Rezension Rezension (5/5*) zu Zorn: Roman. Türkische Bibliothek von Murat Uyurkulak.

Serapion

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5. Juli 2014
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Im Süden
Literatur muss auch weh tun!

„Ich wollte, dass für die gesamte Lesezeit, ob nun drei, fünf, zehn, zwanzig oder wie viele Stunden auch immer, lärmend ein Zug durch die Seele des Lesers fährt.“ Genau so war es auch! Nach vielen Sachbüchern und klassischeren Texten war das seit Langem mal wieder ein modernes Buch für mich. Der 2002 erschienene Roman „Zorn“, im Original „Tol“, bietet einen „nichtoffiziellen Blick auf die nichtoffizielle Geschichte der Türkei“ von den 50er-Jahren bis zum Militärputsch 1980. Es ist vor allem die Geschichte der linken Bewegung in der Türkei, aber nicht glorifiziert, nicht beschönigt. „Zorn“ ist in vielem ein Tabubruch – mit traditioneller Erzählweise und Sprache, Motiven und Themen. Bei Murat Uyurkulak wird gesoffen (nein, nicht zu viel getrunken – gesoffen), verraten, betrogen, geschlagen, gefoltert... Psychopaten, Prostituierte, Verrückte, Feiglinge, – das alles bildet ein unglaublich heftiges Leseerlebnis. Und auch in der westeuropäischen Literatur geht es selten um Scheidepilz – hier taucht er auf. All das zeigt die unglaubliche Wut, die der Autor selbst in sich trägt, „Wut auf das System, auf den Kapitalismus, den Faschismus, die Herrschenden… Die Menschen in diesem Land müssten furchtbar wütend sein. (…). Es war ja nicht so, dass ich für das Buch extra Wut hätte produzieren müssen, ich habe schlicht die vorhandene beim Schreiben ästhetisiert“ (Interview 2003). Erzählt wird das als tagelanges Gespräch eines jungen Mannes mit dem „Dichter“ in einem Zugabteil, und in Form von Briefen, Manuskripten, Tagebüchern, die der Dichter unerwartet seinem Gegenüber zum Lesen gibt und mit denen der junge Mann plötzlich einen Menschen kennen lernt, den er seit vielen Jahren für tot oder verschwunden gehalten hat. Aufs Neue durfte ich wieder einmal die Erfahrung machen, wie unglaublich vielfältig die türkische Literatur doch ist. Nach Hakan Günday habe ich nun den nächsten türkischen Autor gelesen, bei dem ich sage, Literatur kann und muss weh tun!


Übersetzt von Gerhard Meier.