Sigrid Undset: Viga-Ljot und Vigdis

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda

"Am Waldrand stand ein helbraunes Pferd, es war nicht bei der Herde, sondern blieb in der Nähe der Häuser, es wollte immer wieder schmusen, vor allem mit Vigdis. Nun kam es her und schnupperte an ihr, es stand über ihr, während sie dort lag. Als die Wehen ein wenig nachließen, erhob sie sich mühsam und ging weiter über die Weide; das Pferd war die ganze Zeit bei ihr. Immer wenn eine Wehe kam, legte sie ihm die Arme um den Hals und hielt sich an im fest, und dann bewegte es den Kopf, berührte ihre Schulter und ihren Rücken und blieb ganz stilll stehen. (...) Hoch am Himmel gab es einen blauen Fleck zwischen den Wolken, der sich im See spiegelte, alles andere war schwarz und schrecklich. Einmal schrie sie laut, doch der Widerhall vom Felsvorsprung auf dem jenseitigen Ufer klang so furchtbar, dass sie es mit der Angst zu tun bekam, und sie stopfte sich einen Zipfel ihre Umhangs in den Mund."

Wir befinden uns in Norwegen im Mittelalter. Der junge Isländer Ljot, wegen seiner Tapferkeit Viga-Ljot genannt (viga bedeutet in altnorwegisch soviel wie Kampf) kommt mit seinem Verwandten Veterlide auf einen norwegischen Hof, "um Bauholz zu kaufen" - das war auf Island vermutlich immer knapp. Dort begegnet er der Tochter des Hofbesitzers, der schönen Vigdis. Die beiden machen Eindruck aufeinander, Vigdis darf ihren Gatten frei wählen (hat ihr Vater ihr versprochen), einer Werbung steht also nichts im Wege. Leider ist Viga-Ljot ein Heißsporn, geprägt von der zeittypischen übertriebenen Empfindlichkeit, was seine "Mannesehre" betrifft, und er muss sich gegen Mitbewerber durchsetzen. Eine Reihe von Auseinandersetzungen mit Vigdis - wenn man solche Beschwichtigungsgespräche überhaupt Auseinandersetzung nennen kann - endet mit einer Vergewaltigung. Diese Tat ändert alles zwischen den beiden und bestimmt fortan ihr ganzes Leben.

Für Vigdis ist nichts, wie es vorher war: "Jetzt bin ich wie ein Vogel, der mit seinen gebrochenen Schwingen schlägt; er kann (...) nur noch so weit sehen, wie das Blut fließt. Wenn ich daran denken möchte, was früher war, sehe ich immer nur, was jetzt ist." Um ihre Schwangerschaft zu verbergen, zieht sie sich vor ihrer Familie zurück, aber es gibt Gerede, weitere Ehrverletzungen und daraus folgende Gewalttaten, und schließlich muss sie mit ihrem Kind fliehen. Die Beschreibung dieser Flucht ist eine wahre tour de force, die die Leserin schaudern macht. Aber es ist nicht nur Vigdis, die leidet; auch Viga-Ljot hat mit dem Bewusstsein seiner Tat jede Aussicht auf Frieden verspielt.

Kristof Magnusson betont in seinem Vorwort zu dem Roman, wie sehr Undset auf die Stellung der Frau in der mittelalterlichen Gesellschaft fokussiert, und zieht Parallelen zur heutigen #metoo-Bewegung, dem victim blaming, sogar zu Game of Thrones und Tarantino. Ich würde das Vorwort nicht gerade total daneben nennen, aber es ist mir bei weitem zu einseitig. Vor allem demonstriert Undset, in welchem Grade die Gewalttat, der Impuls eines Augenblicks, das ganze Leben der Protagonisten bestimmt. Es gibt etliche Begegnungen, auch später noch, an denen noch alles gut hätte werden können. Aber so funktioniert das Leben nicht. Beide sind fürs Leben gezeichnet, aber auch fürs Leben aneinander gebunden.

Man muss schon sehr betonen, wie sparsam der Stil der damals noch jungen Autorin ist. Das Buch erschien 1909, als Undset 27 Jahre alt war. Neunzehn Jahre später bekam sie für "Kristin Lavranstochter", auch ein Mittelalter-Roman, den Nobelpreis. Das ist nun ein dreibändiges, ausuferndes Werk - "Viga-Ljot und Vigdis" kommt dagegen mit 190 Seiten aus, obwohl darin das Schicksal zweier Generationen erzählt wird und die Autorin eine unglaubliche Kraft der Schilderung entfaltet. Kaum jemand kann mit so einfachen Mitteln eine solche erzählerische Wucht erzielen wie Sigrid Undset. Gabriele Haefs ist eine ausgezeichnete Übersetzung gelungen.


Dicke Leseempfehlung für dieses Buch. Ein schönes Buch übrigens, das Druckbild gefällt mir besonders.