Rezension (5/5*) zu Zweckfreie Kuchenanwendungen: Roman von Yeoh Jo-Ann

GAIA

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Buchinformationen und Rezensionen zu Zweckfreie Kuchenanwendungen: Roman von Yeoh Jo-Ann
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Ein warmherziger Roman mit Tiefgang

Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man es bis zur letzten Seite inklusive jeder Anmerkung eingesogen hat. Oder sollte ich besser sagen, weg gefuttert hat?

Die Singapurische Autorin Yeoh Jo-Ann erschafft in ihrem ersten Roman eine Welt, die die Lesenden fasziniert, überrascht aber vor allem warm hält. Zunächst bekommen wir den grummeligen Sukhin vorgestellt, welcher als 35jähriger Lehrer irgendwie mit sich und der Welt unzufrieden zu sein scheint. Dem tut er manchmal offen verbal, meist aber nur gedanklich kund und wirkt dadurch unwillkürlich in seiner Grantigkeit urkomisch. Schnell schließt man diesen Menschen ins Herz, wie eigentlich jede andere Figur auch in Yeoh Jo-Anns Roman. Die Handlung der Geschichte kommt ins Rollen, als Sukhin vollbeladen mit Schnickschnack für das Chinesische Neujahrsfest quasi in die Wohnung seiner ehemaligen Schulfreundin und großen Liebe Jinn hineintrampelt. Diese besteht nämlich aus einem Haufen Kartons, da Jinn auf der Straße lebt.

Aus dieser schicksalhaften Begegnung entspinnt sich nun eine über einen längeren Zeitraum hinweg erzählte Geschichte, die sich keineswegs nur um Sukhin und die zaghafte Wiederannäherung an Jinn dreht, sondern ebenso um Themen wie Homosexualität in Singapur, die Ressourcenverschwendung in einer heutigen, modernen Gesellschaft, der Zusammenhalt von Familie oder der selbstgewählten Familie. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich die Autorin ihren Figuren durch Rückblicke an und kann dadurch diese facettenreich und wandlungsfähig darstellen. Tiefsinnig beschäftigt sie sich dabei mit ihren Figuren und deren Beziehungen untereinander wie auch den ausgesuchten gesellschaftlichen Themen. Nie wirkt der Roman dabei überfrachtet, immer leicht zu lesen und ausgeglichen. Allein die Darstellung der (offiziell in Singapur nicht vorhandenen) Obdachlosigkeit sowohl selbstgewählt bei Jinn als auch bei anderen auftauchenden Menschen, die auf der Straße leben, erschien mir bisweilen ein klein wenig zu unproblematisch.

Sprachlich besticht der Text durch seinen auflockernden, trockenen und immer ins Schwarze treffenden Humor. So häufig musste ich während der Lektüre schmunzeln, um seiner wahren aber nie zynischen Einschübe. Den Roman außergewöhnlich machen sporadisch eingefügte, kursiv gesetzte Texteinschübe, in welche eine gewisse Melancholie, die man in der Haupthandlung sonst nicht findet, beinhalten und sich sukzessive in das Wissen, welches man während der Lektüre erwirbt, einweben. Diese Passagen muten im Rahmen des ansonsten eher süffig geschriebenen Romans besonders poetisch an und entwickeln ihren ganz eigenen Sog, der einen großen Anteil am Spannungsbogen des Buches hat.

Dieser amüsante, einfühlsame, literarische Unterhaltungsroman verströmt meines Erachtens mit jeder Pore die Atmosphäre, die vergleichbar in der deutschsprachigen Literaturwelt Mariana Leky in ihren Romanen um interessante, liebenswerte Charakterköpfe, die vor ihren ganz eigenen Problemen und den Problemen der Welt stehen und gemeinsam irgendwie einen Weg durch die schweren Zeiten finden, heraufbeschwört. Für mich wäre „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ein guter Anwärter auf den Preis „Lieblingsbuch der Unabhängigen“. Eins meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 ist es schon jetzt geworden. Also lest dieses wunderbare Buch und lernt den multikulturellen Stadtstaat Singapur, seine Einwohner und gleich mit den Verlag Kröner kennen! Denn dieser hat nicht nur ein schön anzusehendes Buch entworfen, sondern auch noch für eine großartige Übersetzung durch Gabriele Heafs und deren Anmerkungen zum Text gesorgt.

4,5/5 Sterne

 

otegami

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Tolle, ausdrucksstarke Rezi, die mir Appetit auf das Buch macht! ;) Z.Zt. hätte ich diese LR nicht geschafft - andere Prioritäten stehen dagegen!
 
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Tolle, ausdrucksstarke Rezi, die mir Appetit auf das Buch macht! ;) Z.Zt. hätte ich diese LR nicht geschafft - andere Prioritäten stehen dagegen!
Dann besorg es dir mal schnell, damit du es zur Hand hast, wenn der Hunger mal ganz stark wird. ;)
Gerade wenn anderweitige Prioritäten mal die Kraftreserven für eine Weile angezapft haben, braucht man auch mal eine schöne (literarische) Stärkung für zwischendurch!
 
