Rezension (5/5*) zu Zweckfreie Kuchenanwendungen: Roman von Yeoh Jo-Ann

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Zweckfreie Kuchenanwendungen: Roman von Yeoh Jo-Ann
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eine literarische Wundertüte

„Ein Mann und eine Frau gehen durch einen Supermarkt.“
Dies ist der erste Satz des Romans „Zweckfreie Kuchenanwendungen" der singapurischen Autorin Yeoh Jo-Ann. Was darauf folgt, ist kein Witz, sondern eine Geschichte, die Ihresgleichen sucht und kaum zu vergleichen ist, mit dem, was die europäische Literaturszene aktuell zu bieten hat - nicht, weil dieser Roman aus Singapur besser oder schlechter als europäische Literatur ist, sondern, weil er ganz einfach herzerfrischend anders ist.

Der Inhalt ist schnell erzählt:
Unverheirateter Lehrer in den 30ern trifft per Zufall auf seine Liebe aus Schulzeiten und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, kommen sie am Ende des Romans wieder zusammen.
Das hört sich ähnlich simpel an, wie der erste Satz dieses Romans, ganz so simpel ist die Geschichte dann aber doch nicht. Denn das, was die Autorin aus diesem unspektakulären Plot strickt, ist um einiges raffinierter und bringt den Leser zum Staunen. Und das hat folgende Ursachen:

1. Schauplatz: Singapur
„Zweckfreie Küchenanwendungen" ist von einer Autorin aus Singapur geschrieben und spielt an genau diesem eigenwilligen Ort, der als eines der reichsten, saubersten und sichersten Länder der Erde gilt. Singapur verspricht demnach eine extrem hohe Lebensqualität. Nur die Mittel, die dieses Land einsetzt, um diese Standards zu sichern, sind fragwürdig. Denn Singapur ist ein autoritärer Stadtstaat, welcher das Leben seiner Einwohner durchtaktet und lenkt. Das Strafrecht ist eigenwillig. Was bei uns als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe geahndet wird, kann in Singapur mit einer Körperstrafe enden. Es gibt hier noch die Todesstrafe, die regelmäßig praktiziert wird, die Statistiken von Amnesty International sind da sehr aussagekräftig. Singapur mag zwar nach Außen den Anschein erwecken, "the place to be" zu sein. Doch der Schein trügt.
Wer also dieses Buch liest, sollte niemals die Besonderheiten dieses Landes und seiner Gesellschaft außer Acht lassen und den Fehler machen, diese Lektüre nach europäischen Maßstäben zu messen. Es lohnt sich, im Vorfeld ein wenig Recherche zu betreiben, um die Eigenwilligkeiten der Geschichte, die durch ihren Schauplatz gegeben sind, überhaupt erkennen zu können.

2. Die Charaktere: Sukhin und Jinn
Der Lehrer Sukhin kommt anfangs als Eigenbrötler daher, dem die Gesellschaft anderer zuwider ist, was er auch nicht verbirgt. Auf den ersten Blick interpretiert man sein Verhalten als arrogant, überheblich und ich-bezogen. Doch die Autorin zeigt auf, dass auch ein Unsympath wie ihr Protagonist, Gründe für sein abweisendes Verhalten hat. Spätestens mit seiner Fürsorge für Jinn erobert Sukhin des Lesers Herz. Er kann also auch anders.
Jinn ist die große Geheimnisvolle in diesem Roman. Sie lebt auf der Straße (man beachte den Widerspruch: in Singapur gibt es offiziell keine Obdachlosigkeit!) und die große Frage, auf deren Antwort der Leser bis zum Schluss des Romans voller Spannung warten muss, ist, warum Jinn, die in geordneten Verhältnissen aufgewachsen ist, in diese Situation geraten ist.
Die Spannung wird dabei durch geheimnisvolle Zwischenkapitel in diesem Roman angeheizt, die scheinbar so gar nicht in die Handlung hineinpassen. Insbesondere sprachlich unterscheiden sich diese traurig-melancholischen Abschnitte von dem quirlig und salopp erzählten Handlungsstrang um Sukhin und Jinn.

3. Wohlfühlfaktor: Essen
Der Titel „Zweckfreie Kuchenanwendungen" deutet darauf hin: es wird gegessen. Man könnte jetzt unzählige Weisheiten zitieren, die Essen einen Wohlfühlfaktor bescheinigen. Auf diesen Roman träfen die meisten zu.
Natürlich ist es hier der Kuchen, der die Glückshormone befeuert, wobei der Leser auch sein Fett abbekommt, denn diese Wohlfühlstimmung überträgt sich.
Solange der Kuchen schmeckt, ist die Welt der Charaktere in diesem Roman in Ordnung. Aber bekanntlich schlägt zuviel Kuchen auf den Magen.

Unbedingt hervorzuheben ist die Leistung der Übersetzerin Gabriele Haefs, die es geschafft hat, den mitunter lakonischen Sprachstil der Autorin wiederzugeben. Die Herkunft dieses Romans und seine Besonderheiten hinsichtlich Lokalkolorit und der Umgangssprache in Singapur haben es Frau Haefs da sicherlich nicht leicht gemacht. Ihr haben wir auch das hochinteressante und unterhaltsame Glossar zu verdanken, in dem sie nicht nur auf die Eigenheiten Singapurs und seiner Sprache eingeht, sondern auch Erklärungen zu Begriffen liefert, die dem Singapur-Unkundigen fremd sind. Eine grandiose Leistung von Gabriele Haefs, die damit keinen unerheblichen Anteil an der Qualität dieses Romans hat.

Fazit
„Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ist eine literarische Wundertüte voller Überraschungen, die mich durch ihre einzigartige Mischung aus Unterhaltung, Tiefgang und Fremdartigkeit verzaubert hat. Leseempfehlung!