habe diese Situation eher als Rückblick gelesen. Die ersten Rechnungen, die körperliche Reaktion der Verdrängung, danach beginnt er mit dem Trinken. Der Gerichtsvollzieher war jedenfalls mehrmals da.
 

ulrikerabe

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Sommertag und dann eine solch deprimierende Geschichte...
Otto repräsentiert einen "klassischen" Wendeverlierer.
Ich würde das nicht auf die Wende reduzieren. Modernisierungsverlierer, Digitalisierungsverlierer, Bildungsverlierer, welches Wort auch immer vor den Verlierer gesetzt wird. Alkoholiker und Arbeitslosigkeit gab und gibt es immer schon. Scham Schuld und Schulden, das ist doch universell. Da, dort, hier, überall.
 

SuPro

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Ich glaube, dass es sich für Otto so leicht anfühlte, weil er angesichts der nicht mehr zu bewältigenden Aufgabe Erlösung empfand.
Erlösung aufgrund der für ihn noch einzig verbleibenden Möglichkeit: Suizid.
Solange man Lösungsmöglichkeiten sieht, muss man sich aufraffen und anstrengen.
Das bedeutet inneren Druck.
Es könnte sich ja lohnen.
Wenn man aber keine Lösung mehr erkennen kann, wenn man kein Licht mehr am Ende des Tunnels entdecken kann, dann fällt plötzlich dieser ganze Druck von sich aufraffen und anstrengen müssen von einem ab.
Also sicherlich nicht grundsätzlich und bei jedem, aber ich denke, dass das bei Otto so war.
Eine Lösungsmöglichkeit hätte hier ja sein können, Privatinsolvenz anzumelden. Das machen viele und das ist nicht das Schlimmste.
 

SuPro

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Hat er da schon seinen Freitod beschlossen?
... Ich könnte mir vorstellen, dass er mit diesem Gedanken schon lange gespielt hat. Dass diese Option wie ein Hintertürchen bereitstand.
Aber solange es noch Hoffnung in irgendeiner Art und Weise gab, musste dieses Hintertürchen noch nicht geöffnet werden.
Aber jetzt, wo alles wirklich zu viel wurde, war es völlig klar: Suizid ist die Lösung!
 

SuPro

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Diese Geschichte hat mich unglaublich berührt. Wahrscheinlich deshalb, weil ich auch in meinem Alltag immer wieder mit solchen oder ähnlichen Lebensgeschichten zu tun habe, die dann jedoch in aller Regel eine andere Wende nehmen.
Da steht am Ende des Abstiegs dann höchstens ein Suizidversuch, der dann den Weg in Psychotherapie/Psychoanalyse bereitet.
Und dann kann es Schritt für Schritt aufwärts gehen. Mühsam, beschwerlich, schmerzlich. Aber eben aufwärts.
Mich macht das Ende dieser Geschichte unheimlich zornig.
Zornig auf Otto, der sich einfach aus dem Staub macht und Maggie völlig allein ihrem weiteren Schicksal überlässt. Natürlich war er mutlos und verzweifelt. Keine Frage. Aber ich habe da eine ganz entschiedene und klare Auffassung: Suizid ist an solchen Stellen die einfachste Lösung. Man kann Scham und Schuld entgehen und muss sich nicht mehr anstrengen.
 

Querleserin

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Ich würde das nicht auf die Wende reduzieren.
Da gebe ich dir Recht. Allerdings verwendet Krien in einer Erzählung selbst den Begriff (Zigarettensammler) und er findet sich auch im Klappentext. Zudem wird in der Geschichte explizit auf die Wende und das neue kapitalistische System verwiesen.
Aber natürlich kann man auch diese Geschichte unabhängig vom politischen Kontext der Wende lesen. Dass sich Menschen verschulden, über ihre Verhältnisse leben und ihre Kredite nicht mehr durchschauen, gibt es überall.
 
G

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Sommertag und dann eine solch deprimierende Geschichte...
Otto repräsentiert einen "klassischen" Wendeverlierer.
Nachdem er sich als Schreiner selbstständig gemacht hat, hat sich finanziell übernommen, wobei seine Frau vor allem das?Held mit vollen Händen ausgegeben hat, hat den Überblick über Kredite verloren, die ihm großzügig angeboten wurden (Kapitalismuskritik?).
Irgendwann ist er pleite, kann keine Rechnungen mehr bezahlen, wird gepfändet.
Als Reaktion beginnt er zu trinken, verliert seinen nächsten Job wegen seines Alkoholismus und jetzt steht erneut eine Kündigung an, sogar die Gänse sollen gepfändet werden.
Er sieht keinen Ausweg mehr und erhängt sich.
Keine gelingt es erneut die Verzweiflung Ottos sprachlich intensiv erlebbar zu machen. Kein Hoffnungsschimmer - nirgendwo.
Perfekt zusammengefasst! Allerdings sehe ich eine Mitschuld ebenso bei Otto. Seine Sicht, die Schuld mehr auf die Ehefrau zu begrenzen, kann auch daher rühren, die eigene Beteiligung nicht mehr zu sehen/nicht mehr sehen zu wollen. Ebenso interessant wie Otto jedem auf dem Dorffest sagt, was er von ihm denkt. Sagt er auch sich selbst seine Meinung? Ist er auch da ehrlich. Das klappt nicht so. Ist ja auch einfacher woanders zu kehren.
 
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Habt ihr den Satz auf S. 112 gesehen:[zitat]sein Großvater war also im Westen gefallen. Genau wie Ich, dachte Otto.[/zitat]
Das tut fast körperlich weh, diese Diskrepanz aus ursprünglicher Hoffnung, Freude am Konsum, an Reisen,... und jetzt das krachende Scheitern.
Traurig, traurig. Kann ich dazu nur sagen. Aber auch etwas einfach. Denn wo ist hier die eigene Beteiligung? Nur dem Westen die Schuld zu geben ist doch etwas zu einfach.
 

Literaturhexle

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Traurig, traurig. Kann ich dazu nur sagen. Aber auch etwas einfach. Denn wo ist hier die eigene Beteiligung? Nur dem Westen die Schuld zu geben ist doch etwas zu einfach.
Natürlich. Es gehören immer zwei dazu. Der Verführer und der Verführte. Aber viele Leute schauen sich nicht selbst ins Gesicht, sondern sehen die Verantwortung gerne beim anderen... Das ist einfacher.
 
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Pure Gänsehaut beim Lesen... Die Aussichtslosigkeit steckt in jedem Wort, jedem Satz. Mehr weiß ich momentan nicht dazu zu sagen...:rolleyes:

Ja, das ist hier in meinen Augen der erste richtige Verlierer. Und ja, er tut mir leid, der Otto. Aber es tut mir auch leid, dass er sich keine Hilfe gesucht hat und eigenes Verhalten reflektiert. Und seine Frau tut mir auch leid. Denn sie sitzt jetzt alleine auf dem gemeinsam produzierten Scherbenhaufen. :confused::confused:
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Traurig, traurig. Kann ich dazu nur sagen. Aber auch etwas einfach. Denn wo ist hier die eigene Beteiligung? Nur dem Westen die Schuld zu geben ist doch etwas zu einfach.
Mir war das auch zu einfach gedacht. Da hätte er genauso gut dem Osten die Schuld geben können. Dafür, dass sie ihr Volk jahrzehntelang kaserniert haben und diese dann mit der neuen „ Freiheit“ überfordert waren. Den Vergleich mit Kriegsgefallenen finde ich anmaßend. Aber es ist natürlich immer leichter, anderen oder dem System die Schuld zu geben, als Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen.