Rezension Rezension (5/5*) zu Wunschloses Unglück von Peter Handke.

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Eine literarische Perle!

Ein schmales Bändchen. Nur 89 Seiten.
Aber eine literarische Perle! Eine Perle, die man langsam und konzentriert lesen sollte, damit einem nichts entgeht.

Peter Handke erzählt vom Leben und Sterben seiner Mutter und stellt gleichzeitig die Gepflogenheiten, Normen und moralischen Einstellungen ihrer Generation dar.

Es geht um Individualität, bzw. Konformität, Unfreiheit, Anpassung, Unterordnung, Selbstaufgabe, Fassade, Selbstverlust und Entfremdung.
Es geht um die Bedeutung des Scheins und die Unwichtigkeit des Seins.
Und es geht, dargestellt am Beispiel seiner Mutter, um die Versuche, sich zu einem eigenständigen Individuum zu entwickeln, sowie um mögliche resultierende Folgen, wie das Absterben jeglicher Lebendigkeit, Resignation, Depression, Suche von Trost in Riten und Religion, sowie Todessehnsucht.

Vom individuellen Leben zur Gesellschaft.
Vom Psychogramm zum Sittengemälde.
Das repräsentative Konkrete als Ausgangspunkt und Anlass für Verallgemeinerung, Reflexion und Abstraktion.

Im Schweinsgalopp preschtet Peter Handke durch das Leben seiner Mutter und das damalige Zeitgeschehen.
Er schmettert dem Leser präzise und ausgefeilte Sätze entgegen.

Kein Wort zu viel - keines zu wenig.
Maximale Verknappung und Verdichtung bei gleichzeitiger präziser Darstellung dessen, was er zum Ausdruck bringen und dem Leser sagen will.

Der Leser wird mit einer schönen Sprache, bewundernswert treffenden Formulierungen und interessanten Gedanken und Überlegungen verwöhnt.
Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Armut und Elend?

Der Autor seziert, was er zu Papier bringen will und findet genau die richtigen Worte, um seine Beobachtungen und Interpretationen auszudrücken.

Er spielt mit Wörtern und Sätzen - der Ausdruck „Sprachakrobatik“ kommt mir in den Sinn.

Ein Beispiel/Zitat:
„Etwas Stoßendes Gestoßenes, Schiebendes Geschobenes, Schimpfendes Beschimpftes“.
So beschreibt er eine Person in einer Menschenschlange.

Und noch ein Beispiel/Zitat: „Ruhelos, damit man ruhig blieb, rastlos, um von sich selber los zu kommen.“
Ist es nicht wunderbar, wie prägnant und poetisch er die psychische Überlebensstrategie der Geschäftigkeit und Ablenkung beschreibt?

Handke gelingt es, seine Erzählung besonders abwechslungsreich, interessant und spannend zu gestalten, indem er auf Abschnitte, die der Nacherzählung oder Rekonstruktion des Lebens seiner Mutter dienen, Phasen folgen lässt, in denen er reflektiert, verallgemeinert, abstrahiert und assoziiert.
Als i-Tüpfelchen streut er Absätze aus Briefen seiner Mutter, Gedanken- oder Erinnerungsfetzen ein.

Der Autor erschafft ein nüchtern-sachliches, pessimistisches, melancholisches, düsteres, zuweilen zynisches, sarkastisches und vielleicht sogar verbittertes Gemälde der Generation der 1920er Jahre.

Trotz der Schwere der Thematik ist die Erzählung unterhaltsam und fesselnd. In Manchem findet man sich wieder. Manchmal muss man schmunzeln.

Am Ende der Lektüre fragt man sich, ob es wirklich so schlimm war damals und ob die Generation der einfachen Leute, im Besonderen die Frauengeneration dieser Zeit tatsächlich so tickte, funktionierte und litt.

Man hat vielleicht eigene Erinnerungen oder Erfahrungen dazu. Man hat Eltern oder Großeltern aus dieser Generation.
Ein Abgleich mit eigenem Erfahrungswissen drängt sich geradezu auf.

