Sarabande in d-moll (S. 136 - 157)

Querleserin

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Wadern
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Wieder eine traurige, eigentlich schon tragische Geschichte. Die Eröffnung ist für Ludwig das Signal, endlich seine kleine Schwester in Bayern zu besuchen, wo sie seit 28 Jahren in einer Klinik ist.
Schizophrenie lautete die Diagnose in der DDR, mit einer fantasievollen Geschichte gelingt ihr kurz vor dem Mauerbau eine Reise nach München, wo sie bei ihrer Tante als Schneiderin arbeiten will. Ihr Bruder begleitet sie bis kurz hinter die Grenze, etwas geschieht, so dass in Bayern direkt in eine geschlossene Anstalt kommt.
Als er sie jetzt nach all der Zeit aufsucht, gelingt es Krien mit wenigen Worten die unmenschliche "Verwahrung" zu beschreiben. Die vermeintlich bessere Behandlung im Westen war ein Trugschluss - ohne Familie, die sich hätte kümmern können. Versöhnlich ist das Ende der Geschichte, die den Zauber der Musik in den Vordergrund rückt, nur mit ihrer Hilfe gelingt es Ludwig (!) zu ihr durchzudringen.
 

Literaturhexle

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Wieder eine traurige, eigentlich schon tragische Geschichte. Die
Ja, absolut. Hier kommt jetzt der Westen nicht gut weg. Die Bedingungen in dem Heim müssen ja ganz übel gewesen sein. Wie geschickt, den Geruch zu schildern... mir ging das durch und durch. Ohne viele Worte zu machen, setzt die nächste Szene ein.

Das Deutsch/Deutsche Drama gekonnt eingefangen. Von einem Tag zum anderen waren die Grenzen zu. Wer getrennt war zu dem Zeitpunkt, blieb es. Wie bitter für die junge Frau. Offensichtlich haben ihr doch die Stimmen befohlen, die DDR zu verlassen, Angst/Panik ließen sie aus dem Fenster springen...
Ich habe keine Ahnung, wie damals psychische Krankheiten behandelt wurden. Aber wenn ich höre, es sollen Löcher in die Schädeldecke gebohrt werden, um irgendwelche Verbindungen zu kappen, da wird es mir ganz anders... (Ähnliches gilt für Strombehandlungen :eek:)

Als Metapher möchte ich noch den toten Vogel erwähnen, der von anderen Tieren auseinander genommen und gerupft wurde.

Hat Krien denn nur so traurige, berührende Geschichten für uns?!?
 

Querleserin

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Wadern
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Aber wenn ich höre, es sollen Löcher in die Schädeldecke gebohrt werden, um irgendwelche Verbindungen zu kappen, da wird es mir ganz anders... (
Die Lobotomie gab es wirklich, heute hoffentlich nicht mehr!
Ich glaube aber, dass die Bedingungen im Westen für Almut auch deshalb so schlimm waren, weil keine Angehörigen sich gekümmert haben. Andererseits glänzt der Westen nicht nur...Das ist menschenunwürdig!
 

Literaturhexle

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Andererseits glänzt der Westen nicht nur...Das ist menschenunwürdig!
Man hatte auch hierzulande lange ein gespaltenes Verhältnis behinderten Personen gegenüber. Mein Cousin, Jahrgang 1961, hat relativ spät laufen gelernt aufgrund einer Hüftdisplasie. Die Eltern sind mit dem 2,5-jährigen in verschiedenen Kliniken gewesen. Eine Schwester sagte: "Dass solche Kinder überhaupt leben dürfen. Zu Adolfs Zeiten hat es das nicht gegeben...". 1963/64 war das, also ein paar Jahre, nachdem Almut aus dem Zugfenster sprang... Insofern kann man sich schon vorstellen, wie die Zustände im Heim waren. Wenn sich dann niemand drum kümmert, blieb die Betroffene wahrscheinlich schlecht untergebracht.
(Das "unwürdige" Kind hat dann mit Spreitzhose laufen gelernt und ist heute erfolgreicher Mediziner ;))
 

Querleserin

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Eine Schwester sagte: "Dass solche Kinder überhaupt leben dürfen. Zu Adolfs Zeiten hat es das nicht gegeben..."
Unglaublich, dass die Schwester dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Wie kann man so was sagen...glücklicherweise hatte das keine langfristigen Konsequenzen für deinen Cousin!
 

kingofmusic

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Allein bei dem Gedanken und beim Lesen über die Lobotemie ist mir die Galle hochgekommen. Etwas menschenunwürdigeres gibt es fast nicht. Ob es bei uns in der Einrichtung auch Lobotemie gegeben hat, weiß ich nicht, aber zimperlich sind sie auch bei uns nicht mit den Behinderten umgegangen. Das hat sich durch alle Bereiche gezogen - insbesondere die sog. Fürsorgeerziehung *grusel*. Solltet ihr jemals den Film "Freistatt" sehen, wisst ihr wovon ich rede. Und das im Namen der Diakonie...Ich fand das Ende auch total berührend, dass Almut durch die Musik "erreichbar" war - da hab ich echt Gänsehaut bekommen und bestätigt mich, dass meine Nichte einen sinnvollen Beruf einschlägt (sie will Musiktherapeutin werden!).
 
G

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Gast
Die Erzählungen werden wirklich immer schlimmer und auch immer weniger aushaltbar. Ich habe geahnt, dass etwas Schlimmes hier anrollt, aber schlussendlich überrollt es mich fast.
Psychisch Erkrankte hatten damals keinen guten Stand, im Osten und im Westen nicht. Schön, dass Frau Krien dass auch gut darstellt!
Hier änderte sich in den letzten 25 Jahren sehr viel, zum Besseren, aber auch zum Schlechteren. Ich bin sehr gespannt, ob Wachstum im Gesundheitswesen weiter eine Rolle spielen wird oder endlich ein sozialeres Denken. Aber gut, an Märchen glaube ich nicht!
Almut tat mir unendlich leid und ich habe jetzt etwas Angst vor den kommenden Geschichten.
 

SuPro

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Habe die Geschichte gerade beendet und muss, bevor ich Eure Kommentare lese und mich einklinke dringend was loswerden:
Ich bin tief berührt und gerührt. Konnte und wollte die Tränen gerade nicht zurückhalten, obwohl ich unter einem Sonnendach im Liegestuhl am Meer liege und die Wellen rauschen höre.
Welch‘ bedrückende und beklemmende Geschichte. Wie bedauernswert! Ludwig mit seinen Schuldgefühlen, Almuth mit ihrer schweren Erkrankung.
Welch‘ kleines, großes Glück, sie am Ende nach. Erkundungstour holen zu können, wo sie besser betreut, versorgt und behandelt wird.
Welch‘ herzerwärmende Vorstellung, welche Freude Ludwig seiner Schwester bereitet, wenn er die Sarabande in d-Moll spielt.

Chapeau Frau Krien!!!!
 

ulrikerabe

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Wie traurig, wie furchtbar furchtbar traurig. Ich hatte von Anfang an keinen guten Start mit diesem Buch. Ich habe ein wenig pausiert. Doch diese Geschichte zieht mich einfach runter. Und auch ein bisschen wieder gerade. Meine Tochter hat eine psychiatrische Diagnose und das ist nie sehr einfach. Aber um Welten besser als das was ich von damals lese.