Rezension (5/5*) zu Zusammenwachsen von Musa Deli

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Bewegt euch bis zur Mitte!

Kurzmeinung: Verständlich formuliert - ein notwendiges Plädoyer.


Der Autor leitet und arbeitet im Sozialpsychiatrischen Kompetenzzentrum Migration in Köln (SPKoM) und will mit seinem Buch einen Beitrag dazu leisten, für die Nöte der Mitbürger mit türkischem Migrationshintergrund Verständnis zu wecken, was ihm durchaus gelingt. Dabei geht es in den Fallbeispielen sowohl um Menschen mit psychischen Störungen wie auch um andere Alltagsprobleme, die aber spezifisch für Menschen mit Migrationshintergrund sind.

Der Autor beleuchtet die Lebensverhältnisse der ersten bis zur dritten Generation, während die vierte ein wenig zu kurz kommt. Die Fallbespiele, einschließlich der Lebens- bzw. Berufsgeschichte des Autors, der zur zweiten Generation gehört, sind wirklich interessant. Die erste Generation hatte naturgemäß am meisten zu kämpfen. Sie war aber auch die angepassteste, wollte nicht auffallen und dem Herkunftsland, der Türkei, Ehre machen. Die zweite Generation kam besser hinein in die deutsche Gesellschaft, doch die Kinder, die als Kleinkinder vorrangig zu Hause betreut wurden, hatten gravierende Nachteile, wenn sie in die Schule kamen und dort erst die Sprache erlernten. Förderprogramme für dieses Problemfeld sind erst nach und nach entstanden. Die dritte Generation ist rebellischer. Immer noch kämpft sie mit der kulturellen Verschiedenartigkeit. Wird die vierte Generation ankommen?

Der Kommentar:
Es ist wichtig, dass wir alle über die Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund Bescheid wissen. (Der Autor selbst benutzt den Begriff und erklärt, warum er ihn verwendet). Tatsächlich herrschen auf beiden Seiten Vorurteile und Ressentiments, die entweder auf Unwissenheit, Missverständnissen oder schlechten Erfahrungen beruhen.

Offenheit und die kulturelle Öffnung, welche der Autor vehement einfordert, sind jedoch auf beiden Seiten notwendig. Ob man verlangen kann, dass es im Öffentlichen Dienst eine Quote gibt (darauf läuft es nämlich hinaus) und dass im schulischen Unterricht, auch anderes Kultur- und Bildungsgut gelehrt wird, davon bin ich nicht überzeugt. Deutschland hat ein Recht darauf, sein Kulturgut vorrangig zu lehren und zu bewahren.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und freue mich über derartige Institutionen, die immer mehr Kompetenzen vermitteln. In jede Richtung übrigens. Dennoch ist die Haltung, der Staat müsse (möglichst sämtliche) persönlichen Defizite ausgleichen, meines Erachtens nicht der richtige Weg. Fördern und fordern, davon bin ich ein Fan.

Das Buch ist verständlicherweise einseitig, es hat leichte Schräglage, aber seiner Intention wegen, kann ich diesen Fakt nicht verdenken. Über kleinere sprachliche Schwächen sehe ich hinweg. Was dieses Sachbuch allerdings fast vollkommen ausspart, sind die Erkenntnisse, die Kirsten Heisig in ihrem Minibuch „Das Ende der Geduld“ auf den Punkt bringt. Man kann das Kapitel Kriminalität nicht vom Tisch wischen und auch nicht dadurch entschuldigend erklären, dass die Jugendlichen sich benachteiligt fühlen und von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind/waren. Alles das waren die Frauen auch. Jahrhundertelang und nicht nur ein paar Jahrzehnte lang. Ein ganzes Geschlecht. Sind sie deshalb Kriminelle geworden?

Fazit: Lesenswert, aber auch diskussionswürdig. Wer sich nie intensiver mit Integration auseinandergesetzt hat, sollte dieses leicht verständliche Plädoyer für Verständnis auf alle Fälle lesen.

Kategorie: Sachbuch. Gesellschaftspolitik.
Verlag: Hoffmann und Campe, 2022

 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Toll, dass du dich immer wieder mit dem wichtigen Thema auseinandersetzt! Man kann dir wirklich nicht vorwerfen, in irgendeiner Weise einseitig zu sein. Ich bewundere das, habe aber derzeit keine Lust auf derlei Fortbildung. Nenn mich Ignorant;)