Darüber hinaus geht es in dem Werk um Themen, die natürlich auch heutzutage eine große Rolle spielen. Themen, die die Menschen mitbringen, wenn sie Beratung oder psychotherapeutische Unterstützung brauchen.

von: Salih Jamal
von: Yusuf Yeşilöz
von: Marcel Reich-Ranicki
 

Literaturhexle

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Puh! Keine leichte Kost hast du dir da ausgesucht. Klingt interessant, jedoch würde ich so etwas lieber in Gesellschaft lesen. So allein klingt es mir zu anstrengend:confused:. An Peter Handke muss ich allerdings irgendwann auch mal ran...
 
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Eine literarische Perle!


Ein schmales Bändchen. Nur 89 Seiten.
Aber eine literarische Perle! Eine Perle, die man langsam und konzentriert lesen sollte, damit einem nichts entgeht.

Peter Handke erzählt vom Leben und Sterben seiner Mutter und stellt gleichzeitig die Gepflogenheiten, Normen und moralischen Einstellungen ihrer Generation dar.

Es geht um Individualität, bzw. Konformität, Unfreiheit, Anpassung, Unterordnung, Selbstaufgabe, Fassade, Selbstverlust und Entfremdung.
Es geht um die Bedeutung des Scheins und die Unwichtigkeit des Seins.
Und es geht, dargestellt am Beispiel seiner Mutter, um die Versuche, sich zu einem eigenständigen Individuum zu entwickeln, sowie um mögliche resultierende Folgen, wie das Absterben jeglicher Lebendigkeit, Resignation, Depression, Suche von Trost in Riten und Religion, sowie Todessehnsucht.

Vom individuellen Leben zur Gesellschaft.
Vom Psychogramm zum Sittengemälde.
Das repräsentative Konkrete als Ausgangspunkt und Anlass für Verallgemeinerung, Reflexion und Abstraktion.

Im Schweinsgalopp preschtet Peter Handke durch das Leben seiner Mutter und das damalige Zeitgeschehen.
Er schmettert dem Leser präzise und ausgefeilte Sätze entgegen.

Kein Wort zu viel - keines zu wenig.
Maximale Verknappung und Verdichtung bei gleichzeitiger präziser Darstellung dessen, was er zum Ausdruck bringen und dem Leser sagen will.

Der Leser wird mit einer schönen Sprache, bewundernswert treffenden Formulierungen und interessanten Gedanken und Überlegungen verwöhnt.
Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Armut und Elend?

Der Autor seziert, was er zu Papier bringen will und findet genau die richtigen Worte, um seine Beobachtungen und Interpretationen auszudrücken.

Er spielt mit Wörtern und Sätzen - der Ausdruck „Sprachakrobatik“ kommt mir in den Sinn.

Ein Beispiel/Zitat:
„Etwas Stoßendes Gestoßenes, Schiebendes Geschobenes, Schimpfendes Beschimpftes“.
So beschreibt er eine Person in einer Menschenschlange.

Und noch ein Beispiel/Zitat: „Ruhelos, damit man ruhig blieb, rastlos, um von sich selber los zu kommen.“
Ist es nicht wunderbar, wie prägnant und poetisch er die psychische Überlebensstrategie der Geschäftigkeit und Ablenkung beschreibt?

Handke gelingt es, seine Erzählung besonders abwechslungsreich, interessant und spannend zu gestalten, indem er auf Abschnitte, die der Nacherzählung oder Rekonstruktion des Lebens seiner Mutter dienen, Phasen folgen lässt, in denen er reflektiert, verallgemeinert, abstrahiert und assoziiert.
Als i-Tüpfelchen streut er Absätze aus Briefen seiner Mutter, Gedanken- oder Erinnerungsfetzen ein.

Der Autor erschafft ein nüchtern-sachliches, pessimistisches, melancholisches, düsteres, zuweilen zynisches, sarkastisches und vielleicht sogar verbittertes Gemälde der Generation der 1920er Jahre.

Trotz der Schwere der Thematik ist die Erzählung unterhaltsam und fesselnd. In Manchem findet man sich wieder. Manchmal muss man schmunzeln.

Am Ende der Lektüre fragt man sich, ob es wirklich so schlimm war damals und ob die Generation der einfachen Leute, im Besonderen die Frauengeneration dieser Zeit tatsächlich so tickte, funktionierte und litt.