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Literaturhexle

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Die Parallele zu Mariana Leky sehe ICH zum Glück nicht;)
Aber ansonsten ist dir eine wunderbare, begeisternde Rezension gelungen, die dem Buch absolut gerecht wird!
(Natürlich ohne Spoiler, wie üblich bei dir :helo )
 
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alasca

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Haha, ich hab schon in deinem LR-Beitrag herausgelesen, dass du nicht so ein Fan von ihr bist. :rofl
Tatsächlich mag ich ihre Bücher (hab alle gelesen) sehr gern, was beim vorliegenden Buch demnach definitiv ein Lob ist. :)
Die Parallele zu Mariana Leky sehe ICH zum Glück nicht;)
Aber ansonsten ist dir eine wunderbare, begeisternde Rezension gelungen, die dem Buch absolut gerecht wird!
(Natürlich ohne Spoiler, wie üblich bei dir :helo )
Hm ... ich finde Leky auch ziemlich furchtbar, wenn es da Ähnlichkeiten gibt, bin ich raus ... :monocle
 
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Was hat für den letzten halben Stern gefehlt?
Die Sache der mir ein wenig zu unproblematisch dargestellten Obdachlosigkeit. Es wird nicht zwingend bagatellisiert, aber für mich war es etwas zu unwahrscheinlich, wie einfach Jinn so lang ohne Dach über dem Kopf leben konnte ohne größere Zwischenfälle.
 
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Hm ... ich finde Leky auch ziemlich furchtbar, wenn es da Ähnlichkeiten gibt, bin ich raus ... :monocle
Ich denke, wenn das Hexle das vorliegende Buch auch gefiel, wirst du wohl keine Probleme damit haben. Ich war auch die einzige, die das so wahrgenommen hat. k.A. vielleicht haben mich da auch die Kuchenanwendungen einfach in einem komischen Moment erwischt, dass ich die Atmosphäre so wahrgenommen hab.
 
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Es wird nicht zwingend bagatellisiert, aber für mich war es etwas zu unwahrscheinlich, wie einfach Jinn so lang ohne Dach über dem Kopf leben konnte ohne größere Zwischenfälle.
Das kann ich so nicht stehen lassen;)
Obdachlosigkeit wird in keiner Weise bagatellisiert. Es gibt sie in Singapur einfach - per Definition - nicht. Und deshalb wird sie ignoriert. Darüber hinaus ist die Bevölkerung viel gesitteter, weniger pluralistisch, sauberer. Alles Mögliche steht unter Strafe und diszipliniert dadurch.
Die Sache mit der Obdachlosigkeit hat einen völlig anderen Hintergrund als bei uns. Man MUSS das Buch von deutschen Verhältnissen loslösen. Die Autorin kritisiert hier verschiedene Missstände sehr subtil. Aus meiner Sicht ist "Bagatellisierung der Obdachlosigkeit" ein absoluter Holzweg.

@alasca : Das Buch ist super! Es hat mit Leky nichts zu tun! Letztere mochte ich übrigens auch nicht. Wir haben über die Okapis aber schon hübsch kontrovers diskutiert;)

By the way: Was sind deine Bücher, die man gelesen haben MUSS???
 
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Obdachlosigkeit wird in keiner Weise bagatellisiert.
Und auch das kann ich nicht so stehen lassen, da ich genau in dem von dir zitierten Test schreibe „Es wird nicht zwingend bagatellisiert.“ Damit sage ich doch genau das aus! Und auch später schreibst du noch einmal
Aus meiner Sicht ist "Bagatellisierung der Obdachlosigkeit" ein absoluter Holzweg.
Nochmal: Exakt das habe ich eben gar nicht behauptet!

Wir reden an einander vorbei. Denn es geht mir nicht darum die Obdachlosigkeit, wie sie im Buch dargestellt wird und in Singapur formell nicht existiert mit europäischen Verhältnissen zu vergleichen. Auch in Singapur leben Menschen und der Mensch kann nun einmal auch böse sein, egal wie straff die Rechtssprechung ist. Deshalb kann es auch dort zu z.B. einem gewaltsamen Übergriff an jemandem kommen, der auf der Straße ungeschützt lebt. Auch diese Person wird Sorgen haben, ob der Regen zu stark und zu lange anhält und sie eine auf der Tsraße nicht auskurierbare Infektion bekommt, usw.

Es eügeht hier darum, dass mich @alasca fragte, warum der halbe Punkt Abzug. Für mich war das eben der Grund. D.h. doch nicht, dass ich das Buch nicht trotzdem toll fand.
 
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Na, jetzt MUSS @alasca das Buch doch lesen, wenn man so trefflich darüber diskutieren kann :p
Na mal sehen, vielleicht gewinne ich es ja auf LB! :monocle Die Auslosung steht derzeit aus. Und dann gibt es ja noch die StBib. Kaufen werde ich es mir nicht - die Erwähnung von Mariana Leky hat mich, trotz aller folgenden Relativierungen, SEHR vorsichtig gemacht...:smilehorn

Da könnt ihr mal sehen, was ich von der Leky halte!
 

alasca

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By the way: Was sind deine Bücher, die man gelesen haben MUSS???
Puh. Na du kannst Fragen stellen. :oops::think In diesem Jahr vielleicht:

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Literaturhexle

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Zu diesem Jahr fragen wir noch;)

Aber ich sehe einige Überschneidungen: das Versprechen und Dunkelblum waren ganz großartige Bücher!
 
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