Man hat vielleicht eigene Erinnerungen oder Erfahrungen dazu. Man hat Eltern oder Großeltern aus dieser Generation.
Ein Abgleich mit eigenem Erfahrungswissen drängt sich geradezu auf.

Darüber hinaus geht es in dem Werk um Themen, die natürlich auch heutzutage eine große Rolle spielen. Themen, die die Menschen mitbringen, wenn sie Beratung oder psychotherapeutische Unterstützung brauchen.


von: Salih Jamal
von: Yusuf Yeşilöz
von: Marcel Reich-Ranicki
Vor vielen Jahren war "Wunschloses Unglück" das erste Buch, das ich von Peter Handke gelesen habe und ich kann mich erinnern, dass dieses Buch aus Menschen aus meinem Bekanntenkreis gelesen haben, die ansonsten kaum Bücher gelesen haben. Seither habe ich immer wieder Handke gelesen, aus Wien habe ich mir die "Winterliche Reise" mitgebracht, das ich nie gelesen habe. Aber jetzt will ich selbst lesen, was er damals geschrieben hat. Die Obstdiebin steht noch auf meiner "Würde ich gerne lesen"-Liste.
 
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Vor vielen Jahren war "Wunschloses Unglück" das erste Buch, das ich von Peter Handke gelesen habe und ich kann mich erinnern, dass dieses Buch aus Menschen aus meinem Bekanntenkreis gelesen haben, die ansonsten kaum Bücher gelesen haben. Seither habe ich immer wieder Handke gelesen, aus Wien habe ich mir die "Winterliche Reise" mitgebracht, das ich nie gelesen habe. Aber jetzt will ich selbst lesen, was er damals geschrieben hat. Die Obstdiebin steht noch auf meiner "Würde ich gerne lesen"-Liste.
... Nach diesem Volltreffer möchte ich auch noch weitere Werke von ihm lesen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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So, liebe @SuPro , ich habe es gelesen.
Ich kann mich deiner Begeisterung leider nicht anschließen. Was ich interessant gefunden habe, war das Zeitkolorit der 20er Jahre, die Rolle der Frauen, die keine Individualität zuließ.
Den ganzen Schreibstil habe ich als sehr anstrengend empfunden. Nicht, dass ich so etwas nicht gerne mal lese - aber hier war es mir so knapp, so distanziert, so anonym. Nicht mal der Bruder hat einen Namen, er ist nur das jüngste Kind.
Gegen Ende, als die Kopfschmerzen anfingen, war ich völlig raus. Zum Glück habe ich keine Erfahrungen mit Depressionen, die ganzen Bewusstseinsstörungen kamen mir sehr fremdartig vor.
Das Buch hat mich einfach nicht gepackt. Das wusste ich nach 20 Seiten schon, und es bewahrheitet sich mal wieder, dass Weiterlesen meist nichts verändert.

Ich habe einen Handke gelesen. Das wird für mich aber erst einmal der letzte gewesen sein.
 

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So, liebe @SuPro , ich habe es gelesen.
Ich kann mich deiner Begeisterung leider nicht anschließen. Was ich interessant gefunden habe, war das Zeitkolorit der 20er Jahre, die Rolle der Frauen, die keine Individualität zuließ.
Den ganzen Schreibstil habe ich als sehr anstrengend empfunden. Nicht, dass ich so etwas nicht gerne mal lese - aber hier war es mir so knapp, so distanziert, so anonym. Nicht mal der Bruder hat einen Namen, er ist nur das jüngste Kind.
Gegen Ende, als die Kopfschmerzen anfingen, war ich völlig raus. Zum Glück habe ich keine Erfahrungen mit Depressionen, die ganzen Bewusstseinsstörungen kamen mir sehr fremdartig vor.
Das Buch hat mich einfach nicht gepackt. Das wusste ich nach 20 Seiten schon, und es bewahrheitet sich mal wieder, dass Weiterlesen meist nichts verändert.

Ich habe einen Handke gelesen. Das wird für mich aber erst einmal der letzte gewesen sein.
... ach, schade, dass Du ihn nicht möchtest. Obwohl mir der Roman sehr gefiel, wird es aber auch mein letzter Handke bleiben...
 
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